1904 / 51 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 29 Feb 1904 18:00:01 GMT) scan diff

der ehrenrührigsten Tatsachen wider besseres Wissen darstellen, daß

kein Anlaß zu besonders ausnahmsweiser Behandlung gegeben wäre. Aber es kommt doch auf die Gesinnung an, aus welcher heraus die Straftat begangen wurde; ist diese nicht ehrlofer Gesinnung entsprungen, so ist eine andere Behandlung angezeigt. Gewiß haben 1897 die verbündeten Regierungen eine Reihe von Bestimmungen vereinbart, nach denen in den einzelstaatlichen Strafanstalten verfahren werden soll. Danach ist ausnahmsweise die Selbstbeschäftigung gestattet. „Ausnahmsweise“, das reicht nicht aus, diese Bestimmung ist zu eng.

Jir erinnern uns alle an die Zeit, in der der Kulturkampf seine Wogen schlug und höchst angesehene, ehrenwerte Männer von uns auch die berühmte Gefängnishausordnung über sich ergehen lassen mußten. Angesehene Geistliche wurden damals wegen Verfehlungen zur Skrafe gezogen die gewiß nicht ehrloser Gesinnung entsprangen. Wer weiß, ob nicht einmal wieder eine solche Zeit kommt? Ein Erzbischof hat sich damals in der Gesellschaft gemeiner Verbrecher in einer Strafanstalt befinden müssen. Für einen Redakteur, dessen Straftat ebenfalls nicht ehrloser Gesinnung entsprang, ist der Wunsch berechtigt, sich selbst zu beschäftigen. Ist es denn nicht auch ein Privilegium gewisser Klassen, wenn dem Festungshäftling die Selbstbeschäftigung gestattet wird? Es sind sogar Fälle vorgekommen, wo Duellanten aus ehrloser Gesinnung gehandelt haben und doch nur zur Festungsstrafe verurteilt wurden. Die Festungsgefangenen dürfen auch die Selbstbeköstigung fordern. Ge⸗ fängnissträflinge können das nur mit Bewilligung der Aufsichtsbehörde, sind also von deren freien Ermessen abhängig. Was das Verlangen nach der Gestattung einer Tageszeitung betrifft, so scheint mir ein Unterschied gemacht werden zu müssen zwischen Untersuchungs⸗ und Strafgefangenen; es könnte sonst ein Untersuchungsgefangener Ge⸗ legenheit zu recht bedenklichen Kollusionen dadurch erhalten. In diesem Sinne müßte der Antrag Bargmann abgeändert werden. Vielleicht könnten wir uns auf einen Antrag vereinigen, der ausdrückte, daß bei den Untersuchungsgefangenen allgemein die Selbstbeköstigung zulässig sein solle, und daß Strafgefangene allgemein das Recht der Selbst⸗ beköstigung und Selbstbeschaftigung haben sollen, soweit ihre Handlung nicht ehrlose Gesinnung bekundet hat. Damit würde die ganze Kampfesweise des Staatssekretärs gegenstondslos sein. Ich würde eventuell einen solchen Antrag einbringen und gebe anheim, sich mit uns darauf zu vereinigen.

Abg. Bargmann: Die Würdigkeit oder Unwürdigkeit des Redakteurs interessiert uns hier nicht. Auch dem ärgsten Verbrecher gegenüber muß Gerechtiokeit, aber auch Humanität geübt werden. Biermann unterscheidet sich auf jeden Fall von einem gemeinen Ver⸗ brecher. Die oldenburgische Justizverwaltung hat sich zwar formell an den Buchstaben des Gesetzes gehalten, aber dem Geist des Gesetzes zuwidergehandelt. Wenn die Regelung des Strafvollzugs nicht ad calendas Graecas verschoben ist, so möge uns doch der Staatssekretär den Zeitpunkt angeben, wann ein Gesetz zu erwarten ist. Ich habe bisher unter jenem Ausdruck eine un estimmte Zeit verstanden.

Abg. Stadthagen (Soz.): Ich würde für den Antrag Barg⸗ mann und auch für den Antrag Gröber stimmen, obgleich die Ver⸗ günstigung während der Untersuchungshaft eigentlich schon dem Geist des Gesetzes entspricht. Die Differenzierung ehrloser und nicht ehr⸗ loser Handlungen, wie sie Herr Gröber im Sinne hat, gefällt mir aber nicht. Eine Schädigung des politischen Gefangenen, wie es im Fall Biermann geschehen ist, die ihm die Möglich⸗ keit nimmt, nach verbüßter Haft seinen Beruf auszuüben, läuft dem Gesetz schnurstracks zuwider. Der Beamte, der dagegen ver⸗ stößt, macht sich strafbar. Der Erzbischof Melchers durfte gar nicht als Stuhlflechter in den Listen aufgeführt werden. Der oldenburgische Justizminister konnte auf Schadenersatz verklagt werden. Diesem gegenüber verdient Biermann Sympathie. Nach dem, was ich gehört habe scheint er ein Ehrenmann zu sein. Freiherr von Schenk, der frühere Oberbürgermeister, der 15 000 unterschlagen hatte, wurde im Bureau beschäftigt; der Redakteur Fischer nicht. Dem Freiherrn von Schenk wurde der schöne Bart nicht ab⸗ genommen, er durfte seinen Kneifer tragen, spazieren gehen, er hatte ja nur 15 000 unterschlagen. Herr Staatssekretär: Wenn es wahr ist, daß der Begriff „politische Vergehen und Verbrechen“ nicht feststeht, wie kommt es denn, daß dieser Begriff seit 25 Jahren in Auslieferungsverträgen und Gesetzen steht? Was sagte der Justiz⸗ minister Ruhstrat zu der Frau des Redakteurs Biermann? „Ihr Mann muß empfindlich bestraft werden. Ihr Mann ist mir wirklich nicht mehr wert als der Kot an meinem Stiefel.“ Als die Frau Biermann, eine ehrenhafte Dame, darauf sagte: „Aber Herr Minister, so sprechen Sie von meinem Mann ?“ erwiderte er: „Ihr Mann ist ein Lump, er muß mindestens ein Jahr kriegen.“ Hat man da nicht die Empfindung, daß Biermann nach der Ansicht des Justizministers sogar mit Zuchthaus hätte bestraft werden müssen? Hätte Biermann 15 000 unterschlagen wie der Freiherr von Schenk, dann wäre er mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt worden; aber Biermann hat ja die Wahrheit gesagt. Es wurde angenommen, daß der Minister sich in einer Erregung befunden habe. Daß er die Aeußerungen einer Dame egenüber getan habe, müßte, wie es im Urteil heißt, eigentlich als straf⸗ schärfend ins Gewicht fallen. Aber weil sich die Beleidung gegen Herrn Biermann richtete, wurde er nur mit 20 bestraft. Glauben Sie, Herr Bundesratsbevollmächtigter von Oldenburg, daß der Justizminister, wenn er ins Gefängnis käme, mit Rohrflechten beschäftigt würde? Es ist eine Schmach für Deutschland, daß hier eine Behandlung der in Strafhaft Befindlichen aussieht nicht wie eine Vollstreckung des Gesetzes, nicht wie eine Vollstreckung der Strafe, sondern wie Privat⸗ rache. Sie empören sich hier und ziehen mit Heer und Marine hinaus, wenn im Ausland ein einzelner gekränkt ist, und wenn hier so gegen das Recht verstoßen wird, dann sollten wir machtlos sein? Verweigern Sie es der Regierung, in dieser Weise weiterzuschaften.

Vizepräsident Dr. Paasche: Es ist soeben ein handschriftlicher Antrag vom Abg. Gröber eingegangen, der folgendermaßen lautet: „Der Reichstag wolle beschließen, den Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstage einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen Unter⸗

suchungsgefangenen allgemein, sowie den zu Gefängnisstrafen ver⸗

urteilten Personen, wenn ihre Handlung nicht eine ehrlose Gesinnung

bekundet hat, nach den im Urteil zu treffenden Bestimmungen ge⸗

stattet wird, sich selbst zu beköstigen und in einer ihrem Bildungs⸗ grade angemessenen Weise zu beschäftigen.“

Bevollmächtigter zum Bundesrat, Großherzoglich oldenburgischer Gehcimer Staatsrat Bucholtz: Gegenuüber den scharfen Angriffen des Vorredners muß ich den Justizminister Ruhstrat in Schutz nehmen. Es ist unmöglich, in kleinen Anstalten immer geeignete Arbeiten für die Gefangenen zu finden.

Abg Dr. Bärwinkel (nl.): Wir begrüßen den Antrag Barg⸗ mann⸗Traeger und können uns den Bedenken des Staatssekretärs nicht anschließen. Wir halten vielmehr den Begriff „volitisches Vergehen“ als in der Praxis durchaus feststehend Wir haben aber doch Bedenken gegen den Antrag, insoweit er verlangt, daß den Gefangenen in der Untersuchungshaft gestaltet sein soll, eine Zeitung zu halten. Dadurch wird allerdings die Kollusionsgefahr außerordentlich groß. Darum treten wir für den Antrag Gröber ein, um so mehr, als dem Gefängnisverwalter nicht freie Hand gegeben ist, sondern in dem Urteil Bestimmung über die Vergünstigungen ge⸗ troffen werden soll.

Abg. Himburg (d. kons.): Der Antrag Bargmann geht teils zu weit, teils nicht weit genug und ist für uns daher unannehmbar. Wir haben aber auch erhebliche Bedenken gegen den Antrag Gröber. Das größte Bedenken ist, daß er zwei Kategorien von Verurteilten schaffen und dem Richter damit eine sehr schwere Aufgabe stellen würde. Wir meinen, es ist das beste, jeßzt von einer solchen Teil⸗ regelung abzusehen und auf die allgemeine Gesetzgebung zu warten, die ja hoffentlich recht bald kommen wird.

Abg. Stadthagen: Während der Redakteur Fischer im Gefängnis faß, kam der Freiherr von Schenk in Vechta an. Fischer war die Beschäftigung

mit Bureauarbeiten verweigert, dem Freiherrn von Schenk wurde sie

gestattet; die Strafvolsstreckung hat in diesem Falle nicht dem Gesetz entsprochen. Der oldenburgische Bevollmächtigte kann den Justizminister nicht rein waschen; letzterer hat nicht das Recht, sich damit zu ent⸗ schuldigen, daß nicht er, sondern sein Vertreter gehandelt habe. Die

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Verwaltung hat nicht das Recht, einem Verurteilten allen mög⸗ lichen Tort anzutun. Biermann hat keine Selbstbeschäftigung und bekommt Krankenkost, sodaß er jeden Mittag halb satt aufsteht. Hat der Justizminister das Recht, neben der Gefängnisstrafe den Hungertod und Krankheit an den Verurteilten vollstrecken zu lassen? Ich hoffe, daß nunmehr der oldenburgische Justizminister den Staats⸗ anwalt anweisen wird, auf Grund des § 345 des Strafgesetzbuchs gegen ihn vorzugehen.

bg. Bargmann: Wir können unsere Resolution nicht zurück⸗ ziehen, weil wir auf das Lesen der Tageszeitungen entscheidendes Ge⸗ wicht legen, dieser Punkt aber nicht in der Resolution Gröber erwähnt ist. Wird unsere Resolution abgelehnt, so werden wir für den An⸗ trag Gröber stimmen.

Damit schließt die Diskussion. Der Antrag Gröber wird

als der weitergehende gegen die Stimmen der Deutsch⸗

konservativen angenommen; der Antrag Bargmann gegen die Polen ab⸗

Stimmen der Freisinnigen, Sozialdemokraten und gelehnt.

Das Haus wendet sich nun zur besonderen Diskussion über die Handhabung der Fremdenpolizei in Verbindung mit dem Königsberger Geheimbundprozeß.

Abg Haase (Soz.): Das Zusammenwirken der preußischen Minister des Innern und der Justiz im Abgeordnetenhause hinsichtlich des Königs⸗ berger Geheimbundprozesses war auf das forgfältigste vorbereitet. Der Abg. Friedberg gab ihnen die Gelegenbeit, die Waffen ihrer Redekunst zu schwingen. Der Staatssekretär Freiherr von Richthofen hatte hier im Reichstage, abgesehen von den Konservativen, die mit der Regierung durch dick und dünn gehen, niemand befriedigt; seine Er⸗ klärungen hatten in weiten Volkskreisen geradezu Entrüstung hervor⸗ gerufen. beiden Minister hätten die Pflicht gehabt, hier zu erscheinen und sich zu verantworten. Daß die Sache nicht zur r. ständigkeit dieses Hauses gehöre, war eine leere Ausflucht. die Herren haben sich in das reaktionäre preußische Abgeordnetenhaus ge⸗ flüchtet, wo ihnen der Beifall der Masse der Landräte sicher war. Frei⸗ herr von Hammerstein hat sogar seiner Freude darüber Ausdruck gegeben, daß die eigentlichen Ankläger nicht dem Abgeordnetenhause angehörten und ihm nicht direkt erwidern könnten. Ich habe die entgegengesetzte Empfindung von dem, was man in solchen Fällen zu tun hat; auch sind die beiden Minister heute hier erschienen. Der Justizminister hat mich auch nicht in dem kleinsten Punkte einer Unrichtigkeit überführen können, und der Minister des Innern hat nur zwei nebensächliche Bemerkungen von mir berichtigt. Im übrigen hat er noch weiteres be⸗ lastendes, tatsächliches Material gegen die russische Polizei⸗ wirtschaft beigebracht. Der Staatssekretär Kraetke hat mir vor⸗ geworfen, daß ich über den Fall, in dem das Postgeheimnis ver⸗ letzt war, nicht nähere Auskunft erteilt habe. Ich habe aber nicht die Postverwaltung angegriffen und nicht verlangt, daß der Postbeamte zur Rechenschaft gezogen werde, sondern gefordert, daß dem Spitzel, der die Postbeamten ihrer Pflicht abwendig machen wollte, das Hand⸗ werk gelegt werde. Der Minister hat nur bestritten, daß es sich hier⸗ bei um Agenten der russischen Polizei handelt. Glaubt er denn, daß die Polizeiagenten dem Postbeamten eine Visitenkarte mit der Auf⸗ schrift „Russischer Polizeispitzel' vorlegen werden? Dem Minister muß es doch eine Kleinigkeit sein, die Personen festzustellen. Ich habe ja einige Polizeiagenten mit ihrem bürgerlichen und Spitznamen hier festgenagelt, um den Behörden die Ermittelungen zu erleichtern. Oder hat vielleicht der Minister des Innern über die Agenten nichts erfahren wollen? Den Namen der Briefempfängerin habe ich nicht genannt, weil ich fürchten mußte, daß sie als lästige Ausländerin zwangsweise über die Grenze nach Rußland geschafft werden würde. Sie war auch nach den Aeußerungen des Freiherrn von Richthofen selbst ängstlich geworden. Wie notwendig eine solche Vorsicht ist, zeigt der Fall des von dem Abg. Pichler im bayerischen Landtage genannten Gewährsmannes, der zur Bestrafung gebracht wurde. Wie es mit den Untersuchungen des Ministers des Innern beschaffen ist, zeigt der Fall der Frau Rappa⸗ port. In dem Falle des Genossen Herbert i

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in Stettin hat er im Abgeordnetenhause gesagt, eine genaue Untersuchung habe ergeben, daß vor zwei Jahren auf der Post von einem Unbekannten schriftlich der Versuch gemacht sei, Briefe für Herrn Herbert in Empfang zu nehmen. Danach würde es sich also um „olle Kamellen“ handeln. Tatsächlich ist aber die Tat vor sechs Monaten verübt worden. Wie mild und zart drückt sich der Minister aus, wenn es sich um die Beschuldigung gegen einen russischen Polizeispitzel handelt. Es liegt hier eine grobe Urkundenfälschung vor, aber der Minister hält über den betreffenden Spitzel seine schützenden Arme. Diese Ausführungen des Ministers haben sogar auf den demokratischen Abg. Oeser Eindruck gemacht. Gegen den Justizminister habe ich viel schwerere Vorwürfe zu erbeben. Er hat mir Aeußerungen in den Mund gelegt, die ich nicht getan habe, eine einseitige Darstellung des Akteninhalts gegeben und wichtige Tatsachen verschoben. Ich habe am 19. Januar ausdrücklich erklärt, daß den Verteidigern die Akten⸗ einsicht verweigert worden sei, daß auch mir die Akten nicht zugänglich gewesen seien. Ich habe bis zu diesem Augenblick keine Einsicht erhalten. Was sagt aber der Justizminister! Ich müßte sicherlich als Verteidiger unterrichtet sein oder wenigstens sein können. Meine Anträge, mir die Einsicht zu gestatten, wurden wiederholt ab⸗ gelehnt. Nicht einmal die Druckschriften und sonstigen Urkunden wurden mir vorgelegt. Ich nahm mit den anderen Verteidigern an, daß es sich vielleicht um falsche Uebersetzungen handelte, hinsichtlich der Be⸗ seitigung des Zarismus, d. h. einer bestimmten politischen Richtung. Der Minister hat doch selbst im Abgeordnetenhause erklärt, ge⸗ wandte russische Uebersetzer seien nicht überall leicht zu haben. Ich habe mich an den Justizminister selbst telegraphisch im vorigen Jahre gewandt mit der Bitte, mir wenigstens die Druckschriften zugänglich zu machen. Von dem Oberstaatsanwalt, dem das Telegramm zur Beantwortung übergeben war, erhielt ich einen ablehnenden Bescheid. Ich habe dann einen neuen Antrag gestellt, aber auch dieser Antrag ist abgelehnt worden. Erst jetzt haben wir aus den Aeußerungen des Ministers im Abgeordnetenhause Kenntnis von dem Inhalt der Druckschriften erlangt. Es ist die Frage, ob denn wirklich in diesem Ver⸗ fahren überall nach dem Gesetze vorgegangen ist. Nach dem Gesetze ist die Einsicht in die Akten ausdrücklich gestattet, so⸗ fern nicht die Untersuchung dadurch gefährdet wird. Ist sie mir aus letzterem Grunde verweigert worden, so hat der preußische Justizminister als er den Akteninhalt der ganzen Welt bekannt machte, die Untersuchung gefährdet. Andernfalls ist gegen das Gesetz die Einsicht verweigert worden. Die ganze einschränkende Be⸗ stimmung über die Einsichtnahme der Akten während der Vorunter⸗ suchung ist aus einem Mißtrauen gegen die Anwalte geboren, das durchaus nicht begründet ist. Mit Recht erheben sich immer mehr Stimmen, die die ganze Voruntersuchung entweder beseitigen oder auf eine andere Erundlage stellen wollen. Auch den An⸗ geklagten selbst ist das ihnen in der Strafprozeßordnung ausge⸗ sprochene Recht entrungen. Ihnen wurde die Kenntnisnahme des In⸗ halts der Druckschriften, den der Minister vorgetragen hat, vorenthalten. Wenn man dem Angeklagten die Druckschriften vorgelegt, ihren Titel genannt, den Inhalt angegeben hätte, dann wäre es möglich gewesen, schon im November die Spuren zu verfolgen und festzustellen, wer der Verfasser dieser Schriften ist. Der Justizminister hat meine Aus⸗ führungen im Abgeordnetenhaufe unrichtig wiedergegeben. Wenn jetzt die Spuren des Spitzels nicht mehr entdeckt werden können, so ist das die Schuld der Justiz, die eine Klarstellung des Tatbestandes unmöglich gemacht hat. Mußte denn nicht der Inhalt der Schriften die Behörden stutzig machen? Die gesamte Sozialdemokratie ver⸗ urtetlt die Auffassung mit aller Entschiedenheit, die in den vom Justizminister verlesenen Druckschriften entbalten ist. Sie wird sich nie dazu hergeben, an der Verbreitung solcher Schriften mitzuwirken. Mit der deutschen sozialdemokratischen Partei stimmt aber in dieser Auf⸗ fassung guch die russische sozialemokratische Partei, die auf marristischem Boden steht, ganz überein. Selbst nach Verlesung der Druckschriften durch den Justizminister wurde im Abgeordnetenhause anerkannt, daß es Anarchisten im polizeitechnischen Sinne nicht gibt. Besonders bemerkens⸗ wert aber ist, wie sich der Abg. von Heydebrand bei der Gelegenheit

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über Anarchisten ausgesprochen hat: „Es ist ja gar keine Frage, daß h Leute als Anarchisten angesehen werden, die keineswegs die A * haben, die allgemeine Rechtsordnung über den Haufen zu werfen,] sich nur gegen einen einzelnen Mann, gegen die Auffassungen, die einem bestimmten Lande herrschen, wenden. Von dem Stan punkte aus wären ja nicht einmal die Verfasser dieser Druc schriften Anarchisten. Ich begreife es, wenn da, wo ed Regung des Freiheitsgefühls niedergeworfen wird, wo die Willa des Beamtentums roh und gewissenlos herrscht, wo unter Schutze der Behörden Greuel unmenschlicher Weise werden, sich solche Bestrebungen geltend machen. Ich gar nicht an die Verherrlichung der Tyrannenmörder Harmodius un Aristogeiton und des Tell erinnern. Denken Sie nur an die vor märzliche Zeit und an die Burschenschaften. Was damals von bürger lichen freibeitliebenden Männern geschrieben, gesungen und gedicht wurde, geht weit über das hinaus, was in diesen russischen Schrifte enthalten ist. Wie hat die Jugend gejubelt, als der russicch Spitzel Kotzebue ermordet wurde! Wollen Sie sich vielleichl daran erinnern, was der Gründer der „Norddeutschen Allgemeine Zeitung“ damals und später noch gesungen hat: „Wir färben rot, wit färben gut, wir färben mit Tyrannenblut.“ Und dieser Mann wurd spväter der Gründer der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“. Ha Sie vergessen, was Jobannes Miquel an Karl Marvr geschrieben hat Kommunist und Atheist wie Sie, will ich wie Sie die Diktatur de Arbeiterklasse. Meine Mittel wähle ich nach der Zweckmäßigkeit. Weiterhin spricht er sich für die Lokalanarchie aus. Was ist diese Terrorist und Atheist nachher geworden? Preußischer Minister. Di 1 D

Methode, mit der die Polizei damals arbeitete, ist heute noch gen

dieselbe. Selbst ein Treitschke fragt: „Wer möchte herausfinden, w hier die jugendliche Prahlerei aufhört und der Ernst anfängt?“ Der Weg von der Feder zum Dolch sei in Deutschland nicht kurz. Her Friedberg hat selbst erklärt, daß selbst Gelehrte nur auf Umwegen in den Besitz von Büchern gelangen können, welche die russischg Zensur nicht durchlassen würde. Ganz harmlose Briefe sind gewechselt worden, Briefe, die der Justizminister als ganz besonders gefährlich hingestellt hat. Einer der Briefe ist deshalb wertvoll, weil er über⸗ zeugt, daß der Briefschreiber davon ausgeht, daß die Polizei un Gerichte nichts von den beschlagnahmten Druckschriften zurückbehalte könnten. Auch ein Konservativer hätte diese Briefe schreiben können selbst ein Justizminister möchte einmal, wenn ihm eine Laus über die Leber läuft, eine Katze eine Katze und einen Schurken einen Schurke nennen. Aber es sollten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden; ein politischer Schlag sollte geführt werden. Es wurde be⸗ hauptet, dieser ganze Schriftenschmuggel ginge mit hoher Wahrschein⸗ lichkeit von der deutschen Sozialdemokratie aus, und daß sogar die Berliner Zentralleitung der Sache nicht fern stehen könnte. Nicht ein Schatten des Beweises für diese unrichtige Behauptung ist er⸗ bracht worden. Die Verbreitung russischer Schriften würde ebenso erlaubt sein, wie die Verbreitung anderer; aber wahrheitsgemäß muß erklärt werden, daß dies seitens der sozialdemokratischen Partei⸗ leitung nicht geschehen ist. Der Anlaß zu wird zwei Briefen entnommen, wo davon die Rede ist, daß Abschrift eines Briefes dem Parteivorstand mitgeteilt sei. In den Briefen ist die Rede von Russen und Parteileitung; das ge⸗ nügte zur Konstruktion dieses Verdachts. Den harmlosen Tat⸗ bestand, den der Brief enthält, hat der Minister gekannt, aber nicht mitgeteilt; das mache ich ihm zum Vorwurf. Es handelte sich um die Bitte eines Russen an einen der jetzt Angeschuldigten, einen Koffer aufzubewahren, bis er, der nach Rußland wollte, von dort wieder zurück⸗ käme. Er berührt auf der Rückreise aber nicht mehr Memel, sondern kommt auf anderem Wege zurück. Er schreibt an den Mann, einen

sozialdemokratischen Vertrauensmann, um den Koffer, kann ihn indessen

nicht erhalten, und nun geht er gegen diesen Mann wegen dieser nicht gehörigen Handlungsweise vor. Das ist der Tatbestand, den der Minister kennen konnte. Die Haft wird wegen Kollusionsgefahr auf⸗ recht erhalten; wie ist aber eine Verdunkelung in diesem Falle noch möglich? Allerdings hält man es wohl heute an verschiedenen Stellen noch mit dem Standpunkte der „Kreuzzeitung“ von 1850: Wenn die Freisprechung politischer Gefangener unvermeidlich ist, muß die Unter⸗ suchungshaft so lange ausgedehnt werden, bis das Verbrechen gebüßt ist. Aber das ist jedenfalls nicht der Standpunkt der Königsberger Richter. Würde der Prozeß helfen, den Anstoß zu geben, daß das Vorunter⸗ suchungsverfahren geändert wird, so wäre das auch ein Fortschritt Konnte und durfte die Regierung eine auswärtige Macht zu einem Strafantrag gegen die eigenen Staatsbürger auffordern? Formell ist sie dazu berechtigt, aber „öchts verpflichtete sie dazu, wenn man die Grundsätze der Kulturstaaten festhalten wollte. Das Allergefährlichste der Sache liegt darin, daß der Justizminister sich nicht gescheut hat, zu erklären, welche Strafparagraphen von den Angeklagten verletzt seien. Bei einiger Vorsicht hätte er das ver⸗ meiden müssen. Wenn eine solche Uebersetzungsarbeit aufgewendet werden mußte, wie soll es da mit Männern stehen, die nicht das russische ABC können? Er hat dem Abgeordnetenhause nicht mit⸗ geteilt, daß die Königsberger Strafkammer zweimal ausgeführt hat, daß die Angeklagten der Verfehlung wegen Hochverrats usw. nicht dringend verdächtig sind. Er hätte sich sagen müssen, daß dadurch eine Beeinflussung der Richter eintreten kann. Welch eine unheil⸗ volle Wirkung dieses Vorgehen gehabt hat, konnte man an dem Auf⸗ treten des Abg. Peltasohn erkennen, der selbst Richter ist und dennoch nicht Anstand nahm, zu erklären, nach den Ausführungen des Mi⸗ nisters seien die §§ 102 und 103 des Strafgesetzbuchs verletzt. Wo soll da noch das Vertrauen zu den Ministern herkommen? Das erinnert ganz außerordentlich an die Zeit des Herrn Kamptz, der auch auf angebliche „Auszüge“ von Akten die wundervollsten Anklagen auf Hochverrat aufbaute. Herr Oeser hat auch sofort den richtigen Eindruck von diesem Auftreten des Justizministers gehabt. Der Minister war nicht in einer Zwangslage, wie er sagte. Wie die Briefe der Ohm⸗ Gödsche können auch diese Briefe nach Köonigsberg geschickt worden sein, und möchte es sich vielleicht nicht um ein Phantasiegebilde handeln. Auch in der Zeit des Sozialistengesetzes wurden solche Briefe von Polizeileuten geschrieben, wurde von ihnen Unterricht in der Bombenfabrikation erteilt, um nachher darauf Hochverratsanklage zu gründen. Ich brauche nur an den Nichtgentleman Ihring⸗Mahlow zu erinnern, um klar zu machen, daß diese russische Spitzelwirtschaft kein Phantasiegebilde ist. Ist bei uns in Deutschland schon jemals ein Anarchist ausgewiesen worden? Wenn die Minister wissen wollen, wo die russischen Terroristen zu suchen sind, und mit welchem Gelde sie bezahlt werden, so möchte ich ihnen einmal die geheimen Dokumente der russischen Orientpolitik zur Kenntnis⸗ nahme empfehlen; da werden sie finden, wie die russischen Polizei⸗ agenten sich am Morden beteiligen, wie die russische Regierung sie in Schutz nimmt, was sich namentlich im Bereiche Ferdinands von Bulgarien, des Coburgers, ereignet hat. Die russische Regierung steht nicht etwa dem Terror fern, sondern sie ist seine Urheberin. Gerade die Bestrebungen, die darauf ausgehen, die Freiheit in Ruß⸗ land zu erdrosseln, werden von unserer Regierung unterstützt. Gegen die russischen Polizeiagenten in Deutschland will man nicht einschreiten, angeblich sind ihre Handlungen verjährt. Der „Vorwärts“ hat aber jetzt neue Zeugen und Zeugnisse angegeben. Das Asylrecht muß end⸗ lich auch in Deutschland ausgebildet werden. Unsere Fremden sind jetzt vogelfrei. Wir brauchen ein reichsgesetzliches Fremdenrecht, das den Anforderungen eines Kulturstaats gerecht wird. In England ist eine Ausweisung durch die Polizei überhaupt nicht mehr möglich. Die russische Regierung ist der Hort aller Reaktion. (Lachen rechts.) Ich glaube nicht, daß außer bei Ihnen (rechts) jemand in diesem Hause für die russische Regierung einzutreten Lust haben wird. Kein Justizminister darf die Richter zu beeinflussen versuchen, ganz gleich, ob es sich um Sozialdemokraten, Ordensleute usw. handelt. Deutsch⸗ land darf nicht dem 3 ie Schleppe tragen. 8

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Schluß in der Zweiten

dieser Behauptung

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Zweite

ger und Königlich Preußischen Stmats

zeiger. 1904.

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v1X1X“ Berlin, Montag, den 29. Fehruar

„Ppreußischer Minister des Innern Freiherr von Hammer⸗ stein:

Meine Herren! Meine an und für sich rauhe Stimme ist durch eine akute Erkältung zur Zeit dermaßen angegriffen, daß ich Sie um Entschuldigung bitten muß, wenn ich nicht so deutlich sprechen kann, wie ich das gern möchte.

Es war ja zu erwarten, meine Herren, daß die Sozialdemokratie die ausführlichen Erklärungen und Richtigstellungen, welche im Ab⸗ geordnetenhause erfolgt sind, hier wiederum zur Sprache bringen würde, um von der verlorenen Sache das zu retten, was nach ihrer Ansicht eben noch zu retten ist. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Es hätt⸗ nahe gelegen und wäre staatsrechtlich vielleicht richtiger gewesen und, wie ich glaube, auch im Sinne der Majorität dieses Hauses, wenn die beteiligten Minister wiederum erklärt hätten, daß sie über diese rein preußische Angelegenheit dem Reichstag keine Rechenschaft schuldig und sich vernehmen zu lassen nicht verpflichtet seien. (Sehr richtig! rechts. Widerspruch von den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das lag nahe; aber ein anderer Grund hat uns doch veranlaßt, hier zu erscheinen, der Grund, daß es sich hier für Sie, meine Herren Sozialdemokraten, ganz gewiß doch nur um ein Rück⸗ zugsgefecht handelt, und daß dieses Rückzugsgefecht so rasch wie möglich erledigt werde, aus dem Sie nicht mit einem angeblichen Triumph, wie Sie wohl hoffen, sondern mit einer gründlichen Nieder⸗ lage nach Hause gehen. (Bewegung bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, in Rücksicht darauf, daß bis heute die notwendige Er⸗ gänzung des Beweismaterials für die verschiedenen Anklagen, die vor Monatsfrist erhoben wurden, von Ihnen nicht gebracht ist, kann ich mich recht kurz fassen.

Ich habe aus allem, was hier vorgetragen ist, nichts gehört, was sachlich für die Beurteilung aller der einzelnen Fälle, die im Ab⸗ geordnetenhause zur Sprache gekommen sind, von Wert ist. Sachlich ist es in der Tat nicht von Wert, ob die Angelegenheit mit dem Abg. Herbert 1902 oder 1903 gespielt hat; sachlich ist es auch nicht von Wert, ob Herr Dr. Liebknecht im Oktober oder August des letzten Jahres, vom Gericht nach Hause gehend, jemanden getroffen hat, der versucht hat, ihm in die Akten zu gucken. Es kam nach meiner Auffassung für Sie darauf an, auch nur in einem einzigen der vielen Fälle, welche hier am 19. Januar von den Abgg. Haase und Bebel zur Sprache gebracht sind, auf Grund der Enquete, die Sie veranstaltet haben ich erinnere an die Artikel, die unter dem Titel „Freiwild“ im Vortwärts erschienen sind zu ermitteln und den Beweis zu führen, daß etwas Ungesetzliches geschehen ist.

Es ist Ihnen bereits vor sechs Wochen hier gesagt worden, daß der Reichsregierung und auch der preußischen Staatsregierung bekannt ist, daß bei der hiesigen russischen Botschaft ein russischer Beamter speziell damit beauftragt ist, russische Revolutionäre zu über⸗ wachen (Zuruf bei den Sozialdemokraten), auch Anarchisten, wenn Sie wollen, aber immer nur russische. Ich habe ausdrücklich im Abgeordnetenhause erklärt, daß, wenn je der Fall vorkommen sollte, daß Agenten dieses Mannes sich obrigkeitliche Rechte, Rechte der preußischen Polizei anmaßen, dann gewiß sofort Remedur schon von seiten der Botschaft erfolgen würde, und ich erkläre auch an dieser Stelle, daß die Königlich preußische Staatsregierung niemals die Aus⸗ übung irgend welcher polizeilicher Rechte durch einen Unbefugten dulden wird.

Aber, meine Herren, der Nachweis fehlt, daß irgend einer von den Leuten, die Sie als preußische oder russische Spitzel be⸗ zeichnen, sich irgendwie die Befugnisse eines preußischen Polizisten angemaßt hat. Meine Herren Sozialdemokraten, in Ihren Köpfen spukt es; Sie sehen überall russische Spitzel, und dieser Spuk mag auch bei denjenigen jungen Russen verbreitet sein, die zahlreich unsere Lehranstalten besuchen und vielleicht eine gewisse Angst vor jenen haben; aber ich wüßte nicht, warum deutsche Männer, warum auch Sie, die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, vor den angeblich russischen Spitzeln eine Scheu haben sollten. Und doch besteht diese

Scheu, denn sonst hätte wohl der Rechtsanwalt Liebknecht in den beiden Fällen, die er vorgetragen hat, konstatieren können, ob die Leute, die er in Verdacht hatte, wirklich russische Spitzel waren. In dem Falle Wetscheslaff hat der Vorwärts eine Anzahl ganz vager Mitteilungen gebracht: von dem ehemaligen Kellner, der mit dem angeblichen russischen Spitzel bald in Hermsdorf, bald in Berlin ein Glas Bier zusammen trinkt, der tagelang mit ihm zusammensitzt, und von eirem andern Herrn, dem der angebliche Spitzel dieses und jenes aufgebunden oder vielleicht auch nicht aufgebunden hat, er wüßte, wie es bei der Polizei gemacht würde: man warte ab, bis einer nicht zu Hause wäre, dann ginge man hin und bräche ein. Aber, meine Herren, daß dieser Einbruch tatsächlich erfogt ist, daß dieser betreffende Mann den Einbruch verübt hat, dafür ist kein Beweis erbracht (sehr richtig!), und derjenige, der hierüber in erster Linie Auskunft zu geben verpflichtet war, ist diese bis heute schuldig geblieben. (Zuruf links.) (Glocke des Präsidenten.)

Der Doktor Wetscheslaff ist in meinem Ministerium bei einem meiner Beamten gewesen und hat erklärt, daß er ohne Bewilligung des sozialdemokratischen Parteivorstandes oder des Rechtsanwalts Dr. Liebknecht Aussagen nicht machen könne. (Hört! hörts! rechts.) Er ist dann fortgegangen, um sich diese Bewilligung zu holen und hat nach seiner Rückkehr erzählt, der Dr. Liebknecht habe ihm geant⸗ wortet, er sei zwar bereit, die Auskunft zu geben, aber nur in seiner Be⸗ hausung. Ich habe im preußischen Abgeordnetenhause gesagt, daß dazu die preußische Beamtenschaft nicht da sei, zu dem Rechtsanwalt einer Privatperson zu gehen, um dort eine Auskunft darüber zu erbitten, ob bei seinem Mandanten eingebrochen sei. Wenn bei mir eingebrochen wird, so ist der einfache Weg der, daß ich auf die nächste Polizeistation gehe und die Anzeige erstatte. Warum ist dieser einfache⸗Weg in diesem nach Ihrer Meinung so überaus klar liegenden Fall nicht beschritten worden? Ich habe auf diesen Punkt im preußischen Ab⸗

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geordnetenhaus ausdrücklich hingewiesen und habe nun erwartet, der „Vorwärts“ würde mir wenigstens die Handhabe dazu bieten, daß ich polizeilich eingreifen und den Fall der Staatsanwaltschaft übergeben kann. Das ist aber nicht geschehen; man hat sich auf Redensarten beschränkt; über den Kernpunkt der Frage, ob die Behauptung selbst begründet oder unbegründet ist, schweigt des Sängers Höflich⸗ keit, schweigt sowohl der „Vorwärts“ als der Herr Vorredner. Meine Herren, wenn Sie nicht den Beweis Ihrer Behauptungen erbringen, und ich wiederhole, bei den 30 und mehr Fällen kann es nur darauf

ankommen, daß entweder ein nichtpreußischer Beamter Handlungen

vorgenommen hat, die nur einem preußischen Polizeibeamten zustehen, oder daß ein preußischer Polizeibeamter sich gesetzwidriger Handlungen schuldig gemacht hat, wenn Sie diesen Beweis nicht noch erbringen, so bleibe ich bei der Ueberzeugung stehen, daß es Ihnen nur um eine Agitation zu tun war, daß Sie nur die Absicht verfolgten, die großen Massen des Volks gegen die Regierung, gegen den jetzigen Staatszustand aufzuhetzen. (Sehr richtig! rechts.) Ich werde dabei unwillkürlich an den Satz erinnert: calumniare audacter, semper aliquid haeret. (Ohol links.)

Meine Herren, ich habe mich weiter auch im Abgeordnetenhause über die Grundsätze, welche bei der Ausweisung beobachtet werden, aus⸗ führlich ausgesprochen, und soweit ich vernommen habe, hat auch der Herr Vorredner etwas Wesentliches dagegen nicht zu erinnern gehabt. Er hat nur behauptet, daß die Ausweisung inhuman vollzogen sei. Meine Herren, ist es ein Zeichen der inhumanen Art unseres Vorgehens, daß Herr von Wetzeslaff heute noch hier ist? (Heiterkeit), daß ihm gestattet ist, abzureisen, über welche Grenze er will? (Heiterkeit.) Ist es inhuman, daß gegen den Herrn Tschegoldin nicht mit Zwangsmaßregeln eingeschritten ist, ob⸗ wohl feststand, daß er unter einem falschen Namen hier lebte? daß man sich zufrieden gab, daß er sich eine Eisenbahnkarte zum Zwecke der Abreise löse. Ein Genosse des Tschegoldin sollte in gleicher Form ausgewiesen werden, ist aber von seinem Rechtsanwalt, unmittelbar nachdem er die über ihn verhängte Strafe verbüßt hatte, in einer Droschke entführt worden, wohl nicht, um der Ausweisung zu ent⸗ gehen, denn die konnte ihm nicht schaden, aber anscheinend, weil er befürchtete, bei einem späteren Verfahren möchten noch andere Dinge herauskommen, die ihn schärfer belasten.

Der Herr Abg. Haase hat dann auch angegeben, und zwar in etwas hämischem Ton, daß er sich allerdings dem von mir erbrachten Beweise fügen müsse, daß bei der Verhaftung dieser Herren nicht ein Zettel mit dem Namen eines Beamten aus der russischen Stadt Ufa gefunden sei, und daß eine Denunziation dieses Beamten an die russische Polizei auf Grund dieses Zettels hin nicht erfolgt sei. Er habe in der Tat sich aus meiner Rede im Abgeordnetenhaus davon überzeugen müssen, daß der Beamte in Ufa schon früher verbannt worden ist, und zwar zwei Monate bevor wir überhaupt Kenntnis von den beiden Russen erlangt hätten, gegen die hier aus im preußischen Landes⸗ interesse liegenden Gründen eingeschritten worden ist. (Lebhafte Zwischenrufe von den Sozialdemokraten.) Bei den Leuten ist die Adresse jenes Beamten in Ufa überhaupt nicht gefunden. Und nun, Wum doch etwas zu sagen, versteigt sich der Herr Abg. Haase zu der Aeußerung: wenn jetzt nicht die Denunziation erfolgt ist, so ist sie schon vor der Festnahme auf anderem Wege erfolgt. Ja, ich bin zufällig in der Lage, gerade in diesem Falle die aufgestellte Behauptung sofort zu widerlegen. Die russische Polizei bei bei der man natürlich auf Grund der hier erhobenen Anklage an⸗ fragte hat erwidert, daß der Mann ihr seit 13 Jahren als Revolutionär bekannt sei, und daß sie erst jetzt eingeschritten sei dauf Grund neuerer Vorkommnisse, die uns nicht interessieren. Ich möchte den Herrn Abgeordneten nur bitten, etwas weniger mit unbegründeten Verdächtigungen vorzugehen, wie das eben geschehen ist.

Der Herr Abgeordnete Haase hat dann erwähnt, daß die russischen Studenten hier in Berlin zum großen Teil keine Anarchisten seien. Ja, Anarchisten im eigentlichen Sinne des Wortes sind sie vielleicht noch nicht; aber viele von ihnen sind wohl auf dem Wege, es zu werden. (Lebhafte Zurufe von den Sczialdemokraten.) In unserem preußischen Interesse liegt es, bei uns nicht solche Leute zu haben, welche unreif sich mit politischen Umtrieben abgeben. (Zurufe.) Die russischen Studenten das ist anerkannt sind vielfach im Vergleich zu den unsrigen so unreif und nach ihrem Temperament so leicht veranlaßt, sich in Politik zu mischen, daß man sie nicht immer vollständig für alle ihre Handlungen verantwortlich machen kann. So sind es kindliche, kindische Deklarationen, die sie vor einigen Wochen gegen den Herrn Staatssekretär des Auswärtigen Amts gerichtet haben. Wir hätten aus diesem Betragen sehr leicht Anlaß nehmen können, eine ganze Reihe dieser Leute, die sich anmaßen, gegen einen der höchsten Beamten des Reichs mit ihrem unreifen, kindischen Urteil hervorzutreten, einfach über die Grenze zu schieben. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Wir haben das nicht getan, weil wir die Sache einfach als eine Kinderei betrachteten. (Sehr gut!)

Aber unlängst wieder, vor zwei Tagen, hat in den Arminhallen eine Versammlung wesentlich russisch⸗polnischer⸗Studenten stattge⸗ funden, von der die „Welt am Montag“ berichtet. Da wurde eine Resolution angenommen, in der es heißt:

Wir erklären das zarische Rußland für den schlimmsten, ge⸗ fährlichsten Feind des polnischen Volkes, jeder Freiheit und jeden Fortschritts. Mit ungeheuchelter Freude und Begeisterung haben wir die Nachrichten von den Niederlagen der russischen Raubpolitik im fernen Osten aufgenommen. Unser heißester Wunsch ist es, daß das Zarentum, das alle Völker, die unter seiner Herrschaft seufzen, mit roher Gewalt zu unterdrücken sucht, vollständig ge⸗ schlagen und vernichtet wird. Allen Kämpfern wider das zarische Rußland, vor allem den unerschrockenen, revolutionären, polnisch⸗ sozialistischen Streitern für Freiheit und Unabhängigkeit, drücken

wir unsere innigste Sympathie aus.

Ja, wenn hier in einem neutralen Lande Angehörige eines der kriegführenden Staaten mit derartigen politischen Deklarationen kommen, so, glaube ich, müssen wir uns diese Leute doch etwas näher ansehen. (Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten.) Wenn es Polen deutscher Staatsangehörigkeit gewesen sind, so ist das freilich schlimm für uns (Lachen bei den Sozialdemokraten); umsomehr werden wir uns in unserer Polenpolitik bemühen, gegen derartige Elemente mit aller Schärfe vorzugehen. (Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten.)

Nun hat der Herr Abg. Haase auch gesagt, noch niemals habe ein russischer Student, der dem Anarchismus angehört, hier in Berlin gelebt und hier studiert. Unter den russischen Studenten der letzten Jahre, welche in Berlin oder in einem seiner Vororte gelebt haben, befand sich auch der Student Karpowitsch, der Mörder des russischen Ministers Bogolepoff, im Jahre 1901, dann die Studentin Frumkine, die im Jahre 1903 ein Attentat auf den russischen General Nowitzki in Kiew verübte; dann der Student Brailowsky, der im vorigen Jahre bei den Unruhen in Rostow an der Spitze des Auf⸗ standes stand. Also so ganz unschuldig scheinen diese russischen Elemente hier in Berlin nicht zu sein. (Sehr richtig! rechts.)

Meine Herren, die Erfahrungen, die wir gerade in diesem Prozeß machen, und die Reden, die wir von Ihnen (zu den Sozialdemokraten) hören, ferner die Erfahrungen auf dem Dresdener Parteitage (Lachen bei den Sozialdemokraten) ergeben sämtlich das gleiche Bild. Ich erinnere nur an den Ausspruch Ihres Parteidiktators, der sagte:

Solange ich lebe, rede und schreibe, soll es nicht anders werden. Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung sein, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, zu beseitigen.

(Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, und doch ist der Mann, der so sprach, in den Deutschen

Reichstag berufen, um das Deutsche Reich zu erhalten, nicht, um es zu untergraben. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Demgegenüber erkläre ich: meine Absicht und mein fester Wille ist es, das Deutsche Reich und den preußischen Staat zu erhalten und allen denen ent⸗ gegenzutreten, die dem zuwider sind. (Lebhaftes Bravo! rechts.) 1 8 Preußischer Justizminister Dr. Schönstedt: 1 Mieiine Herren! Die Entschuldigung dafür, daß wir als preußische Minister heute in einer preußischen Angelegenheit hier vor Ihnen im Hause erscheinen, um Ihnen gegenüber Maßregeln der preußischen Behörden zu vertreten, haben Sie schon aus dem Munde meines Herrn Kollegen gehört; ich habe seinen Ausführungen in dieser Be⸗ ziehung nichts hinzuzufügen.

Der Herr Abgeordnete Haase hat nach seiner ausdrücklichen Er⸗ klärung die schärfste Spitze seiner Angriffe nicht gegen den Minister des Innern, sondern gegen den Justizm inister richten und ihn mit einer Reihe von schweren Vorwürfen überhäufen wollen. Ich kann nicht zugeben, daß seine Vorwürfe begründet sind. (Zuruf.) Er hat mir zunächst gewissermaßen den Vorwurf der Fälschung gemacht, indem er behauptete, daß ich wesentliche Tatsachen in meiner Rede im Abgeordnetenhause wissentlich anders dargestellt habe, als sie sich nach dem Verlaufe der Verhandlungen hier im Reichstage am 19. Januar gestaltet hatten.

An erster Stelle erhebt der Herr Abg. Haase den Vorwurf, daß ich gesagt habe, er hätte als Verteidiger im Königsberger Geheimbund⸗ prozesse doch etwas besser informiert sein können, als er sich hier gezeigt habe, und hebt hervor, daß er hier in der Verhandlung aus⸗ drücklich darauf hingewiesen habe, daß ihm die Einsicht der Akten verweigert worden sei, daß er sogar an mich eine telegraphische Be⸗ schwerde über diese Verweigerung gerichtet habe. Diese Tatsache ist richtig, die telegraphische Beschwerde ist im September v. J. ein⸗ gegangen. Ich habe sie als an die nicht zuständige Stelle gerichtet nach Königsberg weiter gegeben und ihr Schicksal nicht weiter verfolgt. Sie werden doch nicht annehmen wollen, daß ich Dinge absichtlich verschwiegen hätte, die doch niemandem im ganzen Hause unbekannt waren, die jedem, der sich dafür interessierte, in jedem Augenblick aus dem stenographischen Bericht zugänglich waren und ins Auge fallen mußten. Nein, ich habe nicht im entferntesten daran gedacht, hier irgendwie Tatsachen färben zu wollen zu Ungunsten des Herrn Abg. Haase. Wenn ich gesagt habe, daß er als Verteidiger in der Sache wohl besser habe informiert sein können, so bezog sich das darauf, daß er durch die Information seiner Klienten, die nach den mir erstatteten Berichten schon im November zur Sache gerichtlich vernommen worden waren und durch seinen früheren Verkehr mit den Beschuldigten, die ihm ja schon alle als Parteigenossen und in ihrer Parteitätigkeit nahe gestanden haben, daß er durch diese Information und diesen Verkehr in der Lage gewesen sei, sich genauer zu informiren.

Der Herr Abgeordnete hat mir ferner den Vorwurf gemacht, ich hätte, obgleich mir die Akten bekannt wären, wesentliche Tatsachen aus dem Akteninhalt verschwiegen, um dadurch eben diesen einen falschen Eindruck hervorzurufen. Meine Herren, er geht dabei von durchaus unrichtigen Voraussetzungen aus. Ich habe die Akten nie gesehen. Die Akten sind nie im Justizministerium gewesen, und alles, was ich vorgetragen habe, gründet sich lediglich auf die mir erstatteten Berichte der Königsberger Behörde. (Zuruf bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.)

Der Herr Abg. Haase hat mir weiter zum Vorwurf gemacht, daß ich seine Aeußerung über die Harmlosigkeit des angeblichen Ab⸗ senders der sozialdemokratischen und anarchistischen Schriften unrichtig wiedergegeben habe; er habe nämlich in seinen Aeußerungen unter⸗ schieden zwischen dem Absender, von dem die Angeschuldigten die Zu⸗ sendung solcher Schriften erwarteten, und dem Spitzel, der, wie der Herr Abgeordnete meint, die anarchistischen Schriften übersandt hat. Ja, meine Herren, da bekenne ich offen, daß ich allerdings nicht in der Lage gewesen bin, mir diese Fiktion eines Spitzels so ohne weiteres anzu⸗ eignen, und anzunehmen, daß auf irgend eine demnächst noch aufzuklärende

Weise

die verfänglichen Schriften in die Hand der Angeschuldigten