1909 / 286 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 04 Dec 1909 18:00:01 GMT) scan diff

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8 8 Deutscher Reichstag. 8 3. Sitzung vom 3. Dezember 1909, Nachmittags 1 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

der Wahl des Zweiten Vizepräsidenten, worüber in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden ist, wählt das Haus in einem Wahlgang die 8 Schriftführer. Das esultat der Wahl wird durch das provisorische Bureau er⸗ mittelt und im Laufe der Sitzung dem Hause mitgeteilt werden. Damit ist der Reichstag konstituiert. Der Präsident wird Seiner Majestät dem Kaiser die vor⸗ geschriebene Anzeige alsbald erstatten. Zuü Quästoren ernennt der Präsident die Abgg. Bassermann (nl.) und Schmidt⸗Warburg (Zentr.). Das Haus tritt hierauf in seine materiellen Geschäfte ein. 1 Auf der Tagesordnung steht als zweiter Gegenstand die erste und event. zweite Beratung des Gesetzentwurfs, betreffend die Handelsbeziehungen zum Britischen Reiche.

Staatssekretär des Innern Delbrück: 86

Meine Herren! Durch das Gesetz vom 16. Dezember 1907 ist der Bundesrat bevollmächtigt, unsere handelspolitischen Beziehungen zum Britischen Reiche auf der Grundlage der Meistbegünstigung autonom zu regeln. Diese wiederholt erneuerte Vollmacht läuft mit dem 31. Dezember d. J. ab. Die verbündeten Regierungen bitten Sie, die Vollmacht um zwei weitere Jahre zu verlängern. Da seit dem Gesetz von 1907 sich in unseren handelspolitischen Beziehungen zum Britischen Reiche nichts geändert hat, glaube ich, ohne eine nähere Begründung der Vorlage Sie bitten zu dürfen, derselben die Zu⸗ stimmung zu erteilen. (Bravo! rechts.)

Das Wort wird nicht weiter gewünscht.

Damit schließt die erste Beratung. .

8 In der zweiten Beratung wird die Vorlage darauf ohne Debatte angenommen.

Es folgt die erste und eventuell zweite Beratung des Gesetz⸗ entwurfs, betreffend die Abänderung des § 15 des Zoll⸗ tarifgesetzes vom 25. Dezember 1902, und des § 2 des Gesetzes, betreffend den Hinterbliebenenversicherungs⸗ fonds und den Reichsinvalidenfonds, vom 8. April 1907.

Staatssekretär des Innern Delbrück:

Meine Herren! Der § 15 des Zolltarifgesetzes vom 25. De⸗ ember 1902 bestimmt:

Der auf den Kopf der Bevölkerung des Deutschen Reichs ent⸗ fallende Nettozollertrag der nach den Tarifstellen 1, 2, 102, 103, 105, 107, 107 a und 160 des Zolltarifs 1) zu verzollenden Waren, welcher den nach dem Durchschnitte der Rechnungsjahre 1898 bis 1903 auf den Kopf der Bevölkerung entfallenden Nettozollertrag derselben Waren übersteigt, ist zur Erleichterung der Durchführung einer Witwen⸗ und Waisenversorgung zu verwenden.

Ueber diese Versicherung ist durch ein besonderes Gesetz Be⸗ stimmung zu treffen. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes sind diese Mehrerträge für Rechnung des Reichs anzusammeln und ver⸗ zinslich anzulegen.

Tritt dieses Gesetz bis zum 1. Januar 1910 nicht in Kraft, so sind von da ab die Zinsen der angesammelten Mehrerträge sowie die eingehenden Mehrerträge selbst den einzelnen Invalidenversicherungs⸗ anstalten nach Maßgabe der von ihnen im vorhergehenden Jahre auf⸗ gebrachten Versicherungsbeiträge zum Zwecke der Witwen⸗ und Waisen⸗ versorgung der bei ihnen Versicherten zu überweisen.

Die Unterstützung erfolgt auf Grund eines vom Reichsversicherungs⸗ amt zu genehmigenden Statuts.

Meine Herren, diese Bestimmungen verdanken ihre Entstehung einer Anregung des Reichstags. Als die verbündeten Regierungen ihnen zustimmten, erklärten sie sich zunächst grundsätzlich bereit, eine Versorgung der Witwen und Waisen der Arbeiter auf reichsgesetzlicher Grundlage eintreten zu lassen; sie übernahmen aber gleichzeitig die Verpflichtung, die Art, wie diese Witwen⸗ und Waisenversorgung zu regeln sei, durch ein bis zum 1. Januar künftigen Jahres zu ver⸗ abschiedendes Gesetz festzulegen oder aber Vorsorge zu treffen, daß die auf Grund des § 15 des Zolltarifgesetzes angesammelten Zinsen und aufkommenden Mehrerträge durch die Landesversicherungsanstalten für die Zwecke einer Witwen⸗ und Waisenversicherung verwandt werden.

Meine beiden Herren Amtsvorgänger sind von Anfang an bemüht gewesen, die ihnen durch § 15 des Zolltarifgesetzes auferlegten Auf⸗

aben zu lösen und die seitens der verbündeten Regierungen bei der Verabschiedung dieses Gesetzes eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Das war aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß die für die Finanzierung der Witwen⸗ und Waisenversicherung zur Verfügung gestellten Einnahmequellen mit einer gewissen Stetig⸗ keit und in einem Umfange flossen, daß man damit eine auf festen gesetzlichen Grundlagen aufzubauende Versorgung der Witwen und Waisen einführen konnte.

Diese Voraussetzung hat sich aber nicht erfüllt. Aus den Mitteln

ddes § 15 des Zolltarifgesetzes ist im Jahre 1906 für die Zwecke der Hinterbliebenenversorgung nichts und im Jahre 1908 ebenfalls nichts geflossen, während das Jahr 1907 42 382 427 32 gebracht hat, odaß also zurzeit 2 453 465 an Zinsen zur Verfügung stehen.

Es liegt klar auf der Hand, daß mit dieser Summe von noch nicht 2 ½ Millionen die Versicherungsanstalten außerstande sein würden, eine irgendwie geartete Hinterbliebenenversorgung nach festen Grundsätzen durchzuführen. Auf eine Heranziehung der Versicherungsanstalten war also von vornherein zu verzichten. Die verbündeten Regierungen mußten vielmehr darauf Bedacht nehmen, durch reichsgesetzliche Bestimmungen eine einwandfreie finanzielle Grundlage für die Hinterbliebenenversicherung zu schaffen. Man war sich auch bald darüber schlüssig, daß das Ziel nur erreicht werden könne, wenn ähnlich der Invalidenversicherung die Hinter⸗ bliebenenversicherung aufgebaut wird auf festen Reichszuschüssen und auf Beiträgen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.)

War man sich aber darüber klar, so durfte man nicht vergessen, daß außer der Hinterbliebenenversicherung andere, sozialpolitisch nicht minder wichtige Aufgaben auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung noch der Löfung harren, vor allem die Ausdehnung der Krankenversiche⸗ rung auf das Gesinde, die Hau sarbeiter und die land⸗ und forstwirtschaft⸗ lichen Arbeiter. Es liegt auf der Hand, daß es nicht wohl möglich war, diese beiden, unsere gesamte Produktion, das Reich, die Arbeit⸗ geber und die Arbeitnehmer schwer belastenden Versicherungszweige unabhängig voneinander Gesetz werden zu

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lassen; es ist notwendig,

um die finanzielle Tragweite für das Land und für den Reichssäckel übersehen zu können, diese beiden Materien gleichzeitig zu ordnen. Man mußte sich aber weiter auch noch die Frage vorlegen, ob es tunlich ist, diesen neuen Versicherungszweig bearbeiten zu lassen auf der Grundlage der bisherigen Behördenorganisation. Die zu diesem Zweck angestellten Untersuchungen haben ergeben, daß es sehr erwünscht ist, in diesen Richtungen gewisse auch vom Reichstage dringend ver⸗ langte Aenderungen vorzunehmen. Daraus ergab sich von selbst das berechtigte Bestreben der verbündeten Regierungen, nun auch tunlichst alle diejenigen in bezug auf die Abänderung der bestehenden Versicherungsgesetze lautgewordenen Wünsche, die beherzigenswert erschienen, zu berücksichtigen.

Aus alle dem folgt die Notwendigkeit, unsere gesamten Versicherungs⸗

gesetze zusammen umzuarbeiten zu einem Gesetze und darin die neu einzuführende Krankenversicherung der landwirtschaftlichen Arbeiter, der Hausarbeiter und des Gesindes sowie die Hinterbliebenenversiche⸗ rung zu regeln.

Das Ergebnis dieser Arbeiten, meine Herren, ist gewesen der vorläufige Entwurf einer Reichsversicherungsordnung, der ja der Oeffentlichkeit übergeben und auch Ihnen bekannt geworden ist.

Mein Herr Amtsvorgänger hatte zunächst gehofft, daß es ihm gelingen würde, diesen Entwurf so rechtzeitig durch den Bundesrat an den Reichstag und hier zu einem Zeitpunkt zur Verabschiedung zu bringen, daß die Hinterbliebenenversicherung mit dem 1. Januar 1910 in Kraft treten könnte. Die Masse der Arbeit aber und die Menge der zu dem vorläufig veröffentlichten Entwurf gestellten Anträge und Verbesserungsvorschläge, die zu prüfen waren und zu einem erheblichen Teil Berücksichtigung finden werden, haben es unmöglich gemacht, die Versicherungsordnung Ihnen rechtzeitig vorzulegen.

Unter diesen Umständen sind die verbündeten Regierungen ge⸗ nötigt, Sie zu bitten, den Termin für das Inkrafttreten der Hinter⸗ bliebenenversicherung angemessen zu verschieben. Die verbündeten Re⸗ gierungen haben nunmehr als Termin für das Inkrafttreten den 1. April 1911 gewählt. Sie sind dabei von der Voraussetzung aus⸗ gegangen, daß, wenn es ihnen gelingen würde, den Entwurf der Ver⸗ sicherungsordnung, wie sie hoffen, im Laufe des Februar an den Reichstag zu bringen, es möglich sein würde, den Gesetzentwurf bis zum 1. April 1911 zu verabschieden, und sie glauben, an diesem Termin umsomehr festhalten zu müssen, als sie angenommen haben, daß dem Reichstag daran liegen würde, dieses wichtige Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.

Das sind die Gründe, die ich in Ergänzung der Begründung zu dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf Ihnen vorzutragen habe. Namens der verbündeten Regierungen habe ich die Ehre, um seine Annahme zu bitten.

Abg. Dr. Junck (nl.): Meine Freunde haben sich überzeugt, daß für die Ausführung der Vorschrift des § 15 des Zolltarifgesetzes eine Hinausschiebung des Termins notwendig ist. Sachlich ist der 1. April 1911 durchaus korrekt. In Wirklichkeit wird egch niemand daran gedacht haben, daß es dazu kommen werde, die angesammelten

onds den einzelnen Landesversicherungsanstalten zu überweisen. Es Fe damit wohl seinerzeit seitens der Väter der lex Trimborn nur ein sanfter Druck auf Regierung und Reichstag ausgeübt werden sollen. Wenn man aber auch den finanziellen Erfolg der lex Trimborn beklagen muß, so kann man aus ihm doch auch eine wohl⸗ tuende Lehre herauslesen, denn wenn die Zölle einen so geringen Er⸗ trag geliefert haben, so zeigt sich damit, daß das auch von uns ver⸗ folgte Ziel einer Stärkung der Landwirtschaft berechtigt war. Die Zoll⸗ tarifgesetzgebung hat ihren Zweck, die Landwirtschaft zu stützen, voll erreicht. Wir betrachten die Witwen⸗ und Waisenversicherung nach wie vor als die Krönung des stolzen Gebäudes der Versicherungsgesetzgebung, vielleicht als den wichtigsten Schritt, und wir werden entschieden darauf dringen, daß diese Segnungen auch dem kleinen gewerblichen und landwirtschaftlichen Mittelstand zukommen, der der Fürsorge manchmal noch mehr bedarf als der Arbeiterstand. (Sehr richtig!) Darüber kann kein Zweifel sein, daß die Hinterbliebenenversicherung nur im Rahmen der Reichsversicherungsordnung durchgeführt werden kann. Ob diese jedoch bis zum 1. April 1911 verabschiedet werden kann, ist mir zweifelhaft; selbst wenn eine Kommission die Hundstage hindurch daran arbeitet. Ueber die Reichsversicherungsordnung selbst brauchen wir uns den Kopf noch nicht zu zerbrechen, aber der Geist, der den veröffentlichten Entwurf durchzieht, hat im deutschen Volke wenig be⸗ friedigt, die Verfasser werden sich doch keiner T äuschung darüber hingeben, daß die Kritik im Volke nicht günstig gewesen ist. Eine tiefe Ab⸗ neigung besteht namentlich gegen das Hineintragen von theoretischen Ideen, gegen die Erhöhung der Ausgaben nur für Zwecke der Organisation. Diese Gesetzgebung muß vor dem bureaukratischen Zug bewahrt werden. Die ungünstige Kritik richtete sich namentlich gegen das Institut der Versicherungsämter. Es sollen etwa 800 Versicherungs⸗ ämter mit einem Heer von Staatsbeamten geschaffen werden. Ein solches Heer von Beamten wird die Sachen nicht richtiger und schneller er⸗ ledigen als die Privatbeamten. Das deutsche Volk hat die Ueber⸗ zeugung, daß das Anwachsen des staatlichen Beamtenkörpers beunruhigend ist. Die Versicherungsämter werden in die Selbstverwaltung der Berufs⸗ genossenschaften eingreifen und somit diese am empfindlichsten Punkt treffen. Wir bedauern ferner in dem Entwurf die wenig wohlwollende Be⸗ handlung der Betriebskrankenkassen und Ersatzkassen. Wir werden aber mit aller Energie dahin wirken, daß dieses große Versicherungs⸗ werk wirklich zustande kommt, damit dem deutschen Volke die Gesetzgebung nicht länger vorenthalten wird, die unbedingt nötig ist.

Abg. Freiherr von Richthofen⸗Damsdorf (dkons.): Es ist uns zwar in den einleitenden Worten des Staatssekretärs gesagt worden, daß die Grundzüge dieser Reichsversicherungsordnung beibehalten werden sollen, solange aber der veränderte Entwurf uns nicht vorgelegt ist, habe ich keine Veranlassung, mich über Einzelheiten zu äußern. Ich kann nur sagen, wir werden daran mitarbeiten, daß das Gesetz zustande kommt. Was der Vorredner in bezug auf den Nutzen unserer wirtschaft⸗ lichen Gesetzgebung, insbesondere in bezug auf die Landwirtschaft ge⸗ sagt hat, kann ich nur unterschreiben. Was das vorliegende Gesetz anbetrifft, so ist es einfach technisch unmöglich, den Zeitpunkt inne⸗ zuhalten, der ursprünglich für das Inkrafttreten der Arbeiterwitwen⸗ und Waisenversicherung in Aussicht genommen war. Deshalb werden wir für die Vorlage stimmen.

Abg. Dr. Mugdan (fr. Volksp.): Ich kann dem Staats⸗ sekretär den Vorwurf nicht ersparen, daß er uns bis auf den heutigen Tag die Reichsversicherungsordnung nicht vorgelegt hat; denn es ist so ganz unmöglich, die Folgen des vorliegenden Entwurfs zu übersehen. Ich kann auch nicht wie die Vorredner den Entwurf ohne weiteres annehmen, sondern schlage im Namen der freisinnigen Fraktionsgenossenschaft vor, ihn einer Kommission von 21 Mit gliedern zu überweisen. (Rufe rechts: Wieso denn) Weil die beigelegte Begründung nicht ausreicht. Ich muß übrigens auf die Ge⸗ schichte der lex Trimborn eingehen. (Unruhe rechts und im Zentrum.) Das mag Ihnen unbequem sein; ich wundere mich überhaupt, weshalb der Abg. Trimborn nicht die Debatte eröffnet hat. Noch vor zwei Jahren wurde die Be⸗ ürchtung ausgesprochen, der Block könnte an dieser lex Trimborn rütteln und das auf⸗ gestapelte Geld für die Zwecke des Heeres und der Marine ver⸗ wenden. Mir scheint jetzt, als ob der Abg. Trimborn und seine Freunde

ar nicht so große Eile hätten, zu verhindern, daß dieses Geld für die Reichskasse verwendet wird. Wie steht es denn nun aber mit den Summen, die auf Grund der lex Trimborn für die Witwen⸗ und Waisenverso disponibel sind? Der

Staatssekretär schloß bet dem 8 1909, Zeitungs sollen 1909 und 1910 40 Millionen ein ommen, es würden also 80 Millionen disponibel sein. Was geschieht mit den neuen Millionen der nächsten Jahre? Wenn die Versprechungen irgend eine Bedeutung haben sollen, so müssen die hirweebemtis⸗ ten Klassen entlastet werden, solange der Zolltarif dauert. Den Aus⸗ führungen des Abg. Junck über die segensreichen Wirkungen des Zolltarifs kann ich nicht zustimmen. Wenn man unter der Landwirtschaft einzig und allein den Großgrundbesitz versteht, dann hat allerdings dieser olltarif segensreich gewirkt. Der frühere Reichskanzker Fürst Hohenlohe 8 ja selbst seinerzeit darauf hingewiesen, daß an hohen Getreidezöllen nur ein verschwindender Teil der Landwirtschaft ein v habe. Was geschieht denn mit diesen Summen, die durch die lex Trimborn geschaffen wurden? Die lex Trimborn war, medizinisch gesprochen, eine Sturzgeburt; sie kam nämlich zu einer Zeit, als es ganz sicher war, daß die dem Zentrum angehörenden Arbeiter in hohem Grade erbittert waren. Sie können darüber nicht im Zweifel sein, daß es noch größere Entrüstung hervorrufen muß, wenn das Gesetz nun auf anderthalb Jahre hinausgeschoben wird. Eine Kommissionsberatung ist auch deswegen schon geboten, weil den Aermsten des Volkes nicht wieder Versprechungen gegeben werden dürfen, die hinterher nicht ein⸗ gehalten werden können. Man kann aber annehmen, daß der Reichszuschuß für die Hinterbliebenen höchstens 10 Millionen säbrüich ausmachen wird. Der Ueberschuß der Getreidezölle hat jetzt jedenfalls im Durchschnitt mehr als 10 Millionen für das Jahr betragen. Warum ist denn aber der Ueberschuß so gering? Doch nur, weil das Exportprämiensystem vollständig verfehlt ist, und das Reich so nach meiner Berechnung 1908 bei den Getreidezöllen noch zugesetzt hat. Der Abg. Trimborn hat es so hingestellt, als ob er fest überzeugt sei, daß eine Inanspruchnahme der Arbeitgeber und Arbeitnehmer für die Hinterbliebenenversicherung unvermeidlich sei, daß aber seine politischen Freunde die allerstärksten Bedenken hätten, den kleinen Handwerker usw. mit Beiträgen zu be⸗ lasten. Hätten Sie doch lieber an den kleinen Handwerker ge⸗ dacht als sie ihm durch die Beleuchtungssteuer Dr fer auferlegten! Damals freilich hat der Abg. re gesagt, seine Vor⸗ schläge sollten nur für eine Versicherung der erwerbsunfähigen Witwen gelten. Nach außen hin hat man immer nur von einer Witwen⸗ und Waisenversicherung gesprochen, als ob es sich um solche für alle Witwen und Waisen handelte. Die vielen Millionen, die man dem Volke zu seiner Entlastung für die Verteuerung durch die Zölle versprochen hat, wollen Sie ihm mit einem Federstrich wieder fortnehmen und wollen dafür in einer Zeit, wo Sie natür⸗ lich vor Mittelstandsfreundlichkeit überfließen, nachdem Sie dem Mittelstand schwere Wunden geschlagen haben, ihm neue Lasten auferlegen, die man auf 20 Millionen jährlich für die Ver⸗ sicherten und etwa ebensoviel für die Arbeitgeber beziffern kann. Man hätte nun erwarten müssen, daß das, was die Witwen und Waisen erhalten sollen, einigermaßen das Aussehen einer wirklichen Versicherung hätte. Gewiß ist es nicht möglich, daß die Staats versicherung eine für den vollständigen Unterhalt ausreichende Summe gewähren kann. Späterhin aber wird sich eine Mutter mit zwei Kindern bei der Armenunterstützung besser stehen als bei der Ver⸗ sicherung. Die höchste Witwenrente würde kaum 40 täglich aus machen. Ich halte alle Bestrebungen, den Kinderreichtum in Deutsch⸗ land zu vermindern, für verwerflich. Aus diesem Grunde sollte man auch, wenn man wirklich die erwerbsfähigen kinderlosen Witwen ausschließt, wenigstens denjenigen, die, wie es beim Proletariat häufig der Fall ist, für mehrere Kinder zu sorgen haben, durch ausreichende Renten die Möglichkeit schaffen, sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Wenn man aber einen großen Teil der Witwen von jeder staatlichen Fürsorge ausschließt, so entzieht man sie ihren mütterlichen Pflichten und beeinträchtigt die Erziehung der Kinder. Meine Freunde können solche Bestimmungen nicht annehmen, Vorschlage auf Kommissionsberatung zuzustimmen.

Staatssekretär des Innern Delbrück:

Meine Herren! Die beiden letzten Herren Vorredner haben zwar anerkannt, daß man in diesem Hause einen Entwurf, der noch garnicht vorliegt, eigentlich nicht gut diskutieren kann. (Sehr gut! in der Mitte.) Sie haben aber trotzdem mit der Einleitung „ich will nicht

und wir bitten daher, unserem

davon sprechen“ die Möglichkeit gefunden, den Entwurf der Ver⸗ 8

sicherungsordnung, wie er der Oeffentlichkeit übergeben ist, in einer ganzen Menge von Einzelheiten zu kritisieren. Dadurch kommt der Vertreter der Verbündeten Regierungen in eine überaus schwierige Situation. Ich bin nicht in der Lage, einen Entwurf zu vertreten, der den Bundesrat noch nicht endgültig passiert hat und diesem Hause noch nicht vorliegt. (Sehr richtig! in der Mitte.) In derselben Lage bin ich, wenn ich genötigt werden sollte, in der Kommission über eine Reihe von Bestimmungen dieses Entwurfs Auskunft zu geben: ich würde diese Auskunft ablehnen müssen, weil ich unmöglich irgendwelche verbindlichen Erklärungen zu diesem Entwurf abgeben kann, solange sich der Bundesrat darüber noch nicht schlüssig gemacht hat.

Ich bin aber auch der Meinung, daß es für die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs gleichgültig ist, wie der Entwurf der Ver⸗ sicherungsordnung aussieht. Wir werden darüber, welche Konsequenzen aus dem Gesetz von 1902 zu ziehen sind, erst beschließen können, wenn wir wissen, in welcher Form die Versicherungsordnung und mit ihr die Hinterbliebenenversicherung überhaupt das Licht der Welt erblickt.

Nur in einem Punkte möchte ich auf die Ausführungen des letzten Herrn Vorredners eingehen. Der Herr Abg. Trimborn hat im Jahre 1902 meines Wissens angenommen, daß die Erträge aus den Ueberschüssen der Zölle auf etwa 80 Millionen Mark zu be⸗ bemessen sein würden. (Zuruf: 91 Millionen!) Sagen wir also: 91 Millionen. Mit diesen 91 Millionen wäre es möglich gewesen, rein aus Reichsmitteln ohne eine Heranziehung der Arbeit⸗ geber und der Arbeitnehmer für die Hinterbliebenen das zu tun, was in dem Entwurf der Versicherungsordnung, wie er der Oeffentlichkeit übergeben ist, vorgesehen war. Die Versicherungsordnung bringt also das, was mit den damals in Aussicht genommenen Mitteln geleistet werden konnte. Dafür, daß die Mittel diese Höhe nicht erreicht haben, können die verbündeten Regierungen nicht verantwortlich gemacht werden. (Abg. Trimborn: Ich doch auch nicht!) Nein, Herr Trimborn, ich habe Sie dafür auch nicht verantwortlich machen wollen, ich möchte mich nur meiner eigenen Haut wehren. (Heiter⸗ keit.) Also, die verbündeten Regierungen können nicht dafür ver⸗ antwortlich gemacht werden, daß die Erträge aus dem § 15 des Zoll⸗ tarifgesetzes so ungleichmäßig und in so geringer Menge geflossen sind, daß größere feste Leistungen darauf nicht basiert werden können. Wir sind aber der Meinung gewesen, daß wir in den Leistungen, die eventuell zu machen wären, nicht über das hinausgehen durften, was damals in Aussicht genommen war.

Im übrigen will ich noch bemerken, daß sich die Zuschüsse des Reichs, wenn diejenigen Bestimmungen Gesetz würden, die in dem vorläufigen Entwurf gestanden haben, durchschnittlich auf 27 ½ Millionen das Jahr berechnen würden, also den bisherigen durchschnittlichen Ertrag aus § 15 des Zolltarifgesetzes beinahe um das Doppelte über⸗ steigen. . 6

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Ich glaube, mich auf diese Ausführungen beschränken zu müssen. Ich würde, ohne in die Einzelheiten einzugehen, auch in der Kom⸗ mission nicht in der Lage sein, mehr zu sagen, als ich heute gesagt habe.

Wenn der letzte Herr Redner der Ansicht gewesen ist, daß dem Staatssekretär des Innern unter allen Umständen ein Vorwurf daraus gemacht werden müßte, daß der Entwurf der Versicherungsordnung nicht heute auf dem Tisch des Hauses liegt, so habe ich darauf nur zu erwidern, daß wir, die wir seit Jahren berufen gewesen sind, an diesem Entwurf zu arbeiten, nicht in der Lage waren, ihn rechtzeitig fertigzustellen. Daß der Herr Abg. Dr. Mugdan an meiner Stelle es vermocht hätte, ziehe ich selbstverständlich nicht in Frage. (Heiterkeit.) Ist das aber der Fall, dann verstehe ich nicht den Zweifel des Herrn Abg. Dr. Mugdan, daß es uns mit seiner Mit⸗ hilfe in diesem Hause nicht möglich sein sollte, den Entwurf bis zum 1. April 1911 fertigzustellen. (Heiterkeit. Sehr gut! rechts und in der Mitte.)

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Wenn die Möglichkeit nicht ge⸗ geben war, das 1902 versprochene Gesetz bis zum 1. Januar 1910 zu erlassen, so müßten nach dem Wortlaut des Zolltarifgesetzes die bis dahin angesammelten Fonds den Versicherungsanstalten zugeführt werden. Was haben die verbündeten Regierungen getan, um nach dieser Richtung dem Gesetz gerecht zu werden? Haben sie die Ver⸗ sicherungsanstalten zur Ausarbeitung eines entsprechenden Statuts an⸗ eregt? Was wollen die verbündeten Regierungen machen, wenn der Reichstag den Entwurf rundweg ablehnt? Und nach unserer Meinung muß der Entwurf rundweg abgelehnt werden, dann haben die Witwen vom ¹1. Januar 1910 ab ein klagbares Recht auf die Witwen⸗ und Waisen⸗ rente. Nun stehen wir ja neuen Leuten in der Regierung gegenüber, die sich dem Erbe der Bülowschen Sozialpolitik gegenüber seben, die nämlich darin bestand, daß er gar nichts auf diesem Gebiete getan hat. Sämtliche Agrarzölle sollten für die Witwen und Waisen hergegeben werden, das hat der Abg. Herold, das haben die anderen Zentrumsführer hier feierlich verkündet; aber dieses feierliche Versprechen wurde schon in demselben Augenblick gebrochen, als die Herren daran gingen, ihren Gedanken in die gesetzgeberische Form zu bringen. Eine große Menge Agrarzölle kam schon in der Kommission nicht in das Gesetz hinein; in der weiteren Beratung stellte der Abg. Trimborn für die Witwen⸗ und Waisenversorgung Sätze in Aussicht,

so kläglich, wie sie kaum eine Armenverwaltung zahlt, nämlich 100

für die Witwe und 33 ½ für eine Waise; dazu gehörten aber immer noch 91 Mill. Mark jährlich, die zur Hälfte aus den Erträgen der angesammelten Fonds, zur Hälfte aus Beiträgen der Arbeitgeber und der Versicherten aufgebracht werden sollten. Also damals, als der Abg. Trimborn noch an diesen Ueberschuß glaubte, nahm er schon Beiträge der Versicherten in Aussicht. Jetzt, wo diese 91 Millionen nicht da sind, ruft der Abg. Trimborn, auch er sei nicht schuld daran, daß sie nicht eingegangen sind: jawohl, Herr Trimborn, Sie sind doch schuld daran, denn Sie haben selbst Ihren Antrag so verschlechtert! Im Plenum wurde nämlich noch eine weitere Reihe von Agrarzöllen fallen gelassen, so daß eigentlich nur noch 41 Millionen übrig blieben, während die Kommission doch noch 72 Millionen übrig gelassen hatte; und mit diesen 72 Millionen operierten die Zentrumsagitatoren ruhig weiter und logen weiter die Bevölkerung an. Aber nicht nur die Hälfte der Zölle wurde preis⸗ egeben, auch die Beitragspflicht, die der Abg. Trimborn selbst in Aus⸗ öht genommen hatte, ließ er schließlich wieder fallen, und was übrig blieb, hat sich ja jetzt als ein reines Phantasieprodukt erwiesen. Von 1906 bis Ende 1909 sollten 22, 48, 53, 30 Millionen aufkommen; tatsächlich haben nur 1907 42 Millionen festgelegt werden können. Ist der Abg. Trimborn etwa nicht schuld an diesem Ergebnis? Hat er nicht den § 11 des Zolltarifgesetzes mit der Aufhebung des Identitätsnachweises mit angenommen, der es durch das System der Einfuhrscheine ermöglicht, daß nicht nur nichts herauskommt, sondern event. das Reich noch drauflegen muß? Und welche Preissteigerung aller notwendigsten Lebensmittel ist in⸗ zwischen eingetreten, beim Fleisch, beim Mehl! Teures Brot hat man den Witwen und Waisen geliefert, die versprochene Hinter⸗ bliebenenversicherung wird ihnen aber vorenthalten. Warum macht man nicht mit dem vorhandenen Gelde wenigstens einen Anfang? Nimmt man die Zahl der zu unterstützenden Witwen und Waisen auf 2 ½ und 3 ½ Millionen, zusammen auf 6 Millionen an, so könnte jeder Witwe und jeder Waise eine Jahresrente von 5 gegeben werden. Der Staatssekretär meint, die Versicherung könnte nicht auf so un⸗ sichere Basen gestellt werden. Aber er wird doch selbst nicht ernstlich auf die Erträge rechnen; dieselbe Mehrheit, die die Besitzsteuern ab⸗ gelehnt hat, wird auch die Beiträge der Arbeitgeber ablehnen, denn daß die Herren jetzt weniger habgierig geworden sind, wie im Frühjahr, das werden Sie doch selbst nicht glauben. Daß wir 1902 diesen Teil des Zolltarifgesetzes angenommen haben, hat man uns auf liberaler Seite verdacht; ich erklare, wir haben sehr klug daran ge⸗ handelt; jetzt haben Sie das Gesetz, jetzt muß das Zentrum Farbe bekennen. Für den Großgrundbesitzer sind Hunderttausende aus den Millionen der Allgemeinheit abgegeben worden; für die Witwen haben Sie eine Jahresrente von 5 übrig.

Abg. Trimborn (Zentr.): Nach den Ausführungen der Herren von der Linken erscheine ich hier gewissermaßen vor Ihnen als der Angeklagte. Es ist doch mein Verdienst, daß 40 Millionen für den Zweck zur Verfügung stehen; daß es nicht mehr sind, ist doch wahrhaftig nicht meine Schuld. (Lebhafter Widerspruch links.) Bei den Rednern der Linken scheint jede ruhige, objektive Kritik verschwunden zu sein. Wir werden der Vorlage zustimmen, denn die Hinausschiebung der Inkraftsetzung des § 15 erscheint unabwendbar. Wir behalten uns vor, diejenigen Personen, die wvom 1. Januar 1910 ab Witwen und Waisen werden, in dem Gesetze nachträglich in die Rentenberechnung einzubeziehen. Eine Kommissionsberatung halten wir für absolut entbehrlich, denn es handelt sich hier nicht um materielle Bestimmungen, sondern nur um eine Terminsverlegung. § 15 des Zolltarifgesetzes muß der äußersten Linken und auch der Freisinnigen Partei außerordentlich unbequem sein. Ich verstehe über⸗ haupt nicht, wie man einen so harmlosen und gutmütigen Mann wie mich mit einer solchen Berserkerwut angreift. Das bringt mich aber nicht aus der Fassung, denn ich sage mir: wer sich so erregt, fühlt sich im Unrecht. Die Gründe, weshalb die Ausführung des § 15 so lange hinausgeschoben wurde, hat der Staatssekretär dar⸗ gelegt. Die Vorarbeiten dazu waren auch nicht unsere Sache. In der Zwischenzeit haben meine Freunde eifersüchtig darüber gewacht, daß die Zollerträge, die für die Witwen und Waisen bestimmt waren, nicht anders angelegt wurden. Es waren Eingaben an uns heran⸗ getroten, diese Erträge für die Zwecke des Heeres und der Marine festzulegen. Der Abg. Erzberger ist diesem Versuche mit großer Ent⸗ schiedenheit entgegengetreten. Wenn hier jemand verantwortlich ist, so ist es der Block. Der Abg. Mugdan rühmte sich, praktische Sozialpolitik zu treiben: tatsächlich haben er und seine Freunde nichts geleistet. Es ist auch unrichtig, daß wir den § 15 nur geschaffen hätten, um ein Agitationsmittel zu bekommen. Wir haben nicht etwa hinterher, sondern von Anfang an durch den Abg. Herold erklären lassen: ohne Witwen⸗ und Waisenversorgung kein Zolltarif. Wir sind, offen und klar vorgegangen, nicht wie hinterlistige In⸗ triganten, die Nebenabsichten gehabt hätten. Was ich über die Beitragsleistung seinerzeit gesagt habe, war sehr vernünftig, denn damals war die ganze Materie noch vollständig ungeklärt, und es wäre sehr unrichtig gewesen, in dem schon ein fest ausgearbeitetes Projekt zu bringen. wollte ich der Zukunft überlassen; bis und weise, sich nach keiner Seite festzulegen. Allerdings habe ich den Kreis der Zölle, der für die Witwen und Waisen in Frage kam, nach und nach enger gezogen. Aber dies geschah nur, um das Schiff des § 15 in den Hafen zu retten. Das Schiff war dem Untergange nahe, und ich mußte den Gerstensack und noch einige andere Säcke in die Flut werfen. Die

damaligen Stadium 1 das Weitere dahin war es klug

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ausgerechnet

Sozialdemokraten haben doch für den Paragraphen gestimmt. Wäre er so kläglich und erbärmlich, warum haben sie sich nicht damals ent⸗ rüstet? Aus Ihren Kreisen ist auch das häßliche Wort von der Witwen⸗ und Waisenverhöhnung gefallen. Man hat sich sogar so weit verstiegen, von einer politischen Hochstapelei zu sprechen. Ich weiß nicht, ob es der Abg. Stadthagen war, aber er könnte es gewesen sein. Der Abg. Mugdan sprach heute mit großer Entrüstung von einer künftigen Belastung des Mittelstandes und der armen Erwerbs⸗ kreise. Er sollte mit dieser Entrüstung sehr vorsichtig sein, denn er könnte in die Lage kommen, für das Gesetz stimmen zu müssen. Sich über die geringen Erträge der Zölle für die Witwen und Waisen hinterher düfthg zu machen, ist billig. Sie haben doch damals von mir eine eingehende Begründung und zahlenmäßige Angaben verlangt. Wenn ich nachher Sns Tatsachen desavouiert werde, so begreife ich nicht, wie man mich deshalb als Verbrecher behandeln will. Das ist nicht bloß töricht, das ist einfach lächerlich. Daß der Abg. Junck die gute Wirkung der Zölle für die Landwirtschaft anerkennen würde, habe ich von seiner Loyalität nicht anders erwartet. Der Linken ist diese Wirkung unbequem, weil sie nicht in ihr System und in ihre Doktrinen paßt. Hätten wir den § 15 damals nicht geschaffen, so würden wir niemals eine Witwen⸗ und Waisen⸗ Beseönrnng erleben. Es kam damals nicht auf die Einzelheiten an, sondern auf die gesetzliche Unterla e, damit endlich mit dieser Reform begonnen werden konnte. Der Abg. Ledebour sagte am 21. November 1902, wie die⸗Verhältnisse bei uns in Deutschland liegen, ist die egenwärtige Gelegenheit wohl die einzige, die sich vielleicht auf Jahre hinaus bieten wird, um überhaupt die Witwen⸗ und Waisen⸗ versicherung zu regeln. Noch vor kurzem hat ein sozialdemokratischer Schriftstel er in den „Sozialistischen Monatsheften“ die Witwen⸗ und Waisenversicherung für eine soziale Notwendigkeit allerersten Ranges erklärt. Alle kleinlichen Rekriminationen der Abgg. Mugdan und Molkenbuhr werden vergessen werden, der Erfolg aber, daß durch § 15 überhaupt eine Witwen⸗ und Waisenversicherung möglich ist, der wird bleiben; das genügt meinen Freunden und mir.

Staatssekretär des Innern Delbrück:

Meine Herren! Wenige Worte im Anschluß an die Ausführungen der beiden Herren Vorredner. Der Herr Abg. Molkenbuhr hat zu wissen gewünscht, was die verbündeten Regierungen getan hätten, um die Landesversicherungsanstalten zu veranlassen, ihrerseits mit den Mitteln des § 15 des Zolltarifgesetzes eine Witwen⸗ und Waisenver⸗ sorgung ins Leben zu rufen. Ich glaube, in einem kurzen Satze in meinen Einleitungsworten eine Antwort darauf bereits gegeben zu haben. Ich habe darauf hingewiesen, daß ebensowenig wie das Reich oder die verbündeten Regierungen eine Versicherungsanstalt ohne eine feste finanzielle Unterlage imstande ist, Witwen⸗ und Waisenrenten, durch die lebenslängliche Rechtsansprüche begründet werden, zu be⸗ willigen. Das ist auch der Grund gewesen, warum die Ver⸗ sicherungsanstalten, mit denen selbstverständlich meine Herren Amts⸗ vorgänger sich bei den Vorbereitungen der Gesetzgebung in lebhafter Fühlung gehalten haben, dringend gebeten haben, man möge sie mit der Lösung der Aufgabe der Hinterbliebenenversicherung an der Hand der Ersatzmaßnahme des § 15 des Zolltarifgesetzes verschonen.

Nun, meine Herren, hat der Herr Abg. Molkenbuhr aus dem Umstande, daß wir mangels hinreichender Mittel genötigt gewesen sind, zurzeit das Inkrafttreten der Hinterbliebenenversicherung hinauszuschieben, geglaubt, den Schluß ziehen zu müssen, das Gesetz abzulehnen. Meine Herren, ich möchte im Interesse der in Betracht kommenden Witwen und Waisen dringend davor warnen, das zu tun. Wenn sie dem Rat des Herrn Abg. Molkenbuhr folgen, dann haben die einzelnen Witwen äußerstenfalls, wie er, glaube ich, richtig hat, einen Anspruch auf 5 jährlich; ob er klagbar ist, steht dahin. Wenn Sie dem Vorschlage der ver⸗ bündeten Regierungen folgen, besteht Aussicht, daß wir in nicht allzu langer Zeit einen Gesetzentwurf verabschieden, der den in Betracht kommenden Witwen und Waisen eine, wenn nicht hohe, so doch immerhin ansehnliche und durch einen Rechtsanspruch festgelegte Rente sichert; und das, meine ich, meine Herren, sollte doch sozialpolitisch die wertvollere Tat sein. (Sehr richtig! in der Mitte.)

Der Herr Abg. Trimborn hat aus der Situation, in der wir uns befinden, eine weit praktischere Konsequenz gezogen. Er hat, indem er das Bedauern, darüber ausgesprochen hat, das auch die verbündeten Regierungen erfüllt, daß wir das Gesetz über die Hinterbliebenen⸗ versicherung nicht rechtzeitig haben verabschieden können, bemerkt, es sei zu prüfen, ob man nicht dem in Zukunft zu verabschiedenden Gesetze rück⸗ wirkende Kraft geben könne, indem man alle nach dem 1. Januar 1910 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes praktisch werdenden Fälle in die Wirksamkeit des Gesetzes einbeziehe.

Meine Herren, ich habe mich zu dieser Frage, ob und inwieweit der Hinterbliebenenversicherung rückwirkende Kraft gegeben werden kann, nicht geäußert, weil sie nicht ganz einfach ist, und jedenfalls ich glaube, darin stimmt der Abg. Trimborn auch mit mir überein erst gelöst werden kann, wenn feststeht, in welcher Form die gesetz⸗ lichen Bestimmungen über die Hinterbliebenenversicherung zur Ver⸗ abschiedung gelangen. Ich werde für meine Person gern bereit sein, im gegebenen Zeitpunkt mit Ihnen über etwaige diesbezügliche Vor⸗ schläge in Beratnng zu treten, und ich hoffe dazu des Einverständnisses der verbündeten Regierungen sicher zu sein. (Bravo! in der Mitte und rechts.)

Abg. Linz (Rp.): Wir haben es außerordentlich bedauert, daß es nicht möglich geworden ist, den Entwurf der Reichsversicherungs⸗ ordnung so frühzeitig einzubringen, daß er mit Ablauf des gegen⸗ wärtigen Kalenderjahres verabschiedet sein konnte. Aber an der Tatsache ist nichts zu ändern, und die Erörterung der Schuldfrage erübrigt sich. Es erscheint uns nicht richtig, die Hinterbliebenen⸗ versicherung selbständig zu regeln, sie muß vielmehr einen organischen Bestandteil der Reichsversicherungsordnung bilden. Nachdem die verbündeten Regierungen im Interesse einer Verbesserung und ausgedehnteren Fürsorge für die arbeitenden Klassen dem § 15 zugestimmt hatten, erschienen und mehrten sich bald die offiziösen Stimmen, daß es der Reichsregierung nicht möglich sein würde, ein solches Gesetz auf der Grundlage schwankender Einnahmen aus dem Zollgesetz durchzuführen. Sie suchten deshalb mit Recht bei der Neu⸗ regelung der großen Versicherungsgesetze nach einer anderen finanziellen Grundlage. Auch wir halten es in Uebereinstimmung mit dem vorläufigen Entwurf der Reichsversicherungsordnung für richtig, daß die Gewährung von Rentenansprüchen auf bestimmte, von vorn⸗ herein feststehende Leistungen durch einen festen jährlichen Zu⸗ schuß des Reiches für die Hinterbliebenen, der alljährlich im Etat einzustellen ist, begründet werden muß. Die Unterstellung, es habe sich bei den damaligen Beschlüssen des Reichstages nur um eine taktische und agitatorische Maßnahme gehandelt, müssen wir, gleichviel von welcher Seite sie kommt, zurückweisen⸗ Wir er⸗ blicken vielmehr in jenen Beschlüssen ein weiteres Glied in der Reihe der vielen sozialen Maßnahmen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte im Interesse des Arbeiterstandes getroffen worden sind. Wir be⸗ dauern die Hinausschiebung im Interesse der Witwen und Waisen der Arbeiter, werden uns aber wohl oder übel in die unabänderliche Lage fügen müssen. Aber wenn die Witwen⸗ und Waisenversorgung 1911 in Kraft treten soll, so ist eine außerordentlich ernste und intensive Vorarbeit erforderlich. Die Re ersicherungsordnung wird mit Rück⸗

sicht auf Umfang und Schwierigkeit der Materie und den zu erwarten⸗ den Widerstreit der Meinungen erheblich später Erledigung finden, als man anzunehmen geneigt ist. Das sollte ein besonderer Grund für die verbündeten Regierungen sein, die Ein⸗ bringung zu beschleunigen, und für die Parteien, die Vorlage ohne Verzögerung durchzuberaten. Ein weiteres Hinausschieben darf überhaupt nicht in den Kreis der Betrachtungen ezogen werden. Auch diese Legislaturperiode wird nicht zu Ende gehen, ohne daß das wichtige Werk der Witwen⸗ und Waisenversicherung zur Ver⸗ abschiedung gelangt, und in dieser Voraussetzung stimmen wir dem Notgesetz zu.

Ni. olkenbuhr (Soz.): Wie haben niemals, wie der Abg. Trim⸗ born behauptet, uns gegen den § 15 erklärt. Aber dieser § 15 ist, genau genommen, nichts anderes, als ein Bruch des Versprechens, das das Zentrum den Arbeitern gegeben hat. Denn von der versprochenen Verwendung der Mehrerträge der Agrarzölle für die Witwen⸗ und Waisenversor ung steht nichts darin. Der Abg. Trimborn hätte nichts aus seinem Schiff über Bord zu werfen brauchen; denn wenn das Zentrum in dem Augenblick, wo die Rechte den § 15 ablehnen wollte, die Getreidezölle abgelehnt hätte, hätte die Rechte auch die erste Form des § 15 angenommen und lieber den Witwen und Waisen gegeben als auf die höheren Getreidezölle verzichtet. Auch im Zentrum es Leute, die den § 15 nicht gern annahmen. Daß auch Jahre kommen können, wo überhaupt keine Ueberschüsse aus den Zöllen vor⸗ handen sind, das hat man den Wählern niemals gesagt. Der Abg. Trim⸗ born meint, ohne den § 15 hätten wir überhaupt keine Witwen⸗ und Waisenversicherung. ir haben sie aber noch gar nicht, wir haben nur teueres Brot und teueres Fleisch, und wir können den § 15 noch 100 Jahre haben und doch keine Witwen⸗ und Waisenversicherung bekommen. Der Gedanke der Witwen⸗ und Waisenve icherung stammt überhaupt nicht vom Zentrum, sondern vom Freiherrn von Stumm. Aber wie dieser nur eine platonische Liebe dafür hatte, so b11S- auch das Zentrum über platonische Erklärungen nicht hinaus.

Abg. Mugdan (fr. Der Abg. Trimborn verspottet sich selbst, wenn er gegen die Zeitverschwendung dieser Reden eine Philippika hält; wenn er vorgestern schon gewußt hätte, wen man zum zweiten Vizepräsidenten wählen sollte, so hätten wir einen ganzen Arbeitstag gewonnen. Gerade die Geschichte des § 15 sollte den Abg. Trimborn in seinen Versprechungen vorsichtiger machen; sein heutige Rede war, juristisch gesprochen, eigentlich eins der schwersten Verbrechen, und er ist nicht klüger vom Rathaus heruntergekommen. Als vor⸗ sichtiger Mann hätte er mit seinen damaligen Berechnungen be⸗ scheidener sein sollen, aber das paßte eben nicht in die damaligen poli⸗ tischen Verhältnisse hinein. Der § 15 wäre niemals in das Zolltarif⸗ gesetz hineingekommen, wenn das Zentrum nicht in Rheinland und West⸗ falen so viele Wähler hätte. (Ohol im Zentrum.) Ich freue mich, daß der Abg. Trimborn das Hohelied der Zölle singt, denn für unsere poli⸗ tischen Verhältnisse ist nichts besser, als daß eine reinliche Schei⸗ dung eintritt. Als Freund der Landwirtschaft halte ich die hohen Zölle für ein Unglück für die Landwirtschaft. Sie werden einmal selbst dem Großgrundbesitz nicht mehr nutzen. Denn es wird die Zeit kommen, wo wegen der hohen Brot⸗ und Fleischpreise keine Regierung die Zölle aufrecht erhalten kann, und dann wird die kommende Generation, die die Güter nach dem Werte unter den Zöllen übernommen hat, schwer geschädigt sein. Der Abg. Trimborn ist nicht klug und weise, er hat sich selbst betrogen, der § 15 wird kein Ruhmestitel für ihn sein, sondern beweisen, wie schlecht seine Partei allezeit Sozialpolitik treibt.

Abg. Beckex⸗Arnsberg (Zentr.): Daß der § 15 den Zweck gehabt hätte, die Zentrumsarbeiter mit dem Zolltarif zu versöhnen, ist ein sehr großer Irrtum. Wären wir der Ueberzeugung, daß die jetzige Zollpolitik im Interesse des Ganzen falsch wäre, hätten wir in Rheinland⸗Westfalen ihr nicht zugestimmt; wir halten sie aber für eine Notwendigkeit für das Vaterland. Auch Kautsky hat zugegeben, daß die Getreidezölle nicht bloß den Großgrundbesitzern nützen, und daß darum die Sozialdemokraten auf dem Lande bei den Wahlen 1907 so schlecht abgeschnitten hätten. Daß die Zollpolitik den deutschen Inlandsmarkt bedeutend gekräftigt hat, das lehrt doch der Verlauf der letzen Krise, die von Deutschland fast vollständi ferngehalten worden ist, jedenfalls sich bei uns nicht so stark wie selbst in England bemerkbar gemacht hat. Sie (links) können unsere Ueber⸗ zeugung für falsch halten, das ist Ihr gutes Recht, aber Sie dürfen uns nicht niedrige Motive unterschieben. Was Sie uns an einem einzigen Tage unterschieben, das geht auf keine Kuhhaut. Ich verweise nur auf das 30 000⸗Mark⸗Flugblatt; 5 bis 6 Jahre hat man den Vorwurf der Bestechung mit diesen 30 000 auf dem Kollegen Brust sitzen lassen, obwohl Sie wußten, daß daran nichts Wahres war. Was Sie leisten, das kann gar nicht mehr übertrieben werden ... außer⸗ halb des Hauses natürlich. Ginge es nach den Sozialdemokraten, wir hätten heute noch keine Arbeiterversicherung. Bei uns entscheiden wir auch nicht nach Zufallsmehrheiten, sondern nach dem ge⸗ sunden Menschenverstand. (Zuruf bei den Soz.: Erbschaftssteuer!) Erbschaftssteuer? Da fällt mir ein, daß der Abg. Stadthagen bei der 8 Abstimmung über die Erbschaftssteuer nicht anwesend war, angeblich nach dem „Vorwärts“, weil er auf dem Berliner Rathause zu tun hatte; den wirklichen Grund hat man auf der Münchener Versamm⸗ lung der Genossen mitgeteilt. Also empfehlen Sie dem „Vorwärts“ etwas mehr Wahrheitsliebe! Daß die Stellung der christlich nationalen Arbeiterschaft zur Finanzreform uns bei den Wahlen viel schaden kann, fürchten wir nicht. Unsere Leute stimmen frank und frei für Zentrumskandidaten, auch wenn die Zechenherren dabei stehen. Ihre Versuche, zu verhetzen und aufzustacheln, könnten einmal für die Linke sehr unliebsame Folgen zeitigen.

Abg. Ledebour (Soz.): Das von dem Abg. Trimborn gegen mich verwertete Zitat stammt aus einer Rede, die ich gegen einen Antrag Trimborn gehalten habe: gegen einen Verschlechterungsantrag Trimborn wollten wir Verwahrung einlegen, und in dieser Rede findet der Abg. Trimborn mit großem Geschick einen Satz heraus, den er für sich verwerten zu können glaubt. Es handelt sich um einen An⸗ trag, der den Betrag für die Witwen⸗ und Waisenversicherung um 20 Millionen verringern wollte: ich habe in meiner Rede den Abg. Trimborn ironisch behandelt. Dann kam das Zitat, das ganz richtig ist; aber in der schärfsten Weise habe ich gegen die beantragte Ver⸗ schlechterung protestiert. Es ist ein direkter Mißbrauch, wenn der Abg. Trimborn diesen einzelnen Satz herauszerrt und alles übrige ignoriert.

Abg. Trimborn (SZentr.): Ich habe sinngemäß und richtig zitiert; das hat der Abg. Ledebour nicht widerlegt. Schon die unsichere Art, wie er eben deduzierte, beweist, daß er seiner Sache nicht sicher war. Der Redner verliest noch weitere Zitate aus der erwähnten Rede des Abg. Ledebour, aus deren Zusammenhang klar hervor ehe, daß er (Redner) vollständig im Rechte sei. Bestreiten müsfe er dem Abg. Mugdan, daß er sein Kind, die Witwen⸗ und Waisenversicherung, anderseits, daß er den eigentlichen Vater des Gedankens, Freiherrn von Stumm, verleugnet habe. Man habe ihm manches vorgeworfen, aber daß man ihn zum Vatermörder stempeln würde, das hätte er nie gedacht.

Hierauf wird Vertagung beschlossen.

Es folgen persönliche Bemerkungen der Abgg. Erzberger (Zentr. Mugdan (fr. Volksp.), Stadthagen (Soz.). Letzterer weist die unwahre Behauptung zurück, daß er für sein Fehlen bei der Ab⸗ stimmung über die Erbschaftssteuer verschiedene Gründe angegeben habe.

Abg. Ledebour (Soz.): Es ist geradezu ungeheuerlich, wie der Abg. Trimborn mit der Wahrheit umspringt. (Präsident Graf zu Stolberg rügt diesen Ausdruck.)

Es folgen weitere persönliche Bemerkungen der Abgg. Sachse (Soz.), Erzberger, Becker⸗Arnsberg, Trimborn, Stadthagen und Ledebour.

Der Präsident gibt das Resultat der Schriftführerwahl bekannt: Von 317 gültigen Stimmen haben erhalten: Abg. Rimpau (nl.) 277, Abg. Freiherr von Thünefeld (Zentr.) 272, Abg. Engelen (Zentr.) 249, Abg. von Bieberstein (dk.) 243,