1905 / 295 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 15 Dec 1905 18:00:01 GMT) scan diff

nebst entsprechenden Angaben für den Vormonat.

(Preise für greifbare Ware, soweit nicht etwas anderes bemerkt.)

8—

roßhand

elspreise von Getrei

für den Monat November 1905

Zusammengestellt im Kaiserlichen Statistischen Amt.

1000 kg in Mark.

““

guter, gesunder, 714 g das l .. . guter, bunter, 749 bis 754 g das 1

er, guter, gesunder, 447 g das 1.. ffr. Prenn., 647 bis 652 g das

Roggen, Welben, fer, erste,

Mais,

Roggen, Weizen,

Hafer,

Roggen,

Weizen, P 1 Hafer, badischer, württem

Breslau. Mittelware

amerikanischer b Berlin. guter, gesunder, mindestens 712 g das

1 755 g das 1 450 g das 1

n 8 *

8 MNannheim. älzer, ru eer, bulgarischer, mittel. s vu sge amerik., rumän., mittel. bergischer, mittel..

Gerste, badische, Pfälzer, mittel.

Roggen, Weizen,

München. bayerischer, gut mittel.

2 *

er, 2 „S 1 ’8 ungarische, mährische, mittel. bavyerische, gut mittel

Roggen, Weizen, fer, u

Wien.

1715 ngarischer I.

erste, slovakische.. Mals, ungattscher

Roggen, Weizen, fer,

Mais,

Roggen, Weizen,

Roggen, Weizen,

Roggen. Welben lieferbare Ware des laufenden Monats

Roggen Weizen ais

Weizen

Weizen fer

erste

Weizen

Budapest. Mittemn 6

erste, Futter⸗ 111““

71 bis 72 kg das hl.. Ufa, 75 bis 76 kg das hl. EE1““ 71 bis 72 kg das hl EEZ11““ Paris.

Antwerpen. bL1X.“*“ Donau, mittel. EE““ LV8 roter Winter⸗. Californier .. Walla Walla. Kurrachee, rot. Amsterdam. bbeeeeeöö“]; St. Petersburger.. Winter⸗..

amerikanischer amerikan. bunt

La Plata. London. Produktenbörse.

englisch be (Mark Lane) 1 r 1 La Plata an der Küste (Baltic).

englisches Getreide, Mittelpreis aus 196 Marktorten (Gazette averages)

Liverpool. vnffch .

roter Winter⸗. Manitoba . eee1111“““ bö6 Australier ..

Hafer, englisch weißer .. ..

Gerste, Mais

Weizen Mais Weizen Mais

1

engl. gerechnet; Königreichs ermit 1 t . (Gazette averages) ist 1 Imperial Quarter Weizen = 480, Ha

= 312 1 Bushel We

8 Futter⸗ amerikan..

(verjter vir.

amerikan. bunt . I

Chicago. Dezember Mai.. E“

Dezember.

Neu York.

roter Winter⸗ Nr. 2...

Nord, Frühjahrs⸗ Nr. 1..

Lieferungsware

eferungsware

Durchschnittsware

Bemerkungen.

1“

Imperial

Gerste 400 Pfund englisch angesetzt.

1

Monat Novbr. 1905

153,45 169,40 143,85 140,85

149,20 159,40 141,40 150,60 143,00

166,76 179,30 153,08

175,08 193,03 160,78 177,54

163,50 185,50 170,50 188,50 181,50

128,29 162,70 130,84 158,03 132,11

116,35 145,15 124,51 124,91 131,16

115,33 131,54

131,09 134,20

13³1,43 188,05

140,17 143,08 147,54 151,10 152,23 158,70 153,77 144,70

140,72 141,36 152,51 172,50 122,60 115,95

144,70 141,73 147,64 132,88 126,55 138,45

152,80 148,23 153,91 152,28 147,80 159,89 145,82 115,24 106,14 145,30 115,21 111,56

132,38 135,92 128,79

74,08

144,92 146,67 143,22 142,33

90,80

132,21

Quarter ist für die Weizennotiz von eng Rotweizen = 504, für Californier = 500, La Plata = 480 Pfund für die aus den Umsätzen an 196 Marktorten des telten Durchschnittspreise für einheimisches Getreide

gegen im Vor⸗ monat

94,79

8

Weiß⸗ und

Da⸗

148,60 161,20 138,95 131,95

146,40 156,30 134,70 141,40 138,50

161,56 174,34 147,71

167,29 188,52 156,14 172,17

154,00 180,00 165,00 185,00 173,00

123,69 160,24 124,11 158,12 149,62

111,07 142,20 115,02 113,36 144,09

109,88 127,49

120,94 131,21

125,37 187,20

139,16 139,56 141,51 145,23 151,71 152,93 149,28 139,64

128,60 125,80 147,90 167,65 116,92 112,07

137,40 134,79 143,68 126,77 119,10 140,04

150,81 146,12 153,53 146,33 146,80 157,18 145,04 113,03 104,87 144,15 113,67 110,88

133,64 135,37 129,97

74,01

142,71 146,12 142 00 140,95

90,44

127,84 90,43.

fer

= 60, 1 Bushel Mais = 56 Pfund englisch; 1 Pfund englisch = 453,6 g; 1 1c Roggen = 2100, Weizen = 2400, Mais = 2000 kg. Bei der Umrechnung der Preise in Reichswährung sind die aus den einzelnen Tagesangaben im ‚„Reichsanzeiger“ ermittelten monatlichen Durchschnittswechselkurse an der Berliner Börse zu Grunde gelegt, und zwar für Wien und Budapest die Kurse auf Wien, ür London und Liverpool die Kurse auf London, für Chicago und eu York die Kurse auf Neu York, für Odessa und Riga die Kurse auf St. Petersburg, für Paris, Antwerpen und Amsterdam die Kurse auf diese Plätze. Preise in Buenos Aires unter Berücksichtigung der Goldprämie.

Deutscher Reichstag. 12. Sitzung vom 14. Dezember 1905, 1 Uhr. (Bericht nach Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Tagesordnung: Fortsetzung der ersten Beratung des Ent⸗ wurfs 8e Gesetzes, betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rechnungsjahr 1. ꝛc.

Ueber den Beginn der Verhandlungen ist gestern berichtet

worden. Abg. Dr. Graf zu Stolberg⸗Wernigerode (kons.), fortfahrend: Der Staatssekretär Graf von Posadowsky sagte weiter, daß mit dem wachsenden Wohlstand nicht in gleichem Maße die Opferfreudigkeit gestiegen sei, die Großbherzigkeit in wirtschaft⸗ lichen Dingen, welche die besitzenden Klassen auszeichnen müßten. Da kann ich nur bedauern, daß er diese Rede nicht ge⸗ halten hat vor der Rede seines Kollegen des Freiherrn von Rheinbaben. Es gibt keine bessere Widerlegung dieser Be⸗ hauptung, als die Rede des preußischen Finanzministers. Sie war deshalb so vorzüglich, weil er keine Behauptungen, noch Meinungen ausgesprochen hat, sondern weil er unumstrittenes Zahlenmaterial vorgeführt hat. Deshalb hat seine Rede einen bleibenden Wert. Dann sagte der Staatssekretär weiter, die sozialdemokratische Bewegung huldige durchaus einer materialistischen Welt⸗ und er glaube, daß mit unserem wachsenden Reichtum auch in den besitzenden Klassen die materialistische Weltanschauung, die Genußsucht, gewachsen sei, und das sei sehr bedenklich. Ich kann mich davon nicht überzeugen. Ich bin auch kein Optimist, dazu bin ich viel zu alt geworden, aber dem deutschen Volke Idealismus abzusprechen, dazu kann ich mich doch nicht aufschwingen. Ich kann mir die Auffassung des Staatssekretärs, die er im einzelnen nicht näher begründet hat, nur daraus erklären, daß er Anstoß nimmt an dem übertriebenen Luxus, der uns ja ab und zu entgegentritt. Aber dieser Luxus beschränkt sich auf kleine einzelne bestimmte Punkte. Er mag in Berlin und anderen großen Städten vorhanden sein, daß er aber im ganzen Volke Platz gegriffen hat, kann man wirklich nicht sagen. Es trifft insonderheit nicht zu beim Großgrundbesitz. Ich kenne die Dinge in dem so viel besprochenen Ostelbien sehr genau, und ich kann Ihnen versichern, daß da von einem übertriebenen Luxus nicht die Rede ist. Die Leute, die hier in Berlin wohnen, haben gar keine Ahnung, wie der Großgrundbesitzer bei uns auf dem Lande lebt. Ich erinnere Sie an die klassische Rede des Fürsten Bismarck vom 14. Februar 1885, worin er seine Freude darüber ausspricht, wie diese braungebrannten Herren auf ihr Feld reiten, und wie sie es be⸗ bauen. Das trifft auch heute noch zu. Der Staatssekretär hielt uns die großen Krisen vom Anfang des 16. und des 19. Jahrhunderts vor und sagte, das wären große Zeiten gewesen. Ja, in solchen Krisen leben wir nicht, wir leben in einer wirtschaftlichen Entwicklung, und da stehen natürlich wirtschaftliche Fragen im Vordergrund. Wenn aber solche Krisen wie die von 1813 oder 1870 ich wünsche, daß sie uns erspart werden wiederkommen sollten, dann wird das Volk sicherlich bereit sein. Was mich in dieser Beziehung hierin bestärkt, ist das Verhalten unserer Schutztruppen in dem gegenwärtigen Kolonialkrieg. Ihnen ist ja schon der Dank ausgesprochen worden. Diese Schutz⸗ truppen, Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere, haben sich ja doch frei⸗ willig gemeldet. Es mag vorkommen, daß der eine oder andere sich hat anwerben lassen in der Hoffnung, eine Farm zu bekommen; im großen und gattzen haben sie sich anwerben lassen aus Vaterlands⸗ liebe, aus Kolonialbegeisterung, nennen Sie es Kolonialschwärmerei, vielleicht auch aus Abenteuersucht. Jedenfalls sind diese Gründe nicht materialistischer, sondern idealistischer Natur. Dieser Idealismus ist aber kein Strohfeuer, im Gegenteil, er hat sich be⸗ währt und glänzende Proben gegeben. Unsere Kolonialtruppen haben keine Siege erfechten können wie die von Königgrätz und Sedan, aber die Leistungen der einzelnen waren viel größer, viel intensiver als die Leistungen von 1870. In einer großen Armee tapfer zu kämpfen, ist keine große Kunst, dort wird man durch die allgemeine Begeisterung fortgerissen; aber im einsamen Dorngebüsch gegenüber einem grausamen, hinterlistigen Feind ist es doch anders, da wird das Herz noch gewogen. Unsere Truppen haben 1870 Strapazen und Ent⸗ behrungen durchgemacht, aber sie haben doch wenigstens Wasser be⸗ kommen, wenn es auch noch so schlecht war. In Südwestafrika haben unsere Truppen tagelang gedurstet, und unsere Mannschaften haben nicht darüber geklagt, sondern über die Leichtfüßigkeit ihrer Feinde, die ihnen immer entlaufen, die sie nicht zum Stehen bringen, nicht endgültig schlagen können. Da muß man doch sagen, es steckt noch ein großes Stück Idealismus in unserem Volke. Ich habe geglaubt, die Worte des Stellvertreters des Reichskanzlers nicht unwidersprochen ins Land hinausgehen lassen zu sollen. b 1 Abg. Bebel (Soz.): Der Abg. Gröber hat gestern in seinen Ausführungen über die Diätenfrage Andeutungen gemacht, die ich mir als auf meine Partei gemünzt auslegen muß. Die Diätenfrage hat uns bisher kühl bis ans Herz hinan gelassen, obgleich wir allesamt wissen, daß die Diäten verweigert worden sind gerade mit Rücksicht auf unsere Partei. Nun ist es aber merkwürdig, daß gerade die⸗ jenige Partei, gegen die sich die Diätenlosigkeit richtet, die Diäten am wenigsten entbehrt, während diejenigen Parteien, die am ersten ohne Diäten auskommen könnten, den Wunsch danach am lebhaftesten äußern. Selbstverständlich sind wir An⸗ hänger der Diäten, als selbstverständlich erachten wir es, daß Männern, die verpflichtet werden, viele Monate von der Heimat, vom Geschäft und Beruf entfernt zuzubringen, eine entsprechende Ent⸗ schädigung gewährt wird. Denn in dem Maße, wie durch die Diäten⸗ losigkeit der Reichstag schwach besetzt ist, ruht die Arbeit auf einer ganz außerordentlich kleinen Zahl von Abgeordneten, die durch diese Last fast erdrückt werden. In dem Maße, wie bei unserer ganzen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung die Gegensätze immer heftiger aufeinander prallen, das Bedürfnis immer mehr sich geltend macht, den Staat um Hilfe anzurufen, wie die Spaltung, Schichten⸗ und Parteibildung in der heutigen Gesellschaft zu⸗ nimmt, werden die parlamentarischen Körperschaften immer mehr belastet. Auch diese Gründe machen es zu einer Notwendigkeit, daß die Abgeordneten für die Opfer und Mühen und Zeitverluste, die sie auf sich nehmen, entschädigt werden. Der Abg. Gröber hat gemeint, man würde durch die Dääten wirkliche Arheitervertreter in den Reichstag bekommen, denn die jetzigen angeblichen Arbeitervertreter seien keine wirklichen Arbeiter mehr. Vollkommen richtig! Aber wenn Sie die Diäten zahlen, so werden Sie die von Ihnen gewünschten wirklichen Arbeiter auch nicht be⸗ kommen, aus dem einfachen Grunde, weil ein Arbeiter, sobald er ein Mandat annimmt, aus der Arbeit herausgeworfen wird, mag er bei einer Partei sein, bei welcher er will. Sie werden keinen Arbeitgeber finden, der sich einen Paradearbeiter hält, der für Monate nach Berlin fährt und dort allerlei Dinge hören und sehen könnte, durch deren Mitteilung er seine Arbeitskollegen rebellisch macht. Was die Ausführungen des Abg. Gröber über den Kolonialetat betrifft, so hat man auch hier wieder die interessante Beobachtung machen können, daß, wenn zwei dasselbe sagen, es nicht dasselbe ist. Wenn der Abg Gröber

in den Kolonien vorbringt, so macht das einen etwas anderen Eindru als wenn wir es tun. Wir haben diese Klagen schon vor ein, zw Jahren ebenfalls hier vorgetragen und haben uns zuerst auf den als Autorität bezeichneten Kammergerichtsrat Meyer berufen, der nach⸗ gewiesen hat, daß die Behandlung der Eingeborenen von seiten der Kolonialverwaltung und Kolonialbeamten von Grund aus verkehrt ge⸗ wesen ist, daß Samuel Maharero deswegen, weil er Stammeshäuptling war, nicht das Recht hatte, Ländereien abzutreten. Weil aber unsere Kolonial⸗ beamten den dortigen sozialen Verhältnissen und Anschauungen voll⸗· kommen fremd gegenüberstehen, so mußte dies zu einer Menge von Mißverständnissen und Mißhandlungen und schließlich zum Aufstand führen. Glauben Sie mir nur, Herr Gröber, wenn man die schwäbi⸗ schen Bauern von 1905 so behandeln würde, wie die Eingeborenen von jeher in den Kolonien behandelt worden sind, so würde es morgen in Schwaben zu einem Bauernkriege à la 1525 kommen. Da kann man es den Eingeborenen nicht übelnehmen, daß sie nach dem Grade ihrer Kultur so gehandelt haben, wie es geschehen ist. Am 9. De⸗ zember hat der Reichskanzler Angriffe gegen unsere Stellung in der Kolonialpolitik und besonders gegen den Abg. Ledebour gerichtet. Der Abg. Graf Stolberg hat sich aber selbst veranlaßt gesehen, zu er⸗ klären, wie es kommt, daß auch auf seiten der deutschen Truppen in Südwestafrika sich Anschauungen eingebürgert haben, die sich mit den Begriffen moderner Kriegführung nicht ver⸗ einbaren lassen. Auch der größte Kolonialgegner wird die Ausdauer und Opferwilligkeit der Männer als bewunderns⸗ wert anerkennen, die dort ihr Leben in die Schanze schlagen. Das kann uns aber nicht zurückhalten, dort, wo wir Fehler gemacht zu sehen glauben, wo wir Dinge sich abspielen sehen, die nach unserer Meinung einer zivilisierten Nation unwürdig sind, uns mit aller Entschiedenheit dagegen zu erklären. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Proklamation des Generalleutnants von Trotha unter diese Erscheinungen fällt. Der Kanzler hat doch auch sofort, nachdem Sicheres darüber verlautete, durch ein Telegramm Einhalt geboten. Der Kanzler hat in seinen Erklärungen gegen meine Parteigenossen einen Punkt unaufgeklärt gelassen, der der Aufklärung dringend bedarf, jene in derZukunft' veröffentlichte Depesche, wonach die Absicht des General⸗ leutnanks von Trotha, mit Morenga zu unterhandeln, von hier aus direkt desavouiert worden sei. In der heutigen Sitzung der Budgetkommission soll mitgeteilt worden sein, daß der Kanzler nicht an der Sache be⸗ teiligt sei, sondern das Telegramm an den Generalstab gelangt sei, und zwischen diesen beiden Instanzen die Sache sich abgespielt habe. Ich muß aber meine große Verwunderung aussprechen, daß der Kanzler die Sache nicht schon längst selbst richtig gestellt hat und solche Irr⸗ tümer so lange im Lande Wurzel fassen läßt. Der Kanzler hat doch so viel Zeit, auswärtigen Pressevertretern seine Ansichten mitzuteilen und auseinanderzusetzen, da hätte das deutsche Volk doch wohl auch ein Recht auf rasche Richtigstellung solcher bedenklichen Nachrichten. Mit der Kolonialpolitik sind wir gründlich hineingefallen, das sieht man schon an dem Weihnachtsgeschenk, das der Reichsschatzfekretär Freiherr von Stengel uns gestern auf den Tisch legte, dem Nachtragsetat von 30 Millionen. Wir werden uns sicher auch noch mit einem fünften Nach⸗ tragsetat zu beschäftigen haben, dessen Höhe ich freilich noch nicht kenne. Im höchsten Grade erstaunt bin ich über die Kaltblütigkeit, die das Zentrum dieser Frage gegenüber bewahrt. Vor zwei Monaten hat die „Kölnische Volkszeitung“ Artikel publiziert, die, wenn sie die Meinung des Zentrums ausdrückten, dieses heute zu glatter Ablehnung der Kolonialforderung bringen müßten; es war da gesagt, das Reich habe seit 1898 800 Millionen geopfert für eine Kolonialpolitik, deren wirtschaft⸗ licher Erfolg gleich Null sei. Aber die Auffassung der Zentrumspresse und die der Zentrumsfraktion sind eben, wie wiederholt offenbar ge⸗ worden ist, zwei grundverschiedene Dinge. Das Zentrum hat A gesagt, es muß B sagen und das ganze Alphabet durchmachen. Ebenso liegt es mit den Angriffen des Abg. Erzberger, von denen wir bis jetzt hier nichts zu hören bekommen haben. Der Abg. Gröber sprach von der Notwendigkeit des Ausbaues der sozialen Gesetzgebung und führte eine Anzahl von Materien an, deren Regelung dringend not tue. Er will auch das Genossenschaftswesen fördern, aber in demselben Atemzuge verlangt er Maßregeln gegen die Arbeiterkonsumvereine! Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Die Arbeiterfeindlichkeit der Mittelschichten im Volke läßt ja tatsächlich nichts zu wünschen übrig, und der Abg. Gröber scheint hier in dieselbe Kerbe zu hauen. In Sachsen legt man den Arbeiterkonsumvereinen neue Umsatzsteuern auf! Dort sind die von außerhalb des Deutschen Reiches bezogenen Artikel, welche die Konsumvereine zum Verkauf bringen, mit vierfacher Steuer belastet, mit Zoll, Landessteuer, städtischem Oktroi und Umsatzsteuer. Der Abg. Gröber verlangte auch ein Reichsberggesetz. Haben nicht die Parteigenossen des Zentrums in Preußen dafür gesorgt, daß die famose Berggesetznovelle angenommen wurde? Der Abg Geisler sagte im preußischen Abgeordnetenhaufe, man dürfe es nicht dahin kommen lassen, daß das Bergrecht im Reichstage geregelt werde, und forderte auf, die Regierungsvorlage anzunehmen. Diese war noch etwas besser als das, was dort schließlich zu stande kam; aber auch für die verschlechterte Vorlage hat das Zentrum gestimmt! Die in jenem Gesetz konstruierten Arbeiterausschüsse sind von den Berg⸗ arbeitern erkannt worden als das, was sie wirklich sind; bei deren Wahl in diesen Tagen haben von den mehreren bunderten Mann der einzelnen Belegschaften nur ganz winzige Minoritäten sich überhaupt beteiligt; auf der Zeche „Freie Vogel“ und „Unverhofft“ von tausend Mann Belegschaft nur einer! Da hat die Berg⸗ arbeiterschaft ihr Verdikt über diese Art von Gesetzmacherei aus⸗ gesprochen. Der Bergarbeiterverband hat die Parole: JSr Euch davon!“ ausgegeben, und ihr ist in größtem Umfange Folge geleistet worden. Auch die christlichen Arbeiter haben gegen die vom Zentrum gutgeheißene Gesetznovelle protestiert. Gründlicher konnte eine Partei nicht abgeführt werden als in diesem Falle. Die Arbeiterstreiks sind die notwendige Folge der Unzufriedenheit der Arbeiter mit den Arbeitsbedingungen, aber ein sehr großer Teil der Streiks, in manchen Jahren die Hälfte, wird nicht begonnen für Forderungen in bezug auf die Lohnhöhe und die Arbeitsbedingungen, sondern um Verschlechterungen der Lebenshaltung der Arbeiter, die durch die Unternehmer beabsichtigt sind, abzuwehren. Auf der anderen Seite nimmt die Sperre durch die Unternehmer mehr und mehr über⸗ hand. Die Unternehmer sind weit mehr und weit besser als die Arbeiter organistert ich bedauere, daß sich noch Millionen Arbeiter von ihren Organisationen fern halten —, aber nahezu kein einziger Unternehmer steht heute noch seinem Verbande fern. Die Unternehmer üben auch einen gewaltigen moralischen Druck darauf aus. Sie natürlich (zur Rechten) erheben immer nur Anklagen gegen die Arbeiter, nicht gegen die Unternehmer; der Arbeiter ist immer nur der Sündenbock, der geknutet wird. Gewiß nehme ich es dem Arbeiter nicht übel wenn er im Kampfe steht und ein Teil seiner Genossen Verrat übt und dem Unternehmer hilft, die Arbeit fertig zu stellen, daß er dann einen Druck auf diese ausübt; aber weit größer ist der Druck unter den Unternehmern, es droht ihnen der gesellschaftliche Boykott, und sie müssen Solawechsel binterlegen in einer Höhe, daß sie bankrott würden, wenn sie sie zahlen müßten. Für die Unternehmerorganisationen besteht weder das Strafgesetz, noch der § 53 der Gewerbeordnung; aber wenn die Arbeiter einen moralischen Druck ausüben gegen die, welche nicht in ihre Organisation eintreten wollen, so werden sie wegen Nötigung und Erpressung auf Grund des § 153 G.⸗O. bestraft. Das fällt dem Arbeiter niemals ein, daß er in einen Streik auch die hineinzieht, die nicht das mindeste damit zu tun haben; aber wenn an irgend einem Orte Deutschlands wenige Leute einen Streik be⸗ ginnen, wirft gleich der gesamte Unternehmerverband alle Arbeiter auf die Straße, gleichviel ob sie mit diesem Streik einverstanden sind oder nicht. Gegen die Arbeiterorganisationen wollte die Zuchthausvorlage Strafen aber gegen einen Unternehmer, der Zehntausende von Arbeitern auf die Straße und ins Elend stößt, gibr es keinen Staatsanwalt und keine Richter. Das haben wir ja gesehen bei der Aussperrung der rheinisch⸗westfälischen Bauarbeiter, der sächsischen Textil⸗ arbeiter, der Dresdener Zigarettenarbeiterinnen, der Berliner Elektrizitäts⸗ und Metallarbeiter. Welchen Eindruck muß es auf die Arbeiter machen, wenn sie so, gleichviel ob sie katholisch oder evangelisch oder Soztaldemokraten sind, ohne Unt rschied

izen

1

hier Klagen und Beschwerden über die Behandlung der Eingeborenen 8

ihrer politischen Ueberzeugung aufs Pflaster geworfen werden.

8

andern; später haben Sie

rechts.

Das stärkt die Sozialdemokratie. Ein Arbeiter, der einmal davon be⸗ troffen ist, glaubt nicht mehr an die Heiligkeit der heutigen Staats⸗ und Gesellschaftsordnung. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die gesellschaftlichen Gegensätze erzeugen die Proletarisierung der assen. Vor 40 Jahren konnte ich mein Geschäft mit einigen hundert Mark beginnen; wer das heute versucht, hat die Sicherheit des Bankrotts von vornherein in der Tasche. Die Zahl der selb⸗ ständigen kleinen Unternehmer nimmt in demselben Maße ab, wie die kapitalistische Gesellschaftsordnung sich konzentriert. Daher ist die große Zahl derer, die nicht selbständig werden können, mit der Staats⸗ und Gesellschaftsordnung unzufrieden, und dafür sorgen Sie auch in Ihrer Gesetzgebung. Dagegen kämpfen die Arbeiter nun gerade⸗ so, wie das moderne Bürgertum jahrhundertelang gegen die feudale Ordnung gekämpft hat, bis sie endlich all die Freiheiten und Rechte besaß, mit denen die bürgerliche Gesellschaft jetzt den Minister, den Kanzler und den Kaiser zwingt, nach ihrem Interesse zu regieren. Graf Posadowsky versprach sich eine Besiegung der Sozialdemokratie durch eine Wiedergeburt des Volkes. Nur ein Ideologe kann so denken. Der Idealismus ist die Grundlage aller Dinge. Was hilft mir alles, wenn ich nicht satt zu essen habe! Den Unternehmern Idealismus und Gerechtigkeit zu predigen ist dasselbe, als einen Wolf zu bitten, ein Lamm nicht zu zerreißen. Not und Elend lassen sich mit allem guten Herzen und aller Wohltätigkeit nicht beseitigen. Man macht dem Grafen Posadowsky ein Verbrechen aus seinen Worten über die heutige Gesellschaft. Er hat nur die Worte gesagt, daß es ihm unangenehm sei, wenn jemand es wagt, wider den Stachel zu lecken. Der Graf Stolberg bezog sich auf die neukichen Ausführungen des Finanz⸗ ministers von Rheinbaben, der auf die Höhe der Löhne der Arbeiter hinwies. Was will es bedeuten, wenn ein Landarbeiter im Osten wirklich jetzt das Doppelte bekommt wie vor 30 Jahren? Damals war eben seine Lage eine hundsmiserable. Die Steigerung der Ein⸗ kommen der Minister von 36 000 auf 50 000 ist doch eine ganz andere Steigerung. Der dümmste Mensch muß zugeben, daß das etwas ganz anderes ist, als wenn sich das Einkommen einer Arbeiter⸗ familie von 600 auf 900 steigert. Durch die Verteuerung der Lebensmittel, der Mieten usw. wird jedes Mehreinkommen, das der Arbeiter sich nach schweren Kämpfen erworben, weit aufgewogen. Dazu kommt die steigende Rechtlosigkeit der Arbeiter, namentlich hin⸗ sichtlich des Dreiklassenwahlsystems. Der Abg. Bassermann sprach kein Wort davon, daß Sie die Wahlentrechtung in Sachsen, Hamburg, Lübeck usw. verurteilen. Wie kann er sich wundern, daß der Radikalismus der Sozialdemokratie zunimmt, daß er Massenstreiks anstrebt? Ich wundere mich nur, daß den Abg. Bassermann dies wundert. Wie können Sie glauben, daß unsere deutschen Arbeiter, die so gebildet sind wie jeder andere, es sich ge⸗ fallen lassen, als Paria, als Heloten behandelt zu werden? Der Frei⸗ herr von Zedlitz beklagte sich in einem Artikel vom September, daß im Gegensatz zu Norddeutschland in Süddeutschland alles sich demo⸗ kratisiere, man müsse vorbeugen, daß eine neue politische Main⸗ linie sich bilde. Er schlägt vor, die verbündeten Regierungen möchten den Bundesrat veranlassen, einen Einfluß zu üben auf das Wahlrecht der Einzelstaaten. Es war neulich von dem englischen Wahlrecht die Rede. Nach dem dort bestehenden Wohnungszensus würden auf Deutschland 10 300 000 Wähler kommen. Das englische Wahlrecht ist also viel besser als das in Preußen. Die Sozialdemokratie ist in England nur deshalb so schwach, weil die dortige Bourgeoisie schon seit Jahrzehnten so vernünftig war, den Wünschen der englischen Arbeiter entgegenzukommen. England ist bekanntermaßen ein parlamentarisch regiertes Land. Treten die Arbeiter dort als eigene Partei auf, so haben die anderen Par⸗ teien mit ihr zu rechnen. Diese Anschauung ist allerdings allmählich bei den englischen Arbeitern ins Wanken geraten, aber Sie werden es erleben, daß bei den nächsten Wahlen im Februar die Arbeiter als Partei auftreten. Der Abg. von Kardorff sieht ja immer den Himmel voller Geigen. In Preußen und in Deutschland ist alles immer am chönsten auf der Welt. Gewiß, von Ihrem Standpunkt (nach rechts). Das ist eben Ihre grundverschiedene Auffassung, die nicht nach Ihrem freien Willen ist, sondern auf den sozialen und materiellen Interessen Ihrer Klasse beruht. (Zuruf rechts: Vaterland!) Bis jetzt ist das Vaterland immer Ihr Vaterland gewesen. Der Abg. von Kardorff mutzte sich von dem Abg. Bassermann sagen lassen, daß auch in unserer Justiz in Deutschland nicht alles so beschaffen ist, wie es sein sollte. Ich denke, wir werden uns beim Justizetat noch dar⸗ über unterhalten. Aber der Abg. Bassermann hat auch noch ein anderes wertvolles Geständnis Len. indem er nämlich sagte, es ist selbst⸗ verständlich, daß auf jeden Mann also auch auf den Richter das soziale Milieu auf seinen seine Urteile beeinflußt. Da stimmen wir ja ganz überein. Wir baben eine Klassenjustiz, weil wir Richter aus einer bestimmten, der herrschenden Klasse haben. Weiß denn der Abg. von Kardorff nicht, daß über das Werk, das in der Kommission für die Revision der Strafprozeßordnung zustande gekommen ist, ein Schrei des Entsetzens in deutschen Richterkreisen ausgebrochen ist? Die vornehmste Aufgabe des Richters ist es, Recht zu sprechen, ohne Ansehen der Person, wenn aber Institutionen eingeführt werden, die dieses ohne Ansehen der Person nicht mehr möglich machen, dann hat der Staat seine vornehmste Aufgabe preisgegeben. In der heutigen Periode der Reaktion heißt es immerfort: nach rechts, nach rechts! Daß darauf reagiert wird, daß die Revolution antwortet, ist ganz begreiflic. Wer war denn bei allen Revolutionen die Ursache? Die herrschenden Klassen, die nicht nachgeben wollten, die das Verhängnis und den Untergang geradezu herbeiriefen. Daß es bei den Zuständen, wie sie sich entwickelt haben weit und breit, auch in Deutschland dazu kommen muß, ist ganz un⸗ bestreitbar. Die die Revolution machen, sind nicht diejenigen, denen die Schuld zugeschoben wird, sondern immer die Regierungen und die regierenden Klassen. Zur Begründung meiner Auffassung ein paar Worte aus einem Zentrumsblatt: „Es ist eine völlig un⸗ historische Auffassung, daß Revolutionen von einigen Bösewichtern und Volksführern gemacht werden. Revolutionen können in ge⸗ schichtlich gewordenen Staatswesen nur Ecfolg haben, wenn Mizßstände vorhanden sind, durch die die Massen des Volkes erregt werden, und in solchen Fällen werden sie auch nur Erfolg haben.’ Man klage noch so sehr über die Ausbreitung der Sozialdemokratie, wenn man nicht andere Wege einschlägt, geht es in Deutschland, wie es anderwärts gegangen ist. Wie Sie Reformen machen, das ist uns vollständig gleichgültig! Machen Sie nur welche! In Baden und in Bagvern ist jetzt das Zentrum an der Arbeit, das Wahlrecht umzugestalten. Kollege Trimborn, wie steht es denn im preußischen Abgeordnetenhause? (Zuruf des Abg. Trimborn: Ich habe ja gar nichts gesagt.) Wenn Sie keine Entscheidung bringen können,

deann sagen Sie wenigstens, was Sie denken. Windthorst hat schon vor gerade 30 Jahren angeregt, das Wahlrecht im Abgeordnetenhause zu

(zum Zentrum) das allgemeine gleiche Wahl⸗

ecrecht zu Falle gebracht. Sie haben eben Angst vor dem allgemeinen geheimen Wahlrecht.

Staate die Aschenbrödel seien, die Arbeiter die eigentlichen Herren. (Zuruf rechts: Das ist auch ziemlich sol) Wenn es doch wirklich so wäre, dann sollten Sie etwas anderes erleben! Der Finanzminister hat mich etwas sagen lassen, was ich gar nicht gesagt habe: die besitzenden Klassen leisteten nichts. Das habe ich nicht gesagt. Ich gehöre doch auch in gewissem Sinne zu den besitzenden Klassen. Allerdings, wenn ich könnte, bekäme der Herr von mir keinen Pfennig. Ich habe vielmehr an der Hand des Reichsbudgets und der Flottenvorlage ausgeführt, daß die heutigen besitzenden Klassen gegenüber den Arbeitern für das Reich außerordent⸗ lich wenig leisteten. Die ganze Beweisführung suchte der preußische Minister dadurch zu beseitigen, daß er sofort auf den preußischen Staat überging. Er hat es als einen großen Patriotismus hingestellt, daß die besitzenden Klassen an Steuern das tragen, was sie tragen. Es war aber gar nicht möglich, die Steuerreform in Preußen 1891 zu ver⸗ chieben angesichts der Finanzlage des Reichs und der ungeheuren Be⸗ ügereien gegen den Staat auf Grund des bestehenden Steuer⸗ Aber man ist nur bis zu 4 % gegangen, da mußte aufgehört

Ideengang einwirkt und auch ungewollt

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werden. Wenn es nach uns, nach mir gegangen wäre, würde die Progression mindestens auf 12 % gebracht sein. Der Finanzminister Freiherr von Rheinbaben zeigte, daß von 35 Millionen Preußen 22 Millionen steuerfrei sind. Es ist ein trauriges Zeugnis für Preußen, wenn von 35 Millionen 22 Millionen mit einem Einkommen unter 900 sich begnügen müssen. Und seine weiteren Zahlen be⸗ weisen auch keineswegs eine glänzende Lage der Mittelschichten der preußischen Bevölkerung. Als 1863 Lassalle seine Agitation begann, wies er in einer Broschüre nach, daß nur 4 % der Bevölkerung ein Einkommen von über 3000 haben. Auf diese Angabe hin wurde Lassalle von der ganzen Presse unerhört angegriffen; was hat sich nun in 40 Jahren geändert? Die Zahl derer mit einem Ein⸗ kommen von über 3000 beträgt nicht 4, aber ganze 4,6 %, also der ganze Zuwachs von Besitz und Macht hat sich ausschließlich auf die besitzenden Klassen beschraͤnkt! England mit seinen 42 Millionen Menschen bringt an Einkommen., Erbschafts⸗ und an sonstigen direkten Steuern 973 Millionen auf gegen 250 in Preußen, und dabei sind die Einkommen bis 3000 in England steuerfrei! Der Finanz⸗ minister feierte auch die Opferwilligkeit der Unternehmer. In den 17 Jahren bis 1905 ist das Einkommen der Arbeiter nach Herrn von Rheinbaben um 33 ½ % gestiegen, von 600 auf 800 Dabei übersieht er aber, daß die Versicherung, für welche die Unternehmer an den Lasten mittragen, inzwischen auf erweiterte Grundlagen gestellt worden ist, die die Arbeiter entsprechend haben. Im ganzen unzweifelhaft ist, daß eine ganz unverhältnismäßige Verbesserung der Einkommensverhältnisse der Unternehmer eingetreten ist. Und in demselben Maße hat der Luxus zugenommen. Heute wird in Berlin⸗West von diesem oder jenem Nabob seinen Freunden ein Essen gegeben, das 20 000 bis 30 000 kostet. Dagegen wird das Wohlleben der Arbeiter kritisiert und auf die bohen Beiträge der Arbeiter zu den Gewerkschaften hingewiesen. Diese Beiträge haben aber in der Hauptsache für Kranken⸗, Reise⸗ und Arbeitslosenunterstützung, für Rechtsschutz und so weiter Ver⸗ wendung gefunden. Daß ein preußischer Minister in der Art, wie es geschehen ist, über die Berliner Metallarbeiterschaft berichten konnte, ist unglaublich. Es ist nicht wahr, daß die Arbeiter gestreikt haben. Einige Kategorien von Arbeitern, im ganzen knapp 500, hatten Lohnerhöhung gefordert, dafür wurden 35 000 Mann, die gar nicht gestreikt hatten, ausgesperrt! Wenn solche Brutalität in der Gesellschaft möglich ist und offiziell verteidigt wird, haben die Arbeiter allen Grund, mit einer solchen Staatsordnung aufs höchste unzufrieden zu sein. Was die auswärtige Lage betrifft, so vertrat auch der Abg. Bassermann die Auffassung, Englands Haß gegen Deutschland sei durch unsere handelspolitische Entwicklung hervorgerufen worden! Die englische Presse hat an der Hand unserer letzten Verhandlungen ganz entschieden abgelehnt, daß in England irgendwelcher Haß aus diesem Grunde vorhanden ist. Es wäre das auch, wie i

schon nachgewiesen habe, die allergrößte Verkehrtheit. Ich habe ja schon wiederholt in dieser Beziehung Anschauungen entwickelt, die sich mit denen Bismarcks, die er 1885 dem Reichstage vortrug, voll⸗ ständig decken; er führte damals aus, die Möglichkeit, daß Deutsch⸗ land sich in einen Krieg mit England begeben könne, müsse er absolut bestreiten; alle möglichen Differenzen, die man mit England haben könnte, würden die gemeinsamen Interessen beider nicht aufwiegen können. Nach meiner Meinung gibt es in ganz Europa keinen Staat, mit dem gemeinsame Interessen uns so innig verbinden. Hätten wir ein Friedensbündnis mit England, so wäre der europäische Frieden dauernd geregelt. Da kommt nun der Kanzler mit seinem Angriff gegen mich, als sei ich es gewesen, der den Engländern erst die Augen über unsere Kolonien und unsere Verhältnisse geöffnet hätte. Das heißt doch die Engländer sehr unterschätzen; ich habe ihnen nichts Neues gesagt. Die Engländer verfolgen den Gang der Dinge in Deutschland genau so gut wie wir; die Reden, die seit 1895 an sehr weithin sicht⸗ barer Stelle gegen England gehalten worden sind, hatte doch auch die ganze Welt gehört; aber Sie möchten alles in Baumwolle ein⸗ wickeln. Wir sagen nur gerade heraus, wie wir es denken, wenn es auch hie und da anstößt. Es soll auch anstoßen; von dem, was ich hierüber und über Marokko neulich gesagt habe, nehme ich kein [Wort zurück; ich habe mit dieser Rede dem Vaterlande mehr genutzt, als der Reichskanzler mit der seinigen. Der Abg. Bassermann meinte, wenn wir eine größere Flotte gehabt hätten, hätten wir statt der Kaiserreise eine Flottendemonstration ver⸗ anlassen können. Etwa gegen Marokko? Das ist doch nicht schuld daran. Oder gegen Frankreich? Das wäre die sofortige Kriegserklärung gewesen. Ungeschickter hätte man die Sache nicht behandeln können als nach dem Vorschlage des Herrn Bassermann. Der Reichskanzler sagte, die Reise des Kaisers sei beschlossen, weil der französische Botschafter Taillandier sich als Mandatar Europas in Marokko geriert habe. Das Gelbbuch der französischen Regierung erscheint erst in diesen Tagen, aber bisher ist schon in der französischen Presse erklärt, daß eine Note, worin dem französischen Botschafter ein solcher Auftrag ge⸗ geben sei, nicht existiere, und der Botschafter selbst hat erklärt, daß er eine solche Erklärung in Marokko nicht gegeben habe. Aber vorausgesetzt, daß die Mitteilung des Reichskanzlers der vollen Richtigkeit entspricht, so war es das unglücklichste, daß der Kaiser in diesem kritischen Moment die Reise nach Tanger machte. Hätte damals an Stelle des Fürsten Bülow noch Fürst Bismarck als

Reichskanzler gestanden, die Reise wäre nicht unternommen worden,

oder Bismarck wäre gegangen. Auch Caprivi und Fürst Hohen⸗ lohe hätten eine derartige Reise nicht gebilligt. Sie wider⸗ sprach allen Gepflogenheiten der Diplomatie. Ich konstatiere, daß gerade mein Freund Jauroös gegen die Politik des Ministers Delcasssé Opposition gemacht und zum guten Teil dessen Sturz herbeigeführt hat. Wir hatten zuerst die Marotko⸗ politik des Reichskanzlers unbedingt gebilligt, aber von dem Augenblick der Reise des Kaisers nach Tanger setzte unsere Opposition gegen diese bedenkliche und gefährliche Politik ein. Der Reichskanzler hat im Sommer erklärt, daß in einer bestimmten Periode die Situation außerordentlich gefährlich gewesen sei und dieser Zustand ziemlich lange gedauert habe. Da haben wir Ursache, gegen diese auswärtige Politik Front zu machen im Interesse des Vater⸗ landes. Wir sind keine Kriegsfreunde, sondern wollen die friedliche Verständigung der Kulturnationen und würden den Tag als den 28* artigsten in vielen Jahrhunderten ansehen, wo ein internationales Parlament geboren würde, um die Streitpunkte unter den Nationen

geliebt.“

e habe schränkung der Rüstungen sich mit anderen zu verständigen. 8 zdt. Wenn man die Rede des Finanzministers von Rheinbaben am 198 3 Hen. Donnertsag gehört hat, so muß man glauben, daß unsere besitzenden Klassen im

stimmt und dann zu Hause das Gegenteil tut.

Stelle vorkommt

““

zu beseitigen. Graf Moltke erklärte vor 31 Jahren bei der ersten Militärvorlage: „Wir sind in Europa wohl gefürchtet, aber nirgends 1 „DOb wir heute noch gefürchtet sind, weiß ich nicht, aber wir sind nicht nur nicht geliebt, sondern vielfach gehaßt. Wie in den 60er Jahren Preußen⸗Deutschland die Steigerung der Armeerüstungen einleitete, so auch jetzt die Flottenrüstungen. Der französische Minister Constant, der Erste Lord der Admiralität in England Mr. Goschen und selbst der als Friedensstörer bezeichnete Chamberlain haben wiederholt die Bereitwilligkeit ihrer Staaten erklärt, über die Be⸗ Und England hat das Flottenbudget dieses Jahres um 80 Mill. Fr. ver⸗ mindert, und das abgetretene Ministerium Balfour hat für das neue Jahr das Flottenbudget um 30 Mill. Fr. gemildert. (Abg. Gamp: Wie hoch muß das gewesen sein!) Natürlich ist es höher als bei uns, und bemerkenswert ist, daß die Rüstungen sich steigern, obwohl 1899 die Hanger Konferenz zwei Resolutionen im Sinne einer Abrüstung beschlossen hat. Jetzt sehen wir, daß das gerade Gegenteil seitdem eingetreten ist. Es ist höchst eigentümlich, daß man solchen Beschlüssen einstimmig zu⸗ as Ge So geschah es schon vor 2 Jahren nach den Beschlüssen in Christiania. Der Reichs⸗ kanzler meinte, wir hätten uns die Prämie geholt in der Hetze gegen uns. Er sprach von Landes⸗ und Hochverrat. Am selben Tage hat der französische Abgeordnete Faure den Antrag gestellt, den Ministerpräsidenten wegen Hochverrats in Anklagezustand zu setzen. Zu derselben Zeit hat Jaurès den früheren Minister Delcassé angeklagt; dasselbe geschah durch einen früheren französischen Botschafter. Der Reichskanzler ging noch weiter, er sprach direkt von Landesverrat, den ich unter der Immunität geübt haben soll. Ich bestreite, daß in meiner Rede auch nur eine die so ausgelegt werden kan 1

selben Vorwurf bezüglich meiger Rede in Konstanz. Warum bin ich dann nicht deswegen angeklagt worden, obwohl ich nicht unter dem Schutz der Immunität sprach? Es war aber nicht möglich, mich deshalb anzuklagen. (Redner verliest seine neuliche Rede im Reichstage, worin er gesagt hat, die Völker lassen sich in keinen großen Krieg mehr hetzen usw) Daß Ihnen diese Auffassung nicht ge⸗ fällt, verstehe ich, es ist die Auffassung der internationalen Sozialdemokratie. Wir sind der Meinung, daß in auswärtigen Dingen das Proletariat nicht wie eine Hammelherde geführt werden darf. Ich sagte damals, wenn man an einen Arbeiter dieselben Ansprüche stellt wie an einen anderen Staatsbürger, dann mache man ihn zu einem gleichberechtigten Bürger. Der Reichskanzler sagte, die aus⸗ wärtige Politik werde nicht in der Hasenheide gemacht. Das wissen wir auch, aber will er etwa den neuen Paragraphen in das Straf⸗ gesetzbuch einfügen, daß über die auswärtige Politik irgendwo nicht ge⸗ sprochen werden darf? Ob er es uns erlaubt oder nicht, ob wir uns um die auswärtige Politik bekümmern, das ist unsere Sache. Dieses Recht werden wir uns nicht nehmen lassen. Wenn das Landes⸗ verrrat ist, ach, meine Herren von der Rechten, Sie können im nächsten Jahre das 100 jährige Jubiläum darin feiern, die Sie die preußischen Festungen schmachvoll dem Feinde überliefert haben. Der Reichskanzler sagte, der Dreibund besteht. Würden wir heute in einen Krieg mit Frankreich verwickelt, so würde jeder in Italien und Oesterreich mit uns marschieren. Es ist doch eigen⸗ tümlich, daß wir uns nicht an der Flottendemonstration gegen die Türkei beteiligen, während es alle Staaten tun. Ich muß protestieren, daß meine russischen Parteifreunde sich Mord und Brand haben zu schulden kommen lassen. Das hat die russische Regierung getan. Die gedungenen Meuchelmörder sind Werkzeuge der russischen Regierung. Man braucht doch nur an die russischen Herrscher zu erinnern, die durch Meuchelmord regierten oder durch Meuchelmord fielen; es waren nicht die russischen Sozialdemokraten, die bei der Ermordung Stam⸗ bulows, bei der Katastrophe des letzten Obrenowitsch in Serbien die Hand im Spiele hatten. Hat man in der Wilhelmstraße Maßregeln angebahnt gegen die fortgesetzte Grenzverletzung durch die Russen an unserer Ostgrenze, gegen die Vergewaltigung preußischer Staatsbürger? Man hat nichts davon gehört; aber wenn einmal ein Regierungsrat den Mut hat, die russischen Finanzen im wahren Lichte erscheinen zu lassen, dann wird sofort die „Nordd. Allgem. Ztg.“ mobil gemacht Längst hätte ein ernstes Wort gegen die russischen Machthaber gesagt werden müssen; können sie Mord und Brand nicht mehr abhalten, dann haben sie jede Existenzberechtigung verloren, dann sollte sich die ganze Kulturwelt gegen sie zusammentun in einem Protest. In Odessa haben die berüchtigten schwarzen Banden, die von der russischen Regierung ihre Macht und ihr Geld bekommen, in dem Zeitraum eines Monats 8590 jüdische Familien geplündert, Tausende gemordet und verwundet, Hunderte von Waisen geschaffen und einen Schaden von 5 ½ Millionen angestiftet. Und das ist nur ein kleiner Teil des schmählichen Sündenregistes. Mit Mördern und Brand⸗ stiftern uns auf gleichen Fuß zu stellen, dazu haben Sie nicht das mindeste Recht. Der deutsche Arbeiter steht auf der Höhe seiner Auf⸗ gabe; er will sein volles Anrecht an Menschenrecht und Bürgerrecht und will als Gleicher, nicht mehr als Paria betrachtet werden. „Gleiches Recht für alle!“ Wir verlangen dieses gleiche Recht, wir werden es immer wieder verlangen, bis wir es haben, sei es mit Ihnen, sei es gegen Sie.

Reichskanzler Fürst von Bülow:

Ich werde, meine Herren, aus den langen Ausführungen des Herrn Vorredners nur zwei Punkte herausgreifen.

Der Herr Vorredner hat erklärt, demokratie die besten Beziehungen zu England anstrebe. Ich erwidere mit der Gegenfrage, warum, wenn dem so ist, die deutsche Sozialdemokratie fortgesetzt bestrebt ist, gerade in England das Mißtrauen gegen uns zu schüren. (Sehr richtig! rechts.) Das hat der Herr Vorredner ableugnen wollen; er hat gemeint, die deutsche Sozialdemokratie und die deutsche sozialdemokratische Presse signalisiere nur die zwischen Deutschland und England bestehende Spannung, sie trage zu einer solchen nicht bei. Das muß ich bestreiten. (Hört, hört!) Daß wir England gegenüber keine aggressiven Pläne verfolgen, habe ich hundertmal gesagt; ebenso daß es Unsinn ist, uns solche Pläne unterzuschieben. Diese törichte Behauptung wird fortgesetzt von der sozialdemokratischen Presse wieder⸗ holt. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie, der „Vorwärts“, brachte am 12. August gerade in dem Augenblick, wo der Besuch der englischen Flotte in der Ostsee weniger bei uns als außerhalb unserer Grenzen eine gewisse Erregung hervorgerufen hatte einen Artikel, in dem es wörtlich hieß:

Eines scheint ganz sicher und nicht erfunden. Am Ausgange

des vorigen Jahres war Deutschland im Begriff, England den Krieg zu erklären. (Hört, hört! rechts.) Das ist eine Lüge! (Hört, hört!) Wieeiter hieß es in dem Artikel: Daß tatsächlich die Flotte damals mobil gemacht wurdd ist

seinerzeit von uns, aus absolut sicherer Quelle, mitgeteilt worden.

Das ist Unsinn (Hört, hört!), wir haben nicht mobil gemacht „Vorwärts“ fährt fort:

Der

Als das Unwetter vorübergegangen war, wurde für das harte Wort „Mobilmachung“ irgend ein anderer, milderer technischer Ausdruck ersonnen, da man die Sache selbst nicht mehr in Abrede stellen konnte.

Gleicher Unsinn! (Hört, hört!) b Insoweit also stehen wir auf festem Boden, .

Unsinn: Sie stehen gar nicht auf festem Boden! (Heiterkeit) wenn es auch niemand begreifen kann, daß wirklich auch nur einen Augenblick in Deutschland der Gedanke bestanden hat, die deutsche Flotte mit der englischen sich messen zu lassen. Auch darüber besteht nicht der mindeste Zweifel, daß man in England über diese Vorgänge genau unterrichtet ist, und daß die von unseren Offiziösen vergeblich teils bestrittene, teils als grundlos behauptete Erregung Englands auf diese Vor⸗ gänge zurückzuführen ist. Nur darüber ist man sich im unklaren, welche geheimnisvollen Vorkommnisse diese gewaltige Krisis nahe⸗ gerückt haben sollen. Nun sprechen Leute, die sich für wohl in⸗ formiert ausgeben, seit Wochen mit immer größerer Ungeniertheit davon, daß die Ursache jenes drohenden Zusammenstoßes in einem schweren Konflikt zwischen Wilhelm II. und König Eduard zu suchen sei.

Das ist eine blödsinnige Lüge. (Große Heiterkeit.) Daß solche

Aeußerungen unseren Gegnern in der Welt Material für Verleum⸗

dungen gegen uns liefern müssen, das liegt auf der flachen Hand

(Sehr wahr!), und daß dies nicht der Zweck solcher Ausstreuungen

sein soll, das werden wohl wenige bezweifeln, die außerhalb des

Bannes der sozialdemokratischen Doktrin stehen.

Dem gegenüber erkläre ich hier als verantwortlicher Leiter der

deutschen Politik: es ist unwahr, daß wir uns England gegenüber jemals mit aggressiven Plänen getragen hätten. Es if daß wir jemals im Begriff gestanden

daß die deutsche Soziall