des Systems, von Fehlern frei ist natürlich nur die sozial⸗ demokratische Partei. Die Armenpflese hat mancherlei Mängel, aber sie ist im letzten Jahrzehnt viel verbessert worden. Es sind Kranken⸗ häuser für arme Leute, Armenhäuser und Armenpflegeanstalten ge⸗ gründet worden. Daß die Armenpflege nicht so geübt wird, wie man wünschen könnte, liegt an dem Mangel an Mitteln, und eine große Frei⸗ gebigkeit kann man den auf das äußerste um ihre Existenz kämpfen⸗ den Gemeinden kaum zumuten. Wie eigentümlich muß es z. B. die Bauern einer armen Landgemeinde, die nur Sonntags zur Kirche Schuhe oder Stiefel anziehen, berühren, wenn sie von einer aus⸗ wärtigen Gemeinde eine teure Schuhrechnung für einen von ihnen ab⸗ gewanderten Genossen bekommen. Der Vorredner meint, die Not⸗ lage der Landwirtschaft bestände nicht, die Grundbesitzer zögen als wohlhabende Rentiers nach Berlin. (Ruf links: Hat Graf Posa⸗ dowsky gesagt!) Aber Sie haben es als eigene Behauptung über⸗ nommen. In der Nähe von großen Städten oder infolge von Bahn⸗ anlagen usw. steigen ja allerdings die Grundbesitzpreise, auch die Aus⸗ sichten der neuen Handelsverträge mögen dahin wirken, aber im all⸗
emeinen ist am Grundstückshandel wenig zu verdienen, und die kleinen Be⸗ sitzer sind froh, wenn sie sich mühsam auf der Scholle halten können. Ausländische Arbeiter werden nicht nur in Ostelbien, sondern auch zz. B. in Wiesbaden beschäftigt. Glaubt der Vorredner, daß die Land⸗ bevölkerung mit Vergnügen solche Arbeiter beschäftigt statt der ein⸗ heimischen? Wie oft laufen die ausländischen Arbeiter fort unter Mitnahme von allerhand Gegenständen, die ihnen nicht gehörten! In den Amtsblättern finden Sie ganze Listen solcher Personen. Wenn Sie (zu den Sozialdemokraten) die Verhältnisse bessern wollen, so hetzen Sie nicht mehr die Arbeiter gegen die Arbeitgeber auf. Wenn es der Landwirtschaft wieder gut geht, wird sie auch menschen⸗ würdige Löhne zahlen können. Der Vorredner sprach vom Mangel des Koalitionsrechts und demokratischer Einrichtungen wie des allgemeinen Wahlrechts. Die Gründe liegen anders⸗ wo. Ich habe hier Briefe von Leuten, die nach einem Berg⸗ werksdistrikt der Rbeinprovinz abgewandert sind und nach der Heimat mitteilen, daß sie viel kürzere Arbeitszeit als hei der Land⸗ wirtschaft hätten, daß die Preise der Lebersmittel billig und daß Kleidung sehr viel billiger sei, und daß sie im Monat 120 bis zu 150 ℳ verdienten. Eine Frau schreibt, daß sie bedauere, nicht früher abgewandert zu sein, weil sich in Ostpreußen die Frauen viel mehr quälen müßten. Das sind die wahren Gründe: kurze Arbeitszeit, erheblich größerer Lohn auf der einen Seite und auf der anderen Seite die üble Lage der Landwirtschaft. Der Abg. Mommsen wünschte ein Hinausschieben der Vorlage, sie ist aber viel wichtiger als manche andere, z. B. die Maß⸗ und Gewichtsordnung. Hier handelt sich's um schwere Mißstände, und die Kommission wird die Angelegenheit hoffentlich nicht dilatorisch behandeln. Ob eine Kommission von 14 oder 21 Mitgliedern gewählt wird, ist keine prinzipielle Frage. Die Vorlage wird zwar die Abwanderung aus den östlichen Teilen nicht hemmen, aber wenigstens die Belastung einigermaßen mindern. Deswegen heißen sie meine Freunde willkommen, wenn sie auch noch nicht die Schäden von Jahrzehnten wieder gut macht. Aus den Jahresberichten der Landesversicherungsanstalten ergibt sich, daß von 1892 bis 1904 aus Ostpreußen nicht weniger als 512 000 Personen mehr abgewandert als zugewandert sind, während in Westfalen der Ueberschuß der Zugewanderten 315 000 beträgt. Auch die Zahlen der anderen Provinzen bestätigen, daß ein starker Menschenstrom von Osten nach Westen zieht. Der Abg. Mommsen hat ähnlich, wie in cinem kürzlich veröffentlichten Aufsatz, der von einem Ver⸗ treter der Berliner Stadtverwaltung berzurühren scheint, ge⸗ meint, diese Novelle richte sich gegen die großen städtischen Ge⸗ meinden. Ich meine, in den großen Städten wächst nicht bloß die Menschenzahl, es wachsen auch die Wohlfahrtseinrich⸗ tungen, es wächst das Kapital, auf dem Lande dagegen wachsen lediglich die Hvpotheken. Berlin erhebt nur 100 % Kom⸗ munalsteuerzuschläge. Ostpreußen dagegen in einzelnen Fällen ohne Kreisabgaben 500, ja 800 %. Ich denke, man soll doch gerade die stärkeren Schultern stärker belasten als die schwächeren. Nun machte der Vorredner einen Vorschlag, der allen Uebel-⸗ ständen auf radikale Weise abhelfen soll; er empfahl, die Armen⸗ pflege zur Staats⸗ oder Reichssache zu machen. Ich glaube, für ein solches Rezept werden sich die Gemeinden schönstens bedanken. Es würde dadurch nur das Simulantentum großgezogen und die Willens⸗ kraft im Volke geschwächt werden. Man hat nun einen Fall kon⸗ struiert, um zu zeigen, daß durch diese Novelle eine Lockerung des Familienzusammenhanges herbeigeführt werden könnte. Will man der Entfremdung der Kinder gegen das Elternhaus wirklich vor⸗ beugen, so gibt es eigentlich nur ein Mittel, nämlich, daß man den Kindern die Möglichkeit abschneidet, vor Erreichung eines gewissen Alters die Heimat zu verlassen. (Hört, hört! bei den Sozial⸗ demokraten und Zurufe.) Gewiß, das ist eine Beschränkung der Freizügigkeit. Will man das aber nicht, und ich will das auch nicht — nun rufen Sie (zu den Sozialdemokraten) auch: Hört, hört! —, weil ich eine solche Maßregel nicht für zeitgemäß und durchführbar halte, dann muß man auch die Konsequenzen ziehen aus dem Feesereegen Zustande und den Gemeinden zu Hilfe kommen.
er Abg. Mommsen wies darauf hin, daß für viele junge Leute von 16 bis 18 Jahren die Städte noch erhebliche Mittel für die Fort⸗ bildungsschule aufwenden müßten. Nun, das platte Land würde sich glücklich preisen, wenn es sich lediglich mit demselben prozentualen Steuersatz seiner Sorge für die Schulen entledigen könnte, wie etwa Berlin, es muß aber 50, 75, 100 % und mehr der Staatssteuer für Schulzwecke aufwenden. Durch die Aufwendungen für die Fortbildungsschulen nützen sich die großen Städte auch selbst. Es strömen in die großen Städte auch nicht diese zudringlichen Elemente allein hinein, sondern auch gesunde und erwerbstüchtige Kräfte und wohlhabende Leute, für das platte Land und die kleinen Städte aber bleiben schließlich nur wirt⸗ schaftliche Passiva übrig. Die Wahrnehmung muß jeder machen, der mit der Steuerveranlagung in ländlichen Bezirken etwas zu tun gehabt hat, wenn er die steuerkräftigsten Einwohner anderen Bezirken überweisen muß. Es wäre nun zu fragen, ob es nicht richtiger wäre, die Unterstützungspflicht dem Arbeitsort auf⸗ zuerlegen und die Wohnsitzgemeinde lediglich subsidiär heran⸗ zuziehen. Früher trat der Gegensatz zwischen Arbeitsgemeinde
und Wohnsitzgemeinde nicht in solchem Maße hervor wie jetzt.
Die Wohnsitz zemeinden sind heute infolge ihrer großen Aufwendungen für Schulen usw. in einer recht ungünstigen Lage. Bedauerlicherweise fehlt in der Vorlage eine Bestimmung, die dagegen Vorkehrung trifft, daß jemand unter Zurücklassung Hilfs⸗ bedürftiger auf und davon geht; in einem solchen Falle muß die Gemeinde für ein verkrüppeltes Kind bereits seit Jahrzehnten auf⸗ kommen, welches das verschwundene Familienhaupt zurückgelassen hat. Auch einige andere ähnliche Lücken wären auszufüllen. Der Abg. Trimborn will größere Verbände, um deren Leistungsfähigkeit zu erhöhen; aber im einzelnen hat er seine Gedanken nicht ausgeführt; ich meine 0 + 0 = 0, d. h. mehrere leistungsunfähige Verbände er⸗ geben zusammen immer noch keinen leistungsfähigen Verband. Ich per⸗ lönlich würde eine Verbesserung nur von einer Bestimmung mir versprechen können, daß jeder Ortsarmenverband nur einen bestimmten Prozentsatz seiner Armenlast als Sonderlast zu tragen hat, während der über⸗ schießenre Teil den höheren Verbänden, Kreis und Provinz, aufzuer⸗
legen wäre. Gegenüber der Behauptung, daß die Vorlage geeignet er⸗ scheine, den Gegeasatz zwischen Stadt und Land zu verschärfen, meine ich, daß ein solcher egensatz in solcher Allgemeinheit überhaupt nicht besteht, oder doch höchstens zwischen den großen Industriestädten und
den kleinen und mittleren Landstädten. Die großen Städte haben ja
gewiß auch ihre Bedeutung und ihre Vorteile, aber wie der mensch⸗ liche Körper kann auch der Staatskörper nicht gedeihen, wenn durch Anstauung von Säften ein Glied hypertrophisch wird, die anderen aber saft⸗ und kraftlos; wir können daher dem Gese geber nur dankbar
sein, wenn er hier durch scmerzlose Massage Abhilfe in Aussicht
stellt. Diejenigen, welche auf historischem Boden weiterbauen wollen, haben allen Grund, daran vereint mitzuhelfen. Von diesem Gesichts⸗ aee aus bitte ich, die Vorlage in der Kommission wohlwollend zu ördern.
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Abg. Gamp (Rp.): Die praktische Armenpflege ist tatsächlich durch den Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung ganz erheblich zurückgegangen; wir haben in Deutschland schon etwa 990 000 Pensio⸗ näre. Ich kann deshalb nur wünschen, daß auch das letzte Glied der sozialpolitischen Gesetzgebung, die Witwen⸗ und Waisenversorgung, hbaldigst zur Verabschiedung gelangen möchte; denn durch kein Mittel wird man die öffentliche Armenpflege so erheblich ein⸗ schränken wie durch dieses, und gleichzeitig ist keine Last so schwer für zahlreiche Gemeinden, als diese. Noch ein anderes Mittel gäbe es, die Einführung der obligatorischen Krankenfürsorge für alle Arbeiter ohne Unterschied, und ich bitte den Staatssekretär, allen seinen Einfluß dafür ein⸗ zusetzen, daß auch den landwirtschaftlichen Arbeitern diese Fürsorge zuteil werde. Es wird ja dabei notwendig sein, daß auch der Staat seine hilfreiche Hand auftut und namentlich die Gemeinden unter⸗ stützt, die entlegen oder zerstreut sind, die es nicht so leicht haben wie hier in Berlin, für Krankenpflege und ärztliche Hilfe zu sorgen. In Preußen haben wir Provinzen, wie Pommern und andere, wo solche Maßregel am Platze ist. Während in Berlin ein großer Teil der Aerzte Hunger leidet, ist es auf dem platten Lande heute vielfach direkt unmöglich, überhaupt ärztliche Hilfe zu erlangen. Hier sollte der Hebel angesetzt werden, dann würde die Armenpflege eine wesentliche Einschränkung erfahren. Ueber die ausländischen Arbeiter ist der Staatssekretär doch zutreffender unterrichtet, als der Abg. Herzfeld, der meinte, die Landwirtschaft brauchte keine aus⸗ ländischen Arbeiter heranzuziehen, denn ein Besitzer, dem 15 Schnitter fortgezogen seien, hätte sofort 15 andere gegen doppelten Lohn er⸗ halten. Das ist doch wirklich närrisch, denn diese letzteren sind doch einem anderen fortgegangen, dessen Ernte nun wahrscheinlich ver⸗ nichtet war, weil er die hohen Löhne gegenüber dem wohlhabenderen Konkurrenten nicht zahlen konnte. Die ländlichen Arbeiter sind gerade beim Großgrundbesitz im Osten so gut gelöhnt, sogar erheblich höher, wenn man die Naturalien, die sie bekommen, mit den Preisen in Rechnung stellt, die sie in den Städten dafür bezahlen⸗. Im Rheinland kostet der Zentner Kartoffeln 3,60, bei uns in Pommern 1 ℳ Bei 100 bis 120 Zentnern Kartoffeln, die der Arbeiter im Jahre erhält, kommt nach diesen Preisen schon ein großes Wert⸗ objekt heraus. Dazu bekommt der Arbeiter noch 4 Liter Milch täglich. Beim Großgrundbesitz des Ostens stehen sich die Arbeiter besser als im Westen. Sehen Sie sich nur an, wie sie Sonntags zur Kirche angezogen sind, wie sie wohnen und sich nähren, dann werden Sie vielleicht schon Ihr Ideal vom Zukunftsstaat erreicht sehen, im Westen aber nicht. Nicht für richtig halte ich es, die ganze Armenlast auf die Arbeits⸗ gemeinde zu übertragen. Wo Arbeitsgemeinde und Wohnsitzgemeinde sich nicht decken, hat in der Regel die Wohnsitzgemeinde größeren Vorteil von den Arbeitern als die Arbeitsgemeinde, denn dort ver⸗ zehren sie ihren Lohn mit ihrer Familie. Daber hat die Wohnsitz⸗ gemeinde mit Recht die Kosten zu tragen. Zweifelhaft ist mir, ob der § 29 der Vorlage einwandsfrei ist. Danach soll, wenn ein Arbeiter an einem Octe mindestens eine Woche hindurch gearbeitet hat, der Ortsarmenverband des Arbeitsortes bei eintretender Hilfsbedürftigkeit für die ersten 26 Wochen die Kosten tragen. Der Staatssekretär sprach da von Leistung und Gegenleistung, zaber die Leistung für den Arbeitsort ist doch nur minimal. Es können hierdurch die un⸗ angenehmsten Verhältnisse, entstehen und geradezu das Prinzip der Armengesetzgebung wird über den Haufen geworfen. Die Bahnmeister holen z. B. ihre Streckenarbeiter 3 bis 5 Kilometer weit her. Die Gemeinden haben davon keinen Vorteil, haben aber die Streckenarbeiter 8 Tage gearbeitet an einem Orte, so soll dieser Ort für 26 Wochen die Kosten der Fürsorge übernehmen! Es kommt noch das Moment hinzu, daß die Frau eines solchen Arbeiters in der Wohnsitzgemeinde erkrankt, und auch für sie muß dann die Arbeitsgemeinde für 26 Wochen die Fürsorge bezahlen. Die Arbeitsgemeinde steht in keiner Beziehung zu der Frau und kann auch nicht kontrollieren, ob die ganze Krankheit nur vorgeschoben ist. Der bei der vorigen Novelle gemachte Vor⸗ schlag, daß die Aufenthaltsgemeinde die Kosten tragen solle, hat etwas für sich denn die Aufenthaltsgemeinde deckt sich in der Regel mit der Wohnsitzgemeinde, in ihr ist auch die Familie ver⸗ einigt, und sie könnte Aufsicht üben, ob die Kosten angemessen sind. Ich behalte mir einen entsprechenden Vorschlag für die Kommission vor. Ursprünglich wurde diese Bestimmung der Vorlage aus Anlaß der Sachsengängerei vorgeschlagen, weil es unbillig sei, daß, wenn die Sachsengänger an einem Ort 9 Monate gearbeitet hätten, ihr Heimatsort die Fürsorge übernehmen sollte. Richtig ist die Herab⸗ setzung der Grenze für den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes auf das 16. Lebensjahr. Die jungen Leute von 14 Jahren verlassen möglichst bald nach der Einsegnung das elterliche Haus, um sich der Aufsicht zu entziehen, und müssen dann durchaus als wirtschaftlich selbständig angeseben werden, daher müssen sie auch einen eigenen Unterstützungswohnsitz erwerben können. Bedenklich ist dagegen die Abkürzung der Frist auf 1 Jahr. Ich glaube nicht, daß das die Arbeiter seßhafter machen wird. Dagegen wäre es menschlich verständlich, wenn die Gemeinden solche Personen, von denen sie eine dauernde Last befürchten, abschieben, da sie jz nur so kurze Zeit von ihnen Vorteil gehabt haben. Wenn diese Verkürzung der Frist eintritt, können wir allerdings nicht mehr einjährige Kontrakte mit den Arbeitern machen, sondern müssen sie verkürzen; aber gerade bei den einjährigen Kon⸗ trakten steht sich der Landarbeiter besser. Ferner bitte ich die Re⸗ gierung, die Bestimmung in die Vorlage aufzunehmen, daß Personen über 60 Jahre keinen Unterstützungswohnsitz mehr erwerben können. Wenn die Frist für die Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes auf ein Jahr verkürzt wird, so ist die Gefahr für die Gemeinden, daß alte Leute ihnen auf dem Halse bleiben, sehr viel größer. Im eigenen Interesse der Arbeiter läge es daher, wenn mit dem 60. Lebensjahre ein neuer Unterstützungswohnsitz nicht mehr erworben werden könnte. Das ist auch ganz logisch, denn schließlich muß die Arbeitskraft des Menschen einmal abnehmen. (Zwischenruf links.) Wenn Sie noch weiter herabgehen wollen, so hätte ich nichts dagegen und wäre eventuell auch für das 58. Jahr. Dem Abg. Mommsen kann ich nur sagen, wenn er der Vorlage ein Motto geben will, so kann es nur heißen: Gesetzentwurf zur gerechteren Verteilung der Armenlasten.
Abg. Dr. Wolff (wirtsch. Vgg.): Auch wir begrüßen diesen Gesetzentwurf, sofern er die Grenze für den Erwerb oder Verlust des Unterstützungswohnsitzes vom 18. auf das 16. Jahr herabsetzen
will. Dagegen haben wir wie der Vorredner gewisse Bedenken, ob
es richtig ist, die Frist für den Erwerb oder den Verlust des Unter⸗ stützungswohnsitzes nur auf 1 Jahr zu bemessen. Gegen den Vorschlag des Vorredners, die Grenze auf das 60. Jahr festzusetzen, haben wir nichts einzuwenden. Die Frage, die er in bezug auf ein⸗ anderweitige Regelung des Wanderarmenwesens angeregt hat, wird besser in der Kommission zu prüfen sein. Die jungen Leute wandern vielfach schon früher ab als mit 16 Jahren, es geschieht schon mit der Konficmation. Der Graf Posadowsky hat uns in einer sehr schönen Rede den Umfang dieser Abwanderung und deren Gefahren für das platte Land Ae. Seine Zahlen bezogen sich aber mehr auf die östlichen Bezirke. Ich muß nun bekennen, daß diese Abwanderung auch im Südwesten zum Teil erschreckende Formen angenommen hat. Auch gutsituierte ländliche Gemeinden weisen bei jeder Volkszählung immer weniger Einwohner auf; nicht bloß die Großgrundbesitzer, sondern auch die kleinen Besitzer können Knechte und Mägde nur schwer finden, thoepen sie mit ihren Knechten und Mägden aus derselben Suppenschüssel essen, von einer schlechten Be⸗ handlung und Verpflegung also nicht die Rede sein kann. Die Folge dieser Abwanderung ist ei⸗e Ueberfüllung der Städte und vor allem der Vororte. Diese letzteren, schwachsituierten Gemeinden haben infolgedessen enorme Schul⸗ und Armenlasten und wünschen die Eingemeindung in die naheliegenden größeren industriellen Zentren. Ich möchte hier einen typischen Fall anführen, den Sie ja recht ernst nehmen wollen. Es kommt da z. B. eine Un⸗ schuld vom Lande in die Stadt und in einem Zustand, der nachher der Unterstützungswohnsitzgemeinde die Sorge für zwei auf⸗ erlegt. Würde es sich da nicht empfehlen, die Frist nicht auf ein Jahr, sondern auf neun Monate herabzusetzen? Gewiß tun unsere größeren Städte sehr viel für die Fortbildungsschulen. 1“ 111u1“
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Sie tun damit aber nur ihre Pflicht, nachdem die kleinen Heimat⸗ gemeinden die großen Lasten der Elementarschulbildung haben tragen Abg. Herzfeld sprach von einer 9
ch habe schon bewiesen, daß diese Vorlage kein Aus⸗ fluß der Begehrlichkeit der ländlichen Bevölkerung ist. Diese schon Lasten genug zu tragen, und eine Erleichterung in dieser Richtung ist nur recht und billig. Demgegenüber war die Rede des Staats⸗ sekretärs sehr erfreulich. Sie hat einen sehr guten Eindruck gemacht, sie würde einen noch besseren gemacht haben, wenn sie nicht ge⸗
worden wäre nach seinen Ausführungen zum Befähigun
nachweis im Baugewerbe. In diesen Ausführungen hat er Lv-,A 1 fähigungsnachweis nicht als Lokomotivführer, sondern höchstens als Bremser erbracht. Hoffentlich wird er auch in der Mittelstandspolitik Hoffnungen, die wir immer noch auf ihn setzen, wenn sie auch klein sind, erfüllen. Ohne eine richtige Agrar⸗ und gewerbliche Mittel⸗ olitik kann auch eine richtige Sozialpolitik nicht gemacht werden. In der Agrarpolitik sind ja Fortschritte gemacht worden. Wir wünschen aber au Volldampf voraus
ch in der gewerblichen Mittelstandspolitik etwas mehr
9.
Abg. Ablaß (fr. Volksp.): Wir sind mit den Ausführungen, die der Abg. Mommsen am Freitag gemacht hat, in allen hauptsaͤchlichen Punkten einverstanden. Die Begründung des Grafen Posadowsky eine durchaus agrarische Tendenz. Diese Tendenz ist heute von der rechten Seite noch besonders hervor⸗ gehoben worden. Der Abg Schickert sprach sogar von einer Massage. Auf das Massieren versteht sich ja die rechte Seite recht gut, und sie voll⸗ sie meist nicht schmerzlos, sondern ziemlich chmerzhaft. Der Abg. Wolff wollte die Frist sogar auf 9 Monate herabsetzen, damit eine zu Schaden gekommene Unschuld vom Lande ihren Unter⸗ ssitz in der Stadt findet und nicht auf dem Lande. Bedenklich ist uns die Ordnung, die der § 29 vorsieht. Die die ersten 13 Wochen besteht ja schon, sie wird nur auf 26 Wochen ausgedehnt. Es ist dies bloß die Konsequenz eines Prinzips, das seit 1894 schon feststeht. Die größten Bedenken haben wir gegen die Herabsetzung von 18 auf 16 Jahre und gegen die Ver⸗ kürzung der Frist auf 1 Jahr. Wäre dieser Vorschlag eine Forde⸗ rung der Gerechtigkeit und Billigkeit, so wäre meine Partei die letzte, sich dagegen sträubte. Dieser Nachweis ist aber nicht erbracht 1 Die Motive sprechen von der Landflucht. Daß eine solche in gewissem Sinne vorhanden ist, läßt sich nicht leugnen. Es wäre aber für einen Gesetzgebungskünstler viel richtiger, zu versuchen, die die zu dieser Landflucht führen, zu beseitigen, anstatt lediglich zen zu kurieren. Der Staatssekretär hat selbst nicht geleugnet, daß es sich hier um eine durchaus agrarische Maßregel handelt. Es ist bisher immer die Kunst der Agrarier gewesen, Verpflichtungen, die auf andere abzuwälzen, und wenn der Staatssekretär von der Vorlage als einer „agrarischen“ spricht, sind wir schon aus de von Mißtrauen gegen sie erfüllt. Wir bestreiten aber 1 wie die Motive erklären, heute die industrielle Entwicklung dahin geführt habe, daß die wirtschaftliche Selb⸗ Arkeiters nicht mehr wie 1894 mit dem 18., sondern jetzt bereits mit dem 16. Jahre erreicht werde; wir vermögen nicht einzusehen, welche Wandlungen in diesen 12 Jahren eingetreten sein sollen, um eine solche Verschiebung zu rechtfertigen. Die Molive en weiteren Beweis dafür auch in keiner Weise an. Daß st stellenweise drückender geworden ist, geben wir zu, es
orlage verfolgt namentlich nach der
da durch anderweite Verteilung, durch Schaffung
größerer Verbände Abhilfe schaffen lassen. Den Städten können wir zu Gunsten des platten Landes diese neue Armenlast nur auf⸗ erlegen, wenn uns nachgewiesen ist, daß die Steigerung der Armen⸗ last auch die Folge der Abwanderungen ist. Wenn der Graf Posadowsky das Beispiel anführt von dem Manne, der in einer Großstadt heiratet, aber noch in einer kleinen Landgemeinde seinen ter⸗ tz hat, dann stirbt und nun der letzteren die Fürsorge seine Frau und Kinder hinterläßt, die ibrerseits diese Ge⸗ meinde nicht gesehen haben, so kommt der umgekehrte Fall auch recht Wir werden in der Kommission ohne Voreingenommen⸗ heit an der Beratung der Vorlage mitwirken und dazu bei⸗ zutragen suchen, daß etwas Befriedigendes zu stande kommt.
Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Graf von Posadowsky⸗Wehner:
Meine Herren! die Vorlage wird fortgesetzt als eine agrarische bezeichnet; ich halte das für völlig verfehlt und nicht für zulässig, den Begriff „agrarisch“ in seiner engeren Bedeutung allgemein mit dem Begriff des platten Landes zu vermwechseln. Bei dieser Vorlage handelt es sich nicht nur um speziell agrarische Interessen, sondern um Interessen außerhalb der großen Städte, um die Interessen auch der kleinen und mittleren Städte, die mit dem Agrariertum gar nichts zu tun haben, die aber aufs schwerste darunter leiden, wenn es den Landbewohnern schlecht geht, weil sie unmittelbar auf den Wohlstand des platten Landes angewiesen sind. Der Rückgang, die Verödung der kleinen Städte, wie ich es in meiner letzten Rede darstellte, ist aber zum großen Teil die Folge der meines Erachtens durchaus unzu⸗ treffenden Verteilung der Steuerlast und vor allen Dingen der Armenlasten. Außerdem, meine Herren, kann man doch nicht alles dadurch als unberechtigt darstellen, daß man es „agrarisch“ nennt; ebenso gut wie die Industrie ihre berechtigten Forderungen gegenüber der Staats⸗ gesetzgebung hat, haben auch die Agrarier ihre berechtigten Forde⸗ rungen. Eine jede Forderung eines so gewaltigen Erwerbszweiges, wie die Landwirtschaft es ist, die doch noch immer sehr erhebliche Teile unserer Bevölkerung beschäftigt, die so wichtig ist für das Wahl des ganzen Staats und Reichs, kann man doch nicht dadurch, daß man sie mit dem Schlagwort „agrarisch“ bezeichnet, als eine unbegründete darstellen! (Sehr richtig! rechts.)
Meine Herren, es ist hier auf die Frage der Armengesetzgebung von Elsaß⸗Lothringen eingegangen. Bisher wurde bekanntlich die Armenpflege in Elsaß⸗Lothringen lediglich charitativ gewährt. In einem so wohlhabenden Lande, das damals vor der Okkupation ziemlich von dem großen Verkehr abgeschlossen war, das damals auch verhältnismäßig nur wenige Kommunikationsmittel hatte, mochte eine solche Ausübung der Armeapflege möglich und ausreichend sein; aber schon nicht lange nach der deutschen Okkupation zeigte es sich infolge
der sich zwischen dem alten. Deutschland
Elsaß⸗Lothringen entwickelte, insbesondere infolge des Arbeiter nach dorthin, in Verbindung mit den großen Bahnbauten, die man zum Teil aus strategischem Interesse ausführte, daß diese charitative Armenpflege den veränderten Ver⸗ hältnissen nicht mehr genügt. Die elsaß⸗lothringische Regierung schloß daher mit Preußen und einer Anzahl süddeutscher Staaten Ver⸗ träge ab, in denen sie sich verpflichtete, Personen, die 5 Jahre in Elsaß Lothringen ihren Aufenthalt gehabt hatten, nicht mehr aus⸗ zuweisen, sondern für sie im Wege der Armenpflege sorgen zu lassen. Aber auch dieser Ausweg kann kein ausreichender und auf die Dauer befriedigender sein, und ich kann Ihnen mitteilen, daß man in Elsaß⸗Lothringen sehr ernst damit umgeht, diesen Zustand der Dinge zu ändern. Der Herr Statthalter von Elfaß⸗Lothringen bei der Eröffnung des Landesaus chusses am 26.
(Schluß in der Zweiten Beilage.)
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Die seit längerer Zeit in der Armenfürsorge hervorgetretenen Uebelstände lassen zeitgemäße Reformen auf diesem wichtigen Ge⸗ biete der sozialen Fürsorge dringend geboten erscheinen. Der vom Landesausschuß am 4. Mai 1904 geschlossenen Resolution ent⸗ sprechend, wird Ihnen zunächst eine Denkschrift vorgelegt werden, welche neben einer Darlegung der dermalig wenig befriedigenden Lage des Armenwesens Vorschläge über die in Aussicht zu nehmenden Maßnahmen enthält.
Sie sehen also, meine Herren, die Frage ist im Flusse. Meines Er⸗ achtens wäre das einzig Richtige, das deutsche Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz auch in Elsaß⸗Lothringen einzuführen. (Sehr richtig!) Was die Verhältnisse in Bayern betrifft, so handelt es sich bier um ein Reservatrecht, ein Reservatrecht, auf dessen Zugeständnis das Deutsche Reich mit begründet ist. Ich bin deshalb nicht in der Lage, mich zu dieser Frage weiter zu äußern. Von einem der Herren Vorredner ist behauptet worden, in den großen Städten wären die Armenlasten erheblich höher wie in Ostpreußen. Eine solche Behauptung kann aber tatsächlich kaum begründet werden. Eine durchschnittliche Armenlast von Ostpreußen kann man überhaupt nicht feststellen, sondern jeder Armenverband hat seine besondere Armenlast. Es mag in Ostpreußen ein paar Städte geben, wo infolge besonderer Verhältnisse, günstiger Erwerbsverhältnisse, einer strengen Armenpolizei usw. die Armenlasten niedrig sind, aber im großen ganzen sind gerade in Ost⸗ und West⸗ preußen, in der Provinz Posen und auch zum Teil in Schlesien die Armenlasten von erschreckender Höhe in den einzelnen Gemeinden; ähnliche Verhältnisse bestehen auch im industriellen Westen. Weil aber die Gemeinden, wo eine besonders starke Abwanderung stattfindet — und diese Abwanderung erstreckt sich auf ganze Gegenden, weil das Abwandern nach den Städten ebenso wie die Auswanderung über See häufig ansteckend wirkt —, unverhältnismäßig hohe Armenlasten zu tragen haben, muß gesetzliche Abhilfe geschaffen werden. Es ist auch gegen mein Beispiel bezüglich der Verteilung der Armenlast zwischen den Vororten und den Arbeitergemeinden ein⸗ gewendet worden, ja, die Arbeiter, die des Abends mit den modernen Verkehrsmitteln nach ihren Wohnungsgemeinden von den Arbeits⸗ gemeinden zurückkehren, wären ja alle versicherungspflichtig nach dem Invalidenversicherungsgesetz und könnten deshalb der Armenpflege gar nicht anheimfallen. Das ist ein großer Irrtum; denn erstens steht es fest, daß die Entlastung, die man von unserer sozialen Gesetz⸗ gebung für die Armengemeinden erwartet hat, keineswegs in dem erwarteten Maße eingetreten ist, aus dem Grunde, weil inzwischen sich die ganze Lebenshallung der Arbeiter ge⸗ hoben, gerade durch die soziale Gesetzgebung auch gehoben hat, und weil gleichzeitig auch die Ansprüche an die Armen⸗ pflege wesentlich gewachsen sind. Die Fälle sind deshalb sehr zahl⸗ reich, wo neben den Leistungen der sozialpolitischen Gesetzgebung für einen Mann, der eine besonders große Familie hat, der vorübergehend arbeitslos ist, noch die Armenpflege in Anspruch genommen wird. Meine Herren, von dem, was der von mir hochverehrte Herr von Meyer (Arnswalde), der ein hervorragender praktischer Verwaltungsbeamter war, seinerzeit über das System des Abschiebens gesagt hat, unterschreibe ich jedes Wort; es ist eine der traurigsten und verwerflichsten Er⸗ scheinungen, dieses System mancher Armengemeinden, daß sie, sobald sie glauben, daß ihnen ein Einwohner zur Last fallen kann, ihn ab⸗ zuschieben suchen. Was ist die Folge? Man erzeugt dadurch Land⸗ streicher. (Sehr richtig!) Mir sind aus der unmittelbarsten Praxis in meinem früheren Leben Fälle bekannt, in denen Leute, die z. B. an einer unangenehmen oder abschreckenden Krankheit litten, von Gemeinde zu Gemeinde, von Armenverband zu Armenverband, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle getrieben wurden, weil jede Armengemeinde, wenn sie ein Arbeitsherr annahm, fürchtete, daß die Leute der Armenpflege der Gemeinde dauernd zur Last fallen könnten. Solche Leute werden dann entlassen, es wird wohl auch auf die einzelnen Arbeitgeber ein Druck ausgeübt, und so werden die unglücklichen Menschen schließlich Vagabunden und kommen aus einem Korrektionshaus in das andere wegen Vagabondage. Dagegen gibt es nur ein Mittel, und das sehe ich allerdings auch darin, daß in den Einzelstaaten die Armengesetzgebung dahin verändert werden muß, daß man Gesamtarmenverbände bilden kann für größere Bezirke. Nach dem preußischen Ausführungsgesetz können Gesamtarmenverbände zwar schon jetzt gebildet werden. Ich wünschte aber dringend, daß man in den Einzelstaaten die Ausführungs⸗ gesetze dahin abänderte, daß durch Beschluß der höheren Verwaltungs⸗ behörden zwangsweise Gesamtarmenverbände gebildet werden können. Gegen diese Verfügung wäre vielleicht ein Verwaltungsstreitverfahren zuzulassen. Dann würden solche Zustände, wie das Abschieben von Arbeitern von einem Ort zum andern, wie das Herr von Meyer (Arns⸗ walde) treffend dargestellt hat, wahrscheinlich sofort aufhören, und außerdem bin ich überzeugt, daß, wenn infolge der Verbindung der Gemeinden zu Gesamtarmenverbänden ausreichende Krankenhäuser, Waisenhäuser usw. für größere Bezirke gegründet würden, auch die Armenpflege nicht verteuert, wohl aber in einer erheblich besseren und menschenwürdigeren Weise gewährt werden würde. (Sehr richtig! links.)
Den Gedanken, die Armenlasten auf Staatskosten zu übernehmen, wird allerdings jede der verbündeten Regierungen weit von sich weisen. In dieser Beziehung haben wir Erfahrungen gemacht auf dem Gebiet der sozialpolitischen Gesetzgebung; je weiter die Stelle ist, die schließlich zahlen muß, desto größer werden unter Umständen die Ansprüche an die finanzielle Kraft des endgültig Verpflichteten. (Sehr richtig!) Sie dürfen auch nicht alle Armen für Tugendengel halten! Es gibt Leute, die auf Armenpflege völlig studieren, ebenso wie es Leute gibt, die auf Rente studieren. Das ist unzweifelhaft und aktenmäßig festgestellt; es gibt Leute, die nicht arbeiten wollen, die es für viel billiger und angenehmer halten, von einem Armen⸗
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Korrektionsanstalt in die andere zu gehen, und es gibt auch Personen, die sich absichtlich der Verpflichtung entziehen, ihre Familie zu unter⸗ halten. Da muß eine Instanz sein, die näher ist wie die allgemeine Staatsverwaltung, wenn auch ein Gesamtarmenverband gebildet wird, kurz eine Instanz, die diese Leute rechtzeitig erkennt und die demgemäß Wenn der gesamte Staat die finanzielle Last der Armenpflege tragen sollte und keine Lokalinstanz mit der persönlichen Verantwortung auch die finanzielle Verantwortung für die getroffenen Maßnahmen zu tragen hätte, würden, fürchte ich, die Armenlasten ins Riesengroße wachsen und einen sehr schädlichen Ein⸗ fluß auf unsere Bevölkerung ausüben.
Meine Herren, es ist mir vorgeworfen worden, die Rede, die ich gehalten habe zur Unterstützung dieses Gesetzes, sei vorzugsweise agrarisch gewesen, weil ich betont habe, wie wichtig es ist, dafür zu finanzieller Gemeindelasten Abwanderung
sofort energisch einschreitet.
Ueberbürdung Entvölkerung arbeitsfähigen Auffassung Zeugen anführen, den vielleicht auch der Herr Redner der sozial⸗ Der englische Arbeiterführer Burns, der jetzt Mitglied der englischen Regierung ist, hat erklärt, er wünsche „kleinere Städte und größere Dörfer“. Das ist ganz derselbe Standpunkt, den ich versucht habe, in meiner letzten Rede zu vertreten. Es ist hier auch ein Fall angeführt worden, daß angeblich auf der Besitzung eines deutschen Fürsten eine Frau, deren Mann 40 Jahre im Dienste dieses Fürsten gestanden hat, mit einer täglichen Armen⸗ unterstützung von 18 ₰ abgefunden worden sei. gelegen sein lassen, die tatsächlichen Grundlagen dieses Falles zu er⸗ mitteln. Aber ich möchte den Herrn Vorredner, der dieses Beispiel angeführt hat, doch fragen, ob er auch festgestellt hat, ob die Frau neben dieser baren Unterstützung nicht noch freie Wohnung erhält, ob sie nicht noch mit Naturalien unterstützt wird, und ob diese 18 ₰ die Gesamtunterstützung sind, die sie bekommt. die mit den ländlichen Arbeitern zusammenhängen, liebt man es, immer nur die und vollständig freien Landes, in der Gewährung freier Wohnung (Sehr richtig! rechts.) Erst wenn Sie das alles zusammenrechnen, und wenn Sie die Naturalien nach ihrem wirklichen Werte einsetzen, bekommen Sie ein zutreffendes Bild von den wirk⸗ lichen Leistungen.
ist auch getadelt worden, unterstützungsbedürftig werden, ausweist. einen anderen Weg zu gehen?
demokratischen Partei anerkennt.
Ich werde mir an⸗
Bei allen diesen Fällen,
anzuführen welcher Wert
Barzahlung zu vergessen, der Gewährung und freier
Naturalien liegt.
Ausländer, Ja, ist es denn möglich, Erstens möchte ich mir erlauben, daß es Länder gibt mit verhältnismäßig niedriger staatlicher Kultur, wo eine eigentliche Armenpflege in unserem Sinne gar nicht vorhanden ist oder nur in einem ganz Umfange, wo auch keine sozialpolitische Gesetzgebung Welchen ungeheuern Gefahren würde das Deutsche Reich und würden die deutschen Einzelstaaten ausgesetzt sein, wenn man wüßte, alle Bedürftigen, die nach Deutschland kommen, können dort (Sehr wahr! rechts.) Wir würden dann geradezu der Sammelpunkt für alle verarmten oder zweifelhaften Elemente aus ganz Europa werden. Sie doch einmal nach England hin, oft angepriesen wird; angenommen,
minimalen
nicht ausgewiesen werden.
(Sehr richtig! rechts.) Sehen als Muster dort hat man jetzt die sogenannte Alienbill war und namentlich verbrecherische
in Gefahr hilfsbedürftige, Elemente aus der ganzen Welt nach dort gingen, weil England als alle Einwandernden galt, und die Zu⸗ stände sich so verschlimmert hatten, daß das englische Parlament mit großer Majorität diese Alien⸗Bill annahm, die der englischen Re⸗ gierung die Möglichkeit gab, paupers fern zu halten.
Denken Sie ferner an das freie Amerika, welche scharfe Kontrolle es gegen die Auswanderung übt. (Sehr richtig!) Fortgesetzt werden uns Leute aus Amerika zurückgeschoben, entweder weil sie mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind, oder weil sie arbeitsunfähig sind, oder weil erbrecher oder vorbestrafte Leute sind usw. Bei der Landung in New York die
weil Amerika
weil England zweifelhafte,
allerschärfste auch nicht Lust hat, zweifelhaften
Amerika wird Einwanderer
gebung, wie sie hier gefordert ist, würde, fürchte ich, für unser Vater⸗ land recht bedenklich werden. Schließlich möchte ich mir Der Gesichtspunkt, daß man, gesetzliche Bestimmung überschritten
noch eine Bemerkung erlauben⸗ Abschieben zu vermeiden“ wonach Personen, 60. Lebensjahr eigentlichen stützungswohnsitz mehr erwerben sollen, wird sich, glaube ich, ge⸗ Ein ähnlicher Vorschlag ist schon bei einer früheren Reform des Armengesetzes gemacht und von der Re⸗ gierung zurückgewiesen worden. Ich frage Sie: was soll aus einem Manne werden, der das 60. Lebensjahr überschritten hat und eigentlichen Unterstützungswohnsitz mehr erwerben kann? dauernd der Gemeinde zur Last fallen, wo er den letzten Unterstützungswohnsitz er⸗ halten hat, oder soll er allgemein Landarmer werden? Ich glaube, es ist richtiger und entspricht der ganzen Konstruktion des Gesetzes, daß da, wo ein Mensch seinen Aufenthalt hat, und wo er die nötige Zeit gewohnt hat, er auch den neuen Unterstützungswohnsitz erwerben kann.
Würde man eine Bestimmung in dem Sinne erlassen, daß ein Sechzigjähriger keinen selbständigen Unterstützungswohnsitz mehr er⸗ werben kann, so würde man nur die Grenze des Abschiebens nach Dann würden die Leute eben schon mit 58 Jahren abgeschoben werden, weil sich jede Gemeinde sagen wird: wenn er bei Wuns den letzten Unterstützungswohnsitz hat, werden zur Last behalten. nach unten v * 114“
setzlich schwer realisieren lassen.
unten verlegen.
Frage des Ab⸗ dem Mißbrauch
bureau zum andern, von einem Armenhaus ins andere, von einer “ 8 11]
88 5 111
zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen atsanzeiger.
No. 26.
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des Abschiebens von Leuten, die in Gefahr der Armenpflege sind, würde man damit nicht wirksam begegnen.
Ich kann das hohe Haus deshalb nur dringend bitten, recht bald in die Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs einzutreten. Weitere Erklärungen behalte ich mir für die Kommission vor. (Bravo!)
Abg. Schrader (fr. Vgg.): Die erste Rede des Staatssekretärs hat nur den Eindruck verstärkt, daß das Gesetz dem Schutze der not⸗ leidenden Landwirtschaft dient. Unser Landarbeiter ist und bleibt Tage⸗ löhner, er kann nichts anderes auf dem Lande erreichen, er kann keinen Besitz erwerben. In Frankreich liegen die Verhältnisse anders, wo Leute, die in Amt und Würden gestanden haben, sich auf das Land zurückziehen, um dort ihre Tage zu beschließen. Welches Recht haben wir, den länd⸗ lichen Staatsbürger zu zwingen, daß er an die Scholle gefesselt bleibt? Wir haben jetzt die Freizügigkeit, und deshalb will man bier wenigstens indirekt einen großen Teil unserer Bevölkerung zwingen, unter ungünstigen Verhältnissen längere Zeit auf dem Lande zu bleiben. Will man die Freude am Lande behalten, so gestalte man die Verhältnisse dort so, daß die Leute keinen Drang mehr empfinden, fortzugehen. Burns wollte etwas ganz anderes, er will vor allem, daß auf dem Lande kleine länd⸗
v, liche Besitzungen entstehen, die dem Arbeiter helfen können, und von einer Unterstützung des Großgrundbesitzes ist gar keine Rede. Berechtigte Forderungen der Landwirtschaft wird jeder von uns gern gewähren, aber bei den Agrariern bestehen daneben sehr viel un⸗ berechtigte Forderungen. Das Unterstützungswohnsitzgesetz bedarf einer vollständigen Revision, während man hier nur einzelne Punkte zu Gunsten der Agrarier vorschlägt. Zur wirklichen Er⸗ leichterung der Armenlasten für die kleineren Gemeinden bleibt nichts übrig, als der Weg einer größeren Novelle. Die Aufgabe ist, die Leistungs⸗ fähigkeit der Gemeinden für die Armenlasten zu berücksichtigen und für gewisse Fälle die subsidiäre Haftung größerer Verbände oder des Ganzen darüber zu stellen. Der Staatssekretär gibt zu, daß das Gesetz auch in Elsaß⸗Lothringen eingeführt werden müßte. Als aber die Rede auf Bayern und sein Reservatrecht kam, wehrte der Staatssekretär mit beiden Händen ab. Diese Isolierung Bayerns ist nicht mehr möglich. Es liegt doch nicht in einem anderen Weltteil, sondern mitten in Deutschland, und gewisse Gebiete Bayerns gehören zu den industriell entwickeltsten des ganzen Reiches. Auch die alte Heimatsgesetzgebung Bayerns muß von Grund aus um⸗ gestaltet werden. Nichts ist einer solchen allgemeinen Regelung ab⸗ träglicher, als wenn man hier einige Punkte herausgreift. Wenn wir aber die allgemeine Revision wollen, brauchen wir die Beratung nicht zu überhasten. Wir haben schon 200 Mitglieder in Kommissionen. Diese müssen erst ihre Arbeiten fördern, daß sie bis Ostern fertig sind, dann können wir uns hierum kümmern.
Abg. Schickert (kons.): Ich habe die Arbeiter nicht an die Scholle binden wollen, sondern im Gegenteil gesagt, daß mir eine solche Ab⸗ sicht durchaus fern liege. Es ist auch nicht in seiner Allgemeinheit richtig, daß die Tagelöhner abwandern, weil sie im Osten nicht die Möglichkeit haben, sich anzusiedeln. Was wir erreichen wollen, ist nur eine gerechtere Verteilung der Armenlasten.
Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. Herzfeld wird darauf auf Vorschlag des Abg. Singer die Vorlage einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen.
Es folgt die erste Beratung des Gesetzentwurfs, be⸗ treffend die Hilfskassen.
Abg. Giesberts (Zentr.): Die Vorlage will den sogenannten Schwindelkrankenkassen zuleibe gehen und dafür sorgen, daß die gut gemeinten Gründungen auf dem Gebiete des Hilfskassenwesens auf eine gesunde finanzielle Basis gestellt werden. Damit könnte man einverstanden sein. Aber der Weg, den die Vorlage einschlägt, scheint uns doch außerordentlich kedenklich, und die Form, in der sie vor⸗ gelegt ist, überhaupt nicht akzeptabel. Es ist auffällig, weshalb man aus der Fülle der Versicherungsträger so ohne weiteres die freien Hilfskassen herausgegriffen hat und sie gewissermaßen mit einem Federstrich beseitigen will. Die freien Hilfskassen haben sich bis jetzt doch ganz gut bewährt. Sie empfinden selbst diese Art des Vor⸗ gehens als eine Art Ausnahmegesetz gegen sie, als einen Schlag gegen ihre Selbständigkeit. Das hat denn auch der Kongreß der freien Hilfskassen ganz deutlich zu erkennen gegeben. In seiner Resolution bekennt er sich als einen entschiedenen Gegner jeder Schwindelkasse und erklärt sich bereit, an deren Bekämpfung mit zu arbeiten. Es wird ferner gesagt, daß die Unterstellung der freien Hilfskassen unter das Privatversicherungsaufsichtsamt gleichbedeutend sein würde mit der Hinwirkung auf die Beseitigung dieser Hilfskassen überhaupt, sie würden damit den anderen Kassen gegenüber in die denkbar ungünstigsten Existenzbedingungen gebracht werden. Diese Stimme ist für uns um so beachtenswerter, als sie zeigt, daß sich auch die interessierten Arbeiter gegen die Vorlage erklärt haben. In der Unterstellung unter das Aufsichtsamt erblickt man ein Präludium für die künftige Vernichtung der Selbst⸗ verwaltung der Krankenkassen. Ob das beabsichtigt ist, will ich ja nicht behaupten. Die Reform des Krankenversicherungswesens liegt seit Jahren in der Luft. Es fragt sich, weshalb man nun gerade die freien Hilfskassen dem Aufsichtsamt unterstellen will; es gibt doch auch andere Krankenversicherungen, bei denen sich hin und wieder Mißstände gezeigt haben, z. B. bei den Betriebskranken⸗ kassen. Es fällt aber keinem Menschen ein, sie dem Aufsichtsamte zu unterstellen. Warum versucht man nicht eine Reform des Hilfskassen⸗ wesens selbst? Die Hilfskassen würden gern bereit sein, mitzu⸗ arbeiten, um den Schwindel zu bekämpfen, an dessen Beseitigung sie selbst das größte Interesse haben. Wir werden darum in der Kom⸗ mission versuchen, auf dem Boden des Hilfskassengesetzes diejenigen Maßregeln zu treffen, die notwendig erscheinen. Es fragt sich, ob durch die Unterstellung der Hilfskassen unter das Aufsichtsamt die tatsächlichen Mißstände überhaupt beseitigt werden können. Die Kon⸗ trolle für kleine lokale Bezirke müßte ja doch ohnehin von den ört⸗ lichen Instanzen ausgeübt werden. So eilig war die Sache schließlich doch nicht; man hätte ganz ruhig warten können, bis die Reform des Krankenversicherungswesens von selbst gekommen wäre. Man hat beinahe die Furcht, daß in den nächsten Jahren an eine Reform des Krankenversicherungswesens nicht herangegangen wird, wenn erst diese Vorlage Gesetz geworden ist. Man befürchtet, daß das Aufsichts⸗ amt den Hilfskassen Bedingungen stellen wird, unter denen ihre Existenz auf der bisherigen Grundlage einfach unmöglich sein würde. Die freien Hilfskassen befürchten gewissermaßen Ausnahme⸗
bestimmungen für sie. Man sollte doch solche historisch gewordene
Institution achten und nicht unnötig durch ein solches Gesetz er⸗ schweren. Sollten sich Mängel herausgestellt haben, so kann man sie ja bei einer Reform unserer Versicherungsgesetzgebung beseitigen⸗ Aber solange die Betriebskassen weiter bestehen, darf man die Hilfskassen nicht in eine Ausnahmestellung bringen. Es gibt Mittel genug, um den schlimmsten Mißständen auf dem Gebiete der Schwindelkassen entgegenzutreten. Vielleicht könnte auf Grund des Betrugsparagraphen des Strafgesetzbuchs eingegriffen werden. Es ist fraglich, ob die Begründung der Vorlage geeignetes Matertal zur Beurteilung der Frage bietet. Wir hätten gewünscht, die Re⸗ gierung hätte uns eine Uebersicht gegeben über die gerichtlichen Urteile über die Schwindelkassen und deren Manipulationen. Eine solche Zusammenstellung schon alle abschreckend gewirkt und das