1909 / 295 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 15 Dec 1909 18:00:01 GMT) scan diff

Großhandelspreise von Getreide an deutschen und fremden 8 Börsenplätzen für die Woche vom 6. bis 11. Dezember 1909

ebst entsprechenden Angaben für die Vorwoche. 1000 kg in Mark.

(Preise für greifbare Ware, soweit nicht etwas anderes bemerkt.)

Das 6./11. egen

Dezbr. or⸗ 1909 woche

168,17] 166,27 220,33 218,38 155,00 154,35

Berlin. 8 Roggen, guter, gesunder, mindestens 712 g das 1

g Weizen, 88 5 755 g das 1 Hafer, . 1 450 g das 1 8 Mannheim. Roggen, Pfälzer, russischer, mittel .. . . .. Weizen, Pfälzer, russischer, amerik., rumän., mittel afer, badischer, russischer, mittel.....

nmittel . . .... Gerste er, mittel .

Wien.

oggen, Pester Boden Weizen, Theiß⸗.. Hrfer ungarischer ... erste, slovakische...

Mais, ungarischer... Buda

Roggen, Mittelware E116“” 188—

Weizen, 4

Hergr. 1 134,27 erste, Futter⸗ 121,30

Mais, 124,10

166,75 238,43 170,00 167,50 130,00

168,75 238,91 170,00 169,38 130,00

171,11 257,52 138,08 152,48 133,84

172,08 256,85 138,18 152,59 133,09

163,78 238,97 134,36 121,43 124,44

Odessa. Roggen, 71 bis 72 kg das hl.. Weizen, Ulka, 75 bis 76 kg das hl Riga.

Roggen, 71 bis 72 kg das hl.. Weizen, 78 bis 79 kg das hl..

Paris.

Noßgen lieferbare Ware des laufenden Monats

120,03 159,17

120,48 159,88

128,69 159,17

128,69 159,22

133,87 191,78

130,03 191,24

8

1 Antwerpen

Donau⸗, mittel . Hdesse v1 Kansas Nr. 2.. öbööö Zö1“ MNr. 2 . Eee¹¹“]; Amsterdam. Petersburger .. 1 weensVZ““ ens hh Winter⸗ amerikanischer bunt.

London.

183,64 174,75 179,19

179,35 181,37 179,35

183,89 175,81 179,85 185,91 180,25 181,87 180,25

132,42 129,21 168,53 172,04 125,55 117,97

166,68 158,86 156,23 124,69 144,24

169,57 162,85

156,30 125,36 147,13

engl. weiß (Mark Lane)

Kol

englisches Getreide, Mittelpreis aus 196 Marktorten (Gazette averages)

TbWI1GGAPAö russischer.. 1 185,13

roter Winter Nr. 2. heah 183,36 187,25

Manitoba Nr. 2.. E““

186,78 133,65

186,16 183,70 187,57 188,04

133,71

Weizen

Australier ... Hafer, englischer weißer ..

Gerste, Futter⸗ russische.

Obefs . . ... amerikan., bunt. La Plata, gelber.

Chicago.

Dezember. s I Dezember

Neu York.

roter Winter Nr. 2 .. Dezember EIII. Dezember. Buenos Aires.

Me - Durchschnittsware .. .. ¹) Angaben liegen nicht vor.

122,70 128,34 123,64

122,64 125,10 122,88

Mais

163,35 162,96 150,04

95,89

167,55 166,46 151,80

97,44

Weizen, Lieferungsware

192,99 184,33 177,08 163,04 114,79

191,79 178,15 173,50 161,45 115,33

Weizen Lieferungsware

Mais

152,34 149,67 106,91] 106,02.

Bemerkungen.

1 Imperial Quarter ist für die Weizennotiz an der Londoner 8xöb = 504 Pfund engl. gerechnet; für die aus den Um⸗ ätzen an 196 Marktorten des Königreichs ermittelten Durchschnitts⸗ en für einheimisches Getreide (Gazette averages) ist 1 Imperial

uarter Weizen = 480, Hafer = 312, Gerste = 400 Pfund engl. emgfseßt; 1 Bushel Weizen = 60, 1 Bushel Mais = 56 Pfund englisch, 1 Pfund englisch = 453,6 g; 1 Last Roggen = 2100, Weizen = 2400, Mais = 2000 kg.

Bei der Umrechnung der Preise in Reichswährung sind die aus den einzelnen Tagesangaben im „Reichsanzeiger“ ermittelten wöchent⸗ lichen ee selkurse an der Berliner gea zugrunde gelegt, und zwar für Wien und Budapest die Kurse auf Wien, für London und Liverpool die Kurse auf London, für Chicago und Neu York die Kurse auf Neu York, für Odessa und Riga die Kurse auf St. Peters⸗ burg, für Paris, Antwerpen und Amsterdam die Kurse auf diese Plätze. Preise in Buenos Aires unter Berücksichtigung der Goldprämie.

Berlin, den 15. Dezember 1909. Kaiserliches Statistisches Amt. van der Borght.

6

Deutscher Reichstag.

11. Sitzung vom 14. Dezember 1909, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Zur zweiten Beratung steht der Entwurf eines Cesee⸗ be⸗ treffend die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaus⸗ haltsetat für das Rechnungsjahr 1909.

Ueber den Anfang der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Staatssekretär des Reichsschatzamts Wermuth:

Meine Herren! Ich habe mir erlaubt, in der Kommission mit⸗ zuteilen, daß bis jetzt von der ausgeworfenen Unterstützung von 4 Millionen Mark etwa 1 ½¼ Millionen ausgegeben worden sind. Es liegt also meines Erachtens zurzeit kein Anlaß vor, die Frage zu erörtern, was zu geschehen hätte, wenn der Fonds erschöpft sein sollte.

Ich nehme von dieser Erörterung zurzeit umsomehr Abstand, als die

Herren, welche die Anregung auf künftige Erhöhung gegeben haben, sich wenigstens vorläufig über die Deckungsfrage nicht ausgelassen haben.

Im übrigen möchte ich hier noch einmal betonen, wie ich in der Kommission eingehend dargelegt habe, daß wir von Anfang an bestrebt gewesen sind, die Unterstützung so rasch und so wirksam wie möglich ins Werk zu setzen und dann an der Hand der natürlich erst zu sammelnden praktischen Erfahrungen so bald wie möglich und so ein⸗ greifend wie möglich die erlassenen Bestimmungen nachträglich zu ver⸗ bessern. Ich glaube, meine Herren, Sie werden aus den Anlagen zu dem mündlichen Bericht Ihrer Kommission ersehen, daß dieses Be⸗ streben ein redliches gewesen ist, und daß die Wünsche, welche vor⸗ gebracht worden sind, nach Tunlichkeit Berücksichtigung gefunden haben, zum großen Teil auf Grund des Beirats der Interessenten selbst, darunter namentlich der Arbeiter. (Hört, hört! rechts.) Ich glaube sagen zu dürfen, daß die meisten Anregungen, welche an uns gelangt sind, sich in den Ihnen vorgelegten neuen Bestimmungen als Vorschrift verkörpert finden. Wir sind aber trotzdem gern bereit, etwaigen weiteren Schwierigkeiten nach Tunlichkeit abzuhelfen, namentlich wenn sie grundsätzlicher Natur sind. Soweit es sich um Einzelbeschwerden handelt, muß ich aber nochmals die Bitte aussprechen, den korrekten und meist auch wirksamen Weg des Landesinstanzenzuges nicht zu verabsäumen.

Mit dieser Bevorwortung, meine Herren, sichere ich nochmals zu, daß wir uns angelegen sein lassen werden, den Unterstützungsgesuchen eine möglichst entgegenkommende und wohlwollende Behandlung zuteil werden zu lassen. (Bravo! in der Mitte.)

Abg. Freiherr von Richthofen⸗Damsdorf (dkons.): Der Grund, warum der erste Redner auf das Zustandekommen des Tabak⸗ steuergesetzes und unsere Beteiligung daran eingegangen ist, ist mir nicht ganz klar. Wir haben in diesem Augenblick weiter nichts zu tun, als ein bestehendes Gesetz wohlwollend auszulegen. Alles übrige ist Beiwerk, dessen Notwendigkeit ich nicht einsehe. Wir können das Vertrauen zu den Einzelstaaten haben, daß sie das Gesetz mit Wohlwollen zur Ausführung bringen. Den Aermsten der Armen soll nach Möglich⸗ keit gegeben werden, das ist unsere Absicht wie die des ganzen Hauses.

bg. Geyer (Soz.): Es wäre sehr angemessen gewesen, wenn noch vor Weihnachten eine gründliche Regelung vorgenommen worden wäre; die vorläufige Regelung durch die Kommission genügt nicht. Es ist gekommen, wie wir vorausgesagt haben; das ÜUnglück ist noch größer, als wir es schilderten, und dabei hat man uns damals der Uebertreibung beschuldigt. 34, 000 Gesuche sind eingereicht worden; diese Zahl entspricht noch keineswegs der Wirklichkeit, denn zahl⸗ reiche Gesuche sind unter allen möglichen Gründen und Vorwänden abgelehnt oder zurückgewiesen worden. Ueber die Priorität des An⸗ trags auf Entschädigung brauchen Sie sich nicht zu streiten, die gebührt der Sozialdemokratie; die Aüwette Sgeszeneten des entrums haben den Gedanken erst aufgegriffen und damit ihre arbeiterfeindliche Haltung zu bemänteln gesucht. Noch 1908 protestierte das Zentrum au energischeste gegen eine Erhöhung der Tabaksteuer; erst nachher sind se umgefallen, und dann hat das Zentrum sogar den Wertzuschlag in der Höhe von 40 % durchgedrückt! Die winterliche Krise in der Tabak⸗ industrie dauert bis in den April hinein, und dazu tritt nun noch der kolossale Rückgang, den die Verteurung aller Lebensmittel über die Arbeiter gebracht hat. Die ganze Sache soll „wohl⸗ wollend“ behandelt werden. Daran hätte man früher denken sollen. Die Ausführungsbestimmungen sind nach jeder Richtung mangelhaft, aber um die Kritik hat sich niemand in der Regierung gekümmert. Allerdings hat der neue Schatzsekretär die Beschwerden der Arbeiter in einer Konferenz entgegengenommen, aber es war zu spät. Sollen die Uebelstände beseitigt werden, dann muß man noch ganz andere Maßnahmen gegenüber den Zolldirektionen ergreifen; es dort noch Unterstützungsgesuche der Erledigung, die vor einem Viertel⸗ jahr eingereicht wurden. Der größte Mangel der Aus⸗ führungsbestimmungen ist der, daß die ganzen Zigaretten⸗ fabriken ausgeschlossen worden sind. Auch da sind zahl⸗ reiche Arbeiter arbeitslos gewordeu. Eine Statistik über die Wirkungen des neuen Tabaksteuergesetzes ist unbedingt notwendig; noch ist uns die Zahl der arbeitslos gewordenen Arbeiter und der zu Grunde gerichteten kleinen Unternehmer nicht an⸗ gegeben. Die Wirkungen des Gesetzes sind gräßlich; sogar Selbst⸗ morde solcher kleinen Unternehmer sind zu verzeichnen. Die vorläufige Erhöhung des Fonds für 1909 auf 2 Millionen bedeutet keine Ab⸗ hilfe; bei gerechter Verteilung wäre der Fonds von 4 Millionen bereits erschöpft, weitere Mittel werden schleunigst zur Verfügung gestellt werden müssen. Auch sonst ist das Elend der Tabakarbeiter noch gesteigert worden; die Löhne der Heimarbeiter sind durch die Unternehmer noch weiter gedrückt worden. Mit dieser Heimarbeit in den elenden Wohnungen, wo die Gesundheitsschädlichkeit des Betriebes die Arbeiter und ihre Frauen und Kinder in beschleunigtem Tempo zu Grunde richtet, muß aufgeräumt werden. Man kann sie sehr 8 be⸗ seitigen, allmählich beseitigen, und man muß sie beseitigen, trotz der beschönigenden Schilderungen, mit denen der Abg. Everling im Frühjahr erfreute. Daß die Beseitigung der Heimarbeit uns dezimieren würde, das wollen wir abwarten; wir wollen sehen, ob wir uns nach den Wahlen hier wiedersehen werden. Die Nationalliberalen sind schuld, daß die Tabaksteuererhöhung gekommen ist, sie haben es dem Schnapsblock erleichtert, die Dinge schlimmer zu machen; der Abg. Dr. Weber ließ den Gedanken los, und der Schnapsblock 8 ihn auf⸗ genommen. (Präsident: Wenn Sie hier von Schnapsblock sprechen, nehme ich an, daß Sie kein Mitglied des Hauses meinen.) Nachdem die Freunde des Abg. Everling aus dem Bülow⸗Block hinaus⸗ geworfen waren, haben sie alles mögliche versucht, die Unternehmer wenigstens für eine Erhöhung von 40 Millionen zu gewinnen. Das haben denn auch die Unternehmer zugestanden, um nur im Block zu bleiben. Die Nationalliberalen sind also schuld an dem ganzen Unglück. Dafür spielen 8 sich jetzt als Wohltäter gegenüber den Arbeitern auf; das ist emagogie. (Ironischer S rechts: Das hat aber gesessen! Prä⸗ sident: Den Ausdruck Demagogie dürfen Sie auf ein Mitglied dieses Hauses nicht anwenden.) Wir bitten den Schatzsekretär, schärfer zuzugreifen und der Verschleppung entgegenzutreten.

Abg. Pachnicke (fr. Vgg.): Von einem 1“ der Liberalen aus dem Block kann necht die Rede sein, denn wir haben in fester Haltung bestimmte Bedingungen gestellt und sind freiwillig zurück⸗ getreten, sobald diese Bedingungen nicht erfüllt wurden. Wer wie die Sozialdemokraten für das Verbot der Heimarbeit eintritt, darf sich nicht beklag n man i chweist, daß er mit einem solchen

Verbot denen, denen es nützen soll, den größten Schaden zufügt. Mit dem Verbot ist gerade den Tabakarbeitern nicht gedient, die vielfach sehr hinfällige Leute sind, und sich sehr schwer in die Fabrik⸗ arbeit hineinfinden können. Man hat es bemängelt, daß die Frage der Entschädigung der Tabakarbeiter schon hier aufgeworfen sei, und daß man nicht bis zur Interpellation über diese Sache gewartet habe. Ich meine aber, wir können nicht 4 Wochen oder länger warten, bis die Interpellationen an die Reihe kommen. Der Reichsschatzsekretär hat das Seinige getan, um diejenige Beschleunigung herbeizuführen, die auch wir wünschen. Die mittleren und unteren Behörden haben sich allerdings Verzögerungen zu schulden kommen lassen. Besonders in den allernächsten Monaten wird man schnell und gründlich ein⸗ greifen müssen. Die freisinnige Fraktionsgemeinschaft wird selbst⸗ verständlich für die Erhöhung der Unterstützungssumme stimmen.

Staatssekretär des Reichsschatzamts Wermuth:

Meine Herren! Auf die vom Herrn Abg. Geyer aufgeworfene Frage, ob auch die Zigarettenindustrie in die Unterstützung einzu⸗ beziehen sei, kann ich eine endgültige Erklärung um deswillen nicht

äbgeben, weil der Bundesrat dazu noch nicht Stellung genommen hat. Ich kann aber nicht bestreiten, daß für die nach seiner Mit⸗ teilung von dem preußischen Herrn Finanzminister vertretene Auf⸗ fassung der Wortlaut des Gesetzes spricht, und daß auch die Gründe, die bei Erlaß des Gesetzes für die Unterstützung geltend gemacht worden sind, sich ausschließlich auf die Tabakarbeiter im engeren Sinne bezogen haben. Man wird nach der Reihenfolge der Artikel kaum umhin können, den Artikel 2a nur auf das alte Tabaksteuergesetz mit seinen Aenderungen zu beziehen, auf welches sogar noch der Artikel 3 sich beschränkt. Erst im Artikel 3 a, nachdem abschließend bemerkt worden ist, daß der Reichskanzler ermächtigt sei, das alte Tabaksteuergesetz neu zu publizieren, erfolgt eine Bestimmung über die Aenderung des Zigarettensteuergesetzes. Das ist ein starker Grund, um anzunehmen, daß der Gesetzgeber hierauf die Unterstützung nicht hat ausdehnen wollen. Im übrigen bin auch ich darüber zweifelhaft, ob eine innere Notwendigkeit dazu vorlag, und ob überhaupt in der Zigaretten⸗ industrie aus Anlaß der Steuergesetzgebung eine wesentliche Arbeiter⸗ entlassung eingetreten ist. Daß ein Konsumrückgang eingetreten sei, möchte ich bezweifeln.

Ich bitte, die Zahl der Unterstützungsgesuche, die ich angegeben habe, nicht in Vergleichung zu bringen mit der Gesamtzahl der in der Tabakindustrie beschäftigten Arbeiter. Wenn von 34 000 Ge⸗ suchen die Rede ist, so bezieht sich der weitaus größte Teil dieser Gesuche auf kurzfristige Entlassungen, wie ich mir erlaubt habe, Ihnen in der Kommission näher darzulegen.

Ich möchte dann noch einmal hervorheben, daß ich die Vertreter sämtlicher Arbeiterorganisationen, die Vertreter aller Arbeitergruppen gehört habe. Die Vertreter der Gewerkschaften ersuchten mich um eine Unterredung, die ich ihnen bereitwillig gewährt habe, und wir haben uns da, wie die Herren mir zugeben werden, aufs unge⸗ zwungenste auseinandergesetzt. Darauf habe ich Veranlassung ge⸗ nommen, nicht nur diese Herren erneut einzuladen und eine formelle Verhandlung herbeizuführen, nicht nur mit Vertretern der Gewerk⸗ schaften, sondern auch mit Vertretern der christlich⸗sozialen und der Hirsch⸗Dunckerschen Vereine, wie ich überhaupt nach Tunlichkeit ver⸗ sucht habe, sämtliche Arbeitervertreter und auch die Vertreter der nichtorganisierten Arbeiter zu berücksichtigen.

Endlich muß ich noch ein Wort zugunsten der lokalen, besonders der Zollbehörden einlegen. Ich erkläre von vorn⸗ herein: wenn der Herr Abg. Geyer aus dem Königreich Sachsen bei der Interpellation eine Fülle von einzelnen Ver⸗ zögerungen und dergleichen zur Sprache bringt, so werde ich ablehnen müssen, auf diese einzelnen Fälle einzugehen, wenn sie nicht mir vorher mitgeteilt werden (sehr richtig!), so daß ich in der Lage bin, sie zu untersuchen. Ich darf aber auch dann aufs dringendste bitten, die Einzelfälle im Instanzenzuge zu erledigen. Wenn gelegentlich eine längere Verzögerung stattgefunden hat einmal bis zu 9 Wochen, wie ich hier ausdrücklich zugebe —, so sind das Fälle, die natürlich der Remedur durch die vorgesetzte Behörde bedürfen. Wenn der In⸗ stanzenzug beschritten worden ist, so ist die Remedur auch regelmäßig erfolgt. Daß Mißstände und Verzögerungen hier und da eingetreten sind, ist selbstverständlich; aber im großen und ganzen haben sich die Behörden auch dieser Aufgabe mit dem größten Eifer angenommen, einer ganz ungewöhnlich schwierigen Aufgabe. In dem Bezirk des größten Unterstützungsbedürfnisses, in Westfalen, sind täglich Hunderte von Gesuchen eingegangen, die eine eingehende sachliche Prüfung er⸗ forderten. Daß eine so große Menge von Gesuchen nicht gleich zu erledigen ist, versteht sich von selbst. Ich kann unbeschadet mancher Unzuträglichkeiten in den Einzelfällen den Behörden nur das Zeugnis ausstellen, daß sie bestrebt gewesen sind, sich ihrer Pflicht nach besten Kräften zu entledigen. (Bravo! rechts.)

Abg. Dr. Burckhardt (wirtsch. Vgg.): Wir sind immer für die Entschädigung der Tabakarbeiter, der ärmsten unter den deutschen Arbeitern, gewesen, und wir haben 1906 mit Rücksicht auf sie von der Erhöhung der Tabaksteuer abgesehen. Die Relonallileralen sind allerdings schuld an dem neuen Gesetz, denn sie haben den Tabakverein mürbe gemacht, bis er darauf einging; aber auch die Sozialdemokraten sind daran schuld, da sie die Priorität für den Entschädigungsantrag haben, und gerade die Entschädigung viele Abgeordnete hat, dem Gesetz zuzustimmen. Meine Fraktion war einstimmig gegen die Tabakbanderolesteuer. Der Staatssekretär sagte damals mit Recht, das Wort „Entschädigung“ gewähre einen Anspruch allen, die irgendwie einmal eine Schädigung erleiden, und deshalb wurde „Unterstützung“ gesagt. Die Hauptsache ist doch, daß die Arbeiter das Geld bekommen. Die Beschwerden über die Aus⸗ führung des Gesetzes werden hoffentlich durch die neuen Aus⸗ führungsbestimmungen beseitigt werden. Für die Erhöhung der Summe im laufenden Etat um eine halbe Million sind wir auch. In der Heimarbeitfrage hat sich die Sozialdemokratie nicht als arbeiter⸗ freundlich gezeigt. Die Arbeiter in den Tabakfabriken mögen ja die Heimarbeit nicht wollen, aber die Heimarbeiter werden schon sehen, 9 ihre Freunde sitzen und daß die Sozialdemokraten nicht dazu ge⸗ hören. .

Abg. Erzberger (Zentr.): Nachdem die Ausführungsbestimmungen erlassen sind, wollen wir abwarten, wie die Sache wird. Der Abg. Everling hat nicht bewiesen, daß die Arbeiter darum weniger be⸗ kommen haben, weil wir nicht „Entschädigung“, sondern „Unter⸗ stützung“ gesagt haben. Die Tabakarbeiter dürfen das Zutrauen haben, daß wir sie nicht im Stich lassen werden, und ich kann nicht einsehen, warum der Abg. Everling schon ungelegte Eier ausbrütet. In der Zahl von 34 000 Gesuchen sind viele, die von derselben Person wiederholt eingereicht sind. Ich bitte den Staatssekretär, festzustellen, ob auch in der Zigarettenindustrie Arbeiter entschädigungsbedürftig geworden sind. Nicht die Priorität in der Entschädigungs⸗ frage ist entscheidend, sondern der Umstand, welche Parteien das Gesetz zu stande gebracht haben. Die Scozialdemo⸗ kraten haben gegen den Ibe Giesberts gestimmt,

nachdem ihr eigener unausführbarer Antrag abgelehnt worden war. (Lebhafter 2 ruch bei den Sozialdemokraten.) Dann

leiden Sie an Gedächtnisschwäche, die Sache scheint Ihnen unangenehm zu sein. Sorgen Sie nur für eine richtige Kenntnis des Gesetzes, dann werden die Beschwerden der Arbeiter verschwinden. Man muß erst die Wirkung der Ausführungs⸗ bestimmungen abwarten, denen rückwirkende Kraft beigelegt ist. Bei Ablehnung in der ersten Instanz steht den Arbeitern noch die Beschwerdeinstanz offen. Sie können an das Finanzministerium ihres Einzelstaates gehen. Die Beschwerden im Reichsschatzamt sind ver⸗ gebens. Meine politischen Freunde haben der Tabaksteuer nur zugestimmt, weil wir wußten, daß, wenn wir nicht mitarbeiteten, sondern die Nationalliberalen arbeiten ließen, die Schädigung für die Tabakindustrie sehr viel größer sein würde. Die National⸗ liberalen haben 80 % Wertzollzuschlag vorgeschlagen, wir haben die Hälfte davon angenommen. Das Zentrum jetzt anzuklagen, gehört in das Kapitel der politischen Heuchelei ersten Ranges. Wenn die Nationalliberalen nachher anderer Arsicht werden, dürfen sie uns doch nicht anklagen, die wir uns nicht so schnell zu wandeln vermögen. Der Abg. Everling will die Heimarbeit erhalten, aber ihren schädlichen Auswüchsen entgegentreten; warum haben dann aber in der Gewerbekommission gerade die Nationalliberalen der Schaffung amtlicher Lohnämter, einem eminenten sozialpolitischen Fortschritt, so entschiedenen Widerstand geleistet? Unser Antrag auf Erhöhung der Nachtragsetatssumme für 1909 um eine halbe Million ist in der Kommission einstimmig angenommen worden, ebenso die Resolution. Wir hoffen, daß auch das Plenum einstimmig in gleichem Sinne be⸗ schließen wird. 8

Abg. Dr. Weber (nl.): Auch der Vorredner hat sich hier mehrfach bemüht, ungelegte Eier auszubrüten. Bis zu der Zeit, wo unsere Anträge zur Tabaksteuer vorbereitet wurden, hatten sich der Tabakverein und die Tabakindustrie ausgeschwiegen. Aus der Sub⸗ kommission erhielten die Herren vom Tabakverein nicht von mir, sondern von einem Mitgliede des Zentrums Mitteilung von der An⸗ regung wegen des Wertzuschlags, sie kamen zu mir, wiesen mir aus ihren Büchern die Undurchführbarkeit nach und ich brachte deshalb einen anderen Antrag, den Antrag Weber⸗Mommsen ein, der nicht 60, sondern nur 32 Millionen bringen sollte. Die Mehrheit hat dann freilich den Wertzuschlag durchgesetzt, der gegen den Widerspruch des ganzen Gewerbes zu stande gekommen ist. Auch die Broschüre Erzberger, welche die Branntweinliebesgabe aus der Welt zu schaffen als Aufgabe und Absicht des Zentrums hinstellte, schaffen Sie durch Ableugnen nicht aus der Welt, und darum hat gerade das Zentrum jedes Recht verwirkt, uns die Vorwürfe zu machen, die heute wieder gegen unsere Haltung erhoben sind. Wir haben aber unsere Mitwirkung nicht etwa versagt, sondern haben eifrig an der schließlichen Gestaltung des Gesetzes mitgeholfen und viel Gutes hineingebracht, was uns sogar von Zentrumsrednern be⸗ stätigt worden ist. Was die Sache mit dem Block zu tun haben soll, verstehe ich nicht. Man hat uns nicht aus dem Block hinausgesetzt, sondern wir sind gegangen, und die Sozialdemokraten sind an dem Tage hinter uns hergelaufen. Dem Abg. Everling sollte der Abg. Erzberger doch dankbar sein, daß er ihm durch seine Ausführungen zu seiner ausgezeichneten Rede Gelegenheit ge⸗ geben hat! Den Abg. Burckhardt frage ich: Glaubt er denn, daß, wenn statt 4 Millionen 8 Millionen zur Unterstützung von Tabakarbeitern beschlossen werden würden, die verbündeten Regierungen die ganze Finanzreform hätten scheitern lassen? Wenn man von Demagogie und Steuerverhetzung seitens der Liberalen spricht, so sollte der Abg. Dr. Burckhardt zunächst einmal vor seiner eigenen Türe kehren, ebenso wie die Sozialdemokraten, die die Demagogie aus dem FF ver⸗ stehen. Die Sozialdemokraten brauchen ja auch indirekte Steuern, wenn sie einmal zur Herrschaft gelangt sein werden, das hat ihnen ihr Führer Engels 1892 selbst attestiert. Das Märchen von dem 40⸗Millionen⸗Wertzuschlag ist heute wiederholt worden; es war kein Antrag von mir, sondern ein der Subkommission gemachter vertrau⸗ licher Vorschlag.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Der Abg. Erzberger hat behauptet, wir hätten gegen den Antrag Giesberts gestimmt. Das ist das Gegenteil der Wahrheit; der stenographische Bericht ergibt, daß der Antrag Giesberts in zweiter Lesung mit allen gegen 12 Deutsch⸗ Konservative angenommen worden ist. In dritter Lesung haben wir gegen einen Verschlechterungsantrag Giesberts gestimmt, der aber an⸗ genommen wurde; wäre er abgelehnt, so wäre der Beschluß zweiter Lesung, für den wir eintraten, nochmals zur Abstimmung gekommen. Also mit dieser Legende werden Sie nur da Geschäfte machen können, wo Sie es mit ganz dummen Leuten zu tun haben. Die Regierung hätte zunächst allgemeine Grundsätze aufstellen müssen, nach denen die Entschädigungen zu zahlen waren. Die provisorischen Vorschläge der Regierung schlossen eigentlich jede Unterstützung ziemlich aus, denn es sollten keine Unterstützung erhalten die Arbeiter, die nach ihrer Zahl diejenigen Arbeiter überstiegen, die im Vorjahre durchschnittlich beschäftigt waren. So blieb eine ganze Anzahl von Arbeitern ohne Entschädigung. Man hat nun den Versuch gemacht, durch Ausführungsbestimmungen das Versäumte nachzuholen. Aber auch diese Bestimmungen genügen nicht. So erhalten z. B. die Kistenmacher und Kleber, die außerhalb der Fabrikstätte arbeiten, keine Entschädigung. Ferner erhalten diejenigen Arbeiter keine Entschädigung, die auf Grund des § 23 der Gewerbeordnung entlassen werden, nämlich wenn sie zur Fortsetzung der Arbeit unfähig. eworden sind oder an einer ansteckenden Krankheit leiden. Was das Gesetz selbst anbetrifft, so ist auffallend, daß Ausführungsbestimmungen erlassen sind, die eine höhere Zollerhebung gestatten, als sie der Reichstag bewilligt hat. Nehmen wir den Fall, ein Fabrikant kauft sich für 1000 Tabak im Freihafengebiet und stellt ihn zur Ver⸗ steuerung, er zahlt gleich bar; er müßte nach dem Tabaksteuergesetz 400 Steuern bezahlen, der Beamte 8 aber 430 ℳ. Warum? Nach den Ausführungsbestimmungen gilt als Wert das⸗ jenige, was der Käufer sechs Monate nach der Erwerbung für den Tabak zu zahlen gehabt hätte. Hat er bar bezahlt, so wird für jeden Monat ½ % zugerechnet. Mit demselben Rechte könnte die Be⸗ hörde auch 1 %, 10 % oder 100 % fordern, indem sie statt 6 Monate 6 Jahre oder 60 Jahre ansetzt.

Abg. Erzberger (Zentr.): Der Abg. Molkenbuhr hat bestätigt, daß die Sozialdemokraten in der dritten entscheidenden Lesung gegen den Antrag Giesberts gestimmt haben. (Großer Lärm bei den Sozial⸗ demokraten. Erregte Zwischenrufe: Unwahrheit! Verleumdung! Unerhört!) Ich habe ja nicht gesagt, daß Sie gegen die Tabak⸗ arbeiterunterstützung gestimmt haben. Sie haben aber zugegeben, daß Sie in dritter Lesung gegen den Antrag Giesberts mit den 4 Millionen gestimmt haben. (Wiederholter Lärm bei den Sozialdemokraten und Zwischenrufe.) Nun sagen die Sozialdemokraten, der Beschluß dritter Lesung sei eine Verschlechterung des Beschlusses zweiter Lesung. Es handelt sich aber doch darum, daß sich in Ueberein⸗ stimmung mit dem Bundesrat eine Mehrheit bildete, die wenigstens etwas für die Tabakarbeiter erreichte. Wenn man an dem Beschluß zweiter Lesung festgehalten hätte, dann wäre überhaupt keine Mehrheit für das Tabaksteuergesetz gewesen. Es kam darauf an, die große nationale Aufgabe der Reichs⸗ finanzreform zu erfüllen. Das mag Ihnen (zu den Sozial⸗ demokraten) unangenehm sein. Der Abg. Weber hat ein kurzes Gedächtnis. Mein Freund Müller⸗Fulda ist nicht allein der Urheber des Wertzuschlages, sondern neben diesem stand auf dem Antrag auch der Abg. Paasche. Haben Sie den enc aus Ihrer Fraktion aus⸗ geschlossen? Schon 1893 haben die Nationalliberalen das vor⸗ geschlagen, was jetzt im Gesetz steht, und damals haben die Nationalliberalen den Wertzuschlag von 80 % vorgeschlagen, und zwar nach dem eigenen Anerkenntnis des Abg. Stresemann zu dem Zweck, den Tabakverein aus seiner Reserve herauszubringen. Der Tabakverein erklärte sich dann mit 40 % einverstanden; das ist also kein Märchen, sondern Herr Biermann in Bremen hat selbst zugegeben, daß der Tabakverein aus politischen Gründen nachgegeben hätte, weil die Erhaltung des Blocks es erfordere, daß die National⸗ liberalen eine andere Stellung einnähmen. Ich bleibe dabei, daß der zweite Vorschlag der Nationalliberalen nicht 32, sondern 60 Millionen eingebracht hätte; die Nationalliberalen haben den Tabak höher be⸗ lasten wollen, als wir ihn schließlich im Gesetz belastet haben. Der Abg. .“ 8 1 8 11 11““ 1u“

Bassermann hat es bei den Wahlen 1906 in Flugblättern und Wahl⸗ reden als falsch und als eine Verhetzung des Volkes hingestellt, daß der neue Reichstag überhaupt mit neuen Steuern beschäftigt werden solle. Wenn damals ein Wahlkandidat gesagt hätte, daß 500 Millionen neue Steuern kommen würden, so wären die Nationalliberalen über ihn hergefallen. Sowohl die Nationalliberalen wie die Freisinnigen haben 1906 in Abrede gestellt, daß sie weitere indirekte Steuern bewilligen würden, und immer gesagt, daß die neuen Steuern durch direkte Besteuerung des Besitzes aufgebracht werden müßten.

Abg. Dr. Burckhardt (wirtsch. Vgg.): Wenn wir den National⸗ liberalen in der Agitation über wären, so wäre das ganz schön, dann würden wir sehr bald mit ihnen fertig sein; aber ob die Agitation in ehrlicher, reeller Weise gemacht wird, das ist die Frage. In meinem Wahlkreise ist von den Arbeitgebern den Arbeitern gesagt worden: jetzt habt Ihr Euren Burckhardt, den Millionär was leider nicht der Fall ist —, er hat jetzt den armen Leuten die Steuern aufgehalst und die reichen Leute verschont. Ist das nicht eine Unwahrheit? Ist das nicht Agitätion, wenn man erst für die Finanzreform ist, dann aber alle Steuern ablehnt und in der Oeffent⸗ lichkeit; gegen die anderen hetzt, wie der Abg. Vogel getan hat? Die Sozialdemokraten mögen wohl für den Entschädigungsanspruch gewesen sein, aber es kommt doch nicht auf ihre Motive, sondern auf die Wirkung an.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): In der Oeffentlichkeit ist die Verleum⸗ dung fabriziert worden, die Sozialdemokraten hätten im Reichstage gegen die Entschädigung der Arbeiter gestimmt, und jetzt behauptet auch der Abg. Erzberger hier, daß wir gegen den Antrag Giesberts gestimmt hätten. Es lagen dem Hause zwei Anträge Giesberts vor, der eine beantragte die Unterstützung, und der zweite wollte den ersten Antrag wieder verschlechtern. Wir haben für den ersten Antrag gestimmt, aber gegen den Verschlechterungsantrag. Nun sagt der Abg. Erzberger, die Verschlechterung war nötig, weil sonst das ganze Tabaksteuer⸗ gesetz gefallen wäre. Nun, wenn das im Lande bekannt wird, daß das Zentrum nur eine Verschlechterung beantragt hat, um das Tabak⸗ steuergesetz zu retten, so wird es in den Augen der Tabakarbeiter gewiß nicht gewinnen. Die Lage der Arbeiter zu verschlechtern, um ein Steuergesetz zu retten, das die Arbeiter aufs schwerste schädigt, das ist die Eigenart, wie das Zentrum Sozialpolitik macht. Ich danke dem Abg. Erzberger für dieses Anerkenntnis.

Freiherr von Gamp⸗Massaunen (Rp.): Befürchten Sie nicht, daß ich Ihre Zeit lange in Anspruch nehme. Ich war ich kann wohl sagen, erfreulicherweise verhindert, dem ersten Teil der Sitzung beizuwohnen, habe aber doch so viel gehört, daß ein edler Wettstreit zwischen den Parteien entstanden ist, wer das Haupt⸗ verdienst, für die Interessen der Arbeiter eingetreten zu sein, für sich in Anspruch nehmen darf. Ich bedaure sehr, die Illusionen all der Redner, die dieses Verdienst für sich beanspruchten, zerstören zu müssen. Ich kann den urkundlichen Beweis dafür liefern, daß keiner anderen Partei als der Reichspartei dieses Verdienst zukommt. In der Plenarsitzung vom 23. November bei der ersten Lesung der Finanzreform führte ich aus: „Ich würde glauben,

die Anregung ist vom Fürsten Hatzfeldt gegeben —, daß dieser Anregung eine weitere Folge gegeben wird, und daß man einen erheblichen Betrag in den Etat einsetzen sollte für die Ent⸗ schädigung von Arbeitern und Kleinunternehmern, um die Arbeiter möglichst anderen Gewerben zuzuführen. Das ist nach meiner Ansicht die beste Fürsorge für die Arbeiter.“ Auch die Herren von der Sozialdemokratie fühlten sich damals nicht veranlaßt, für diese An⸗ regung einzutreten. Das ist noch begreiflich; man kann sagen, dazu sind die Kommissionsberatungen da. Aber nach dem Protokoll über die Generaldebatte über die Tabaksteuer vom 13. Mai 1909 habe ich die Anregung wiederholt und hinzugefügt, daß ihr um so mehr zu⸗ gestimmt werden könne, als auch in anderen ähnlichen Fällen Ent⸗ schädigung gewährt sei, und ich stellte entsprechende Anträge in Aus⸗ sicht. Dieser Anregung wurde entschieden widersprochen von einem Vertreter der freisinnigen Partei. Unterstützt wurde der Antrag von keiner Partei. Ich habe in persönlichen Unterhaltungen auch mit Herren der nationalliberalen Partei wiederholt diesen Gedanken angeregt und habe nie das geringste Entgegenkommen gefunden. Auch dem damaligen Schatzsekretär Sydow gegenüber habe ich den Gedanken sehr warm vertreten und bin glatt abgefallen. Auch in der Kommission erklärte sich die Sozialdemokratie, die doch immer be⸗ hauptet, allein die Arbeiterinteressen zu vertreten, nicht für unseren Plan. Lediglich um die historische Wahrheit festzustellen, habe ich mich für verpflichtet gehalten, diese Ausführungen zu machen.

Abg. Dr. Weber inl.): Ich gebe zu, daß Freiherr von Gamp der⸗ jenige gewesen ist, der den Gedanken einer Eutschädigung angeregt und befürwortet hat. Seinerzeit in der Kommission gingen aber unsere Ausführungen darauf hinaus, daß die Sache uns momentan noch nicht spruchreif erschien. Das Zentrum hatte damals den Antrag auf eine Arbeitslosenversicherung für das ganze Reich gestellt. Ein süddeutscher Abgeordneter vom Zentrum hat es so dargestellt, als ob die Parteien der Regierung ihm ihren Plan vorgelegt hätten mit den Worten: Friß Vogel oder stirb. Der Abg. Erzberger hat in seiner Broschüre erklärt, das Zentrum würde gegen alle indirekten Steuern stimmen, wenn nicht die Liebesgabe beseitigt würde. Der Abg. Bassermann aber hat nicht geschworen, daß er gegen indirekte Steuern stimmen würde. Wir beantragten allerdings eim Tabak 80 % Wertzollzuschlag. Der Ertrag unseres Vor⸗ schlages war jedoch nur auf 43 Millionen berechnet. Der Schatz⸗ sekretär berechnete bhn sogar nur auf 33. Man sollte mit den An⸗ griffen gegen unsere Steuerpolitik etwas zurückhaltend sein. Die Blamierten sind nicht die Nationalliberalen, sondern diejenigen, die die Steuern geschaffen haben.

Abg. Vogel (nl.): Ich habe es grundsätzlich vermieden, in der erwähnten Versammlung den Namen des Abg. Burckhardt zu nennen, und habe ausdrücklich betont, daß die höhere Besteuerung des Brannt⸗ weins, Biers und Tabaks notwenvig gewesen sei.

Abg. Hormann⸗Bremen (fr. Volksp.): Die Freisinnigen sind selbstverständlich im Prinzip für die Entschädigung der Arbeiter ewesen. Aber wir haben von vornherein auf das Gefährliche solcher Maßnahmen hingewiesen. Wo kommen wir hin, wenn wir diesen Weg bei anderen Gesetzen weiter verfolgen?

Mit einer kurzen Bemerkung des Abg. Freiherrn von Gamp schließt die Diskussion.

Der Nachtragsetat wird nach den Anträgen der Budget⸗ kommission bewilligt, die Resolution angenommen.

In zweiter Lesung wird der Nachtragsetat zum Etat für 1909 für die Schutzgebiete, durch den u. a. für Kiautschou⸗ 54 474 nachgefordert werden, ohne Diskussion unverändert bewilligt.

Es folgt die Verlesung der Interpellationen, betreffend Arbeitsnachweis. Das Zentrum hat folgende Interpellation eingebracht: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß Arbeitgeber⸗ verbände, insbesondere im Bergbau des Ruhrreviers, durch einseitige Organisation des Arbeitsnachweises mit Zwangscharakter die Rechte der Arbeiter, namentlich die Vertragsfreiheit und die Freizügigkeit gefährden? Welche Maßnahmen gedenkt der Herr Reichskanzler gegenüber diesen Bestrebungen zu ergreifen?“ Die Interpellation der Sozialdemokraten lautet, wie olgt: folg „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß die Bergwerks⸗ besitzer im Ruhrrevier am 1. Januar 1910 einen einseitigen Arbeitsnachweis zwangsweise einzuführen gedenken, und daß die Arbeiter, davon große wirtschaftliche Nachteile befürchtend, sich der Einführung widersetzen, so daß ein ungeheurer wirtschaftlicher Kampf zu erwarten ist? Ist der Herr Reichskanzler, um diese arbeiterschädliche Maßnahme des Zechenschutzverbandes zu verhindern, bereit, dem Bundesrat und Reichstag baldmöglich einen Gesetz⸗ entwurf vorzulegen, durch den der Arbeitsnachweis von Reichs wegen einheitlich und auf paritätischer Grundlage geordnet wird?“

8 —— 8 4

Auf die Frage des Ersten Vizepräsidenten Spahn erklärt der Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär Delbrück,

sich bereit, die Interpellationen heute zu beantworten. Zur Begründung der Interpellation des Zentrums erhält das Wort der Abg. Giesberts (Zentr.): Die Unzufriedenheit der Bergarbeiter im

Ruhrrevier ist seit Längerer Zeit durch die Stellungnahme der Unternehmerschaft gesteigert worden. Die Zechenbesitzer haben sich in dem Zechenverbande zusammengeschlossen und ein Sperrsystem zur Durchführung gebracht, das auch der Staatssekretär im vorigen Winter beanstandete, insofern er auch seinerseits eventuell den Ausschluß des Bergarbeiters von jeder Arbeit auf 6 Monate gegen⸗ über dem Kontraktbruch für eine unverhältnismäßig harte Maßnahm erklärte. Jetzt ist der neue Arbeitsnachweis geschafeen worden, den die Zechenbesitzer für sich monopolisieren wollen. Die Arbeiter⸗ organisationen haben sich beschwerdeführend an den preußischen Handelsminister gewandt und eine Antwort erhalten, Beschwerden unbegründet seien, weil der Arbeitsnachweis keine arbeiterfeindlichen Ziele verfolge. It dein bbbn es doch kaum zn verstehen, weshalb die Zecheneigentümer eine so harmlose Sache ohne die Mitwirkung der Arbeiter ins Leben riefen. Aber dieser Arbeitsnachweis ist, wie alle Arbeitsnachweise der Industrie⸗ herren, keineswegs so harmlos, wie es dargestellt wird. Es wird mit großer Willkür alles mögliche für Kontraktbruch erklärk; die Förde⸗ rung des „Solls“ an Kohlen wird in einem Grade gesteigert, daß un⸗ haltbare Zustände die Folge sein müssen; das Prämiensystem wird immer weiter ausgestaltet; und dem Mißmut, der Empörung, dem Widerstand der Bergarbeiter gegen den aus allen diesen Mißständen erwachsenden Druck soll der Arbeitsnachweis entgegenwirken, der natürlich auch die Ueberflutung des Ruhrkoöhlenreviers mit aus⸗ ländischen Arbeitskräften durch die Zentralisierung des Werbesystems immer weiter ausdehnen muß. Die bisherigen gesetzgeberischen Versuche auf diesem Gebiete gehen dahin, den auf dem Gebiete des privaten Stellenvermittlungswesens zu Tage ge⸗ tretenen Mißständen entgegenzutreten. Es ist uns ja ein Gesetz⸗ entwurf angekündigt worden, der diese Materie betrifft, und wir werden ihn sorgfältig zu prüfen haben. Der Arbeitsnachweis soll kein Kampfobjekt zwischen Arbeitern und Arbeitgebern sein. Auf diesen Standpunkt haben sich die Sozialpolitiker und auch die Arbeiter⸗ organisationen gestellt. Man verlangt deshalb paritätische Arbeits⸗ nachweise. Nur die Unternehmer halten an einseitigen Arbeits⸗ nachweisen fest; allerdings haben auch die Regierungen und die Kommunalbehörden für den paritätischen Nachweis noch kein rechtes Verständnis. Was wollen die einseitigen Arbeitgebernachweise? Aus den Konferenzen der Arbeitsnachweise nach dem sogeannnten Hamburger System geht klar hervor, daß diese Nachweise die schärfste Waffe sein sollen gegen Streik. Jedem Streik soll durch die Sperre begegnet werden. Agitatoren seien grundsätzlich und dauernd zu sperren, denn eine Belehrung solcher Elemente sei ausgeschlossen. Die Arbeitsnachweise sollen der Kontrolle der ausgesperrten Arbeiter dienen, eine Lahmlegung des Streiks ermöglichen und einen Einfluß auf die Lohnfrage gewährleisten und zugleich die Macht der Arbeit⸗ geberverbände stärken. Auf der letzten Konferenz der Arbeitgeber⸗ verbände Deutschlands hat man eine Annäherung der Arbeitsnachweise beschlossen, und in nicht zu ferner Zeit wird eine systematische Kartellierung sämtlicher Unternehmerarbeitsnachweise erfolgen. Gewiß müssen die Arbeitgeber an ihre Arbeiterschaft ganz besondere An⸗ forderungen stellen.é Aber diese Aufgabe können auch die paritätischen Arbeitsnachweise erfüllen. Ueber die Art, wie die Unternehmerarbeits⸗ nachweise vorgehen, belehrt uns eine Broschüre, die unter dem Titel: Aus der Praxis eines Arbeitsnachweises im Verlage der Christlichen Gewerkschaften in Cöln erschienen und uns zugegangen ist. Der Arbeits⸗ nachweis in Mannheim⸗Ludwigshafen hat ein raffiniertes System aus⸗

eklügelt, um die unliebsamen Arbeiter nach Möglichkeit von diesem Industriebezirk fernzuhalten. Es wird eine Personalkarte ausgegeben, in die bestimmte Vermerke eingetragen werden, die den Arbeiter kenn⸗

zeichnen sollen nach seiner Qualifikation. Das Urteil hierüber fällen aber einfache Werkmeister und Betriebsbeamte, die oft nicht objektiv, sondern einseitig entscheiden. Der Kernpunkt des Arbeitsnachweises ist das schwarze Buch, in dem alle Arbeiter verzeichnet werden, die von den Arbeitgebern mit bestimmten Merkzeichen signalisiert werden. Man hat in der Presse das Bestehen dieses schwarzen Buches ge⸗ leugnet und auch bestritten, daß 1300 Leute darin stehen. Ich kann Ihnen aber Abschriften zeigen. Es bedeutet z. B. das Kennzeichen

„z. k.“: „zu keinem“, d. h. daß der Arbeiter zu keinem Betrieb mehr geschickt werden soll. Die Arbeiter haben gar keinen Einfluß, die An⸗

gaben im schwarzen Buche zu korrigieren, sie wissen ja nicht, ob und, unter welchem Zeichen sie eingetragen sind. Einzelne Arbeitgeber

begnügen sich damit noch nicht, die bekannte Firma Lanz in Mann⸗

heim führt noch für sich eine besondere schwarze Liste.

Wer in diese Liste hineinkommt, wird niemals wieder von dieser

Firma angenommen, der Arbeitsnachweis wird davon verständigt.

Der Arbeitsnachweis wird auch durch die Form des Stempels auf

den Ausweisschein des austretenden Arbeiters verständigt; ist der

Stempel lang, so bedeutet das, daß die Firma nichts gegen die

Wiedereinstellung hat, ist der Stempel rund, so bedeutet es, daß der Arbeiter nicht wieder von der Firma angenommen wird. Es i ein

so infam und niederträchtig ausgeklügeltes System, daß der Arbeiter

selbst sein Unglück und sein Elend zum Arbeitsnachweis tragen muß.

So kommt es, daß allein 4 5000 Arbeiter für die eine

Firma vom Arbeitsnachweis ausgeschlossen sind. Eine Firma 1 man behilft sich mit Nummernangaben meldet die und die Arbeiter als Hauptagitatoren, als Pfuscher, Aufwiegler, Faulpelze, Partei⸗

ausschußmitglieder, als solche mit hohen Lohnansprüchen usw.

Es wird Feabfichtigt, möglichst die Arbeiter brotlos zu machen, die einer Arbeiterorganisation angehören. Aus einem Zirkular des Arbeitsnachweises für die Industrie in Mannheim und Ludwigshafen geht hervor, daß man nicht nur streikende Arbeiter, sondern auch deren Frauen und Töchter kontrolliert. Gerade darum hat wesentlich der große Kampf der Metallarbeiter getobt. Die Arbeitgebernachweise sind somit eine drohende Beunruhigung für den sozialen Frieden in Deutschland. Ich würde es ungeheuer bedauern, wenn auch unsere

andwerker sich von den Scharfmacherarbeitsnachweisen ins

chlepptau nehmen ließen. Die Arbeitsnachweise sollten gemeinsam mit den Arbeiterorganisationen geschaffen werden. Der preußische Handelsminister ist einseitig durch die Zechenbesitzer in seinem Urteil beeinflußt worden. Die Absicht geht zunächst dahin, ausländische Arbeiter heranzuziehen und die Löhne zu drücken

und ferner die gewerkschaftlichen Organisationen zurückzudrängen.

Als weiterer Zweck dieses zentralisierten Arbeitsnachweises stellt sich

die Zerstörung der gewerkschaftlichen Organisationen und die Kon⸗ trollierung von Streiks, sowie die Verhinderung der Arbeiter, wirt⸗

schaftliche Konjunkturen auszunutzen, dar. Nach den Vorkommnissen aus dem Saargebiet hinsichtlich der Wahlen müssen wir sogar an⸗ nehmen, daß dieser Arbeitsnachweis auch politische Machinationen er⸗ möglichen soll. An die schöne Harmlosigkeit dieses Arbeitsnachweises der Zechenbesitzer glauben wir so lange nicht, als die Parität von ihm nicht zugestanden wird. Die Bergarbeiterverbände haben sich einmütig gegen ihn ausgesprochen. Der preußische Handelsminister hat den Verbänden geantwortet, es fehle im Ruhr⸗ gebiet an Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenwirken von Arbeitern und Arbeitgebert. Ich muß das entschieden be⸗ streiten; Gegensätze sind ja vorhanden, aber nicht heftigere als in anderen industriellen Gebieten Deutschlands. Den ausgeprägten Herrenstandpunkt der Montanindustriellen hat doch auch der jetzige Staatssekretär schon bei früherer Gelegenheit öffentlich abgelehnt, die heutigen Unternehmer wollen ja gewiß auch kein Herrentum nach mittelalterlichen, aber eines nach modernen Grundsätzen. Die heutige Zeit verlangt aber Gleichberechtigung, und auf diesen Begriff paßt die Maßnahme des Zechenverbandes wie die Faust aufs Auge. Wir müssen verlangen, daß die Regierung sich des Ernstes der Situation bewußt wird, denn die Urheber des Arbeitsnachweises trifft die volle und ausschließliche Verantwortung für die Folgen, die daraus

erwachsen können. Das Arbeitsnachweiswesen muß gesetzlich geregelt

8 * 8

*