1905 / 10 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 12 Jan 1905 18:00:01 GMT) scan diff

Reeformen von 1864 wieder beseitigt.

Später kommt die Anklage an das Justizministerium, sie ist schlecht geschrieben, umfaßt 235 Seiten, und auf Seite 125 steht die Ge⸗ 8 von der Gegenseitigkeitsfrage. Nun ist es doch bei der rdnung, die doch sonst in Preußen herrscht, fast unerklärlich, wie der Urlaub geht und infolgedessen die Anklage nicht mehr durchliest. Und das bei einem Prozesse, auf den die Augen der ganzen Welt gerichtet sind, und der den Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus wiederholt be⸗ schaftigt hat. So etwas hätte ich bis dahin für vollständig un⸗ möglich gehalten. Selbst ein Blatt wie die „Post’, die immer der russischen Seite geneigt ist, hat gesagt, das offene 2 eständnis des Justizministers gereiche ihm persönlich zur Ehre, elhe aber nicht über die Tatsache hinweg, daß wir es hier mit einem unglaublichen bureaukratischen Schlendrian zu tun haben. Auch sonst ließe sich an den Ausführungen des Justizministers bezüglich der An⸗ wendungen des § 139 viel einwenden. Der Justizminister ging sogar so weit, daß er sogar den Russen das Recht gab, deutsche Behörden auf Grund des § 139 zur Anzeige zu bringen, wenn sie Handlungen, die in Deutschland erlaubt sind, in Rußland aber nicht, nicht zur An⸗ zeige brächten. Ein Weiteres. Man gibt den Verteidigern nur 5 Tage Zeit zur Einsicht in die Riesenakten. Man sagt, die An⸗ geklagten hätten Beschwerde erheben können. Als Richter muß ich aber sagen, man bätte doch bei einer derartigen An⸗ gelegenheit so viel Takt besitzen müssen, die Verteidiger in den Stand zu setzen, in eine gründliche Prüfung der Rechts⸗ und tatsächlichen Feaen einzutreten. Die Vorwürfe gegen die Aufstellung des orsitzenden, der bis vor kurzem Staatsanwalt war, kann ich von meinem Standpunkte nicht teilen. Nicht immer sind frühere Staatsanwalte die strengsten Richter, aber man sollte auch in Preußen nicht so lange Richter im staatsanwaltlichen Dienste lassen, damit sie nicht zu eingefleischte Staatsanwälte werden. Ein anderer Vorwurf aber ist unter allen Umständen begründet. Man hat nämlich zum Referenten einen Hilfsrichter, einen jungen Assessor aufgestellt. Ich zweifle nicht an der Tüchtigkeit dieses Herrn, aber die Aufstellung eines Hilfsrichters bei einem solchen Proleß ist geradezu eine Provokation der öffentlichen Meinung gewesen. Man weiß doch genau, wie vor allem von der Sozialdemokratie gegen die Hilfsrichter mit vollem Rechte vorgegangen wird, da man sie nicht für selbständig erachtet. Im Anschluß an diese formalen Mängel des Verfahrens möchte ich zwei Fragen stellen, die eigentlich den Reichskanzler angehen, und die ich bei einer anderen Gelegenheit wiederholen müßte, wenn sie nicht von ihm oder seinem Vertreter beantwortet würden. Was hat der Reichskanzler getan, oder ge⸗ denkt er zu tun gegenüber der Tatsache, daß das Kaiserlich russische Generalkonsulat in amtlicher Ferm urd unter amtlichem Siegel an das Königlich preußische Polizeiprasidium am 30. September 1963 eine völlig falsche Bescheinigung über den Inhalt des russischen Strafgesetzbuchs lieferse, welche die Basis dieses Riesenprozesses bisde e, und ebenso an die Staatsanwaltschaft in Königsberg und an den Vorsitzenden der Strafkammer? Was gedenkt ferner der Reichskanzler zu tun, um in Zukunst Fälle zu vermeiden, die als eine offene Verhöhnung der deutschen Gerichte seitens der russischen in und außerhalb Deutschlands aufgefoßt warden und die der preußische Justizminister selbst ols höchst befremdlich be⸗ zeichnet hat. Ich meine die Antwort, die das Gericht in Riga dem Königsberger Eericht erteilt hat, als es ersucht wurde den Zeugen Zkubik zu vernehmen Diese Antwort lief darauf hinaus, der Ange⸗ klagte solle nur über die Grenze herüberkommen, dann würde er sofort auf administrativem Wege verschwinden, aber der Verteidiger kürfte der Vernehmung nicht beiwohnen. Ist das eine freundnachbarliche Behandlung? Scklechter konnte der preußischen Regierung kaum gedankt werden. Ich komme nun auf die praktische Frage: Wie können wir der Wiederholung solcher Verbältnisse für die Zukunft vorbeugen? Die Herren von der äußersten Linken haben sich die Antwort sehr leicht gemacht; sie wollen einfach die §§ 102 und 103 streichen. Ich habe schon im Februar hier aufs schärfste gegen diese beiden Paragraphen polemssiert; aber wir müssen doch schauen, zu einem praktischen Resultat zu gelangen, und die einfache Streichung ist unter keinen Umständen zu erreichen. Wir sind mit der Streichung ein⸗ verstanden, aber im jetzigen Zeitpunkt ist nicht daran zu denken, ein solches Zugeständnis zu erlangen. Die Kriitik ist immer leichter, als Positives zu schaffen. Die Fassung, die wir vor⸗ schlagen, soll verhindern, daß mit Rußland ein Gegenseitigkeits⸗ vertrag bestehen kann, und zweitens verhindert sie, daß einfach ad hoc durch Auslassung eines Botschafters oder dergleichen die Ver⸗ bürgung der Segenseitigkeit erklärt werden kann, und unsere Fassung ermöglicht schließlich eine genaue Kontrolle darüber, ob der betreffende Staat ein solches Kulturnivcau einnimmt, daß mit ibm in ein Gegenseitigkeitsverhältnis eingetreten werden kann. Alle die sehr schwierigen Streitfragen, die sich hier erhoben haben, drängen auf eine Lösung hin. Zur Vermeitung ähnlicher kulturwidriger Fälle muß die Frage untersucht werden: kann Dautschland überhaupt ein straf⸗ rechtliches Gegenseitigkeitsverhältnis mit Rußland eingehen? Voraussetzung dafür wäre die Garantierung eines Rechts⸗ zustandes, der eine Vergleichung mit dem unstigen wenigstens in abstracto zuläßt. Das kann Rußland nicht leisten; denn es ist kein Rechtesstaat, es bietet keine Mönlichkeit der Kontrolle, die lediglich das geschriebene formale Gesetz gewährt. In dem absolutistischen Staat Rußland g bt es aber kein solches formales Gesetz, es gibt keinen Unterschied zwischen Gesetz und Erlaß und keinen Unterschied zwischen Gesetz und geheimen Erlassen. Die meisten geheimen Ukase sind im stande, jedes geschriebene Gesetz einfach aufzuheben, und dazu kommt noch, daß in Rußland seit etwa zehn Jahren der Belagerungszustand besteht. Was heute in Rußland verbürgt ist, kann es morgen schon nicht mehr sein; die preußische Staatsregierung kann darüber aoöbsolut keine Kontrolle ausüben. Reußner erzählt darüber Erstaunliches; bis 1898 wurden mit einem Federstrich des Staatsanwalts Dutzende von katholischen Persenen einfach in die Reihen der Rechtgläubigen aufgenommen und streng bestraft, wenn sie dagegen remonstrierten. In neuester Zeit ist das noch viel ärger geworden; die administrative Praxis hat sich in einem Grade entwickelt, daß die Macht und Bedeutung der geheimen Ukase gar nicht mehr überblickt werden kann; es ist ein rein administrarives Prozeßverfahren eingeführt worden. Die russische Poltzei ist danach allmäch ig sie entscheidet über Leben und Tod, sie tritt an die Stelle von Gefetz und Recht; die formalen Rechtssätze werden in Rußland mit Füßen getreten. Ein gewisser Gaͤwrilowitsch, der einer schädlichen Richtung angeblich angehören sollte, wurde einfach ohne jedes Verfahren nach Sibirien verschickt und dort jahrelang festgehalten; auf seine immer wiederholte Frage, was er denn verbrechen habe, wurde ihm die Antwort stets verweigert. VNon einem solchen Staat sagt der Staatsanwalt in Königsberg, daß der bloße Strafantrag die Gegensci igkeit mit Deutschland herstelle. Auch das materielle Kriminalrecht in Rußland ist so, daß ein deutscher Staatsanwalt sich genieren sollte, damit die Gegensettigkeit zu begründen. Das russische Strafgesetz von 1806 enthält ein geradezu orientalisches, mittelalte liches Strafsystem, das niemals die Basis für ein Gegenseitigkeitsabkommen mit Deutschland bilden darf. Schon die Bekennung zu einem anderen Bekenntnis oder der Versuch, einen anderen zum christlichen Glauben zu bringen, wird mit Kerkerstrafe und Verbannung nach Sibirien bestraft. Solche Bestimmungen hat kaum das koreanische Gesetz welches bestimmt, daß, wer etwas tut, was nicht erlaubt ist, 40 Prügel bekommt. Nach einer ersten juristischen Autorität in St. Petersburg ist in der ersten Instanz von einer Trennung der administrativen und der juristischen Gewalt keine Spur, und das Gesetz von 1898 hat die Die erwähnte Autorität sagt, Sonne des Rechtsstaats erst zu leuchten, Rußland wird in absehbarer Zeit noch nicht Rechtestaat sein. Wer diesen tönernen Koloß zu liebevoll bebandelt, bekommt Schmutz an die Finger, der nicht so rasch abgeht. Ein Gegenseitigkeitsvertrag mit Rußland hätte nur Wirkung, wenn in Rußland ein in verfassungsmäßiger

Referent in

in Rußland beginnt die wenn auch sehr blaß.

setzen. So wäre jedes Gegenseitigkeitsverhältnis auf Grund der §§ 102 und 103 unseres Strafgesetzbuches juristisch unmöglich und auch sittlich verwerflich. Wir verlangen deshalb in unselem Antrage den formellen Abschluß eines Staatsvertrages gemäß § 11 der Ver⸗ fassung, unter Zustimmung des Bundesrats und Genehmigung des Reichstags, und ferner, daß durch ein materielles Straf⸗ und Prozeß⸗ recht in Rußland die Gegenseitigkeit wirklich verbürgt ist. Das ist nur möglich bei unabhängigen Richtern. Der richtige Weg ist ein Fürnh und die Abänderung der §§ 102 und 103. Auch in bezug auf die Ausweisungen und Auslieferungen muß das Reich die Kontrolle der einzelstaatlichen Fremdenpolizei erhalten. Die Ent⸗ hüllungen des Reichskanzlers vom 20. Februar zeigen die gefährlichen Klippen in dem Vertrag von 1885 zwischen Preußen und Rußland, denn er sprach davon: der Zar koͤnnte das Vertrauen zur deutschen auswärtigen Regierung verlieren, der Zar könnte gekränkt werden, wenn wir unser Versprechen der Auslieferung nicht halten. Ueber diese Verlegenheit wollen wir dem Reichskanzler hinweghelfen und ähnliche Bestimmungen treffen, wie sie andere Staatsverträge haben. Schon 1892 verlangten die Abgg. von Bar und Gengassen die reichsgesetzliche Regelung, die heute doppelt notwendig ist. Jetzt muß nicht nur ein Verarteilter, sondern schon ein Angeschuldigter an Rußland ausgeliefert werden. Leider Gottes ist es auch bei uns schon so weit gekommen, daß man mit der Verhängung einer admini⸗ strativen Präventivhaft beinabe den Rechtsboden verlassen hat. Be⸗ urteilt man einen Staat danach, wie er die Fremden behandelt, so ist weder Preußen in Deutschland, noch Deutschland in der Welt voran. In dem Ausweisungsrecht ist nicht das Recht enthalten, einen Ausländer ohne weiteres in Strafhaft zu nehmen und zu behalten. Die Ausweisungsanträge werden auf diplomatischem Wege beim Auswärtigen Amt gestellt, deshalb muß auch diese Frage reichs⸗ rechtlich geregelt werden. Jetzt wird die Ausweisung vielfach zu einer Auslieferung gemacht. Ausweisungen sollten nur in geordnetem Verfahren nach einem mit Gründen versehenen Urteil und mit dem Recht des Rekurses an ein unabhängiges Verwaltungsgericht zulässig sein. Die Armut darf unter keinen Umständen ein Grund zur Auslieferung eines Fremden sein, wie aus einer Aeußerung des preußischen Ministers des Innern hervorging. Die Wege überlassen wir der Regierung, am besten wäre ein Spezial⸗ gesetz über die Fremdenpolizei. In allen übrigen Staatsverträgen ist die Auslieferung wegen politischer Delikte ausgeschlossen. Alle diese Verträge begründen das sogenannte politische Asplrecht. Von diesem ganzen modernen System unterscheiden sich allein die Verträge zwischen Preußen und Bayern einerseits und Rußland anderseits. Nach der Generalklausel dieser Verträge können mit Rücksicht auf die freundnachbarlichen Beziehungen auch in allen anderen Fällen als den besonders aufgezählten Auslieferungen statt⸗ finden. Schon die bloße Anschuldigung wegen Majestätsbeleidigung durch einen russischen Staatsanwalt genügt zur Auslieferung. Das Aiylrecht ist ausdrücklich aufgehoben, denn der Verdacht eines politischen Vergehens soll die Auslieferung nicht hindern“. Im baverischen Vertrag von 1869 war zunächst das politische Asplrecht gewahrt, aber leider Gottes hat es Bayern, Preußen folgend, wieder afgehoben. Es ist überhaupt fraglich, ob diese Verträge gültig sind. Als 1885 im Reichstage versucht wurde, diese Verträge durch das Reich abschlieen zu lassen, genügte der Widerstand draußen in der Presse, diesen Versuch zu vereiteln. Es gereicht mir zur Genugtuung, daß von allen Rednern im preußischen Ahgeordneten⸗ hause die Revidierung der Verträge gefordert ist. Der Minister des Innern blieb mit seiner Verständnitlosigkeit zeigenden Anpreisung dieser Verträge allein. Aber den Eipfel erklomemn erst der Abg. Pallaske, der es so darstellte, als ob erst diese Verträge den Erund für Deutschlands spätere Größe gelegt hätten, als ob die Gut⸗ mütigkeit des Zaren Deutschland den Rücken stärkte und das Reich ermöglicht hätte. Theorie und Praxis, Wissenschaft und Parlament haben in gleicher Weise diese rückschrittlichen Verträge verumteilt. Wir verlangen unter allen Umständen, daß gesetzlich bestimmt wird, daß bei allen politischen Ausweisungen die Wahk der Grenze dem Auszuweisenden unbedingt frei gestellt wird. Hessen hat Preußen be⸗ schämt, es hat trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zu Raß⸗ land das politische Asylrecht aufrecht erhalten. Der preuß sche Justiz⸗ minister täuscht sich, wenn er glaubt, unser Vertrag mit Rußland wäre viel milder als die anderen Verträge. Für keinen Staat ist die Kontrolle des Deutschen Reichstags notwendiger, als gerade bei diesem Vertrage mit Rufland, durch den wir uns diskreditiert haben. Es handelt sich nach unserer Ueberzeugung nicht nur um die Aus⸗ lieferung einiger unvorsichtiger Ausländer, sondern darum, ob Deutsch⸗ land noch weiter die völkerrechtlichen Prinzipien aufrecht erhalten kann und will, die für alle Kulturstaaten geschaffen worden sind. Die Frage ist für die kulturelle Bedeutung Deutschlands von der größten Bedeutung, und in diesem Sinne bitte ich Sie, unseren Antrag an⸗ zunechmen.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding: Mieiine Herren! Der Herr Vorredner hat eine Anzahl von Aus⸗ führungen gemacht, die sich gegen Einzelheiten des Königsberger Pro⸗ zesses richten. Er hat das Verfahren und die Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Gerichtshofs in diesem Prozeß beurteilt und zum Teil verurteilt. Ich werde mich auf diese Fragen hier nicht einlassen. (Aba! links.) Ich bitte nur aus meinem Schweigen nicht herzuleiten, daß ich die Vorwürfe, die der Herr Abgeordnete nach meiner Meinung in einer ungeeigneten Stunde gegen die Gerichts⸗ behörden in Königsberg erhoben hat, als berechtigt anerkenne.

Als der preußische Herr Justizminister im preußischen Abgeordneten⸗ hause auf Drängen eines Teils des Hauses sich bereit fand, Auskunft über den Prozeß zu geben, und sich damals auch in einigen Aus⸗ führungen über die Rechtsfragen erging, die von dem Herrn Abg.

Dr. Müller⸗Meiningen berührt worden sind, wurde ihm von anderer

von Fragen einmische, die zur Zeit noch der instanzmäßigen Würdigung unterlägen, daß der Prozeß beim Reichsgericht schwebe, und daß ecs für den Justizminister des Staats, in dem der Prozeß bis dahin geschwebt habe, nicht angebracht sei, sich jetzt schon zu äußern. Meine Herren, ich werde mich hier diesem Vorwurf nicht aus⸗ setzen. Ich glaube, das hohe Haus würde auch gut tun ich will ihm ja seine Kompetenz, über die Sache auch schon in einem früh⸗ zeitigen Stadium zu urteilen, nicht bestreiten —, aber ich glaube, das hohe Haus würde gut tkun, wenn es sich in die Beurteilung eines schwebenden Prozesses nicht einlassen wollte (Sehr richtig! rechts), wenn es geneigt sein wollte, zu warten, bis die letzte Instanz in maß⸗ gebender, endgültiger Weise über die in Betracht kommenden Fragen entschieden hat. (Zurufe links.)

Der Königsberger Prozeß, meine Herren, schwebt beim Reichs⸗ gericht. Ich glaube, ich darf sagen, daß dem Spruch des Reichsgerichts sowohl die Parteien und ihre Vertreter wie auch die Staatsanwalt⸗ schaft und die Justizverwaltung in Preußen mit Vertrauen entgegen⸗ sehen, und bis der Spruch des Gerichtshofs gefällt ist, will ich, meinerseits wenigstens, mich in diese Fragen nicht einmischen.

Meine Herren, ich würde allerdings, auch wenn die Sache schon so weit wäre, daß ich von diesem Standpunkt aus über jenen Prozeß urteilen dürfte, dies doch nur dann tun, und die Frage hier des weiteren auseinanderlegen, wenn in dem Prozeß Verstöße, Unregel⸗ mäßigkeiten und schiefe oder auch unrichtige Behauptungen und Rechts⸗ ausführungen vorgekommen wären, die von symptomatischer Be⸗

Form ergangenes formelles Gesetz bestände. Aber das ist un⸗ möglich, und außerdem kann ein Ukas jedes Gesetz außer Kraf

deutung für unser Rechtsleben im allgemeinen find und die für dieses

der Resolution Zukunft, ist

Seite der Vorwurf gemacht, daß er sich damit in die Beurteilung

hohe Haus wie auch für die verbündeten Regierungen die Frage nahe. legen könnten, ob nicht die Verstöße Anlaß geben, das schwebende Recht abzuändern. Ich kann nicht anerkennen, daß nach dieser Richtung hin der Prozeß bis jetzt wenigstens irgend etwas geboten hätte (Widerspruch linkg) das uns Anlaß geben könnte, besondere Erwägungen einzuleiten (Zurufe links.) Soweit die Strasprozeßordnung in Betracht kommt wissen die Herren, schweben die Verhandlungen. Wir werden in 8* Lage sein, zu beurteilen, ob die Ergebnisse dieses Prozesses dazu führen können, neue Bestimmungen in den Strafprozeß aufzunehmen, alte zu ändern. Das hohe Haus wird in die gleiche Lage kommen, das zu prüfen, wenn ein neuer Gesetzentwurf über den Strasprozeß ihm vorgelegt wird. Bis dahin aber und auf anderen Gebieten als auf dem Gebiete des Strafprozesses besondere Bestimmungen in Erwägung zu nehmen, liegt nach meiner Meinung kein Anlaß vor, abgesehen von dem Gebiet, welches die soeben vom Herrn Vorredner vertretene Resolution berührt.

Diese Resolution umfaßt drei Punkte, die ich im einzelnen er⸗ wähnen will, um die Stellung des Herrn Reichskanzlers zu deren In⸗ halt bekannt zu geben. .

Sie verlangt zuerst, daß in Zukunft die Gegenseitigkeit in den Deliktsfällen der §§ 102 und 103 des Strafgesetzbuchs nur dann an⸗ erkannt werde, wenn formelle Staatsverträge im Sinne der Herren Antragsteller vom Reich mit den betreffenden anderen Staaten ah⸗ geschlossen sind. Soll diese Bestimmung zur Ausführung kommen, dann müssen wir zunächst die §§ 102 und 103 des Strafgesetzbuchz aufheben. (Sehr richtig! links.) Tun wir das alsbald, so entsteht bis dahin, daß es uns gelingt, mit dem auswärtigen Staat zu einer Verständigung zu gelangen, ein Vakuum. Dieses Vakuum hat zwei Seiten, nicht bloß eine für den uns gegenüberstehenden Staat, sondern eine zweite und wichtige auch für unser deutsches Vaterland, welches doch an der Verfolgung der bezüglichen Delikte erheblich beteiligt sein kann. Es wird für die verbündeten Regierungen doch eine sehr ernste Frage sein, ob sie an die Stelle des jetzigen Zustandes, der die Be⸗ strafung der gegen das Deutsche Reich mit hochverräterischen Hand⸗ lungen vorgegangenen Personen dem Auslande gegenüber siccherstellt, den Zustand treten lassen wollen, der volle Schutzlosigkeit hervorrufen kann gegen solche Personen zum Nachteil der vitalsten Interessen des Deutschen Reichs. (Zurufe links.)) Aufheben“ hieißt nicht „bedingt aufheben“, wie mir zugerufen wird; bedingt aufheben kann nichts anderes heißen, als einen Vertrag schließen. Eine vertragsmäßige Vereinbarung mit einem anderen Staat ist nun auf diesem Gebiete an und für sich durchaus wünschens⸗ wert. Ich glaube, daß auch der Herr Reichskanzler auf dem Stand⸗ punkt steht, daß, soweit wir im stande sind, einen unseren Interessen Rechnung tragenden Vertrag auf diesem Gebiete mit anderen Staaten zu schließen, er gern befürworten wird, einen solchen Vertragsabschluß herbeizuführen. Aber glauben Sie denn, daß Verständigungen mit fremden Staaten in Vertragsform auf diesem Gekbiete so leicht sind? Glauben Sie, daß es so unbedenklich ist, auf Verständigungen, die in anderer Form und in partiellem Umfang zur Zeit bestehen, ganz zu verzichten, um eben das Vakuum eintreten zu lassen, von dem ich vorhin sprach?

Die Voraussetzung für die Durchführung des Gedankens der Resolution ist, daß wir die §§ 102 und 103 des Strafgesetzbuchs aufheben. Nun, diese Frage wird ja zur Erörterung kommen, wenn wir hier uns mit der Revision des Strafgesetzbuchs befassen werden. Diese Fragen sind aber früher bei der Abfassung des Strafgesetzbuchs und später bei der Einbringung der Strafprozeßnovelle von 1875 so eingehend erörtert worden, daß doch sehr erhebliche Uebelstände hier geltend gemacht werden müßten, wenn Anlaß gegeben sein sollte, vor der Revision des Strafgesetzbuchs im ganzen an diese Einzelfrage heranzutreten.

Die Resolution beantragt dann, es solle nur gegenüber den Staaten die Gegenseitigkeit anerkannt werden, welche nach ihrer eigenen inneren Vecfassung und ihren Rechtseinrichtungen eine Verbürgung der Gegenseitigkeit im Sinne der erwähnten Bestimmungen gewähr⸗ leisten können. Mit keinem Staate haben wir bis jetzt uns auf eine Gegenseitigkeit eingelassen, bei welchem diese Verbürgung nicht sichergestellt worden wäre. Das Verlangen, welches in nach dieser Richtung gestellt wird für die namens der verbündeten Regierungen von seiten der Reichsverwaltung für die Vergangenheit immer als maßgebend anerkannt worden. Die Frege kann nur die sein, ob einem einzelnen Staate gegenüber (Zuruf links) ja, wenn die Herren bloß Ruͤß⸗ land meinen, weshalb sagen sie das nicht? also ob dem Staate gegenüber, den der Herr Abg. Dr. Müller⸗Meiningen vorhin so deutlich bezeichnet hat, wirklich diese Voraussetzungen vorliegen. Ich glaube, daß der Herr Reichekanzler der Ansicht ist, daß diese Vor⸗ aussetzungen trotz der Ausführungen des Herrn Vorredners vorliegen,

(Hört, hört! links.) Im übrigen will ich mich aber auf diese Frage

nicht einlassen, da sie auf dem Gebiete der auswärtigen Polttik liegt und von seiten des Reichsjustizamts, das nur mit der inneren Rechts⸗ pflege zu tun hat, nicht beantwortet werden kann.

Die Herren Antragsteller wollen sodann, daß über die Aud⸗ lieferung fremder Staatsongehöriger nur Staatsverträge gemäß § lUl der Reichsverfassung zwischen dem Deutschen Reiche und den aus⸗ wärtigen Regierungen abgeschlossen werden. Das würde heißen, daß die Einzelstaaten nicht mehr in der Lage sein sollen, Staatt⸗ verträge dieser Art abzuschließen. Die Befugnis, solche Staats⸗ verträge abzuschließen, soweit das Reich in dieser Beziehung nicht eingesprungen ist, ist aber den Einzelstaaten verfassungsmäßit verbürgt, und der Herr Reichskanzler wird nicht geneigt sein, den Einzelstaaten in ihrem verfeossungsmäßigen Recht eire Beschränkung aufzuerlegen. Der Herr Reichskanzler wird immer bereit sein, nameng des Reichs auf Vertragsverhandlungen dieser Art einzugehen, wemn⸗ bei ihnen uns verbürgt ist, daß die deutschen Interessen genügend ge⸗ schützt werden. Das ist aber nicht immer der Fall, und ich kann nmr wiederholen, daß es auch gar nicht so einfach ist, derartige Verträgte abzuschließen, wi nzunehmen scheint

(Schluß in der Zweiten Beilage.) 8

chsanz

eiger und Königlich Preußi

Berlin, Donnerstag, den 12. Januar

nzeiger. 8 1905.

Die Resolution verlangt dann drittens, „daß die bisher zwischen einzelnen Bundesstaaten und auswärtigen Regierungen über die Aus⸗ lieferung abgeschlossenen Verträge alsbald gekündigt werden“, daß also der Herr Reichskanzler dafür sorgen soll, daß ihre Beseitigung eintriit. Der Herr Reichskanzler kann dafür nicht sorgen, solange nicht ein neuer, unser Interesse sicherstellender Vertrag vom Reiche abgeschlossen ist. (Zuruf links.) Meine Herren, wozu haben Sie denn die vielen Worte darüber, wenn Sie mehr auch nicht meinen? Dann brauchen Sie doch nur einfach zu sagen, es sollen in dieser Materie nach allen Seiten hin Reichsverträge abgeschlossen werden. Der Herr Reichskanzler kann die Aufgabe, die ihm in der Resolution auferlagt wird, nicht übernehmen, solange nicht neue Verträge da sind, er würde sonst in die verfassungsmäßigen Rechte der einzelnen Bundes⸗ staaten eingreifen. (Zuruf links.) Wenn Sie das nicht gemeint haben, hätten Sie sich anders ausdrücken sollen; ihrem Wortlaut nach kann die Resolution nicht anders aufgefaßt werden. Selbstver⸗ ständlich ist es, daß, sowie ein Reichsvertrag in Wirksamkeit tritt, der Staatsvertrag des einzelnen Staats beseitigt ist. Ich habe bereits erklärt und wiederhole, daß der Herr Reichskanzler, soweit die Ver⸗ hältnisse und die Interessen des Deutschen Reichs darauf hinweisen, bereit ist, solche Verträge zu schließen, aber eben nur in den Grenzen, in welchen die politischen Verhältnisse es gestatten, und in dem Um⸗ fang, in dem die Interessen des Deutschen Reichs es rechtfertigen.

Abg. Dr. Lucas (nl.): Daß der Königsberger Prezeß in seinem gegenwärtigen Stadium kein Ruhmesblatt für die preuß’sche Justiz bedeutet, darüber sind wir, glaube ich, alle einig. Im übrigen will ich auf diesen Prozeß nicht weiter eingehen. Das Bedürfnis aber für eine Reform im Sinne der uns vorgelegten Resolution hat der Abg. Muller⸗Meiningen überzeugend begründet. Die Zustände, die wir jetzt haben, sind unerträglich geworden, der Schaden, den Rechtsprechung und Justizpflege davon haben, liegt auf der Hand. Durch diese Unsicherheit in der Rechtsprechung wird der Schein einer Parteilichkeit dieser hervorgerufen, der gegen die Rechtspflege Mißtrauen erzeugt und uns zu größtem Nachteil gereichen muß. Wie das Reichsgericht den Königsberger Prozeß entscheidet, ist für diesen Antrag meines Erachtens ganz gleichgültig. Es entspricht gewiß der Forderung der Gemeinschaft der Kulturstaaten, wenn wir hoch⸗ verriterische Handlungen verfolgen, die gegen einen Staat gerichtet sind; aber der Schutz ausländischer Staatsoberhäupter und Staaten muß seine notwendige Ergänzung finden in dem Schutz unserer deutschen Mitbürger im Auslande. In diesem Punkte bleibt dem Auslande, namentlich Rußland gegenüber, noch fast alles zu wünschen übrig. Der Fall Steinbusch, den Kollege Semler im vorigen Jahres hier vor⸗ brachte, spricht eine so beredte Sprache, auch von der Hilflosigkeit des Auswärtigen Amts, wie sie deutlicher nicht gedacht werden kann. Von diesem Standpunkt aus, daß auch unsere Wünsche auf diesem Gebiete seitens der fremden Staaten berücksichtigt werden, verlangen wir vertragliche Regelung. Ebenso stimmen wir den weiteren Punkten der Resolution zu. Wenn die Regelung der Auslieferungsfrage auch vielleicht weniger dringend erscheint, so ist sie doch nicht minder not⸗ wendig, wie die Verbürgung der Gegenseitigkeit. Wenn Bayern und Baden wegen eines Deliktes nnstees. wegen dessen Preußen und Sachsen die Auslieferung verweigern, so ist das ein Schlag ins Gesicht der deutschen Rechtseinheit. Wir stimmen daher auch für die weiteren Punkte der Resolution; die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs haben uns in diesem Vorhaben nicht wankend machen können.

Abg. Haase⸗Königsberg (Soz.): Der Staatssekretär wollte heute noch in dieselbe Kerbe hauen, wie im Februar der preußische Justizminister, daß nämlich in dem Prozeß höchstens von juristischen Meinungsver⸗ schiedenheiten die Rede sein könnte. Beide haben damit erhebliches Unglück gehabt. Im Januar ritt der preußische Justizminister keck auf feurigem Roß in die Arena des Abgeordnetenhauses und zog tapfer gegen die abwesende Sozialdemokratie vom Leder, im Oktober aber zog er auf einem ziemlich abgezehrten Klepper in das Haus und ließ eine mehr als matte Verteidigungsrede vom Stapel. Im Januar 1904 behauptete er im Abgeordnetenhause schlank⸗ weg, es handle sich um eine Aktion von Anarchisten. Zum Beweise verlas er einige Zitate, die, wie sich nachher heraus⸗ stellte, gefälscht waren. Keine der Tausende von Schriften, um deren Verbreitung es sich handelte, war anarchistischen Inhalts. Mit diesem Anarchistenschrecken aber glaubten gerade er und der Herr Reichskanzler Abgeordnetenhaus und Reichstag gruselig machen zu können; Graf von Bülow trat ausdrücklich dafur ein, daß die verlesenen Zitate einen anarchistischen Charakter trügen. Vor dem Worte Anarchisten und Anarchismus bekommen ja gewisse Leute leicht eine Gänsehaut, und nun müssen sie erleben, daß in all den Schristen, wie selbst der Staatsanwalt zugeben mußte, das Wort Anarchie gar nicht vorkommt. Aus dem jetzt vor⸗ liegenden 240 Seiten langen Urteil ergibt sich, daß auch nicht einmal die „bluttriefenden“ Schreiben einen Charakter tragen, der sie unter den § 102 des Strafgesetzbuches brächte; es handelt sich auch da nur um eine theoretische Propaganda, und überdies waren diese Schriften überhaupt nicht zur Verbreitung bestimmt. Die Heranziehung dieses

102 war um so ungeheuerlicher, als es sich nach seiner Entstehungsgeschichte eigentlich nur um eine Situation handelt, wie sie ein Krieg heraufbeschwört, um dann gegen gewisse Even⸗ tualitäten gedeckt zu sein; es ist aber keinem Menschen eingefallen, damit Deutsche treffen zu wollen, die etwaas tun, was zwar nach ausländischem Gesetz verboten, nach deutschem aber erlaubt ist. Und selbst im Falle solcher kriegerischen Verwicklungen wollten parlamentarische Führer wie Windthorst und Reichensperger nicht einmal von dieser Vollmacht etwas wissen. In Ostpreußen aber hat man 1902 und 1904 Leute, die nichts weiter als eine literarische Propaganda treiben halfen, Leute, von denen mit Ausnahme eines einzigen, der ein paar Brocken Russisch verstand, keiner ctwas von dem Inhalt der Broschüren wußte, monatelang in behalten. Hier hat ein Staatsanwalt die funkelnagelneue Theorie aufgestellt, daß die Angeklagten bestraft werden müßten, auch wenn sie von dem Inhalt nichts verständen, daß sie bestraft werden müßten als Mitglieder einer geheimen Verbindung, auch wenn sie von dieser geheimen Verbindung und ihrer Zugehörigkeit davon nichts wüßten! Der dolus oventualis mußte hier ganz besonders herhalten; auch die, die gar nicht an der Verbreitung beteiligt waren, sollten bestraft werden, nur weil andere Schriften verbreitet hatten! Kann sich Deutschland eine lolche Rechtsprechung aus 1renge Motiven gefallen lassen? Nie hat ein Proz ß die Unhaltbarkeit des heutigen Vorverfahrens klarer erwiesen. Die Geheimniskrämerei gegenüber dem Verteidiger hat hier HFeadenn verhängnisvolle Folgen 255 Dem Angeklagten und dem

erteidiger sind die inkriminierten Scheiften nicht vorgelegt, nicht einmal deren Titel sind ihnen zugänglich gemacht worden, obwohl e wiederholt aufs energischste darauf gedrungen hatten. Wäre as geschehen, so hätte die Verteidigung schon in den ersten Anfängen erweisen können, daß das Gerede von dem Anarchismus ein bloßes Gerede war, und daß mit gefälschten Uebersetzungen und falsch

1“

übersetzten Strafgesetzbuchparagraphen operiert worden sei. Der Becsekafnister e mildernden Umstand dafür, daß die Staats⸗ anwaltschaft den wirklichen Text des russischen Strafgesetzbuches nicht in Händen hatte, darin, daß auch die Verteidigung einen solchen nicht hatte. Ich habe mir bereits in den ersten Tagen in der Bibliothek die richtigen Uebersetzungen vorlegen lassen, aber was nützte das dem Verteidiger, wenn er nicht wissen konnte, unter welchen Paragraphen die Taten der Angeklagten subsumiert werden würden? Der Juftiz⸗ minister und die Staatsanwaltschaft hätten die Pflicht gehabt, vorher den authentischen Text der russischen Strafparagraphen sich zu be⸗ schaffen, bevor sie irgend jemand verhafteten. Keinem Laien möchte ich raten, eine solche Sorglosigkeit an den Tag zu legen, er könnte sonst dafür ins Gefängnis kommen. Ohne die gefälschten Ueber⸗ setzungen des russischen Generalkonsuls wäre weder die Polizei, noch der Staatsanwalt eingeschritten. In einer der beschlagnahmten Schriften wird sogar der Terrorismus und der Zarenmord bekämpft, man hat aber eine Auffordhnan zum Zarenmorde daraus gelesen. Der russische Generalkonsul hat sich damit herausgeredet, daß er die Schriften nur flüchtig durchgesehen, und nur den Inhalt, nicht den Wortlaut wiedergegeben habe. Aber er hat auch später amtlich be⸗ scheinigt, daß das russische Strafgesetzbuch die und die Stellen ent⸗ Halte, und diese Stellen waren gefälscht. Und gar keine Ent⸗ schuldigung hatte er für die Fälschung der russischen Strafgesetzbuch⸗ paragraphen, und diese Fälschung ist geradezu kraß; denn es fehlte darin die Angabe der Worte, daß die Gegenseitigkeit „durch Staats⸗ verträge oder durch ein öffentlich publiziertes Gesetz“ verbürgt sein müsse. Ja, es gab dann noch eine weitere Fälschung des General⸗ konsuls, in der stand, daß die Gegenseitigkeit durch Staatsverträge „oder sonst“ verbürgt sein müßte. Es bestanden also drei von ein⸗ ander abweichende Uebersetzungen. Da hätte doch die Staatsanwalt⸗ schaft in Königsberg stutzig werden müssen, welche der Uebersetzungen denn die richtige sei. Aber das kümmerte die Staatsanwaltschaft nicht, sie suchte sich einfach eine der Uebersetzungen heraus. Es ist ja einmal gesagt worden, daß die Staatsanwaltschaft die „objektivste Behörde der Welt“ sei. Der Justizminister hätte die Staatsanwalt⸗ schaft darauf aufmerksam machen müssen, daß eine gefälschte Ueber⸗ setzung zu Grunde gelegt war. Der Minister ließ es aber zu, daß die Staatsanwaltschaft und das Gericht in einem geheimen Verfahren, in dem die Verteidigung nicht mitwirken konnte, die gefälschten Ueber⸗ setzungen benutzte. Daher kam der „reisefertige Referent“ des Justiz⸗ ministeriums in die Erscheinung, auf den das abgeschoben werden mußte. Der Referent liest nicht einmal die Akten, weil er schon reisefertig ist. Der Minister sagt, die Anklageschrift umfasse 222 Seiten, die Schrift sei schwer leserlich, daß es eine wahre Arbeit sei, sich hin⸗ durchzuarbꝛiten. Die Herren im Ministerium köͤnnen deshalb die Schrift nicht durchlesen. Aber den Verteidigern ist nur fünf Tage Frist gegeben worden, um sich auf diese Anklage erklären zu können. Ein Angeklagter bat um eine Frist von vier Vachen⸗ dazu, es wurde abgeschlagen. Als die Vert die Anklageschrift erhielten, um sich darüber zu äußern, bevor über die Hauptverhandlung beschlossen würde, wurde ihnen schon mitgeteilt, welcher Termin für die Haupt⸗ verhandlung in Aussicht genommen sei. Welche Bände Akten müssen nicht die Verteidiger durchlesen. Hier ist Remedur erforderlich. Hier darf man nicht Komödie spielen mit den Interessen der Angeklagten. Der Minister meinte, das Urteil des Gerichts sei doch sür die Sozialdemokratie gut, da Freisprechung er⸗ folgt sei, aber ich habe kaum jemals gesehen, daß sich ein Gericht mit solcher Leichtigkeit über im Prozeß zu Tage getretene Tatsachen hinwegsetzte. Der § 128 ist ein Kautschukparagraph, aber so, wie in Königsberg, ist er noch niemals gereckt worden. Das Zeugnis der Berliner Kriminalbeamten beleuchtete glänzend die Zustände. Sie sagten aus, daß ihnen der Vertrieb von Schriften von der Art, wie sie in Königsberg beschlagnahmt seien, seit Jahren bekannt sei, daß sie aber nicht dagegen eingeschritten seien, weil die Schriften nur einen sozialdemokratischen Inhalt hatten. Wie konnte behauptet werden, daß die Angeklagten die Absicht gehabt hätten, diese Schriften vor unseren Behörden geheim zu halten? Geheimnis war nur, daß die preußischen Behörden verhindern wollten, daß die Schriften in die Hände der russischen Empfänger gelangten. Russische Geheimpolizisten haben bei uns ausgeschnüffelt, welche Reichs⸗ angehörigen die Schriften vertrieben. Daß die preußischen Behörden dieses Verhalten der russischen Polizisten nicht verhinderten, darüber müssen wir uns beschweren. Es ist allgemein verurteilt worden, daß Vorsitzender in diesem Prozeß ein Mann gewesen ist, der bis wenige Tage vor seiner Versetzung dorthin Staatsanwalt in Erfurt gewesen ist, wo er dafür bekannt war, daß er die gröbsten persönlichen Angriffe gegen Sozialdemokraten zu richten pflegte. Derselbe Präsident fragte die Angetlagten, ob sie nicht wüßten, daß in der sozialdemokratischen Presse oft Majestäts⸗ und Zarenbeleidigungen enthalten seien. Auf diese Weise wollte er ihnen einen dolus eventualis nachweisen. Erst auf die Frage von mir, wo denn in dieser Presse solche Beleidigungen gestanden hätten, wich er aus und sagte, das sei nur eine Auffassung, die ich ja nachher im Plaidoyer bekämpfen könnte. Die deutsche Re⸗ gierung hat Rußland einen Liebesdienst erweisen wollen. Und wie bat man ihr gelohnt? Mit Fußtritten, wie das Verhalten des Rigaer Gerichts beweist. Sieben Wochen hat es überhaupt dem Königsberger Gericht nicht geantwortet und dann in höhnen⸗ der Weise. (Redner geht ausführlich auf diesen Fall ein.) Nachdem diese schallende Ohrfeige unseren Behörden erteilt war, was geschah von unserer Seite? Alle Verhöhnungen wurden eingesteckt, und man brüstete sich noch, daß man die nationale Würde aufrecht erhalten habe. In einem anderen Falle wurde der Fluchtverdacht vom Staatsanwalt damit begründet, der Angeklagte könnte bei der Nähe Rußlands über die russische Grenze entfliehen. Die Angeklagten wurden zu Strafen von höchstens 3 Monaten verurteilt. Diese beiden waren die einzigen, die nicht in Faft genommen wurden. Ueber die anderen Angeklagten wurde Untersuchungshaft bis zu 8 ½ Mo⸗ naten verhängt. Als Kugler schon 8 Monate in Untersuchungshaft gesessen und das Gericht sich bereits überzeugt hatte, daß die Gegen⸗ seitigkeit nicht bestand, wurde er doch nicht aus der Haft entlassen. Nowagrotzki erhielt 2 ½ Monate Gefängnis, 5 ½ Monate hatte er in Untersuchungshaft gesessen. Das ganze Verfahren ist bis tief in die Reihen der bürgerlichen Presse aufs schärfste verurteilt worden. Was Professor Reußner über die russischen Zustände seiner Zeit gesagt hat, ist bis aufs Tütelchen richtig und auch von der russischen Peesse neuerdings bestätigt worden. Rußland ist bis ins Innerste faul, wie der Krieg mit Japan beweist, und für dieses Rußland legt man sich so ins Zeug, vor diesem Rußland wirft man sich in den Staub! Es ist die höchste Zeit, diesem Zustande ein Ende zu machen. Was sonst über den Prozeß zu sagen ist, wird am Ende des Prozesses zu sagen sein. Möge inzwischen ein anderer Geist in das Reichskanzler⸗ palais einziehen.

Abg. Burlage (Zentr.): Es entspricht einer guten Sitte, über einen Prozeß nicht früher zu urteilen, als bis er entschieden ist. Nach⸗ dem aber dieser Prozeß die öffentliche Meinung so eingehend be⸗ schäftigt hat, wäre es falsch gewesen, darüber zu schweigen. Die Be⸗ nutzung der falschen Uebersetzungen wirft auf den Prozeß ein eigen⸗ tümliches Licht. Es ist begreiflich, daß die erste Uebersetzung des russischen Generalkonsuls für die ersten Schritte maßgebend war. Aber ich meine, es hätte schon am nächsten Tage ein sachverständiger Uebersetzer hberangezogen werden müssen. Die Strafkammer hat es überhaupt zu leicht genommen mit der Erhebung des

Strafverfahrens. Würde das Ermittelungsverfahren ordnungsmäßig

geschehen sein, so hätte man sich gleich überzeugen müssen, daß ein Gegenseitigkeitsverhältnis nicht besteht. Es ist nicht zu be⸗ greifen, wie trotz der Verhandlungen hier im Reichstage mit einer solchen Leichtfertigkeit das Hauptverfahren hat eröffnet werden können. Gewiß darf man ohne Verhandlung mit den anderen Staaten nicht zur Aufhebung der §§ 102 und 103 schreiten. Es muß erst für Ersatz gesorgt werden. Das schließt doch aber nicht aus, daß wir den Reichs⸗ kanzler bitten, die geeigneten Schritte zu tun. Unter der erwähnten Einschränkung können wir der Nummer 1 der Resolution zustimmen, ebenso auch der Nummer 2, welche bestimmt, daß Verträge mit anderen Staaten nur vom Deutschen Reiche abgeschlossen werden. Ebenso werden wir für Nummer 3 stimmen.

Abg. Himburg (d. kons.): Nur mit zwei Worten will ich mich über die Resolution aussprechen; auf den Königsberger Prozeß gehe ich nicht ein; man muß mit großer Vorsicht herangehen, wenn man auf ein einzelnes Vorkommnis hin eine Gesetzesänderung, ein Gelegen⸗ heitsgesetz macht. Bei der Nr. 1 der Resolution handelt es sich um eine Aenderung, die mit den allergrößten Schwierigkeiten verbunden sein würde. Wir verkennen keineswegs, daß eine Aenderung wünschens⸗ wert ist; aber sie ist nicht so dringlich, daß nicht bis zur Revision des Strafgesetzbuchs gewartet werden könnte. Es handelt sich um ein einzelnes Vorkommnis. Seit Jahren haben die Zustände bestanden, ohne zu Unzuträglichkeiten zu führen. Die Nummer 2 erkennen wir als berechtigt an; denn es führt zu Rechtsungleschheiten, wenn von einem deutschen Bundesstaat unter anderen Bedingungen an das Ausland ausgeliefert wird als von anderen. Wir sind deshalb bereit, für die Nummer 2 zu stimmen. Dagegen können wir die Nummer 3 nicht annehmen. Wenn die Verträge der einzelnen Staaten sofort gekündigt würden, so kann niemand den Zeitpunkt angeben, wann das Reich Verträge abschließen könnte. Es könnten Jahre und Jahrzehnte darüber vergehen. Ez ist uns versichert, daß der Reichskanzler bestrebt ist, nach Möglichkeit Auslieferungsverträge im Namen des Reichs zu schließen. Wenn dies geschieht, sind von selbst die einzelstaatlichen Verträge aufgehoben. Wir werden also für die Nummer 2, aber gegen Nummer 1 und 3 stimmen.

Abg. Bernstein (Soz.): Ich weise nur auf die unerhörte Behandlung der russischen Untertanin Fräulein Janina Bärson hin. Was dieser Dame geschehen ist, ist 89† gar nicht das Schlimmste, was uns hier in Berlin zu Ohren gekommen ist. Noch viel un⸗ erhörtere Fäll⸗ haben wir nicht in die Oeffentlichkeit gebracht, um die Personen nicht der Ausweisung auszusetzen. Es kommen willkürliche Eingriffe der Polizri in die Rechte von Privatpersonen vor, die sich in keiner Weise an politischen Aktionen beteiligt haben. Eine junge Russin, die in Deutschland Musikunterricht nimmt und Sprachstunden gibt, wurde von einem Polizisten in empörendster Weise beleidigt und beschuldigt, und sie hat kein Mittel dagegen; denn eine Beschwerde hätte vielleicht gerade zur Ausweisung geführt. Wir haben in Deutschland keinen Schutz für die Ausländer. Ledig⸗ lich die Polizeiwillkür entscheidet, wer sich lästig gemacht hat. In anderen Ländern erfolgt eine Ausweisung nur durch einen verantwort⸗ lichen Minister und muß dem Parlament vorgelegt werden. In Dänemark darf ein Ausländer, der schon zwei Jahre im Lande ist, überhaupt nicht ausgewiesen werden, wenn er sich nicht eines gemeinen Verbrechens schuldig gemacht hat. Ebenso ist in England der Aus⸗ länder vor Polizeiwillkür geschützt. Nur bei uns bleibt der Ausländer Ausländer, und wenn er noch so lange hier ist. Dieser Zustand ist eines so großen Reiches unwürdig. Wir sollten wenigstens ein Gesetz machen, das dem Ausländer ein Gastrecht gibt und es der Polizei unmöglich macht, einfach zu sagen: wenn Du Dich mausig machst, fliegst Du hinaus. Wir behalten uns eine entsprechende Resolution für die weitere Beratung des Etats des Reichsjustizamts vor. Min⸗ destens muß die Gegenseitigkeit verbürgt sein. Mit diesen Vorbe⸗ halten stimmen wir zunächst für den Antrag Müller.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding:

Der Herr Abg. Bernstein stellt uns eine Resolution seiner Fraktion in Aussicht, die dahin zielt, die Rechte der Ausländer inner⸗ halb des Deutschen Reiches gesetzlich sicher zu stellen; er hat erklärt, er wolle diese Resolution einbringen bei der späteren Lesung des Etats des Reichsjustizamts. Ich erlaube mir, den Herrn Abge⸗ ordneten im Interesse der richtigen Behandlung seiner Wünsche darauf aufmerksam zu machen, daß das Reichsjustizamt mit der Fremdenpolizei und dazu gehört die von dem Herrn Vorredner erörterte Frage ressortmäßig nichts zu tun hat; diese Frage würde zum Etat des Reichsamts des Innern besprochen werden können. Wünschen also die Herren, die Frage nochmals im Hause zur Dis⸗ kussion zu bringen und zu diesem Zweck eine Resolution zu formulieren, dann werden sie zweckmäßiger handeln, wenn sie das beim Etat des Reichsamts des Innern anbringen.

Abg. Lenzmann (fr. Volksp.): Der Staatssekretär hat gesagt, unser Antrag sei zu ungeeigneter Stunde eingebracht. Ungeeignet war die Stunde an sich nicht, wohl aber für den Reichskanzler. Eine baldige Remedur ist gegenüber diesen symptomatischen Erscheinungen notwendig. Wir stimmen nicht in das Lied des Abg. von Him⸗ burg ein: immer langsam voran. An dem Urteil üben wir nicht Kritik, wie der Staatsfekretär meinte, sondern nur an der Handhabung der Gesetze durch das Königsberger Gericht. Die Einleitung des Verfahrens beruhte auf einer Rechtsverletzung. Ich behaupte: der preußische Justizminister kannte zur Zeit der Er⸗ öffnung des Verfahrens nicht nur die gefälschten, sondern auch die richtigen Uebersetzungen. Wenn selbst die Konservativen sich der Er⸗ kenntnis nicht verschließen, daß die Sache brennend ist, so sollten sie die Spritze sofort ergreifen und die Sache nicht ad calendas Graecas ver- schleppen. Wie sie im einzelnen geregelt werden soll, ist Sache der Re⸗ gierung; wir wollen nur aussprechen, daß eine reichsgesetzliche Regelung notwendig ist. Wenn der Staatssekretär zugibt, daß Reichsrecht vor Landesrecht geht, so brauchen die Verträge gar nicht gekündigt zu werden. Hofsentlich wird die Resolution einstimmig angenommen. Die Regierung würde dann über unsere Meinung nicht im Zweifel sein. Leider behandelt die Regierung uns auch hier mit Verachtung; denn weder der Reichskanzler ist hier erschienen, noch der preußische Justizminister, der das Abgeordnetenhaus vorzieht, weil er dert einen besseren Resonanzboden hat. Einem Staate wie Rußland gegenüber, der sich auch in dem Königsberger Prozeß in seiner ganzen Barbarei gezeigt hat, dürfen wir nicht länger in Unterwürfigkeit verharren.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren! Ich muß im Namen des Herrn Reichskanzlers entschieden Verwahrung dagegen einlegen, daß in der eben gehörten Weise von einem Staate hier gesprochen wird, mit dem uns doch wichtige internationale Interessen aufs allerengste verknüpfen. (Lachen bei den Sozialdemokraten; sehr richtig! rechts.) Den einzelnen Herren kann ich nicht das Recht nehmen, ihre Meinung über fremde Re⸗ gierungen kund zu tun, wie sie wollen. Die deutschen Regierungen aber müssen dagegen, daß hier auf diese Weise in der verletzendsten Form gegen einen befreundeten Staat und dessen Regierung aufgetreten

wird, Verwahrung einlegen. (Zuruf von den Sozaldemokraten.)

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