offiziellen Beziehungen geben müssen. Aber freilich, wir haben ja früher gesehen, wie der Kanzler, die Staatssekretäre und die preußischen Minister hintereinander auf dieser Tribüne erschienen und die Notwendigkeit der Einleitung dieses Prozesses nachzuweisen ver⸗ suchten. Den Uebereifer der vom Justizminister instruierten Justiz⸗ behörden hat nachher derselbe Herr Justizminister tadeln müssen; aber derselbe Herr hat ja auch gesagt: Pua res agitur, d. h. wenn es in Rußland zu einem politischen Umschwung kommt, so sind wir, d. h. das offizielle Preußen⸗Deutschland, aufs stärkste mitengagiert. Der Prozeß hat die allergravierendsten Tatsachen ans Licht gebracht; die Uebersetzungen und die darüber erteilten Bescheinigungen des russischen Generalkonsuls waren falsch. Die Anklage war also auf falsche Uebersetzungen gestützt; dieses Versehen ist aber nicht durch den Staats⸗ anwalt und das Gericht, sondern durch die Verteidigung aufgedeckt worden. Ohne das wäre ein eklatanter Justizmord begangen worden. Im preußischen Justizministerium selbst ist ein beinahe unbegreif⸗ liches Versehen passiert: die Prüfung der Gegenseitigkeitsfrage hat nur mangelhaft stattgefunden, da der betreffende Referent, bereits mit dem Koffer in der Hand, im Begriff, eine Urlaubs⸗ reise anzutreten, die Prüfung vorgenommen habe. Eine solche Leicht⸗ fertigkeit und Liederlichkeit in einem preußischen Ministerium bei einem Prozeß, der die Angeklagten auf lange Jahre in die Ge⸗ fängnisse bringen konnte, ist geradezu unerhört. Auch ein Zentrums⸗ redner des preußischen Abgeordnetenhauses, ein Richter, hat dem preußischen Justizminister ins Gesicht gesagt, daß bei diesem Prozesse schwere Fehler vorgekommen seien. Wie können preußische Richter und Staatsanwalte vor einem solchen Justizminister noch Respekt haben, vor dem Manne, der in so schwerer Weise das Recht gebeugt hat! (Stürmische Zustimmung links, Glocke des Präsidenten. Er⸗ neute andauernde Zustimmung links, große Unruhe rechts. Prä⸗ sident: Sie dürfen nicht sagen, daß der Minister eines Partikularstaates das Recht gebeugt hat; ich rufe Sie dafür zum zweiten Male zur Ordnung und mache Sie auf die geschäfts⸗ ordnungsmäßigen Folgen aufmerksam!) Wenn man in Preußen noch etwas auf Reputation hält, so muß der Justizminister fort von seinem Platz; das ist die preußische Regierung ihrem Ansehen vor der Welt, vor ihren eigenen Beamten schuldig. Aber nicht allein der Justizminister muß fort von seinem Platz, auch der russische Königs⸗ berger Generalkonsul muß fort von seinem Platz; es ist unerhört, daß er nach allen diesen Fälschungen noch in seinem Amte ist. Auch hier zeigt sich wieder ein Stück von Fügsamkeit und Schmiegsamkeit gegen russische Unverschämtheit. Das Merkwürdigste ist nun, daß Rußland Deutschland, Preußen als quantité négligeable behandelt. In dem Prozeßverfahren in Königsberg spielte auch Skubik eine Rolle. Die preußische Behörde richtete an die russische die Aufforde⸗ rung, diesen Skubik eidlich zu vernehmen. Die russische Behörde hat den Termin für die Vernehmung ungebührlich hinausgeschoben, wie der Justizminister zugab; er nannte dies höchst befremdlich. Die russische Behörde verhöhnte förmlich die preußische, die in ihrem Dienst arbeitete. Wenn mich etwas gefreut hat, so war es das Ver⸗ fahren der russischen Behörde als Dank für die preußis e Liebe⸗ dienerei. Ein anderer Fall betrifft die Verhaftung des Fräuleins Janina Berson, die anarchistische Flugschriften verbreitet haben sollte. Da hieß es zuerst von Rußland her: Was kümmert mich Fräulein Berson? Es kam und kam keine Antwort, nachdem sie schon 8 Tage im Polizeigewahrsam gehalten worden war; da wurde sie dann kurzer⸗ hand ausgewiesen. Der russischen Regierung lag also gar nichts an der Sache, und nach 8 Tagen mußte die Polizei sie frei geben. Herr von Hammerstein hat die Sache auch benutzt, um allerlei Bettgeheim⸗ nisse des Fräuleins im Abgeordnetenhause zum besten zu geben. Das war nichts weniger als gentlemanlike. Was würde werden, wenn wir hier die Beltgeheimnisse der Hohenzollern erzählten? Was, wenn solche aus der Familie des Herrn von Hammerstein erzählt würden, die vom Sittlichkeitsstandpunkte, den er bei dieser Gelegenheit ver⸗
andere Völker, — jawohl, das sind wir; wenn Sie, wie ich, lange im Auslande ge⸗ lebt hätten, so würden Sie wissen, daß das deutsche Volk von allen
gelingt das Vielen nicht einmal. (Sehr
haben uns auch
trat, ungemein anfechtbar sind. Solche Dinge können gar nicht anders als zur Diskreditierung der Regierung und ihrer Vertreter führen. Nehmen Sie unseren Antrag wegen der Auslieferungsverträge an!
Namentlich das Zentrum bitte ich, zu erwägen, daß es sich nicht um einen Schlag ins Wasser handeln kann; das Zentrum hat den Diäten⸗ antrag ein halbes Dutzend Mal angenommen, ohne sich durch solche
Rücksichtnahme beirren zu lassen. Mit der Annahme des Antrages wird die moralische Verurteilung der Verträge und des Verhaltens der Regierung ausgesprochen. Wir brauchen hoffentlich auf diese Dinge bald nicht mehr zurückzukommen, weil wir annehmen, daß bald dem heutigen Rußland ein neues, freies Rußland gegenübersteht, daß es der Revolution, die jetzt alle Schichten der Gesellschaft, auch die höchsten und vornehmsten, ergriffen hat, gelingen möge, ein modernes, freies Rußland zu gründen.
Reeichskanzler Dr. Graf von Bülow:
Meine Herren! Ich möchte zunächst mit einer kurzen Bemerkung auf eine Aeußerung zurückkommen, die gestern der Herr Abg. Spahn ge⸗ macht hat gegenüber meinen Ausführungen über eine eventuelle Ver⸗ tretung von Elsaß⸗Lothringen im Bundesrat. Er hat gemeint, meine Antwort auf die erste Resolution hätte mehr meiner Stellung als preu⸗ ßischer Ministerpräsident wie meiner Stellung als deutscher Reichskanzler entsprochen. Die Sache liegt gerade umgekehrt. Als preußischer Minister⸗ präsident könnte mir eine Verstärkung des preußischen Einflusses im Bundesrat unter Umständen nicht gerade unangenehm sein; als deutscher Reichskanzler habe ich aber darüber zu wachen, daß das durch die Reichsverfassung festgelegte Stimmen⸗ und Stärkeverhältnis im Bundestat, das Gleichgewicht im Bundesrat nicht verschoben wird. In Erfüllung dieser meiner Pflicht als Reichskanzler habe ich hin⸗ gewiesen auf die Bedenken und die Schwierigkeiten, welche der Er⸗ füllung des in der ersten Resolution gestellten Antrags im Wege tehen. Das Pflichtbewußtsein des Reichskanzlers hat über etwaige Machtgelüste des preußischen Ministerpräsidenten den Sieg davon⸗ getragen. (Heiterkeit.)
Meine Herren, an den gestrigen Ausführungen des Herrn Abg. von Chrzanowski hat mich vor allem interessiert und gewundert, daß sie hier überhaupt möglich waren. Ich glaube nicht, daß es irgend ein Land und irgend ein Parlament gibt, wo der Vertreter eines fremden Volksstammes sich in dieser Weise auslassen könnte über die Regierung, die Einrichtungen, die Geschichte und den Charakter des Staatswesens, in welchem er lebt. (Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten.) Der Herr Abg. von Chrzanowski hat von
preußischer Barbarei gesprochen, von barbarischen Maßnahmen (sehr
richtig! bei den Sozialdemokraten), er hat davon gesprochen, daß
Preußen die Gewohnheit habe, die Nachbarn einzuschläfern, um im geeigneten Moment seine Finger zum Ländererwerb auszustrecken und daß das
begleitet wird,
(Lebhafte Zustimmung.) Der
Herr Abg. von Chrzanowski hat endlich erinnert an die Zeit, wo ein
französischer Gouverneur in Berlin regierte, und die Königin Luise an
der Ostgrenze des Landes — wie er sich ausdrückte — den Kaiser
Jedenfalls wünsche ich allen deutschen
Minoritäten in anderen Ländern eine so objektive Behandlung, ein
solches Eintreten von den verschiedensten Seiten, wie in diesem
zuteil wird.
(Sehr gut! rechts.) Es ist mehr als 100 Jahre her, daß ein deutscher
Dichter dem deutschen Volke zugerufen hat: „Nie war gegen das Aus⸗
Das stimmt im großen
den Sozialdemokraten), — deutscher Seite
(sehr richtig! bei mit „sehr richtig!“ von das kommt auch nur bei uns vor.
Napoleon um GEnade bat. Abgeordneten
hohen Hause den Herren polnischen
land ein anderes Land gerecht wie du.“
„Sei nicht allzu gerecht, sie denken nicht edel genug zu sehen, wie schön dein Fehler sei.’ Gut und edel zu sein ist dem Deutschen im allgemeinen auch heute noch mehr Bedürfnis, als national und politisch gescheit und geschickt zu handeln. Wir sind darin gerade umgekehrt wie die sagen und denken: right or wrong, my country. Wir sind nun einmal weltbürgerlich angelegt (Zurufe)
Völkern am kosmopolitischsten veranlagt ist — wir müssen uns geradezu zwingen, national zu denken, und, wie der Augenschein lehrt, richtig!) Wir haben im Laufe unserer Geschichte auch ungefähr für Völker begeistert (sehr wahr! rechts); wir lange für die polnischen Aspirationen begeistert. Viel Gutes ist dabei nicht herausgekommen, jedenfalls für uns nicht. Solche Erfahrungen, die harten Lehren der Geschichte und die Natur der Beziehungen unter den Völkern, die vorläufig noch im Zeichen des struggle for life stehen, nötigen uns, große politische, staat⸗ liche und nationale Fragen — und die Ostmarkenfrage ist eine große politische Machtfrage (sehr wahr! rechts) — lediglich zu be⸗ handeln im Hinblick auf die Einheit und die Integrität des eigenen Landes. (Sehr richtig!) Ich kann übrigens dem Herrn Abg. von Chrzanowski durchaus nicht zugeben, daß die Herausforderung, wie er das gestern ausführte, daß der Angriff von deutscher Seite ausgegangen wäre. Es ist die großpolnische Agitation, welche die Offensive ergriffen hat, die überall die Polen von den Deutschen abgesondert hat, die in alle wirtschaftlichen und kuͤlturellen Angelegenheiten und Be⸗ strebungen, die noch vor 40 und 50 Jahren von deutscher Seite als Bindeglied zwischen Deutschen und Polen behandelt wurden, den nationalen Gegensatz hineingetragen hat. Es ist die polnische Agi⸗ tation, die keine Gemeinsamkeit zulassen will zwischen Deutschen und Polen, weder auf materiellem noch auf ideellem Gebiet. Es ist die großpolnische Agitation, welche die Kluft zwischen Deutschen und Polen immer breiter und tiefer gemacht hat. Und wenn wir uns das nicht länger haben gefallen lassen wollen, wenn wir uns dagegen zur Wehr gesetzt haben, so haben wir damit doch nur etwas ganz Selbst⸗ verständliches getan. (Sehr wahr! rechts und bei den National⸗ liberalen.) Unsere Maßnahmen im Osten der preußischen Monarchie sind defensiver Natur (sehr richtig! — Widerspruch bei den Polen); sie dienen einer Politik der Verteidigung. Ich habe an einer anderen Stelle, im preußischen Abgeordnetenhause, an der Hand eines reich⸗ haltigen Materials nachgewiesen, wie sehr das Deutschtum im Osten in die Verteidigungsstellung geschoben und gedrängt worden ist. Wir denken nicht daran, die Polen vertreiben zu wollen, wir wollen aber dafür sorgen, daß wir nicht von den Polen vertrieben werden (Zuruf von den Polen) — jawohl, unter Benutzung unserer verfassungsrechtlichen Institutionen, unter Benutzung auch der deutschen Geduld und Langmut, einer gewissen nationalen Indifferenz, die lange im Osten die Verhältnisse gekennzeichnet hat. (Sehr richtig!) Wenn der Herr Abg. Graf Mielzynski gestern gemeint hat, daß das Ansiedlungsgesetz im Widerspruch stünde mit der Reichsverfassung, so hat mein verehrter Herr Nachbar schon nachgewiesen, daß das nicht der Fall ist. Ich möchte dem Grafen Mielzvnski aber meinerseits bedeuten, daß die großpolnischen Agitationen direkt gegen den ersten Artikel der preußischen Verfassung gerichtet sind, welcher von der Integrität der preußischen Monarchie handelt. (Lachen bei den Polen und Zurufe.) Solche Reden, wie sie gestern Mitglieder der polnischen Fraktion gehalten haben, werden uns nur in dem Entschluß bestärken, die ganze Kraft des preußischen Staats einzusetzen, damit im Osten der Deutsche existenzfähig erhalten wird, damit die östlichen Provinzen der preußischen Monarchie auch weiter und für alle Zukunft in unauflöslichem Verbande bleiben mit der preußischen Monarchie und dem Deutschen Reich. (Bravo! rechts und bei den Nationalliberalen.)
Meine Herren, ich komme jetzt zu den Ausführungen des Herrn Abg. Bebel. Als ich den Saal betrat, nachte mir der Herr Abg. Bebel Vorhaltungen über den Ton, in dem ich gestern gegenüber Herrn von Vollmar gesprochen hätte. Ach Du lieber Himmel! Seien Sie doch selbst erst freundlicher mit Herrn von Vollmar! (Schallende Heiterkeit.) Ziehen Sie selbst erst nettere Saiten auf gegenüber den Herren Revisionisten, ehe Sie mir so ungerechtfertigte Vorhaltungen machen. (Sehr richtig! rechts.)
Der Herr Abg. Bebel hat weiter einen Brief des Fürsten Bismarck vorgelesen, worin Fürst Bismarck sich mit der Diplomatie beschäftigt. Dieser Brief war mir wohl bekannt. Er gehört zu den vielen schönen Briefen, die der Fürst Bismarck geschrieben hat, und die beweisen, daß er, wenn er nicht einer der größten St catsmänner wäre, die je gelebt haben, doch einer der größten deutschen Schkriftsteller sein würde. (Sehr richtig! rechts.) Manches von dem, was der Herr Abg. Bebel aus diesem Brief des Fürsten Bismarck über die Diplomatie verlesen hat — mein Gott, ich bin seit 30 Jahren Diplomat, aber ich bin objektiv genug, um zu sagen, daß vieles darin ganz richtig ist. (Sehr gut! und große Heiterkeit.) Aber der Fürst Bismarck hat auch sehr vieles sehr Richtige und Treffende über die Tendenzen und über den Charakter der Sozialdemokratie und ihrer Führer gesagt und geschrieben, und es würde mich außerordentlich freuen, wenn der Herr Abg. Bebel gelegentlich solche Aeußerungen des Fürsten Bismarck hier vorlesen würde. (Sehr gut! und Heiterkeit rechts und bei den Nationalliberalen.)
Meine Herren, nun ist der Herr Abg. Bebel weiter eingegangen auf die Auslieferungsverträge. Ja, meine Herren, der Herr Staats⸗ sekretär des Aeußern hat gestern schon nachgewiesen, daß seit ungefähr 20 Jahren, seitdem diese Verträge bestehen, kein einziger Fall von Auslieferung auf Grund jener Verträge wegen politischer Vergehen erfolgt ist. Gegenüber dieser einfachen Tatsache hat doch, wie mir scheint, die hochgradige Erregung des Herrn Abg. Bebel, die ihm sogar einen Ordnungsruf eingetragen hat, etwas Künstliches. (Sehr richtig! rechts.)
Der Herr Abg. Bebel hat auch von Kohlenlieferungen und Schiffsvermietungen an Rußland gesprochen. Ich habe mich über den Sachverhalt sogleich informiert. Nach den von der Hamburg⸗Amerika⸗ Linie abgegeben en ausdrücklichen Versicherungen dürfen die deutschen Transportschiffe die russische Flotte nicht begleiten. Sie haben nur Kohlen nach bestimmten neutralen Hafenplätzen zu liefern und sich nach diesen
uns deshalb alle fremden
daß gegenüber Mannschaften der deutschen Transportschiffe unterwegs und insbesondere vor Madagaskar ein rechtswidriger Zwang von seiten der russischen Flotte geübt wurde, ist nicht das allermindeste bekannt. (Hört, hört! rechts. Na, na! bei den Sozialdemokraten.) Es ist das auch in hohem Grade unglaubwürdig. Wenn die russischen Admirale im Interesse der Geheimhaltung ihrer Maßnahmen und des Zustandes ihrer Streitkräfte gewisse Vorkehrungen getroffen haben sollten, welche die Bewegungs⸗ freiheit der deutschen Seeleute im Verhältnis zu den russischen Schiffen einschränkten, so wäre dagegen kaum etwas einzuwenden. Wenn die Hamburg⸗Amerika⸗Linie gegenüber ihren Seeleuten die Bestimmungen der deutschen Gesetze und des mit den Leuten ge⸗ schlossenen Heuervertrages verletzt haben sollte, so würden wir sie in Deutschland selbstverständlich unnachsichtlich zur Verantwortung ziehen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Es liegt aber bis jetzt nicht der mindeste tatsächliche Beweis dafür vor, daß die Hamburg⸗Amerika⸗Linie in dieser Weise irgendwie ihren Pflichten zuwidergehandelt hätte. (Hört, =Meine Herren, der Herr Abg. Bebel ist dann wieder auf den Königs⸗ berger Prozeß zurückgekommen. Ich muß zunächst mit der größten Ent⸗ schiedenheit den Angriff zurückweisen, den durchaus unberechtigten und ungerechten Angriff, den der Abg. Bebel bei der Gelegenheit gegen den nicht hier anwesenden Herrn preußischen Justizminister gerichtet hat, sowie die Art und Weise, wie er sich bemüht hat, das Vertrauen des preußischen Richterstandes zu dem höchsten preußischen Justiz⸗ beamten zu untergraben. Ich weise diesen Angriff des Herrn Abg. Bebel als eine durchaus ungerechtfertigte Verdächtigung zurück. (Bravo! rechts.)
Im übrigen habe ich mich über die politische Seite des Königsberger Prozesses nun schon zwei⸗ oder dreimal hier ausgesprochen. (Sehr richtig! rechts.) Materiell, nach der sachlichen und juristischen Scüe ist der Königsberger Prozeß im preußischen Abgeordneten⸗ hause klargestellt worden; ich habe also gar keine Veranlassung, hier auf dieses Thema nochmals zurückzukommen. (Bravoy! und Sehr richtig! rechts.) Nun hat der Abg. Bebel auch einen Fall zur Sprache gebracht, der sich in Schneidemühl ereignet haben soll. Das, meine Herren, ist nun wieder ein rechter Beweis für — ich will nicht sagen: die Leichtgläubigkeit des Herrn Abg. Bebel — der Ausdruck liegt mir fern —, aber wirklich für die jugendliche Raschheit (Stürmische Heiterkeit), mit der er Behauptungen aufstellt, die sich dann nachher als unbegründet herausstellen, und ich hoffe, der Herr Abg. Bebel wird wir sofort zugeben, daß ich in diesem Falle doch mal recht habe. (Heiterkeit.) Der preußische Minister des Innern hat in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 10. Dezember vorigen Jahres darauf hingewiesen, daß es früher zwischen Rußland und Preußen einen Vertrag über die Auslieferung von Deserteuren gab. Dieser Vertrag, dieser Kartellvertrag wäre aber im Jahre 1869 oder 1870 abgelaufen, und er wäre seitdem nicht wieder erneuert worden (Hört, hört! bei den Nationalliberalen); seit⸗ dem wäre niemals wieder ein Deserteur nach Rußland ausgeliefert worden. Dem habe ich weiter nichts hinzuzufügen.
Nun, meine Herren, hat der Herr Abg. Bebel weiter und nicht ohne Pathos dargelegt, daß die Sozialdemokratie nicht den Krieg mit Rußland wolle, und er hat dabei mir den Vorwurf gemacht, daß ich die Behauptung, daß die Sozialdemokratie den Krieg mit Rußland anstrebe, nun schon zum vierten oder fünften Male wiederhole. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Herr Bebel, Hand aufs Herz! Haben Sie nicht auch heute in Ihrer Rede eine Menge Dinge gesagt, die ich, seitdem ich das Vergnügmn habe, mich ab und zu mit Ihnen auseinanderzusetzen, also seit sieben oder acht Jahren, nicht auch schon oft gehört habe? (Lebhafte Zu⸗ stimmung rechts und bei den Nationalliberalen.) Solche Mätzchen sollten wir uns doch allmählich abgewöhnen. (Allseitige große Heiter⸗ keit.) Ich verspreche aber dem Herrn Abg. Bebel, daß ich ihm die Kriegswünsche gegen Rußland nicht vorhalten werde, wenn dire Sozialdemokratie durch ihr tatsächliches Verhalten beweist, daß sie den Krieg mit Rußland nicht will. Wenn die Sozialdemokratie den Krieg mit Rußland nicht will, warum hetzt denn die sozialdemokratische Presse, die doch sonst eine sehr disziplinierte Presse ist (Zurufe rechts) — sein muß, wird mir nicht mit Unrecht zugerufen. Gewiß! Das ist richtig. Ich erinnere nur an den scharfen Verweis, den der Herr Abg. Bebel im vergangenen Dezember der sozialdemo⸗ kratischen Presse erteilte, an jenen scharfen — ich hätte beinahe ge⸗ sagt: — Ukas (Große Heiterkeit), wo von den Nerven der solial⸗ demokratischen Redakteure die Rede war, von den Denkerstirnen der sozialdemokratischen Redakteure. Nie ist es mir eingefallen, in diesem Tone zur Presse zu sprechen; das werden mir die Herren da oben be⸗ zeugen können. (Große Heiterkeit.) Also, warum hetzt die sozial⸗ demokratische, die so wohldisziplinierte Presse bei jeder Ge⸗ legenheit gegen Rußland? Warum hat beim Beginn des ostasiatischen Krieges eine dem Herrn Abg. Bebel besonders nahe⸗ stehende Feder in der „Neuen Zeit“ programmatische Auslassungen dar⸗ über veröffentlicht, daß aus dem ostasiatischen Kriege eine gründliche Aenderung der eurcpäischen Landkarte hervorgehen sollte? Warur hat die sozialdemokratische Publizistik bei dem Zwischenfall von der Doggerbank, wie ich das im Dezember hier nachgewiesen habe, allch getan, um diesen Zwischenfall zu vergiften und womöglich einen Zusammenstoß zwischen England und Rußland herbe zuführen? Warum hat die soszialdemokratische Presse b der Beschlagnahme einiger deutscher Handelsschiffe und dem kleinen Vorfall mit einem Geestemünder Dampfer, desse Namen ich inzwischen vergessen habe, uns aufgefordert, gegen Rut land vom Leder zu ziehen? Warum veröffentlicht die „Schwäbisa⸗ Tagwacht“ den Artikel, den ich gestern hier vorgelesen habe? Warus schrieb vor einigen Tagen das eigentliche Leibblatt des Herrn Abs
Bebel, also natürlich der „Vorwärts“ (Heiterkeit):
Die russische Regierung verdient, vom Erdboden vertilgt werden.
(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) — Da rufen Sie „sehr Nun bin ich neugierig, ob Sie auch zu dem Nachsatz „sehr gut“ sasc werden:
Und die garnze zivilisierte Welt, soweit sie diesen Namen üube⸗ haupt verdient, muß sich zum Vernichtungskriege gegen sie (d. hb. russische Regierung) vereinigen.
Ich weiß nicht, warum der Herr Abg. Bebel, dem eine gem⸗ Aufrichtigkeit nicht abzusprechen ist, zerade in dieser D.
„Hafenplätzen nicht zusammen mit den russischen Kriegsschiffen, sondern
und ganzen noch heute. Derselbe Dichter fügte aber
hinzu:
getrennt von denselben und auf anderen Wegen zu begeben. Davon,
ziehung aus seinem Herzen eine Mördergrube macht.
alle, daß die Sozialdemokratie nichts Lebhafteres wün als di
Wir wissen — 22.20, die neuen Interpretationen der Monroedoktrin
siehenee Ordnung in Rußland zu stürzen (Sehr richtig! bei den
Sozialdemokraten), und daß sie dafür alle diejenigen Mittel anwendet,
die in ihrer Macht stehen. Vorläufig sind Sie noch nicht in der Lage,
über unsere Armee und über unsere Flotte zu disponieren. Wären
Sie dazu in der Lage, so würden Sie wahrscheinlich, wie dies die
‚Schwäbische Tagwacht“ verlangte, die Armee gegen Rußland
marschieren lassen und gleichzeitig, wie dies im Sommer ein anderes
sozialdemokratisches Blatt von mir forderte, die deutsche Flotte nach
Kronstadt schicken.
Demgegenüber weise ich nochmals darauf hin, daß solche Ein⸗ mischungen in die Verhältnisse fremder Länder und daß solche Reden über die Verhältnisse fremder Länder, wie sie eben der Herr Abg. Bebel gehalten hat, die Beziehungen zu den fremden Ländern stören (Sehr richtig! rechts), damit unsere auswärtige Politik erschweren, unsere Beziehungen zum Auslande belasten. Daß der Herr Abg. Bebel bier nicht die Verantwortung übernehmen will für einen leichtfertigen Krieg mit Rußland, das kann ich mir wohl denken. Die Regierung eines großen Landes hat aber nicht nur leichtsinnige Kriege zu ver⸗ meiden, sie hat auch dafür zu sorgen, daß die Beziehungen zu anderen Regierungen so bleiben, daß wir den Eventualitäten der Zukunft mit möglichster Ruhe entgegensehen können. (Sehr richtig! rechts.) Gegen⸗ über den heftigen und bedauerlichen Aeußerungen, in denen sich der Herr Abg. Bebel eben ergangen hat über die inneren Verhältnisse von Rußland, richte ich an ihn die Frage: Mit welchem Recht spielt denn die Sozialdemokratie in dieser Weise den Hofmeister des Aus⸗ landes? Mit welchem Recht mischen Sie sich in die Verhältnisse anderer Länder, in Vorgänge, die der Justizhoheit eines anderen Landes unterliegen?
Der Herr Abg. Bebel hat drei⸗ oder viermal das Wort „Ent⸗ rüstung“ gebraucht. Meine Herren, da sich der Herr Abg. Bebel für Aeußerungen des großen Fürsten Bismarck interessiert, so will ich ihm ein kleines persönliches Erlebnis erzählen. Als ich viel jünger war, schrieb ich einmal als Geschäftsträger — ich will nicht sagen, von welchem Posten aus — einen Bericht, in dem das Wort Entrüstung vorkam. Da ließ mich Fürst Bismarck darauf aufmerksam machen, daß Entrüstung kein politischer Ausdruck sei. (Heiterkeit.) Der Politiker — so schrieb mir Fürst Bismarck — werde durch Vorgänge mehr oder weniger angenehm berührt. (Heiter⸗ keit.) Er reagiere in dieser oder jener Weise auf Vorgänge, aber er entrüste sich nicht. Jedenfalls sollte mit dem Wort Entrüstung sparsam umgegangen werden, und es hat erst recht keinen Wert im Munde desjenigen, der sich immer gleich entrüstet, wenn irgend etwas gegen seinen subjektiven Strich geht, gegen seine vorgefaßten Meinungen, Rancunen und Liebhabereien. Es ist aber, und ich sage das bei diesem Anlaß ganz offen, eine alte deutsche Sitte oder vielmehr Unsitte, immer zu protestieren, wenn irgendwo im Auslande etwas passiert, was uns in der Theorie als Unrecht erscheint. So haben wir vor 70, 80 Jahren den Griechen⸗ rummel gehabt, ich habe eben von dem Polenrummel gesprochen, der damals den Griechenrummel ablöste —, und wir selber haben den Bulgarenrummel und den Burenrummel (Bewegung) erlebt. Jawohl, meine Herren, das sage ich ganz offen und frei. Und jetzt möchte man auf jener Seite des Hauses einen Russenrummel inszenieren. Das ist ein Beweis für die Richtigkeit des alten Satzes von Hegel, daß die Völker wenig aus der Geschichte lernen. Was ich sage, meine Herren, das gilt natürlich ebensogut für legitimistische Schrullen wie für revolutionäre Schrullen. Es ist ebenso falsch, wenn von radi⸗ kaler und zum Teil auch von liberaler Seite jetzt die inneren Vor⸗ gänge in Rußland betrachtet werden lediglich durch die Brille des Liberalismus, als wenn man in der Zeit der heiligen Allianz alles, as in Europa passierte, vom Standpunkt des Legitimitätsprinzips auffaßte. Und wenn der Herr Abg. Bebel angedeutet hat, daß wir der russischen Regierung zu Hilfe kommen wollten, so kann ich ihm darauf nur erwidern, daß so etwas von uns gar nicht verlangt wird, und wir an so etwas gar nicht denken. Wir denken gar nicht daran, uns in innere russische Verhältnisse einzumischen, deutsches Blut und Gut unnütz zu exponieren. Eine solche Interventions⸗, eine solche Tendenzpolitik überlassen wir der Sozialdemokratie. (Sehr gut! rechts.) Ob wir, meine Herren, mit den russischen Regierungszuständen inner⸗ lich einverstanden sind oder nicht, ob wir in Rußland diese oder jene politische Entwicklung innerlich wünschen, das kommt gar nicht in Frage. Die Politik ist eine praktische Kunst, die praktisch betrieben werden muß. Wir würden schön hineinfallen, wenn wir uns von ab⸗ strakten Prinzipien leiten ließen, während alle anderen, auch die Franzosen, Herr Bebel, nach ihren Interessen gehen. Ich habe hier eine Resolution vor mir liegen, welche eine Stuttgarter Volks⸗
versammlung gefaßt, und die sie mir zugeschickt hat. Da heißt es:
Die Versammlung anerkennt es als Pflicht jedes aufgeklärten Menschen, die russische Freiheitsbewegung, soviel in seinen Kräften steht, zu unterstützen.
(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wenn Sie „Sehr richtig!“ rufen, meine Herren, so antworte ich darauf, daß dieser Beschluß jener Volksversammlung, mit Verlaub zu sagen, Unsinn ist. Der auf⸗ geklärte Mensch hat gar nicht seine Finger in jeden fremden Topf zu stecken, sondern der aufgeklärte Mensch hat lediglich dafür zu sorgen, daß die Sicherheit und Wohlfahrt des eigenen Landes nicht ge⸗ fährdet wird. (Lebhaftes, mehrseitiges Bravo!)
Abg. Freiherr Heyl zu Herrnsheim (nl.): Es liegt mir vollständig fern, die Vorkommnisse der Kommune mit den Tendenzen der Sozialdemokratie in diesem Hause zu vergleichen. Herr Liebknecht aber hat die Taten der Kommune mit großer Begeisterung gepriesen. Vergleicht man die Taten der Kommune mit den Vorgängen in St. Petersburg, so muß doch die Verurteilung der ersteren weit größer sein. (Der Redner ver⸗ liest zum Beweise Aufrufe aus dem „Journal officiel“ der Kommune.) Es steht auch historisch fest, daß die Kommunarden Frauen und Kinder in die Straßenkämpfe verwickelt haben. Die Reden der Sozialdemokraten ändern nichts daran, daß die große Mehrheit des Reichstags dem Kanzler ihr Vertrauen ausgesprochen hat. Ich bin von meiner Fraktion beauftragt, ihm ebenfalls dieses Vertrauen zu bezeugen; durch die Reden der ee und die in dieser Zeit verfolgte Politik ist auch der letzte Rest von Mißtrauen und Pessimismus beseitigt worden. Auf die russische Politik der Regierung will ich nicht näher eingehen; das Verhalten des Reichskanzlers in dieser schwierigen Lage sehen auch wir als durchaus korrekt an. Als Vertreter eines Wahlkreises an der West⸗ grenze Deutschlands kann ich konstatieren, daß wir gerade dort doppelt dankbare Empfindung haben für die Vorsicht, welche die Regierung gegenüber dem russisch⸗japanischen Konflikt geübt hat. Auch die sogenannten speziellen Vertreter des deutschen Arbeiterstandes sollten doch ihre Blicke mehr nach Westen als nach Osten richten.
ei den neuen Verhandlungen mit Amerika werden hoffentlich nur für Nord⸗
W“ .
“ 8 1— amerika in Geltung gesetzt; jetzt scheint sie auch auf den süd⸗ amerikanischen Kontinent ausgedehnt werden zu sollen. Die Union sucht in Mittelamerika, in San Domingo, in Brasilien, festen Fuß zu fassen, um dort das deutsche Kapital überall zu ver⸗ drängen. Die Frage der Flottenentwicklung ist eine handelspolitische Frage von größter Bedeutung, und daher haben wir auch die Agitation des Flottenvereins nur dankbar zu begrüßen. Im Gegensatz zu der großen Bismarckschen Epoche beunruhigt uns in Süddeutsch⸗ land die Erscheinung, daß die innere Politik der Einzelstaaten wenig übereinstimmend erscheint. Jeder einzelne Staat arbeitet bei seinen verfassungsrechtlichen Maßnahmen ohne jede Fühlung mit Preußen und den, anderen Staaten, sodaß ein wildes Durcheinander von Maßnahmen sich darbietet. Wir wünschen, daß auch die Staatsmänner der kleineren Staaten zuvor eine gewisse Verständigung mit einander herbeiführen möchten. Hinsichtlich der Finanzpläne wird das ja angebahnt. Eine Betriebsgemeinschaft ist ja sehr schön, aber eine politische Betriebsgemeinschaft wäre doch für das Reich noch weit bedeutender. Vergleichen wir unsere allgemeine Entwicklung mit den anderen Kulturstaaten, die uns umgeben, so sind wir ihnen weit voran. Unsere deutschen Arbeiter haben in den letzten 30 Jahren weit mehr erreicht als die französischen in hundert Jahren mit vier blutigen Revolutionen. Ist unsere Wehr⸗ einrichtung nicht das Vorbild für alle Staaten geworden? Hat sich nicht das siegreiche Japan bei uns ausgebildet und seine Organisation an die unsere angelehnt? Auch die handelspolitische Aktion unserer Regierung ist von Erfolg gekrönt worden. In der Schweiz dagegen haben 700 000 Wähler das Versicherungsgesetz ab⸗ gelehnt. Wir bekämpfen aufs schärfste den politischen Pessimismus und werden auch bemüht sein, alle Scheidewände zwischen den einzelnen Schichten der Bevölkerung einzureißen. Damit werden wir auch in die Lage kommen, die eine große soziale Frage zu lösen, bei deren Lösung wir die Regierung aufs kräftigste unterstützen wollen.
Abg. Schrader (fr. Vgg.): Wenn ich auf diese Rede ein⸗ gehen wollte, würde ich der Verabredung untreu werden, die der Seniorenkonvent getroffen hat. Ich will Herrn von Heyl nicht in seinem Optimismus stören. Der bisherige Gang der Regierungs⸗ politik gegen die Polen hat doch unleugbar weiter und weiter von der Versöhnung und Ausgleichung der Gegensätze abgeführt. Die durchaus entgegengesetzte Politik des Feldmarschalls von Manteuffel in den Reichs⸗ landen hat trotz der im einzelnen gemachten Fehler doch den Effekt gehabt, daß jetzt das Reichsland Deutschland gewonnen erscheint. Die be⸗ antragte Resolution Spahn werden wir ja annehmen; die Bedenken des Kanzlers dagegen sind wirklich nicht durchschlagend. Nicht von der Zahl der Stimmen Preußens im Bundesrate hängt sein Einfluß auf den Bundesrat ab, er beruht auf ganz anderen Ursachen, auf der Tatsache, daß es der mächtigste, der führende Staat ist. Dem Statthalter von Elsaß⸗Lothringen kann unbedenklich die Ernennung der Bundesratsbevollmächtigten überlassen werden. Sonst wäre es ja auch diskutabel, wenn die Bundesratsvertreter von den Volksver⸗ tretungen gewählt würden. Der Antrag wegen der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ist mir nicht recht verständlich. Wir müssen eine politische Verantwortlichkeit wünschen; aber die Frage ist sehr schwierig. Reichskanzler und Staatssekretäre haben keinen so großen Einfluß wie das Ministerium in einem Einzelstaat, sie sind nur ausführende Organe des Bundesrats, dieser hat die eigentliche Leitung der Geschäfte, und er ist vollkommen unverantwortlich. Die Verantwortlichkeit, wie sie ein preußischer Minister hat, kann man dem Kanzler gar nicht auferlegen; in der Haupt⸗ sache ist er verantwortlich für die Handlungen des Kaisers. Natürlich hat diese Verantwortlichleit keine Bedeutung, wenn der⸗ jenige, der das Recht hat, ihn zur Verantwortung zu ziehen, dieses Recht nicht geltend machen kann, wie es jetzt der Fall ist. In letzter Linie hängt alle Verantwortlichkeit nicht von Gesetzen, sondern von Tatsachen ab. Der preußische Handelsminister Graf Itzenplitz mußte tatsächlich dem Abgeordnetenhause weichen, als anfangs der 1870 er Jahre nach den Lasker⸗Enthüllungen eine große Bahn gebaut werden sollte, aber diesem Minister von der Volksvertretung nicht bewilligt worden wäre. Für die Resolution Auer können wir daher nicht stimmen; sie wäre ein Schlag ins Wasser. Was die Auslieferungsverträge betrifft, so würde uns heute wahrscheinlich die Reichsregierung ebensowenig, wie sie es 1885 gewagt hat, einen solchen vorlegen; aber wir stehen hier wieder vor einem Nein des preußischen Ministerpräsidenten, der dem in schwerer Be⸗ drängnis befindlichen Nachbarstaate keine Unfreundlichkeit erweisen will. Ich verstehe das, aber genügt eine solche Stellungnahme, da doch der Vertrag uns unter Umständen außerordentlich unangenehm werden kann? In Rußland bestebt nicht Recht und Gesetz nach unseren Begriffen; ganz Rußland steht unter dem Belagerungszustand. Auch auf die Gerichte kann man sich daher dort absolut nicht ver⸗ lassen. Daß das russische Prestige für lange Zeit dahin ist, wird doch ernsthaft nicht geleugnet werden können; die absolute Gewalt hat sich unfähig gezeigt, die Zustände in Ordnung zu erhalten. Wir haben allerdings keine Veranlassung, Rußland Ungelegenheiten zu bereiten; was ich ausführte, soll nur die Situation kennzeichnen. Das Richtige wäre, von deutscher Seite aus autonom ein Geses über die Bedingungen und Voraussetzungen der Auslieferung zu machen und dann auf Grund dessen Verträge mit anderen Staaten ab⸗ zuschließen; dann würde von selbst ohne jedes Zutun des Kanzlers der preußische und bayerische Vertrag außer Kraft treten. Dieser Weg sollte mit Zustimmung des Bundesrats eingeschlagen werden. In dieses Gesetz müßte auch eine ganz genaue Formulierung der Aus⸗ weisungsvoraussetzungen Aufnahme finden. Richten wir unsere inneren Beziehungen in allem ein, wie es der Gerechtigkeit entspricht, dann wird auch die Ordnung der Auslieferungsfrage und der Fremdenpolizei keine Schwierigkeit bieten.
Abg. Böckler (Reformp.): Die Argumentation des Kanzlers gegen den Grafen zu Reventlow muß ich als mißlungen bezeichnen. Vergleicht man den Ton, in dem gestern Graf von Bülow dem doch gewiß nationalen Grafen zu Reventlow mit dem, wie er heute Herrn Bebel geantwortet hat, so wird man doch eigentümlich berührt; die Sozialdemokraten werden wiederum mit dieser Kanzlerrede Propaganda machen und triumphierend darauf hinweisen, daß wiederum der Kanzler sich sofort ausführlich und natürlich vergeblich bemüht habe, Herrn Bebel zu widerlegen. Im Lande wird dadurch die größte Verwirrung angerichtet. Auf die Automobilwettrennen wollte Graf von Bülow nicht eingehen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es unzulässig ist, unsere Landstraßen zu solchem Gordon⸗Bennett⸗Rennen zu benutzen; es handelt sich da eigentlich nur um moderne Gladiatoren, denen es mit der gewöhnlichen Kapitalsvermehrung zu langsam geht. Auf der Saalburg hoffte man vielleicht einen großen Triumph für unsere Industrie zu feiern,.. und der Preis ging ins Ausland. Es war lediglich ein Reklamewettrennen großkapitalistischer Fabri⸗ kanten. Aehnlicher Kritik verfällt verdientermaßen die Kieler Woche. Von Berlin wurden zahlreiche Kriminalbeamte dorthin ent⸗ boten, um die Taschendiebe, Bauernfänger, Dirnen usw. zu über⸗ wachen; besser wäre es doch unter solchen Umständen, derartige Ver⸗ anstaltungen fänden überhaupt nicht statt. Was haben denn nun die armen Studenten getan, gegen die sich der Kanzler gestern auch wandte? Sie haben ein Telegramm nach Innsbruck geschickt, an unsere deutschen Volksgenossen. Sollten sie nicht das Recht haben, denen ihre Sympathie auszudrücken? Die jungen Studenten sind doch ganz unpolitische Persönlichkeiten. Fortgesetzt werden von Be⸗ rufenen und Unberufenen taktvolle und weniger taktvolle Telegramme in politischen und nichtpolitischen Angelegenheiten ins In⸗ und Ausland ge⸗ schickt. Man möchte unsere deutsche Jugend ein klein wenig in das englische Kielwasser nehmen. Der Professorenaustausch mit Amerika be⸗ wegt sich in derselben Richtung. Es wäre nicht erwünscht, wenn zu viel amerjkanische Professoren herkämen. Man sollte unsererseits die frei⸗ händlerischen Professoren dorthin schicken, um die Amerikaner zu Frei⸗ händlern zu machen. Ueber die Aeußerung des Kanzlers wegen der chinesischen Offiziere habe ich mich gewundert. Deutsche Offiziere haben es für eine Schande erklärt, daß sie in China gegen Ein⸗
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richtungen kämpfen mußten, die erst mit deutscher Hilfe geschaffen waren. Was die Rassenfrage betrifft, so hat der Reichskanzler den
Grafen zu Reventlow entweder nicht verstanden oder nicht ver⸗ stehen wollen. Der japanische höhere Beamte mag ja sehr verdienst⸗ voll in seinem mongolischen Lande sein, das ist aber kein Grund, mit ihm in ein so nahes Verhältnis zu treten. Eine Rassen⸗ vermischung ist nicht nur nicht wünschenswert, sondern höchst be⸗ dauerlich. In Südamerika herrscht auch eine Mischlingsrasse, und es ist dort nie und niemals Ordnung. Der Abg. Graf zu Reventlow hat mich beauftragt, zu erklären, daß das, was Herr Bebel über die Rassenfrage gesagt hat, ihm viel zu unbedeutend erscheine, um noch einmal das Wort zu ergreifen. Wenn Graf zu Reventlow einmal einen scharfen Ausdruck gebrauchte, so brauche sich Herr Bebel darüber nicht aufzuregen, denn an demselben Tage habe im „Vorwärts“ die Auf⸗ forderung, die russische Regierung vom Erdboden zu vertilgen, gestanden. Seine Bemerkungen hätte sich Herr Bebel ersparen können, denn daß wir gegen die Tiergartenmischung sind, ist ja bekannt. Auch beim Dom hat sich die Tiergartenmischung bemerklich gemacht, und es macht einen eigentümlichen Eindruck, wenn in dem Augenblick, da von dem Zusammenschluß des Protestantismus die Rede war, in der Kaiserlichen Loge ein Teppich sich befand, der von einer jüdischen Firma gestiftet war. Herr Bebel weiß vielleicht in Rußland mehr Bescheid als in Deutschland, sonst müßte er wissen, daß der Name Reventlow nieder⸗ deutsch ist. Die Endung llow bedeutet, soviel wir wissen, sumpf⸗ artiger Strich und dergleichen. Die Mischehen zwischen Deutschen und Juden sind meist kinderlos, oder es kommt ein minderwertiger Schlag dabei zustande. Wenn Graf zu Reventlow die Regierung mahnte, in der Russenfrage die Augen ein wenig offen zu halten, so war das durchaus berechtigt. Das neue Jahrhundert ist das Jahrhundert der Rassenkämpfe. Wir sehen diesen Kampf in Ostasien und in Südafrika. Als weiße Rasse müssen wir unsere Kultur verteidigen. War etwa das Wort: „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!“ nur ein schönes Wort? Die Regierung sollte mehr und ziel⸗ bewußter deutsch sein; das würde unserem Vaterlande nur dienlich sein. Abg. Heine (Soz.): Auf die eben gehörten Ausführungen der blondhaarigen, langköpfigen Urgermanenrasse gehe ich nicht ein. Viel⸗ leicht wird mir der Reichskanzler auch wieder guten Ton empfehlen. Wenn er keine besseren Argumente weiß, so bedauere ich das; leider ist er nicht hier anwesend. Seine Sorge wegen der Revisionisten kann er sich ersparen. Wer sich aus sachlichen Gründen, aus Liebe zum Volke, einer Bewegung angeschlossen hat, läßt sich nicht durch solche persönlichen Dinge und solche Manöver beeinflussen. Ueber den Reichskanzler haben wir als Person und Politiker nur ein Urteil. Wir haben allerdings „Sehr richtig“ gerufen, als von Willkür gegen die Polen die Rede war. Der Kanzler empfahl uns allen, etwas weniger gerecht zu sein. Wir würden aufhören, Deutsche zu sein, wenn wir nicht diese Liebe zur Gerechtigkeit und zum Recht hätten. Als Jurist muß ich fragen: Handelt es sich bei dem Kampfe gegen die Polen um Fremde? Sonst heißt es doch, wir kennen nur Preußen oder Deutsche. Die Polen sind zweifellos deutsche Reichsangehörige. Die deutsche Rechtspflege wird in Frage gestellt, wenn gegen die Polen ungerecht verfahren wird. Mit einem Zitat läßt sich die Frage nicht abtun, wie es der Reichskanzler getan hat. Auch hier heißt es: tua res agitur, was dem einen geschieht, kann dem andern auch passieren. Gewiß assimilieren sich die Deutschen nur allzu leicht mit dem Aus⸗ lande. Es würde anders sein, wenn das Wort Civis Romanus wirk⸗ lichen Wert hätte, wenn in der Heimat Recht und Gerechtigkeit herrschten. Wir haben nun eine Resolution beantragt auf Erlaß eines Gesetzes, das eine wirksame politische und budgetrechtliche Verantwortung des Reichskanzlers herbeiführen will. Der Anlaß zu dieser Resolution ist in den Vorgängen der Budgetkommission zu suchen, wo bekanntlich die ohne Billigung des Reichstages einseitig gemachten Ausgaben für Südwestafrika dazu führten, daß die Kommission der Regierung etwas die Zähne zeigte, das heißt, sie höflich bat, die Indemnität nachzusuchen. Die Regierung sagte großmütig zu, wie man ein un⸗ artiges Kind beruhigk, und das Kind sagte: wenn du mir wieder eine herunterhaust, so mußt du mich wieder um Indemnität bitten. Solche Zustände sind des Deutschen Reiches unwürdig. Worin be⸗ steht jetzt die Verantwortlichkeit des Kanzlers? Mit der Erklärung, daß er die Verantwortung übernimmt, sollte das Verfahren doch erst beginnen, tatsächlich ist es aber damit zu Ende. So war es auch bei der chinesischen Angelegenheit. Die Verantwortung des Reichs⸗ kanzlers ist in der Tat eine Phrase, wie ein Staatsrechtslehrer gesagt hat. Die Verantwortung des Kanzlers muß in ihren Grenzen und in ihrer Art näher bestimmt werden. Bei der Beratung der Reichsverfassung hat man das leider unterlassen. Es wurden ja große Worte gemacht, von Bennigsen, Gneist u. a., aber die Parteiführer wurden im Stich gelassen. Bennigsen stellte in einem Antrage einen Wechsel auf die Zukunft aus. Solche Wechsel werden nicht eingelöst. Unser Kanzler sollte vor den Kaiser treten und ihm gegebenenfalls kräftige Vorstellung machen, wenn es sich um Akte des Fürsten handelt, die der Kanzler bedenklich findet. So steht es in der schwedischen Verfassung. So müßten wir es auch machen. Die Regierungstätigkeit ist allerdings heute sehr seltsam gestaltet. Von zahlreichen Residenzen, von eigenen und fremden Jagd⸗ schlössern, von Kriegsschiffen und Saloneisenbahnwagen aus wird regiert, der Fürst und sein Minister sehen sich oft monatelan nicht, und da ist es ganz selbstverständlich, daß man schließlich die Verantwortung auch ohne Gegenzeichnung übernimmt, da doch irgend einer verantwortlich sein muß. Die Politik ist aus dem Stadium des schriftlichen in das so beliebte des mündlichen oder allenfalls des telegraphischen Verfahrens getreten. Täglich hört man von Tischreden, Aeußerungen zu Bürgermeistern, Generalsuperinten⸗ denten usw. usw. Aeußzerungen, die noch dazu manchmal in mehreren Versionen kursieren; dazu kommen Telegramme an Fürsten, Admirale, Generale usw. usw. Der Kanzler sprach heute von dem „Burenrummel“, in dem doch auch solche Reden und Tele⸗ gramme eine Rolle gespielt haben. Ob Angriffe auf das Volk und seine Art in derartigen Telegrammen vorgekommeu sind, darüber will ich mich nicht äußern. Schon die bloße Möglichkeit genügt für mich, gesetzlicher Regelung zu unterwerfen, was alles auf diese Weise unter die Verantwortlichkeit des Kanzlers fällt. Bleibt ein Minister nach Vorgängen, für die er die Verantwortung hätte ablehnen müssen, an seinem Platze, so ist es doch ganz in der Ordnung, ihn dafür haftbar zu machen. Ein solches Gesetz müßte auch die Einreden regeln, mit denen ein Minister sich seiner Ver⸗ antwortlichkeit entziehen könnte. Für die Handhabung der Kron⸗ rechte sei er nicht verantwortlich, erklärte der preußische Minister⸗ präsident im Jahre 1902 im Abgeordnetenhause. Das war natürlich ganz verkehrt; denn gerade für diese Handhabung trägt der Minister die Verantwortung. Gerade weil solche Einreden nichts Unerhörtes sind, haben einzelne Gesetzgebungen Vorkehr getroffen, so Hessen. Es darf nicht zulässig sein, zur Ablehnung der Verantwortlichkeit zu erklären, eine Kritik der Handlungen des Monarchen sei nicht statthaft; damit würde der Verantwortlichkeit des Ministers von vornherein die Spitze genommen. Wer diese Kritik abschneiden wollte, würde damit beweisen, daß man wenig Verständnis für die Aufgaben und Rechte der Volksvertretung hat. muß anderseits die Verantwortlichkeit des Kanzlers beschränkt werden auf politische und Regierungshandlungen. Wenn der Monarch seine Meinung über Kunstrichtungen abgibt, kann der Kanzler nicht die Verantwortung tragen, ebensowenig, wenn der Landesherr seine religiöse Ueberzeugung oder seine verwandtschaftlichen Gefühle äußert. Ob die Aeußerungen des Monarchen richtig oder fulsch sind, darum handelt es sich gar nicht, sondern nur ob der verantwortliche Minister dies verantworten muß. Dafür käme es auf die Art der Emanation an. Telegraphiert ein Monarch an den anderen: „Deine Trauer ist meine Trauer“, so kann das ein rein persönlicher Akt, und es kann auch ein politischer Akt sein; namentlich wenn der Wortlaut wäre: „Die Trauer Deines Staates oder Volkes ist die Trauer meines Staates oder Volkes“, so wäre es evident eine politische Aeußerung, für die die Gegenzeichnun und die Uebernahme der Verantwortung erforderlich wäre. Nach Artikel 15 der Verfassung ernennt der Kaiser den Kanzler; aus dieser Tatsache hat man herleiten wollen, daß unser Antrag ein Angriff auf die verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers sei. Dieser Einwand be
deutet schon deshal
nichts, weil die Rechte des Kaisers ebenso dis⸗
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Selbstverständlich
darum,
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