1904 / 292 p. 8 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 12 Dec 1904 18:00:01 GMT) scan diff

nermen möchte, das doch immer eine mildere Beurteilung der An⸗

geklagten rechtfertigen könnte.

Unter diesem Gesichtspunkte hat sie diese Herren eingehend ver⸗ nommen und ihnen Gelegenheit zu den weitgehendsten Ausführungen

gegeben, die sich teilweise an den Inhalt der inkriminierten Schriften angeschlossen haben.

Ich will damit weiter nicht rechten, nur das eine möchte ich doch betonen, daß das Bild, das sich aus diesen Vernehmungen 8 als ein ganz ungefärbtes, ungetrübtes, unanfechtbares

kaum angesehen werden kann. Meine Herren, denken

Sie sich den umgekehrten Fall: es würde einmal in Frankreich ein

ähnlicher Prozeß verhandelt, in dem es sich um Angriffe gegen das

Deutsche Reich oder den Deutschen Kaiser handelte, und da würden

als Sachverständige über unsere Zustände die Herren Bebel, Singer

und Stadthagen vernommen (Bewegung); die würden mit dem ganzen Fanatismus ihrer Ueberzeugung ein Bild entwerfen von den

Zuständen in Deutschland, vor dem auch die Welt erschrecken würde.

Sehr richtig!) Aber es würde kein Spiegelbild, sondern es würde ein Zerrbild sein, und Kundige würden nicht daran glauben. (Sehr richtig! rechts.)

Der Herr Buchholz ist in einer Volksversammlung, die nach Erlaß des Urteils hier von sozialdemokratischer Seite inszeniert war, als Assistent des Rechtsanwalts Liebknecht auf⸗ getreten, der da den Mord des Ministers Plehwe in seiner Weise verherrlicht hat. Der Herr Buchholz hat da auch eine Rede gehalten und, wie mir eben noch zur rechten Zeit einfällt, aber schon der Herr Interpellant erwähnt hat, hat der Rechtsanwalt Liebknecht dort eine Aeußerung getan, die Sensation gemacht hat. Er

sagt in seinem Vortrag über den Königsberger Prozeß:

1 Am pikantesten war es wohl, daß sich in den Gerichtsakten die schriftliche Bemerkung des Staatsanwalts befand: „Bei dem großen Interesse, das der Herr Justizminister an dem Prozesse nimmt, bitte ich Sie, recht zuverlässige Beamte mit der Unter⸗ suchung zu betrauen.“ Zuverlässige Beamte! das klingt odiös, und damit ist auch das Verfahren kritisiert, wonach man einen jungen Assessor mit dem wichtigen Amt eines Referenten betraut usw.

Diese Darlegungen waren offenbar geeignet und, wie ich auch gar nicht zweifele, dazu bestimmt, die Auffassung hervorzurufen, daß in dieser Verfügung der Staatsanwaltschaft eine Beeinflussung des Gerichts oder des Gerichtsvorsitzenden zu finden sei bezüglich der Besetzung des Gerichts, bezüglich der Auswahl der Beamten, die in der Sache tätig werden sollten.

Nun, meine Herren, wie verhält sich die Sache in der Tat? Am 8. November v. J. hat der Erste Staatsanwalt in Königsberg eine Requisition an den Polizeipräsidenten in Stettin gerichtet mit dem Ersuchen, bei dem schon erwähnten Redakteur Quessel in Stettin eingehende Nachsuchungen, eine Durchsuchung seiner Person und seiner Wohnung, vorzunehmen, nach etwaigen Briefen und nach anarchistischen Schriften usw., und da fügt er wie ich gleich hinzufügen will, be⸗ dauerlicher⸗ und überflüssigerweise am Schluß hinzu:

Bei der großen Wichtigkeit der Sache und dem hohen Interesse, welches der Justizminister an der Aufklärung des Sachverhalks nimmt, bitte ich, die Recherchen durch besonders zuverlässige Beamte vornehmen zu lassen. Also die Sache bezog sich lediglich auf polizeiliche Recherchen, und das Interesse an der Sache, welches mir nachgesagt wurde, war nicht etwa das Interesse an dem Ausgange des Prozesses, sondern nur an der Aufklärung der Tatsache, ob im Besitze des Herrn Queseel sich Schriften finden möchten, die zur Aufklärung des Schriftenschmuggels und seiner Organisation dienen könnten. Meine Herren, das war, wie ich nicht anstehe zu sagen, eine grobe Fälschung der Wahrheit, während der mir in bezug auf die Zitate, die ich am 22. Februar Ihnen vorgelesen habe, gemachte Vorwurf der Fälschung selbstverständlich jeder Be⸗ rechtigung entbehrt. Die sozialdemokratische Partei hausiert immer noch mit diesem Vorwurf in ihrer Presse und in ihren Schriften, daß ich mich hier der Fälschung schuldig gemacht habe. Ueber diese Frage wenn ich das einfügen darf hat der Herr Dr. Rost sich zu erklären Gelegenheit gehabt, und zwar sowohl im Laufe der münd⸗ lichen Verhandlung, als schon schriftlich im Vorverfahren. Die Be⸗ hauptung der Fälschung war in einem Artikel eines Leipziger sozialdemo⸗ kratischen Blattes ich glaube, es war die Volkszeitung gestützt auf eine Gegenüberstellung dessen, was ich gesagt hätte, dessen, was ich nicht gesagt hätte, und dessen, was ich, wenn ich richtig zitiert hätte, hätte sagen müssen. Nun hat Herr Dr. Rost, von dem alle die Uebersetzungen herrühren, die allein meinem Vortrage als Grundlage gedient haben, erklärt, daß ein haltloserer Vorwurf ihm noch nicht vor⸗

gekommen sei, und daß der Vorwurf der Fälschung seine Spitze zurückwende gegen die Angreifer; daß dieser Artikel in der „Leipziger Volkszeitung“ selbst eine grobe Fälschung darstelle, indem er mir Worte in den Mund legt, die ich gar nicht gesagt habe, indem er Erklärungen wegläßt, die ich abgegeben habe, und indem er den angeblich authentischen Wortlaut der zitierten Stellen teils ganz falsch wieder⸗ giebt oder endlich Erklärungen beanstandet oder als nicht existierend ableugnet, während sie in Wirklichkeit nur ihm nicht bekannt waren. Das ist also die Fälschungsgeschichte.

Meine Herren, alle diese Dinge haben in der Verhandlung in der Oeffentlichkeit natürlich eine große Rolle gespielt. Aber ich glaube doch behaupten zu können, daß die Erregung der Sozial⸗ demokraten im wesentlichen auf den Umstand zurückzuführen ist, daß sie gerade durch die Verhandlungen in Königsberg und durch das Uͤrteil festgenagelt worden sind in ihren Beziehungen zu den russischen ich will mal sagen: Sozialdemokraten oder sozialdemokratischen Revolutionären. In dem Urteil ist in der eingehendsten Weise dar⸗

gelegt worden, wie der ganze Vertrieb dieser Schriften durch die

Hände der Scozialdemokraten geht, wie eigentlich nur Sozial⸗ demokraten dabei beteiligt sind, wie insbesondere auch die Buch⸗ handlung des „Vorwärts“ als eine derjenigen Stellen angesehen werden muß, die als Generaldepot für diese Schriften dienen, von denen aus die Unterverteilung geschieht. Das ist natürlich den Herren Sozialdemokraten im höchsten Grade unbequem, und ich glaube, daß sie auch deshalb den großen Lärm angestellt haben, um davon die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken. (Sehr richtig! rechts.)

Aber, meine Herren, ich habe den Eindruck gehabt, daß das Siegesgeheul so möchte ich es nennen der sozialdemokratischen Presse über den angeblich in Königsberg errungenen Erfolg und über die blamable, noch nie dagewesene Niederlage der preußischen Re⸗ gierung und speziell der Justizbehörden doch auf einen Teil der bürgerlichen Presse scheinbar eine etwas hypnotisierende Wirkung aus⸗

geübt hat. Denn ich habe eine ruhige, sachliche Beurteilung der An⸗ gelegenheit in den meisten Organen der Presse, die mir zugänglich geworden sind, vermißt; ich habe insbesondere vermißt, sowohl in den Tagesblättern wie auch in den Fachzeitungen, eine selbständige sachliche Prüfung der Gegenseitigkeitsfrage. Man hat einfach gesagt: die Gegenseitigkeit ist von der Strafkammer in Königsberg verneint, also existiert sie nicht, also hat sich die Justiz mit Schmach bedeckt. Ja, meine Herren, ich habe Ihnen gewisse Andeutungen gegeben, daß man bei einer näheren Prüfung doch wohl zu einem andern Resultat hätte kommen können.

Wie gesagt, ich bedauere, daß diese Stellungnahme der bürgerlichen Presse den Triumph der sozialdemokratischen Partei, den sie aus dem Verlauf der Angelegenheit für sich herleitet, einigermaßen erleichtert hat. Aber, meine Herren, das wird die Justizbehörden nicht ab⸗ halten, auch in Zukunft ihre Pflicht zu tun. Und wenn der Abg. Bebel in seiner letzten Rede im Reichstage sich zu der Aeußerung verstiegen hat, daß in jedem anderen Staat nach dem Schluß dieses Prozesses der Justizminister mit Schmach und Schande aus dem Amt gejagt sein würde, meine Herren, mich läßt der Ausfall natürlich sehr kalt, so glaube ich, es hat ihm dabei sein sozialdemokratischer Zukunftsstaat vorgeschwebt, in dem zweifellos nicht nur ich aus dem Amt, sondern auch die sämtlichen anwesenden Herren aus diesem Saal verjagt werden würden. (Heiterkeit; sehr richtig! rechts.) Ich würde das Schicksal mit Ihnen teilen und würde es mir zur Ehre rechnen, dann auch hinausgeworfen zu werden. Aber, meine Herren, vorläufig sind wir noch nicht so weit! (Bravo! rechts.)

Minister des Innern Freiherr von Hammerstein:

Meine Herren, der dritte Absatz der Interpellation lautet: Gedenkt die Königliche Staatsregierung auf dem Gebiete der Fremdenpolizei sowie hinsichtlich der Ausweisungen und Aus⸗ lieferungen von Ausländern auf Reformen hinzuwirken, insbesondere eine Abänderung des Preußisch⸗Russischen Abkommens vom 13. Ja⸗ nuar 1885 herbeizuführen?

Dieser Teil der Interpellation hängt mit dem andern Teil und mit dem Königsberger Prozeß nur sehr lose zusammen, und auch der Herr Interpellant hat zu meinem Bedauern die Begründung dieses Teils etwas sehr kurz gefaßt und eigentlich nur sehr kurze Streiflichter ge⸗ worfen, sodaß ich nun in der schmerzlichen Lage bin, Ihre Geduld vielleicht noch mehr in Anspruch zu nehmen, als es mir selbst lieb ist.

Wenn ich eine Gesamtantwort vorweg nehmen darf, so würde es die sein, daß ich stets bemüht bin, in der Handhabung der Fremden⸗ polizei jede unnötige Härte zu vermeiden, dagegen an dem auf der Staatshoheit beruhenden Recht und der Pflicht des Staats, im eigenen Interesse bei dem Zuzug eine Beaufsichtigung und gegebenen Falls eine Ausweisung von Fremden vorzunehmen, auch künftig festhalten werde. Es entspricht den friedlichen und freundlichen Beziehungen der modernen Kulturstaaten zu einander, daß Angehörige des einen Staats in dem andern Staat eine weitgehende Duldung erfahren, und namentlich der preußische Staat hat allezeit Fremden ein weites und sicheres Asyl gegeben. Aber, meine Herren, diese Duldung hat ihre Grenzen einmal in dem persönlichen Verhalten der sich im preußischen Staat aufhaltenden Ausländer und dann im höheren politischen Interesse des eigenen Staats. Die Duldung ist die Regel; danach wird auch heute verfahren. Das Recht des Staats bleibt dabei unberührt, in allen Fällen, in denen der Fremde Anstoß erregt, oder in denen höhere politische Interessen obwalten, die Duldung auf⸗ zuheben und dabei zu verfahren, wie es ihm beliebt.

Wenn nun die Herren Antragsteller eine Reform unseres Fremden⸗ rechts wünschen, so möchte ich zunächst feststellen, was für einen Inbhalt denn eigentlich unsere fremdenpolizeilichen Vorschriften haben. Der besteht nach meiner Auffassung sachlich in dem Recht der Regierung auf die Abweisung Zuziehender, in dem Recht auf Beaufsichtigung der im Lande sich Aufhaltenden und in dem Recht der Wiederausweisung solcher, deren Ausweisung für nötig erachtet wird. Dieses Recht ist Ausfluß der Staatshoheit, der Souveränität, welche jedem einzelnen Staat an sich inne wohnt. Dieses Recht kann beschränkt werden durch völkerrechtliche Verträge und auch durch eigene, den Staat bindende Gesetze. Wir haben nur nenige Ver⸗ träge, welche dies Verhältnis zwischen Preußen und andern Staaten berühren und näher regeln, wir haben aber auch eine Anzahl von Gesetzen, welche das preußische Recht einschränken, und zwar Reichs⸗ gesetze. Artikel 4 der Reichsverfassung überträgt dem Reiche auch die Befugnis der Gesetzgebung über die Fremdenpolizei. Das Reich hat von der Befugnis, diesen Gegenstand in den Bereich seiner Gesetz⸗ gebung zu ziehen, auch mehrfach Gebrauch gemacht. Zunächst den⸗ jenigen Landes ausländern gegenüber, welche Reichsangehörige sind, den Angehörigen der anderen deutschen Staaten, durch Schaffung des Reichs⸗ indigenats und der Freizügigkeit; dann aber auch anderen Reichsdeutschen und Nichtreichsdeutschen im Sinne Preußens Ausländern gegen⸗ über durch das Gesetz über das Paßwesen und die Aufhebung der Paßpflicht, deren Zulässigkeit nur in besonderen Ausnahmefällen vor⸗ behalten ist; einzelne Bestimmungen in einigen anderen Gesetzen kommen daneben noch in betracht. Diese Gesetze sind natürlich für Preußen maßgebend. Soweit aber solche Reichsgesetze nicht bestehen, soweit das Reich von der Befugnis, diese ganze Angelegenheit seiner⸗ seits zu regeln, keinen Gebrauch gemacht hat, ist der preußische Staat in der Handhabung der Fremdenpolizei vollständig souverän.

Meine Herren, in Preußen besteht jetzt folgender Zustand: Eine Paßpflicht besteht lediglich für die aus Rußland kommenden Reisenden; es besteht ferner ein unbedingtes Abweisungsrecht an den Grenzen, ein Recht der eingehenden Beaufsichtigung im Inlande und endlich ein Ausweisungsrecht.

Wenn nun auch im allgemeinen Preußen zu allen Zeiten fremden Untertanen Schutz und Unterkommen gern gewährt hat, so findet doch diese Duldung immer eine Grenze in dem eigenen preußischen Staatsinteresse.

Was nun speziell die Ausweisungen und Auslieferungen betrifft, deren die Interpellation gedenkt, und die ja ein Teil dieses Fremden⸗ rechtes sind, so werden beide Begriffe häufig, meiner Ansicht nach, nicht genug von einander geschieden. Die Auslieferung flüchtiger Verbrecher ist ein Akt der internationalen Rechtshilfe, eine völkerrechtliche Pflicht, welche im Interesse des anderen Staats von dem eigenen Staat zu erfüllen und meist auch durch Verträge geregelt ist. Die Ausweisung dagegen ist ein Ausfluß des eigenen Rechts eines jeden Staats und erfolgt nur im eigenen Interesse und nach eigenem Belieben.

Meine Herren, unser Auslieferungsverkehr mit Rußland regelt sich nun zur Zeit nach dem von dem Herrn Interpellanten angezogenen

Vertrage vom 13 711. Januar 1885. Dieser Vertrag unterscheidet sich von anderen neueren Verträgen dadurch, daß die Auslieferungs⸗ pflicht, die übernommen ist, geringeren Umfang hat als in den meisten anderen Verträgen.

Wie der Herr Interpellant schon ganz richtig ausgeführt hat, besteht die Ausweisungspflicht nur in drei Fällen. Einmal wegen Angriffe gegen das Staatsoberhaupt, zweitens bei Mord und Mord⸗ versuch und drittens wegen strafbarer Herstellung und strafbaren Be⸗ sitzes von Dynamit und ähnlicher Sprengstoffe. Für alle anderen Fälle ist es in das Belieben des Staats gestellt, den Mann, der sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht hat, auszuliefern oder nicht.

Meine Herren, in dem Vertrage mit Oesterreich, in den Ver⸗ trägen mit England, Frankreich, Italien usw. ist die Grenze sehr viel weiter gezogen, da besteht eine Pflicht für uns, nicht nur die⸗ jenigen auszuliefern, welche sich der Verbrechen und Vergehen schuldig gemacht haben, die vorhin genannt sind, sondern z. B. auch alle, die sich des Raubes, des Kinderraubes, der Entführung, der Brand⸗ stiftung, des Diebstahls und einer ganzen Reihe von anderen Straf⸗ taten schuldig gemacht haben, während heute die Auslieferung in das Belieben des preußischen Staats Rußland gegenüber gestellt ist.

Ich möchte also behaupten, daß dieser russische Vertrag von 1885 nicht ein den modernen Anschauungen zuwiderlaufender, sondern ein erst recht diesen modernen Anschauungen entsprechender ist; er hat mildere Bestimmungen als die anderen Verträge.

Nun hat der Vertrag den Zusatz, daß, wenn eine Auslieferung gefordert wird, sie deshalb nicht abgelehnt werden darf, weil das Verbrechen in einer politischen Absicht begangen ist. Wenn also das Verbrechen einen politischen Charakter angenommen hat, dann soll dieser Umstand allein keinen Grund zur Ablehnung geben. Die praktische Handhabung dieses Vertrages hat in den langen Jahren seit seinem Bestehen zu keinen Bedenken und Schwierigkeiten Anlaß gegeben, und insbesondere auch nicht die Be⸗ stimmung wegen Auslieferung politischer Verbrecher. Tatsächlich sind bisher niemals mir wenigstens ist kein Fall bekannt; ich kann be⸗ zeugen, daß während meiner Amtszeit kein Fall vorgekommen ist Auslieferungsanträge in bezug auf politische Flüchtlinge gestellt, noch ist jemals solchen Anträgen stattgegeben worden. Dasselbe gilt auch für russische Deserteure und Refraktäre. Es war früher rechtens, daß gerade Deserteure in allererster Linie der Auslieferung unterlagen. Die ersten Verträge, welche moderne Staaten im 18. Jahrhundert über die Auslieferung schlossen, betrafen fast ausschließlich Deserteure. Das hat sich erfreulicherweise im Laufe der Zeit geändert, und zu der Zeit, als hier im hohen Hause 1860 die Verhandlungen stattfanden, die der Herr Vorredner erwähnt hat, bestand ein derartiges Kartell⸗ verhältnis preußischerseits noch mit Rußland. Seitdem ist dieser Kartellvertrag aber abgelaufen wenn ich nicht irre, im Jahre 1869 oder 1870 und nicht wieder erneuert worden. Seitdem ist kein Deserteur jemals nach Rußland ausgeliefert, und wenn ein derartiger Fahnenflüchtiger außerdem noch ein anderes gemeines Vergehen oder Verbrechen sich hat zuschulden kommen lassen, so wird die Aus⸗ lieferung stets nach dem Grundsatze der Spezialität von der Zu⸗ sicherung abhängig gemacht, daß er wegen militärischer Vergehen nicht zur Verantwortung gezogen wird. So schwebt gegenwärtig ein Ver⸗ fahren wegen Auslieferung eines russischen Deserteurs Schachow, der nach Entwendung von 8000 Rubeln flüchtig geworden und hier auf⸗ gegriffen ist. Auch in diesem Falle wird die Auslieferung von obiger Zusicherung abhängig gemacht.

Meine Herren, dieser Vertrag von 1885, der ja seinerzeit dem Reichstage vorgelegt wurde und ein Vertrag zwischen Deutschland und Rußland werden sollte, ist im Reichs⸗ tage nicht zur Verhandlung gelangt und nur als Vertrag zwischen Preußen und Rußland abgeschlossen worden, dem dann aber ein meines Wissens gleichlautender Vertrag zwischen Bayern und Ruß⸗ land gefolgt ist. Der Vertrag bedurfte der Zustimmung des preu⸗ ßischen Landtags nicht, weil er keine Lasten mit sich bringt, wegen deren allein nach Art. 48 der Verfassung die Verträge der Zustimmung des Landtags unterliegen.

Nun habe ich schon erwähnt, daß dieser Vertrag an und für sich der modernen Kultur nicht widerspricht, und ich habe weiter erwähnt, daß er auch zu irgend welchen Beschwerden und Bedenken in der praktischen Handhabung bis jetzt keinen Anlaß gegeben hat. Ich glaube deshalb, daß ich meinerseits eine besondere Hinwirkung auf eine Abänderung zur Zeit nicht in Aussicht stellen kann. Ich möchte aber ausdrücklich erklären, daß in neuerer Zeit auf dem Gebiete des internationalen Rechts die Anschauungen über den gemeinsamen Schutz der persönlichen Individualität in allen Staaten lebhaft erörtert werden, daß sie der kritischen Beleuchtung durch zu⸗ ständige Fachgelehrte unterliegen, daß sie auf Kongressen verhandelt werden und gelegentlich auch in diplomatischen Verhandlungen zum Austrag kommen. Und wie auf allen Gebieten, so wird auch auf diesem Gebiet niemals ein starres Festhalten an den Normen statt⸗ finden, die den Anschauungen ihrer Zeit entsprechend festgestellt sind,

sondern mit der wandelnden Zeit werden sich auch hier die An⸗ schauungen ändern, und dem Bedürfnis entsprechend wird auch auf diesem Gebiete die preußische Regierung weitere Aenderungen herbei⸗

zuführen suchen, wenn sie sich eben als notwendig erwiesen haben. Biss jetzt ist das nach meiner Auffassung noch nicht der Fall. Der Herr Vorredner hat dann auf die Ausweisungen Bezug ge⸗ nommen, wie auch die Interpellation selbst, und da möchte ich be⸗ V merken, daß die Ausweisungen nach Rußland durch ein besonderes V Abkommen vom Jahre 1894 geregelt sind. Dieses Abkommen stellt nicht eine Erschwerung des Verfahrens dar, sondern eine Erleichterung. Es ist verabredet worden, daß dann, wenn die Staatsangehörigkeit ohne Zweifel feststeht, nicht der diplomatische Weg einzuschlagen sei, sondern ein direkter Verkehr zwischen den Grenzbehörden stattfinden könne. Von diesem Uebernahmeverkehr wird in zahlreichen Fällen V Gebrauch gemacht. Der Vertrag ist aber, wie ich ausdrücklich hervor⸗ bebe, nicht ein Geheimvertrag, wie neuere Zeitungsnachrichtan anzu⸗ nehmen scheinen. Ein solcher Geheimvertrag besteht hierüber nicht, ebensowenig wie neuerdings anläßlich des japanisch⸗russischen Krieges, wie gestern der Reichskanzler im Reichstage erklärt hat, ein derartiger Geheimvertrag abgeschlossen ist. Dieser Vertrag von 1894 ist in den amtlichen Blättern, gerade wie andere Verträge, publiziert und vollständig bekannt. Die in diesem Vertrage vorgeschriebenen Formen der Uebergabe gebieten sich bei der großen Zahl der im Osten über unsere Grenze kommenden Russen, meisten⸗ teils polnische und polnisch⸗jüdische Russen. 88 (Schluß in der Dritten Beilage.)

zum D

Wie groß die Zahl ist, möge daraus hervorgehen, daß allein die Auswanderer, die durch Deutschland durchwandern, im vorigen Jahre an der russischen Grenze die Zahl von 50 000 überschritten haben. Diese Uebergabe erfolgt in der Regel, wenn unmittelbar aus Rußland Bettler, Landstreicher, Gesindel aller Art, wie es sich gerade an de Grenze herumtreibt, auf preußisches Gebiet übertritt. Sie erfolgt nicht, wenn irgendwelche besondere Verhältnisse es verbieten. Ich habe z. B. die Vorschriften über die Verhinderung der Niederlassung pol⸗ nischer Elemente aus Rußland in unseren polnischen Landesteilen im Mai d. J., weil ich voraussah, daß dieser Zuzug aus Anlaß des Krieges stärker werden würde, aufs neue in Erinnerung gebracht, dabei aber ausdrücklich betont, daß russische Deserteure und Refraktäre nicht den russischen Behörden überliefert werden sollen, wenn sie sich frei⸗ willig über eine andere Grenze Oesterreich oder welche sie wollen entfernen.

Das Verfahren der Ausweisung unter Androhung von Exekutiv⸗ maßregeln, um jemand, den man im Lande nicht mehr dulden will, zum Verlassen des Landes zu zwingen, ist in den letzten Jahren viel⸗ fach angewandt worden, und ich halte das für einen Fortschritt gegen den früheren Usus, daß in allen Fällen ein Transport bis an die Grenze erfolgt.

„Ich möchte hier ausdrücklich betonen, wie auch der Herr Justiz⸗ minister schon erwähnte, daß bei der Frage nur preußische Interessen maßgebend sind, allerdings auch freundschaftliche Gesinnung gegen alle unsere Nachbarn, aber daß dabei keine Liebedienerei für den Nachbar⸗ staat, sondern nur die Liebe zur eigenen Heimat der maßgebende Faktor ist. Wir müssen unsere Heimat von den Elementen freihalten, die im Osten unsere schon durch unsere fremdnational gemischte Be⸗ völkerung schwer bedrohte Stellung noch mehr zu gefährden in der Lage sind. Sie werden es verstehen, daß wir nicht alljährlich tausend und abertausende von polnischen Zuzüglern aus dem polnischen Ruß⸗ land bei uns dauernd seßhaft machen können, wenn wir Herren in unserem deutschen bleiben wollen. (Sehr richtig! rechts.) Die Maßregeln, gegen getroffen werden, daß sie nicht bei uns

seßhaft werden, daß sie über die Grenze zurückgehen oder eine andere Grenze aufsuchen, wenn sie das wollen, sind absolut nötig in unserem eigenen preußischen Lebensinteresse. (Sehr richtig! rechts.)

Der Herr Interpellant hat in ganz wenigen Worten auch der Auswanderer gedacht; er hat von „Ballin“⸗Fahrkarten und derartigem

Ich wollte, er hätte das etwas näher begründet, worin stände des geltenden Verfahrens sieht; aber die von ihm ge⸗ machten Andeutungen zwingen mich, hier mit kurzen Worten darauf einzugehen, weshalb nun eigentlich gegen die Auswanderer an der russischen Grenze mit ganz besonderen Vorsichtsmaßregln bei uns vor⸗ gegangen wird. Meine Herren, diese Erwägungen sind sanitärer und armenrechtlicher Natur, und sie sind viel älter und stammen aus einem ganz anderen Anlasse, als vielleicht der Herr Vorredner selbst an⸗ genommen hat.

Im Anfange der 90 er Jahre hatte eine große Auswanderung aus Rußland nach überseeischen Ländern begonnen. Im Jahre 1892/93 herrschte in den westlichen Gouvernements Rußlands ausgedehnter⸗ maßen die Cholera; sie war auch zu uns übergetreten, und nun kam eine große Zahl von russischen Auswanderern, die durch Deutsch⸗ land hindurch wollten. Sie wurden aber in Bremen und Hamburg nicht angenommen, sie wurden auch an der holländischen Grenze urückgewiesen, und zwar mit Rücksicht auf sanitätspolizeiliche Maß⸗ regeln, die die amerikanische Regierung gegen die Einwanderung dieser Leute getroffen hatte. Man wollte sie nicht ganz ohne Zweck nach Amerika hinbefördern, um sie nachher wieder auf ihre Kosten zurück⸗ zubefördern und wieder an der deutsch preußischen Grenze auszusetzen. Nun kamen die Leute und verbreiteten sich im Inlande. Ich glaube, daß sie in sehr hohem Maße damals dazu beigetragen haben, daß die Cholera eine bedauerliche Verbreitung auch bei uns fand. Da kamen nun die Beschwerden von allen Seiten. Sie kamen auch von eiten unserer Behörden an der holländischen Grenze. Die Leute derteilten sich in den Kreisen Bentheim und Umgegend, es entstanden a sanitäre Gefahren und es wurde die Armenverwaltung auf eine sehr unangenehme Weise in Mitleidenschaft gezogen. Gleichzeitig war dasselbe auch hier in Berlin geschehen, und die erste Beschwerde gegen diese Leute ging von dem Berliner Magistrat aus. (Hört, hört! rechts.) Der Berliner Magistrat hatte im August 1893 sich an die Regierung gewandt und geschrieben:

Wir gestatten uns, die Aufmerksamkeit Eurer Exzellenz auf den in letzter Zeit bemerkbaren neuen Uebertritt russischer Aus⸗ wanderer über die diesseitige Grenze hinzulenken. Derselbe erregt unser Bedenken vorzugsweise im Hinblick auf die sanitären Ge⸗ fahren, mit denen der Zuzug derartiger Personen uns und die All⸗ gemeinheit bedroht, da dieselben größtenteils aus Gegenden kommen, in denen die Cholera herrscht, und bei ihrem schlechten Ernährungs⸗ zustande und ihrem ausgeprägten Hang zur Unreinlichkeit für jede Seuche besonders empfänglich scheinen. Die Entfernung solcher Personen von hier im Wege der offiziellen diplo⸗ matischen Verhandlung ist erfahrungsgemäß mit erheblichen Schwierigkeiten uͤnd zeitraubendem Schriftwechsel verbunden, während die privaten Bemühungen des hiesigen Schutzkomitees in den unz ulänglichen Mitteln ihre Grenzen finden. Es erscheint uns daher in jeder Hinsicht wünschenswert, daß diese Personen, soweit dieselben sich nicht im Besitze ausreichender Geldmittel be⸗ finden, schon vor dem Betreten der Grenzen unseres Staatsgebietes oder doch unmittelbar danach in ihre Heimat zurückgewiesen werden, was sich dann auch sehr viel leichter durchführen ließe, da dieselben dann noch bereitwilliger dazu sein werden und ihre Mittel dann noch nicht in dem Maße erschöpft sind, als nach erfolgter Weiterreise hierher.

Eure Erzellenz bitten wir, diese Angelegenheit sorfältigst in Erwägung zu ziehen und die zur Fernhaltung des Zuzugs russischer

Dritte Beilage

Reichsanzeiger und Königlich Preuß

18

Berlin, Montag, den 12. Dezember

Auswanderer erforderlichen Maßnahmen hochgeneigtest treffen zu wollen. Diesem Wunsche der Stadt Berlin, dem gewiß ein berechtigter Anlaß zu Grunde lag, ist damals die Staatsregierung nachgekommen.

Es kam hinzu, daß der Auswandererstrom, auch der gesunde, wegen dieser Schwierigkeiten, durch Deutschland zu kommen, ins Stocken geriet, und daß sowohl die Hamburger als die Bremer Schiffahrtsgesellschaften Interesse daran hatten, diese Auswanderer doch wieder über ihre Häfen zu befördern. Es ist dann mit diesen beiden Schiffahrtsgesellschaften verabredet worden, daß alle russischen Auswanderer wegen der Seuchengefahr an der Grenze in eine sogenannte Kontrollstation aufgenommen, in dieser unter⸗ suckt werden, und ihre Weiterreise nur dann gestattet wird, wenn sie gesund sind. Es ist dann weiter als Bedingung gestellt worden ich lasse die unbedeutenden Bedingungen weg —, daß die Schiffahrts⸗ gesellschaften dafür aufzukommen haben, daß der Rücktransport der Auswanderer, wenn sie in Amerika oder England nicht angenommen werden, bis an die russische Grenze gesichert ist, damit sie uns nicht in Bremen oder Hamburg ausgesetzt werden und dann der preußische Staat mit diesen mittellosen Personen überschwemmt wird.

Seitdem haben diese Kontrollstationen bestanden, im großen und ganzen ohne jede Beschwerde dagegen. Es mag ja sein, daß hier und da mal einer der Angestellten der Schiffahrtsgesellschaften oder einer der überwachen den Polizeibeamten einen kleinen Verstoß gemacht hat. Ja, meine Herren, bei 50 00 Personen im Jahr und bei einer Zeit⸗ dauer von jetzt mehr als 10 Jahren ist das kaum anders denkbar. Aber irgend welche groben Verstöße haben niemals stattgefunden, und die Angabe, daß die Schiffahrtsgesellschaften es in der Hand hätten, zu bestimmen, wen sie zu den Stationen zulassen wollen oder nicht, ist falsch. Die Bestimmung darüber, wer in diesen Kontrollstationen zuzulessen sei oder nicht, hat ganz aus⸗ schließlich der Polizeibeamte. Es haben hier und da zwischen den Polizeibeamten und den Beamten der Schiffahrtsgesell⸗ schaften Friktionen stattgefunden, die nie auszubleiben pflegen; aber an der Tatsache ist nicht zu zweifeln, daß den Ausschlag in jedem einzelnen Falle nur der Polizeibeamte zu geben hat.

Es ist dann weiter die Anordnung getroffen, daß die Polizei⸗ beamten, wenn irgend eine Beschwerde erfolgen sollte mögen es nun Gendarmen oder Polizeikommissare sein —, der vorgesetzten Be⸗ hörde davon sofort Mitteilung zu machen haben, damit diese un⸗ parteiisch darüber entscheidet. Es ist dann endlich die allgemeine An⸗ weisung gegeben, wenn es sich darum handelt, ob jemand als Aus⸗ wanderer zu betrachten ist oder nicht, lieber einen Auswanderer nicht in die Kontrollstation zu bringen, als in zweifelhaften Fällen solche Personen, welche wie Auswanderer aussehen, aber es tatsächlich nicht sind, wider ihren Willen der Kontrollstation zuzuführen. Auch hiergegen werden wohl hie und da kleine Anstände vorgekommen sein. Aber im großen ganzen sind die stöße immer außerordentlich unbedeutend gewesen, und tätsächlich lehrt die Erfahrung, daß es im großen und ganzen leicht ist, zu er⸗ kennen, ob es sich um eine Auswandererfamilie handelt oder um eine Familie, die nur zu ihrem Vergnügen, etwa nach Paris oder ich weiß nicht wo sonst hin reist. Ich möchte noch hinzufügen, daß ganz ähn⸗ liche Bestimmungen auch bezüglich der Auswanderer bestehen, welche aus südlichen Gegenden über unsere südöstliche Grenze durch Deutsch⸗ land hindurchgehen, die aus Ungarn, Galizien, Rumänien usw. stammen; doch war bei diesen es nicht notwendig, so eingehende sanitäre, prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen, wie das bezüglich der aus Rußland kommenden der Fall ist. Die Stationen unterscheiden sich von den eigentlichen Kontrollstationen dadurch, daß sie nicht den Namen Kontrollstationen, sondern Registrierstationen führen, und daß die ärztliche Untersuchung nur eine oberflächlichere ist. Aber diese Registrierstationen haben sich ebenfalls bewährt, wie daraus zu ersehen ist, daß neuerdings im Königreich Sachsen ein derartige Registrier⸗ station eingerichtet ist, und daß Verhandlungen darüber schweben, daß auch in Süddeutschland solche Stationen eingerichtet werden.

Der Herr Vorredner hat dann noch einige Bemerkungen gemacht über mögliche Ungebühr, welche den deutschen Reisenden in Rußland zu teil werde, und darüber, daß sie russischen Vorschriften über den Aufenthalt der Fremden in Rußland in manchen Dingen gar zu scharf sind. Darauf kann ich nur erwidern, daß es nicht Aufgabe der preußischen Gesetzgebung ist, in die autonome Gesetzgebung und Ver⸗ waltung Rußlands einzugreifen; ebenso wie wir uns eine Einmischung Rußlands in unsere Angelegenheiten verbitten müßten, hat Rußland ausschließlich das Recht, seine Fremdenpolizei nach seinen Bedürfnissen und Anschauungen zu regeln. So weit aber deutsche Reichangehörige etwas schlechter gestellt sein sollten als die Angehörigen anderer Staaten, und so weit unsere deutschen Reichsangehörigen in Rußland unberechtigter Weise unrichtig behandelt sein sollten, glaube ich, dürfen Sie alle vertrauensvoll darauf rechnen, daß es an einer wirksamen Vertretung der deutschen Interessen seitens des Auswärtigen Amts oder seitens unserer Vertreter in Rußland nicht fehlen wird. Ich muß mir versagen, darauf, ob in dieser Beziehung vielleicht in dem neuen russischen Handelsvertrag, neue Bestimmungen enthalten sind, hier ein⸗ zugehen, da der Handelsvertrag zur Zeit noch nicht veröffentlicht ist. Es ist von dem Herrn Interpellanten dann noch mit einigen Worten darauf hingewiesen worden, daß die polizeiliche Verwahrung, die polizeiliche Haft, welche häufig mit einer Ausweisung verbunden sei, doch eine große Härte in sich schließe. Er meinte, wenn ich ihn richtig verstanden habe, daß diese polizeiliche Verwahrung auch mit unsern Gesetzesvorschriften nicht vollständig im Einklang stehe. Das letztere muß ich bestreiten. Es ist richtig, daß jeder Deutsche, der von der Polizei festgenommen wird, unverzüglich dem Richter zu⸗ geführt werden soll. Ein Recht darauf für einen Ausländer, sofern er nicht etwa strafrechtlich verfolgt wird, besteht nicht, und wenn ich es tatsächlich bedauere, daß eine polizeiliche Verwahrung gerade in bezug auf diese Ausweisungsfälle manchmal nötig ist und manchmal

Ver⸗

länger dauert, als mir liebt ist, so kann ich andererseits nur sagen,

.

ohne diese polizeiliche Verwahrung ist eine Ausweisung häufig ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Person, deren Ausweisung aus dem Staate für notwendig erachtet wird, deren Verbleib im Landesinteresse man nicht auf Tage dulden zu können glaubt, muß eben festgenommen werden, bis die Ausweisung tatsächlich vollstreckbar ist, bis eventuell die Ueber⸗ nahme seitens des fremden Staats zugesichert ist. Auch dadurch wird diese Maßnahme gemildert, daß in allen den Fällen, wo es irgend zulässig ist, die Ausweisung durch polizeiliche Verfügung unter An⸗ drohung einer Exekutivstrafe an die Stelle des Transports über die Grenze tritt.

Meine Herren, der Herr Interpellant hat dann noch kurz einige Fälle berührt, welche schon bei Verhandlungen in diesem hohen Hause im Februar dieses Jahres erwähnt wo Ich weiß nicht, ich gut tue, auf diese Fälle hier einzugehen; ich glaube aber doch, d es vielleicht, um mich erschöpfend zu äußern, nölig ist, einige derarti Fälle wenigstens ganz kurz hier zu berühren; ich glaube, daß das so mehr notwendig ist, als Sie aus der Zusammenstellung, die ich mir gemacht habe, sehen werden, daß das allermeiste, was die Presse ge⸗ bracht hat, lediglich ersunden war (Hört! hört!) Ich bin allmäblich auf den Standpunkt gekommen, daß ich das, was im „Vorwärts“ steht, a priori für absolut falsch ansehen muß; (Hört! hört!) denn wenn man der Sache auf den Grund geht, ergibt sich jedes⸗ mal, daß entweder die Sache rein aus der Luft gegriffen oder daß sie so entstellt ist, daß sie ihren ursprünglichen Charakter voll⸗ ständig verloren hat. Meine Herren, der „Vorwärts“ hat im Oktober dieses Jahres eine Geschichte gebracht: es habe ein russischer K. ofsizier einen Deserteur, einen russischen Grenzkosaken, verfolgt; Kosak sei in einen vorbeifahrenden Eisenbahnzug gesprungen, preußischem Gebiet, der russische Offizier sei dem Manne in Eisenbahnzug nachgesprungen und habe dann dessen Verhaftung auf dem nächsten Bahnhof herbeizuführen gesucht. Meine Herren, es sind angegeben die Orte Dzeditz, Goczalkowitz und Kattowitz; zwischen diesen Orten und auf dem Zuge habe sich der Vorgang abgespielt. Ich habe

wich genau erkundigt, an diesen Orten ist über den ganzen Vorfall in einen fahrenden Eisenbahnzug

nichts bekannt. Ich meine, der springende Dsserteur (Heiterkeit) und der ihm nachspringende Kosaken⸗ offizier deuten schon darauf hin, daß die Erzählung lediglich ein Produkt der Phantasie und nicht der Wahrheit ist.

Dann ist im „Vorwärts“ im Sommer behauptet worden, es sei in Beuthen ein russischer Deserteur festgenommen, von zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr zur Bahn transportiert und in Myoslowitz der russischen Grenzwache übergeben worden. Meine Herren, diese ganze Sache ist auch falsch. Es liegt hier die Tatsache z Grunde, daß ein deutscher Deserteur in seiner deutschen Uniform von Beuthen aus der Grenze zugegangen war und auf deutschem Gebiete von Gendarmen abgefangen ist; dieser preußische Deserteur wurde, selbstverständlich auf preußischem Gebiete, wieder nach Beuthen zurück⸗ transportiert und von da seinem Regiment wieder zugeführt, ganz gewiß aber nicht an die russische Grenze zu einem russischen Polizeikommissar.

In einem andern Falle war gesagt worden, ein russischer Grensoldat habe mehrere russische Deserteure auf preußischem Gebiete verfolgt und auf sie geschossen; einer d Deserteure sei erschossen, ein anderer schwer verletzt worden. Meine

Wort wahr. Mög⸗

; 3 9 U

Herren, an der ganzen Geschichte ist kein licherweise ist etwas Aehnliches auf russischem Gebiete erfolgt; darüber aber, was da geschieht, haben wir nicht zu urteilen, auf deutschem

er preußischem Gebiet hat dieser ganze Vorfall sich nicht abgespielt.

Der Herr Abgeordnete hat dann speziell auf einige Fälle hin⸗ gewiesen, die damals schon hier zur Sprache gekommen sind, und in denen es sich um Verletzungen des Postgeheimnisses handeln sollte. Ich hatte damals gesagt, daß es zunächst ge⸗ heißen hätte, der Fall sei in Königsberg vorgekommen, daß aber dort der Fall gänzlich unbekannt sei, daß dann der Herr Rechtsanwalt Haase, der im Reichstag den Fall zur Sprache gebracht hat, darüber vernommen worden sei, daß er aber erklärt habe, der Fall habe in Charlottenburg gespielt, zur Sache wolle er sich aber nicht auslassen. Es hat nun auch in Charlottenburg eine eingehende Untersuchung stattgefunden, es hat aber über den Fall nichts ermittelt werden können. Da diejenigen Leute, die den Fall zur Sprache gebracht haben. sich geweigert haben, näheres, wie z. B. die Namen usw. anzugeben, so war es unmöglich, weiter in die Sache einzugreifen. Ebenso verhält es sich mit dem Fall, auf den, wie ich glaube, der Herr Antragsteller auch Bezug genommen hat, mit dem Fall, der den Versuch betrifft, Briefe des Abg. Herbert auf der Post in Stettin zu erlangen. Auch da hat die Untersuchung lediglich dazu geführt, daß jemand das Postamt schriftlich ersucht hat, die für den Abg. Herbert bestimmten Briefe postlagernd zu bestellen. Er hat sich aber zum Empfange der Briefe nicht eingefunden, und über den Täter dieses Versuchs ist überhaupt nichts zu ermitteln gewesen, keines⸗ wegs aber ist irgendwie anzunehmen, daß dabei die russische oder preußische Polizei die Hand im Spiele gehabt habe.

Meine Herren, ich könnte die Liste solcher unbegründeten Be⸗ schuldigungen noch sehr erweitern; ich glaube aber, daß ich Ihre Geduld zu sehr in Anspruch nehmen würde. Ich hoffe aber, daß Sie nach den eingehenden Darlegungen die Ueberzeugung gewonnen haben, daß die preußische Polizei auch in diesen Dingen ihre Pflicht, und nichts als ihre Pflicht getan hat, niemandem zu Liebe, aber auch niemandem zu Leide, lediglich im berechtigten eigenen preußischen Staatsinteresse! (Lebhaftes Bravo! rechts)

Auf Antrag des Abg. Fischbeck (fr. Volksp.) erfolgt die Be⸗ sprechung der Interpellation.

Abg. Viereck (freikons.): Da das Urteil noch nicht rechtskräftig eworden ist, müssen wir mit der nötigen Zurückhaltung an diese beas⸗ herantreten. Die unrichtigen Uebersetzungen des russischen

eneralkonsulats sind für das Gericht nicht maßgebend ge⸗ wesen, sondern es ist der zuverlässige Sachverständige Rost hinzugezogen worden. Dem Minister kann man in dieser

deckt

Hinsicht keinen Vorwurf machen. Die 1 der Uebersetzungen ist erst im Laufe des Gerichtsverfahrens ent⸗ worden. Sind die Beschuldigungen gegen die Angeklagten