erhalte, daß sich Eigenart in Unduldsamkeit versteinere. Preußen muß sich den Zusammenhang mit der gesamtdeutschen Entwicklung erhalten. Dazu gehört nicht nur Achtung und Verständnis für die besonderen politischen und Kulturwerte, die mittel⸗ und süddeutsches Wesen geschaffen haben, sondern vor allem, daß sich Preußen selbst stark erhält, dann aber diese seine Stärke dem Reiche dienstbar macht.
Wenn Sie, meine Herren, und damit will ich schließen, bei der Betrachtung der gesamten Wahlrechtsfrage neben dem agitatorischen Beiwerk auch solche Gesichtspunkte, wie ich sie anzugeben mir erlaubt habe, zu ihrem Rechte kommen lassen, dann werden Sie Beschlüsse finden, die dem Wohl nicht nur Preußens, sondern auch des Deutschen Reiches dienen. (Lebhaftes anhaltendes Bravo! Zischen bei den Sozialdemokraten.)
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Minister des Innern von Moltke: v“
Meine Herren! Nach den Ausführungen des Herrn Präsidenten des Staatsministeriums fällt mir die Aufgabe zu, Ihren Blick auf die Einzelheiten der Ihnen unterbreiteten Vorlage zu lenken, Sie in medias res zu führen und Ihnen von dem Aufbau und Inhalt der Vorlage in technischer und rechtlicher Beziehung Kenntnis zu geben.
Es handelt sich zunächst, staatsrechtlich betrachtet, bei dem Erlaß des vorgeschlagenen Gesetzes um eine Verfassungsänderung. Die bis⸗ herigen Wahlvorschriften, die Verordnung vom 30. Mai 1849 mit ihren Abänderungs⸗ und Ergänzungsgesetzen, die alle durch das neue Gesetz ersetzt werden sollen, standen ihrem ganzen Umfang nach und in allen Einzelheiten ihrer Bestimmungen unter dem Schutze der Verfassung. Der Artikel 115 der Verfassung, welcher dieses vor⸗ schreibt, wird durch das Gesetz erübrigt, desgleichen die Verordnung vom 30. Mai 1849 und die einschlägigen Artikel 70 und folgende der Verfassungsurkunde. (Unruhe — Glocke des Präsidenten.) Die Verhandlungen über den vorliegenden Gesetzentwurf müssen daher in den Formen der Verfassungsänderung geschehen, welche in Art. 107 der Verfassungsurkunde vorgeschrieben sind.
Als Zeitpunkt für die erste Anwendung des neuen Gesetzes sind die ersten, nach dem formellen Inkrafttreten des Gesetzes stattfindenden allgemeinen Neuwahlen zum Hause der Abgeordneten gedacht. Vorher wird alles zur Ausführung des Gesetzes Erforderliche vorgenommen werden müssen; insbesondere wird die in § 27 des Gesetzentwurfs vorgesehene „Wahlordnung“ erlassen werden müssen, welche bestimmt sein wird, an die Stelle des heutigen „Wahlreglements“ zu treten, und dessen Inhalt es ersetzen muß. Für inzwischen notwendig werdende inzelne Ersatzwahlen sollen die bisherigen Vorschriften noch Gültig⸗ keit behalten.
Dem Inhalte nach betrifft der Entwurf nur das materielle Wahlrecht und das Wahlverfahren, dessen bedeutende Vereinfachung eine Folge der vorgesehenen unmittelbaren Wahl der Abgeordneten urch die sämtlichen Wähler ist. Die Wahl der Wahlmänner fällt fort; der bisherige zweifache Akt, die Wahl der Wahlmänner und die Abgeordnetenwahl fallen zusammen. Das bedingt bei Stich⸗, Nach⸗ und Ersatzwahlen allerdings die bisher nicht erforderliche erneute Zu⸗ sammenberufung aller Wähler. (Unruhe — Glocke des Präsidenten.)
8 Die heutigen Verkehrsverhältnisse und die großen Erleichterungen der Stimmabgabe,swelche die Vorlage sonst beabsichtigt, gleichwertige Zulassung von Termins⸗ und Fristwahlen, von Gruppen⸗ und Ort⸗ schaftsabstimmungen werden, wie ich hoffe, auch in den ländlichen Bezirken eine für die Belebung des politischen Interesses der Wähler⸗ schaft wichtige Neuerung nicht dadurch empfindlich werden lassen, daß eine häufige Zusammenberufung der Wählerschaft dadurch bedingt wird.
Als besondere Abschnitte treten in der Vorlage zunächst die Paragraphen 1 bis 3 hervor. Sie regeln das aktive und passive Wahlrecht in allen wesentlichen Punkten übereinstimmend mit dem bestehenden Recht; nur ist eine der heutigen Gesetzessprache angepaßte neue Formulierung der Bestimmungen gewählt worden. Auf einige unwesentliche Aenderungen, die indessen eine erhebliche praktische Be⸗ deutung nicht haben, verweist Sie die Begründung. Ueberall hat das Bestreben obgewaltet, die Wahlberechtigung in ihrer Allgemeinheit nicht zu beschränken. Sie wird erweitert durch den Absatz 2 des § 2, wo vorgeschrieben ist, daß gewisse Leistungen der Armenpflege in Zu⸗ kunft kein Ruhen der Wahlberechtigung mehr zur Folge haben sollen, — dies in Anlehnung an das Reichsgesetz vom 15. März 1909.
In den §§ 4 und 5 finden Sie den Uebergang zur direkten Wahl und die Einrichtung der Stimmbezirke anstelle der bisherigen Urwahl⸗ bezirke geregelt. Die Stimmbezirke sind gedacht sowohl als Grund⸗ lage für die Abteilungsbildung, wie auch als örtliche Abstimmungs⸗ bezirke, soweit nicht die erwähnten Ortschafts⸗ oder Gruppen⸗ abstimmungen stattfinden. Die Stimmbezirke sollen bis zur doppelten Größe der bisherigen Urwahlbezirke bemessen werden können. Das ist besonders wichtig für die großen Städte, wo die Beschaffung der erforderlichen Wahlräumlichkeiten und die Gewinnung einer genügenden Zahl von Mitgliedern für die Wahlvorstände bisher schwierig war. Die Notwendigkeit wird durch einen Blick z. B. auf die Berliner Ver⸗ hältnisse illustriert. In Berlin waren bei einer Wahl nach dem bis⸗ herigen Verfahren über 1400 Wahlräume von nicht ganz geringen Abmessungen und über 10 000 Wähler für die ehrenamtliche Tätig⸗ keit in den Wahlvorständen heranzuziehen. Die Größenabmessung der Stimmbezirke bis zu 3500 Einwohnern stimmt mit den entsprechenden Vorschriften für die Reichstagswahlen überein. Dies ist nicht etwa im Interesse der von einigen Preßorganen im Laufe dieser Woche geargwöhnten sogenannten Wahlgeometrie geschehen; im Gegenteil, meine Herren, die Wahlgeometrie wird durch die Zählung der Stimmen durch den ganzen Wahlbezirk in Zukunft überhaupt un⸗ möglich.
Von dem Uebergang zur direkten Wahl ist eine neessentliche Belebung des politischen Interesses in der Wählerschaft überall im Lande zu erwarten. Dieser Schritt ist daher auch von be⸗ sonderer Bedeutung für die dauernde Sicherung der Füh⸗ lung zwischen dem Volke und der Volksvertretung. Bei der jetzigen, bekanntlich sehr geringen Teilnahme an den Wahlen war der Angriff gegen das Wahlsystem, daß es an dieser Fühlung fehle, so irrtümlich er gewesen sein mag, schwer zu widerlegen.
Der wichtigste Abschnitt folgt in den §§ 6 bis 10 des Entwurfs; er enthält die Abänderung der Regeln für die Bildung der Wähler⸗ abteilungen. Rückgrat und Grundlage für die Einteilung ist wie bis⸗ her die Steuerleistung. Die plutokratischen Wirkungen, welche man diesem Teilungsmaßstabe nachsagt, sollen nun durch die Vorschriften im § 6 Abs. 2 des Entwurfs, durch die Vorschriften der sogenannten Maximierung der Gesamtsteuern der höchst besteuerten Wähler bis
auf den Betrag von 5000 ℳ, über den hinaus die Steuern nicht in 8
Anrechnung gebracht werden, erheblich gemildert werden. Andererseitg sollen die einseitigen Wirkungen des Steuermaßstabes überhaupt, der auf die inneren Eigenschaften der Wähler keine Rücksichten nehmen kann, durch die Vorschriften der §§ 8, 9 und 10 des Entwurfs aus⸗ geglichen werden. Die in diesen Vorschriften näher umschriebenen Wählergruppen sollen, insoweit es nicht schon durch die Drittelung der Steuern geschehen ist, nach bestimmten Merkmalen in eine ihrer Be⸗ deutung für das Staatswesen im allgemeinen entsprechende Stelle der Wählerschaft nach Bildung, Erfahrung, Tätigkeit im öffentlichen Leben und im Ehrendienst eingereiht werden; sie sollen den höheren Abteilungen hinzutreten. Wenn man auf der Grundlage der Ver⸗ fassung die Dritteilung der Wähler in Wählerabteilungen beibehalten und darauf fortbauen wollte, so konnten die Merkmale der Bildung, der Einsicht und der Erfahrung nur als Momente der Abteilungs⸗ bildung in Betracht kommen, nicht aber als Merkmale für die Er⸗ höhung des Stimmgewichts des einzelnen Wählers, wie dies bei einem Pluralwahlrecht z. B. möglich wäre. Dieser Umstand zwingt dazu, sich auf wenige, große Wählergruppen umfassende Merkmale für das Aufsteigen zu beschränken. Sonst würden sofort Wünsche auf Er⸗ weiterung dieser Kriterien laut werden, mit denen man bei der Viel⸗ gestaltigkeit des Erwerbs⸗ und sozialen Lebens unserer heutigen Tage doch nicht imstande wäre, eine allgemein befriedigende Gruppierung zu gewinnen.
Die Bildungsmerkmale setzen nach unten ein bei der Befähigung zum Einjährigendienst. Das Einjährigenexamen ist im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem selbständigen Abschluß eines mittleren Bildungsganges geworden; es war daher auch angezeigt, diesen Ab⸗ schnitt zu berücksichtigen. Wollte man aber das Einjährigenexamen als Bildungsmerkmal nicht übergehen, so war es andererseits gerecht⸗ fertigt, auch nicht die Zivilversorgungsberechtigten unberücksichtigt zu lassen, die vielfsach und nicht nur für amtliche Stellen als gleich⸗ berechtigt betrachtet werden.
Es möge noch bemerkt werden, daß ohne Rückgreifen auf die Befähigung zum Einjährigendienst es auch nicht möglich gewesen wäre, z. B. die Lehrerschaft, mit unter diese Merkmale zu subsumieren. Andererseits mache ich darauf aufmerksam, daß große Zahlen von Wählern mit Einjährigenbefähigung und ebenso solche, die den Zivil⸗ versorgungsschein haben, überhaupt nicht Beamte sind.
Auf die übrigen einzelnen Merkmale, die der Entwurf vorsieht, glaube ich, in diesem Augenblick noch nicht eingehen zu sollen; ihre Bestimmung im einzelnen wird ja ohnehin sehr eingehender Prüfung unterliegen müssen, bei der alle Möglichkeiten ihrer Vermehrung oder Verminderung Würdigung finden können.
Der § 6 des Entwurfs enthält in Absatz 3 noch die im Ein⸗ kommensteuergesetz vorgesehene Bestimmung, daß die gewährten Er⸗ mäßigungen der Staatseinkommensteuersätze nicht bei der Abteilungs⸗ bildung abzurechnen sind.
Meine Herren, in der Ihnen vorgeschlagenen Maximierung der Steuern, in dem Aufrücken nach besonderen Merkmalen und in der Berücksichtigung der eben angeführten Bestimmung des Einkommen⸗ steuergesetzes ist es begründet, daß die beiden oberen Abteilungen eine Vermehrung an Wählern erfahren; aber es tritt eine Ueberfüllung der Abteilungen dadurch keineswegs ein. Eine solche Ueberfüllung würde jedoch eintreten, wollte man das Recht zum Aufsteigen auch schon an ein gewisses Lebensalter schlechthin anknüpfen.
Die §§ 12 und 13 des Entwurfs handeln endlich von den Wahl⸗ listen, den Wähler⸗ und Abteilungslisten. Ihre Aufstellung wird freilich wegen der besonderen Bildungsmerkmale schwieriger werden, als sie bisher gewesen ist, wird auch häufiger notwendig werden. Nach § 13 Abs. 4 soll im ersten Jahre nach der letzten allgemeinen Wahl — es ist übrigens diese Be⸗ stimmung analog der für die Reichstagswahlen gegebenen — für einzelne Nach⸗ oder Ersatzwahlen eine erneute Aufstellung, Auslegung und Feststellung der Wahllisten im Interesse der Kosten⸗ und⸗Arbeits⸗ ersparnis für die Gemeinden unterbleiben.
Der weitere, von §§ 14 bis 19 reichende Abschnitt des Gesetz⸗ entwurfs, der von der Ausführung des Wahlgeschäfts im engeren Sinne handelt, wird besonderer Erläuterung nicht bedürfen. Hinzu⸗ weisen ist höchstens auf die Verminderung der Zahl der Beisitzer des Wahlvorstands auf mindestens 2, bisher 3, und auf die schon er⸗ wähnten wahlerleichternden Vorschriften des § 17 über Frist⸗ und Terminswahlen, Gruppen⸗ und Ortschaftsabstimmungen.
Die Ermittlung des Wahlergebnisses wird in den §§ 20 bis 22 behandelt. Der Wahlkommissar beruft dazu aus den Wählern des Wahlbezirks einen Vertrauensmännerausschuß zusammen, ähnlich wie das auch für die Reichstagswahlen geschieht. Die Stimmzählung nach Abteilungen durch den ganzen Wahlbezirk wird die abgegebene gültige Stimme bei dem Gesamtergebnis der Wahl zur Geltung bringen, be⸗ seitigt daher die bisherige Ausschaltung der Stimmenminderheiten bei den Urwahlen von dem Einfluß auf das Ergebnis der Hauptwahl. Diese Zählungsart bringt das politische Gleichgewicht der drei Wähler⸗ abteilungen auch reiner und vollständiger zum Ausdruck als es nach den bisherigen Bestimmungen der Fall sein konnte.
Ueber den Zeitpunkt der Wahlhandlung, die Fristen, in denen Stich⸗ und Nachwahlen vorzunehmen sind, muß die Wahlordnung das Nähere bestimmen. Ich glaube, daß die weiteren Vorschriften des Entwurfs einer besonderen Erläuterung hier nicht bedürfen werden.
Ich möchte zum Schluß nur noch mit einem Worte hin⸗ weisen auf die Frage der Wahlbezirke. Die letzte umfassende Teilung von Wahlbezirken fand im Jahre 1906 statt, und zwar zu dem Zwecke, die ordnungsmäßige Durchführung der Wahl zu gewährleisten, wo sie nicht mehr gesichert erschien. Gründe gleicher Art, jetzt wiederum zu neuen Wahlbezirksveränderungen zu schreiten, liegen z. Z. nicht vor. Das jetzige Wahlverfahren, das in Zukunft ja noch wesentliche Vereinfachungen erfährt, sichert die ordnungs⸗
mäßige Durchführung der Wahl durchaus und überall. Eine völlige
Umgestaltung der bestehenden Wahlbezirkseinteilung, bei der einigen Landesteilen ein Teil ihrer Vertretung in diesem hohen Hause ent⸗ zogen werden würde, um die anderer Landesteile zu verstärken, kann nicht in Frage kommen. Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, daß ein derartiger Vorschlag die Zustimmung beider Häuser des Landtags finden würde, würde er auch im Widerspruch stehen mit den Grund⸗ lagen des Wahlsystems, wie sie die Verfassung sich vorstellt. Der Artikel 69 der Verfassungsurkunde bestimmt die Bildung fester und, wenn einmal eingerichtet, im allgemeinen unveränderlicher Landtags⸗ wahlbezirke als räumlichen Unterbau des Wahlsystems. Dieser Grundsatz ist b Ausführung jener Verfassungsvorschrift, bei Beratung
der verschiedenen Gesetze zu ihrer Aenderung esetzgebend
Faktoren wiederholt anerkaunt worden.
Man hat als Begründung für das Verlangen nach einer durch⸗ greifenden Abänderung der Wahlbezirke hingewiesen auf die großen Verschiebungen in der Bevölkerung. Ja, wenn man diesen Hinweis als zutreffend betrachten wollte, so müßte man zu dem Grundsatz zurückkehren, daß nach jeder ordentlichen Volkszählung eine Neu⸗ einteilung vorgenommen werden müßte, ein Grundsatz, der längst aufgegeben und als verfassungswidrig anerkannt worden ist. Man hat andererseits zur Begründung des Antrages auf Neueinteilung der Wahlbezirke hingewiesen auf die Verschiedenheit der Steuerkraft. Dem gegenüber ist zu bemerken, daß in Preußen noch niemals ein Wahlbezirk nach der Steuerkraft abgegrenzt worden ist. Entscheidend sind stets die gesamte Bedeutung, die historische, wirtschaftliche und politische Zusammengehörigkeit der zum Wahlbezirk zu vereinigender Kreise und Städte gewesen; wo es sich also wie zur Zeit nicht um Abstellung offenbarer Mißstände handelt, die durch eine natürliche Entwicklung in den einzelnen Landtagswahlbezirken hervor⸗ gerufen sind, kann es nicht die Aufgabe der Staatsregierung sein, auch. diese Frage jetzt erneut zur Erörterung zu stellen.
Meine Herren, ich möchten Sie im ganzen bitten, nicht verkennen zu wollen, daß die Ihnen gemachte Vorlage gegenüber der gestellten schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe eine gesunde Fort⸗ entwicklung des Bestehenden und geschichtlich Gewordenen anstrebt, daß sie schont, was brauchbar, bewährt und zweckmäßig ist, aber
zugreift, wo Aenderung notwendig und für das Staatswohl nützlich ist. (Bravo!)
Abg. Freiherr von Richthofen (kons.): Eine große Zahl von Mitgliedern des Hauses wird meiner Bemerkung zustimmen, die ich meinen Ausführungen voranschicke, und die sich auf die Vorgänge be⸗ zieht, die sich vorhin zugetragen haben, als der Ministerpräsident das Wort ergriff. Eine Vorbedingung unseres konstitutionellen Lebens in Preußen ist doch die gegenseitige Achtung der Faktoren der Gesetz⸗ gebung. Vorhin ist der Vertreter der Königlichen Staats⸗ regierung von Mitgliedern dieses Hauses mit Ausrufen begrüßt worden, die nicht einmal auf der Straße ihren Platz gefunden hätten (Lebhafter Beifall; Lärm bei den Sozialdemokraten; Zurufe des Abg. Ströbel. Vizepräsident Dr. Porsch: Sie haben nicht das Wort, Herr Ströbel.) — Ausrufe, die ich, da sie hier im Hause gefallen sind, geradezu als un⸗ erhört bezeichnen muß. Der Präsident sagte vorhin, daß die Geschäfts⸗ ordnung kein Mittel biete, solche unerhöͤrten Vorgänge unmöglich zu machen. In anderen Staaten gibt es derartige Mittel, sogar im
Deutschen Reichstage, wo sie doch eine gewisse erzieherische Wirkung
auf einzelne Mitglieder S haben. Der Ministerpräsident be⸗ merkte, das englische Volk habe eine hundertjährige Erziehung hinter sich. Ich glaube, daß auch hier bei den Mitgliedern, die sich einen
so unerhörteu Vorgang haben zuschulden kommen lassen, es nicht mög⸗
lich sein wird, daß sie sich diese Erziehung wirklich aneignen. Die großzügigen Ausführungen des Ministerpräsidenten haben wir mit großem Interesse gehört, meine Freunde sind auch außerordent⸗ lich damit einverstanden, daß der Ministerpräsident selbst sich so intensiv dieser eminent preußischen Angelegenheit widmet. Wir haben nie daran gedacht, auch nicht bei unseren Ausführungen zum Etat, daß etwa der Ministerpräsident nicht den Schwerpunkt auf die preußische Politik legen sollte. Die Ideale, die er uns in seiner Rede vorgeführt hat, sind in sehr vielen Richtungen mit den Idealen identisch, welche meine politischen Freunde verfolgen. Auch wir wollen keineswegs eine Strangulation eines preußischen Staatslebens. Wir sind keine Reaktionäre, wir wollen einen gesunden Fortschritt. Wir sind in manchen Angelegenheiten fortschrittlicher gewesen, als die Freisinnigen und die Sozialdemokratie, die doch den Zwangsstaat mit der schlimmsten Reaktion will. Ich erinnere nur an die sozial⸗ politische Gesetzgebung, die wir mit dem Fürsten Bismarck entriert und mit durchgeführt haben, als die Freisinnigen sich noch auf dem Standpunkt der absoluten Negation befanden. Auch was der Minister⸗ präsident über Bildung sagte, entspricht durchaus unseren Tendenzen. Da ich aber aus seinen Worten einen kleinen Vorwurf heraushörte, hätte ich gewünscht, daß er noch spezieller gesagt hätte, worauf dieser kleine Vorwurf sich bezöge. Wir wollen durchaus, daß unser Volk in der Bildung nicht zurückgehe, wir wollen die Volksschulbildung in Stadt und Land auf das höchste mögliche Niveau ge⸗ hoben sehen, dann werden vielleicht auch solche Vorgänge, wie die heutigen, sich nicht wiederholen. Wir wollen keine einseitig agrarische “ sein, wir haben große Kreise besonders des Mittelstandes hinter uns und wollen keineswegs einseitige Politik treiben für das
platte Land. Wir erkennen selbstverständlich in der großen Zahl
der städtischen preußischen Staatsangehörigen gleichberechtigte Bürger.
Ich darf auch für meine Freunde in Anspruch nehmen, daß wir es an gegenseitiger Duldung nicht haben fehlen lassen. Haben wir nicht in den Kommissionen erst im vorigen Jahre Hand in Hand bei den wichtigen Gesetzgebungsmaterien gearbeitet, wo wir uns mit den verschiedenen Parteien geeinigt und den Vorgang zuwege ge⸗ bracht haben, daß alle großen Parteien in diesen wichtigen Fragen einig geworden sind? Wir verstehen sowohl in politischer als auch in religiöser Hinsicht die Meinung des Gegners zu achten. Ich möchte das Wort des Ministerpräsidenten, daß es sich bei dieser Wahlvorlage bei allem Interesse der anderen Bundesstaaten um eine interne preußische Angelegenheit handelt, recht stark unterstreichen. Wir sind diejenigen, die nach Pflicht und Gewissen, nach der Ver⸗ fassung und der eigenen Ueberzeugung diese Frage zu entscheiden haben. Aus den idealen Regionen, in die der Ministerpräsident uns hinein geführt hat, muß ich Sie in die praktische Wirklichkeit zurückführen. Im vorigen Jahre hatten wir uns nicht mit einer Regierungs⸗ vorlage, Fünden mit den freisinnigen und polnischen Anträgen zu beschäftigen. Es schwebten die Ermittlungen der Regierung, und der Minister des Innern erklärte, nur als Zuhörender an unseren Verhandlungen teilzunehmen und etwaige Anregungen in ernsteste Erwägung zu ziehen. Bei dieser Sachlage war es die Pflicht meiner Partei, vor Experimenten zu warnen, um so mehr, als ein Nachbarland, Sachsen, gerade damals im Begriff stand, eine Entwicklung durchzumachen, über deren Erfolg man noch im unklaren war. Damals erklärten wir, daß wir an den S Grundlagen des preußischen Wahlrechts nicht rütteln und schütteln lassen. Heute sind die Ermitt⸗ lungen und Erhebungen der Regierung abgeschlossen, die Statistik liegt vor, und die Thronrede hat das Parlament eingeladen, in eine pflichtbewußte Prüfung dieser ernsten Sache einzutreten. Ich kann namens meiner Partei versichern, daß wir dieser Einladung, sachlich und gewissenhaft die Einzelheiten der Vorlage zu prüfen, Folge leisten werden. Ich kann weiter schon jetzt erklären, daß wir nicht auf dem in der Press angeregten Standpunkt stehen, im Plenum gleich von vornherein über einzelne prinzipielle Gesichts punkte abzustimmen und der Kommission nur gewisse Details zu überweisen. Wir glauben vielmehr, daß in der §. ommission in eingehender und ernster Arbeit die uns gestellte Aufgabe gelöst werden muß. Deshalb beantrage ich schon hier, die Vorlage einer Kommission von 28 Mitgliedern zu überweisen. Anderseits liegt mir die Pflicht ob, schon in diesem Stadium der Ver⸗ handlung offen und ehrlich der Staatsregierung und dem Lande zu erklären, daß wir sehr ernste und schwerwiegende Bedenken wegen vieler Einzelheiten der Vorlage nicht zurückstellen können. Der Ministerpräsident wird auch uns zuerkennen, daß wir zu einer Zu⸗ stimmung nur kommen können, wenn wir sie mit unserer Ueberzeugung, mit unserem Gewissen nach der Richtung hin vereinen können, daß das, was aus dieser Vorlage sich ergibt, zu Preußens Wohl gedeihe.
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1Ir
(Schluß aus der Zweiten Beilage.)
die Triebfeder für unser Handeln bei der weiteren Beratung sein. Die Linke redet zu oft von Männerstolz vor Fürstenthronen, wenn wir Konservativen aber unsere verfassungs⸗ mäßige Pflicht erfüllen und tun, was unserer Ueberzeugung entspricht, dann sagen Sie auf der Linken, wir wollten eine Junker⸗ herrschaft aufrichten, die Throne unter unsere Herrschaft bringen. (Zurufe des Abg. Liebknecht.) Ich zweifle, Herr Liebknecht, ob Sie nach dem, was Sie auf dem Preußentage — ich möchte diesen Namen ar nicht zugestehen — geleistet haben, wirklich einen Anspruch darauf ätten, als Abgeordneter in eine höhere Wählerklasse zu kommen. Wenn ein Titelchen von dem, was dort verlangt wurde, Gesetz würde, so wäre Preußen ruiniert, würde nicht mehr die Vormacht in Deutsch⸗ land sein. Es wurde auf diesem Tage gesagt, der erste Ratgeber des Monarchen wäre vielleicht ein guter Landrat. Derjenige, der mit diesen Vorwürfen gemeint ist, hat mehr für die Aufrechterhaltung der Staatsautorität, der Thronrechte getan, als vielleicht Hundert⸗ tausende von uns; er lebt und verzehrt sich für das Vaterland. Wir haben die ganze große Gesetzgebung, die der Minister⸗ präsident schilderte, mitgemacht. Den Vorwurf einer egoistischen Tätigkeit im Parlament können Sie uns mit begründetem Recht nicht machen. Fürst Bismarck hat gesagt, das Wahlrecht solle eine Photo⸗ graphie der Volksstimmung sein, aber der berechtigten und besonnenen Volksstimmung. Würde das Abgeordnetenhaus nach den Wünschen der Sozialdemokratie gestaltet, dann würde dies gewiß nicht der Fall sein. Die frühere liberale Ansicht, daß das 98 Wahlrecht aus dem Naturrecht folge, ist aufgegeben worden; man hat eingesehen, daß das Wahlrecht eine staatliche Funktion sei, und daß nicht jeder gleich dazu geeignet sei. Auch Fürst Bismarck hat gesagt, daß das Wahl⸗ recht nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck sein müsse. Das preußische Wahlrecht hat seinen Zweck erreicht; ist denn nicht Preußen die Vormacht Deutschlands? (Abg. Hirsch: Leider! — Großer Lärm und erregte Zwischenrufe rechts.) Blicken Sie nur einmal auf die Stimmen im Auslande: die Londoner „Morning Post“ zum Beispiel schreibt, da unser Wahlrecht ein klug ausgesonnenes System der bwägung der Kräfte sei; Preußen sei ein Muster der Tüchtigkeit. (Rufe links: Wer hat das geschrieben?) Erkundigen Sie sich doch danach. (Rufe links: Sie werden es schon wissen!) Das Blatt schreibt weiter, von Preußen könnten andere Staaten noch lernen, es habe in sozialer Beziehung die anderen Länder weit überflügelt. Diese Beurteilung, die ich den „Hamburger Nachrichten“ entnehme, ist eine erechte Beurteilung des preußischen Wesens. Unsere Demokraten egen immer so viel Wert auf die Statistik (Rufe links: Auf eine richtige Statistik!); haben Sie in dieser Wahlstatistik irgend einen Fehler gefunden? Wenn aber die Zahlen der Statistik Ihnen nicht passen, sagen Sie, die Statistik sei nicht richtig. Es geht so wie mit den Götzen: wenn die Götzen das Gebet erhören, werden sie verehrt; wenn sie es aber nicht tun,
Das wird die
werden sie verhauen. Die Statistik beweist, daß die zweite Abteilung das Zünglein an der Wage ist. (Lebhafte Zwischenrufe links.) Meine Herren, regen Sie sich doch nicht auf. Sie werden nachher schon hören, was ich selbst an der Vorlage auszusetzen habe. Die zweite Abteilung ist immer weiter und macht einen höheren Prozentsatz der Wähler aus als in den letzten Jahrzehnten, es ist für sie nur ein Ein⸗ kommen nötig, welches dem Mittelstande, entspricht. Die Statistik zeigt, daß der Mittelstand, zum Teil sogar der kleine Mittelstand in der zweiten Abteilung ausschlaggebend und das Zünglein an der Wage bei der ganzen Wahl ist. Für den Mittelstand kann gar kein geeigneteres Wahlrecht gefunden werden. Dieses Wahlrecht ist eradezu der Hort der besitzenden Arbeit in unserem Vater⸗ ande. Auch die dritte Abteilung ist nach der Statistik nicht zu kurz gekommen, denn die zweite Abteilung ist öfter mit der dritten bei der Abstimmung zusammengegangen als mit der ersten Abteilung. Alle diese Tatsachen können Sie (zur Linken) nicht leugnen. Sie mögen so viele Zwischenrufe machen, wie Sie wollen. Das bestehende Wahlrecht entspricht der geschichtlichen Entwicklung Preußens; Bismarck hat selbst gesagt, bei diesem Wahlrecht komme der besonnene Teil des Zolkes zum Worte. Die Thronrede vom 20. Oktober 1908 hat eine organische Reform des Wahlrechts zugesagt. Eine grunds ätzliche Aenderung lehnt die Regierung ab. Die Verfassung sagt, jeder Abgeordnete soll Ver⸗ treter des ganzen Volkes sein, auch der Arbeiter. (Zwischenrufe bei den Sozialdemokraten.) Sie (zu den Sozialdemokraten) sind gar nicht Ver⸗ treter der Arbeiter. (Lebhafte Zwischenrufe bei den Sozialdemokraten.) Zu den des Zentrums und der Konservativen gehören wirk⸗
eiter, die sich bei der Arbeit die Sonne auf den Rücken scheinen lassen, aber sind Sie, Herr Liebknecht, ein solcher Arbeiter? Die Regierung hält an den bewährten Grundsätzen fest und will auch keine Aenderung der Wahlkreise. Das Haus wird zum größten Teil mit mir darin einverstanden sein, daß die Wahl⸗ reise nicht rein arithmetisch, sondern vielmehr nach ihrer wirt⸗ schaftlichen und historischen Zusammengehörigkeit eingeteilt werden müssen. Das Musterland des Konstitutionalismus, England, hat jetzt bei den Wahlkämpfen nicht im geringsten daran gedacht, die Wahl⸗ kreise zu ändern. Wenn wir im Deutschen Reichstage das englische Wahl⸗ recht hätten, kämen wir vielleicht hier leichter zu einer Einigung. Nach englischem Wahlrecht kommen nur die selbständigen Leute zur Wahl. Die öffentliche Wahl ist ebenso gut eine liberale Forderung wie eine konserpative; Koryphäen des Liberalismus wie Sybel, Bluntschli, Gneist u. a. sind für die öffentliche Wahl gewesen; die „National⸗ zeitung“ hat sehr gute Artikel zugunsten der öffentlichen Wahl gebracht, der nationalliberale Abg. Schmieding hat sich ebenfalls dafür aus⸗ gesprochen. Schon bei einer früheren Vorlage haben wir uns mit dem Gedanken der Maximierung einverstanden erklärt. Es handelte sich damals in diesem Hause um einen Antrag, daß in der ersten Ab⸗ teilung nur bis 2000 ℳ Einkommensteuer angerechnet werden sollen. Man kann überhaupt im Fwee sein, ob es nicht besser ist, die Ein⸗ kommensteuer statt der Gesamtsteuern zugrunde zu legen. Denn sicher hat derjenige eine größere Bedeutung für die Allgemeinheit, der nicht durch Couponabschneiden oder durch Spekulationenan auswärtigen Börsen sein Geld verdient, sondern durch Unterhaltung einer Fabrik Tausende von Arbeitern beschäftigt. Aber über all diese Fragen läßt sich reden. Die E166“ ist über die Frage der Abschaffung der in⸗ direkten Wahl mit kurzen Worten hinweggegangen. Diese Frage ist keineswegs geklärt. Hat doch selbst der nationalliberale Professor von Gneist in seinem letzten Werk im Jahre 1894 die indirekte Wahl als eine Folge des Fortschritts der Zivilisation bezeichnet. Die Regierung will eine organische Weiterentwicklung des Wahlrechts. ber mit dieser I wird ein sehr bedenklicher Sprung gewagt. Steht nicht in der Verfassung, daß das Wahlrecht auf Urwählern und Wahlmännern be⸗ ruhen soll? Die Stimmenzählung, wie sie die Vorlage wünscht, wird künftig neben dem Begriff Wahlkreisgeometrie auch den Begriff Wahl⸗ algebra entstehen lassen. Dem, was der Ministerpräsident über die Bildung gesagt hat, kann ich im Namen meiner Freunde durchaus zustimmen. Man könnte ja auch vielleicht darüber reden, ob es nicht zweckmäßig sei, gewisse Kategorien bestimmten Abteilungen zuzuweisen. Aber es ist nicht richtig, daß man die Be⸗ treffenden dann immer eine Abteilung höher wählen läßt, als sie böeatlich nach ihrer Steuerleistung zu wählen haben. Die Konsequenz dieser Sache wäre doch, daß die Wähler der ersten Abteilung schließlich aus der ersten Abteilung noch herauswachsen können.
zuträglichkeiten für die “ und
Meine Partei hat es an der Anerkennung für die Beamten nie fehlen lassen. Wir haben erst im vorigen Jahre mit den anderen Parteien zusammen die Beamtenschaft unseres Staats auf eine finanzielle Grundlage gestellt, wie sie nach den wirt⸗ schaftlichen Verhältnissen durchaus notwendig war. Es fragt sich aber doch, ob man nur die Beamten allein herausheben soll und ob man nicht dem gewerblichen Mittelstand in Stadt und Land dasselbe zubilligen muß. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Und den Arbeitern ) Die Führer im Wahlrechtskampf sind die Agitatoren der Sozialdemokratie. Auf dem Preußentage der Sozial⸗ demokratie ist ganz ausdrücklich proklamiert worden: der Zweck ist die Demokratisierung, noch mehr die Sozialisierun Preußens. Die Sozialdemokraten haben dort durch den Abg. Ströbel aus⸗ drücklich erklärt, daß sie künftig eine sehr scharfe Kontrolle über die verschiedenen Parteien und Niseordneten ausüben wollen; alles, was hier geschehe, wolle man den Massen zur Kenntnis bringen. Sie scheinen damit das Zentrum im Auge zu haben. Es wird Sache der Herren vom Zentrum sein, sich deshalb mit Ihnen auseinander zu setzen. Aber Sie denken vielleicht auch an die Nationalliberalen. Hat man doch in Ihrer Presse gelesen: wenn die bürgerlichen Volks⸗ tribunen nicht in dieser Sache weiter wollen, so muß man sie mit klatschenden Geißelhieben vorwärts peitschen. Auf dem 8 reußentage las man als Wanddekoration neben „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auch die Worte: „Ein Herz, ein Volk, ein Vaterland 1“ (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Haben Sie (zu den Sozialdemokraten) damit das preußische Volk gemeint? Sind dazu die auswärtigen Vertreter der anderen Staaten zu Ihnen gekommen, um Preußen groß zu machen? Das möchte ich bezweifeln. Welche preußische Gesinnung in gewissen sozialdemokratischen Kreisen vorhanden ist, sieht man aus gter. wie der, daß Preußen geradezu ein Schandfleck Europas sei. Wenn nicht Kaiser Wilhelm I. und mit ihm Bismarck Preußen groß gemacht hätten, würden wir nicht unsere jetzige Stellung im Rate der Völker einnehmen. Der Abg. Ströbel hat klar gesagt, was der Zweck der Wahlrechtsagitation ist: Aufpeitschen müssen wir die Massen! Der Weg, den Sie (zu den Sozialdemokraten) beschreiten, ist der Weg zur Revolution. Sie wollen die Revolution, und der Abg. Bebel hat es einmal aus⸗ gesprochen: wenn es gelänge, einen Stein nach dem anderen aus dem festen Gebäude herauszunehmen, so würde es vielleicht dazu kommen, daß schließlich keine Revolution erforderlich wäre, sondern eine Evolution genügen würde, um das preußische Königtum abzuschaffen. Aber noch gefährlicher als die Sozialdemokraten sind die, die mit der Sozialdemokratie kokettieren, diejenigen, die in den süddeutschen Staaten dazu auffordern, mit der Sozialdemokratie zusammen⸗ zuarbeiten. Das fördert das Fortschreiten der Sozialdemokratie mehr als die ganze sozialdemokratische L rganisation. Was würde, wenn die Sozialdemokratie wirklich einmal zur Macht käme, für diese Herren die Folge sein? Glauben Sie, sie würden sich mit Ihnen das Erbe teilen? Wenn die Sturmflut tatsächlich losgeht, so wird sie auch über diejenigen hinausspülen, die versucht haben, der Sozialdemokratie den Steigbügel zu halten. Der Zweck der sozial⸗ demokratischen Agitation ist die Demokratisierung Preußens, der Zweck ist, daß Prh nicht mehr die Vormachtsellang in Deutschland haben soll. (Zuruf von den Sozialdemokraten: In Kulturfragen!) Kultur und die Sozialdemokratie! (Erregte Zu⸗ rufe bei den Sozialdemokraten.) Wir wollen die großen idealen Gesichtspunkte, von denen der Ministerpräsident gesprochen hat, hoch⸗ halten. Wir können nur dann für eine Reform des Wahlrechts stimmen, wenn sie uns die Gewähr dafür bietet, daß hier in Preußen ein Parlament bleibt, das die idealen Grundlagen des Preußentums bewahrt, ein Parlament, welches ein Königtum in der starken Position erhalten will wie bisher, als Träger der deutschen Kaiserkrone, nicht ein Scheinkönigtum, ein Königtum, das nicht von einer Partei und von dem Parlamente abhängig ist, sondern von einem H öheren, von dem König aller Könige. Wir wünschen, daß in ““ der christliche Staat anerkannt wird, wir wünschen, daß das, was in unserem konservativen Programm steht, hochgehalten wird: Kirche und Staat sind von Gott gewollte Einrichtungen. Wir wünschen, daß die Kirche nicht über den Staat herrschen oll sondern daß Kirche und Staat sich gegenseitig stützen sollen. Gott⸗ vertrauen, Vaterlandsliebe und Königstreue sollen das Fundament unseres preußischen Staates bleiben. Ein solches Parlament wollen wir erhalten, das diese Ideale hochhält. Ein solches Parlament würden wir aber nicht haben, wenn es aus solchen Herren bestände, die mich fortwährend durch ihre Zwischenrufe unterbrechen. Wir werden in die Kommissionsberatungen im vollen Gefühl unserer Verantwortung eintreten und der Einladung der Königlichen Staats⸗ regierung Folge leisten. Unsere endgültige Entscheidung müssen wir uns 898 dem Fortgang der Beratungen in der Kommission vor⸗ behalten. Denn es sind nicht nur materielle sondern gerade ideelle Güter unseres preußischen Volkes, die hierbei zu berücksichtigen sind.
Abg. Traeger (fr. Volksp.) (sehr schwer verständlich): Namens meiner politischen Freunde habe ich die Erklärung abzugeben, daß der vorliegende Entwurf für uns unannehmbar ist, schon aus dem Grunde, weil das geheime Wahlrecht see. Das Kürzeste wäre, die Vorlage gleich abzulehnen, da über unsere Stellung auch im einzelnen vollständige Klarheit herrscht. Aber wir werden uns doch an der Kommissionsberatung beteiligen und durch Stellung von Anträgen den Entwurf zu verbessern suchen. Die Behauptung, daß wir keine Parteiregierung haben, ist durch die Vorlage glänzend widerlegt. Eine unparteiische Regierung kann es nicht geben, sie wird immer von Parteien abhängig sein. Und eine artei, die nicht den Willen zur Macht hat, hat von vornherein ihre Aufgabe verfehlt. Eine Partei, die nicht in der Gesetzgebung, in der Verwaltung und in dem gesamten Staatsleben ihre Macht durchsetzen will, verzagt von vornherein an sich selbst. Wir haben den Willen zur Macht, wir wollen uns durchsetzen. Der Ministerpräsident hat davon gesprochen, ihm komme die ganze Wahlrechtsfrage vor wie ein großes Sammelbecken für alle mög⸗ lichen Forderungen. In der Tat ist die Wahlrechtsfrage diejenige Frage, in der alle liberalen Forderungen zusammen⸗ laufen. Keine Regierung ist heute stark genug, um gegen den Mehrheitswillen zu regieren. Die Regierun ist das ausführende Organ der Majorität des Volkes, und wir sind der Meinung und nicht nur wir, sondern mit uns viele im Volk, daß in diesem Hause eine im Staatsleben zwar notwendige Partei eine Vorhereschaft aus⸗ übt, die nicht durch ihre Anhängerzahl begründet ist, und die Un⸗ ür die Gesetzgebung nicht bloß in Preußen, sondern auch im Reiche mit sic dre Die Abänderung des Wahlrechts ist eine absolute 2 otwendig⸗ keit. Die ganze Art des Strebens des Volkes ist eine andere geworden, als es zur Zeit des Erlasses der Wahlordnung der Fall war. Preußen hat die Vorherrschaft in Deutschland und damit einen ganz maßgebenden Einfluß auf Verwaltung und Gesetzgebung. Da ist es nicht möglich, mit dem Grundsatze durchzukommen: Wir machen, was wir wollen, mögen die andern sich um ihre eigenen Angelegen heiten kümmern. Damit verstößt man gegen den Reichsgedanken. Die Vorlage hat in ganz Deutschland einen üblen Eindruck gemacht. In Süddeutschland ist die Erregung ebenso groß. Sie ist als reaktionärer Vorstoß zu betrachten. an behauptet, sie halte sich an das Versprechen der Thronrede, die eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts auf Grund der bestehenden Wahlrechtsbestimmungen verhieß. Aber in der Verfassung ist auch von den Wahlen der Wahl⸗ männer die Rede. Diese werden jetzt beseitigt, und damit ist die Bahn
einer organischen Fortentwicklung bereits verlassen. Fällt der Herzog, so muß auch der Mantel nachfolgen. Die sogenannte M aximierung ist nur eine Bereicherung der Sprache, aber nicht der Materie. HBe der Statistik kommt es nicht auf die Zahlen an, sondern auf die Frage⸗ stellung. Man kann die Statistik, ohne sie irgendwie zu fälschen, vielfa so einrichten, daß der Fragesteller befriedigt wird. Künftig sollen alle Leute, die durch ihre Bildung und ihre Lebenserfahrung hoch über den anderen stehen, mit den kleinen Beamten zusammenwählen. Anderseits wiederum werden solche, die es durch selbsterworbene Bildung und ee Erfahrung vorwärts ge⸗ bracht aben, in ihrem gerechten Anspruch, auch in einer höheren Klasse wählen zu dürfen, nicht anerkannt. Diese Bestimmungen enthalten eine Entrechtung der Erwerbsstände, die als eringwertig gekennzeichnet werden. Den Beamten gönne ich alles und alle Anerkennung von ganzem Herzen. Es fragt sich nur, ob es an⸗ hcet war, diese hier in der Vorlage zum Ausdruck zu bringen. as die Wahlfreiheit der Beamten betrifft, so möchte ich nur den Namen Kattowitz nennen. Ich weiß nicht, ob den Beamten hie eine goldene Kette umgehängt oder eine eiserne Fessel umgelegt wird. Von vornherein wird Mißtrauen entstehen, und die Abstimmung des Beamten wird als kommandiert angesehen werden. Für den Beamten liegt die Sache so, daß er, wenn er seine Stimme abgibt, über seine politische Gesinnung zu Protokoll vernommen wird. Die Oeffentlichkeit der Wahl kann niemals zu dem Ideal einer Volksvertretung führen. Wir müssen schließlich doch zu einem Wahl⸗ recht kommen, das der Gerechtigkeit entspricht. ’. Abg. Schiffer (nl.): Der Abg. raeger hat mich angenehm überrascht. Ich sage das ganz treuherzig. In seiner Rede war nicht die scharfe, intransigente Betonung der Forderung des Reichs⸗ tagswahlrechts für Preußen. Ich halte das für einen Fortschritt, denn praktische Resultate wären nicht zu erzielen durch unsere Verhandlungen, wenn die Forderung „alles oder nichts“ aufrecht⸗ erhalten würde. Wir unsererseits halten einmütig an unserem alten Standpunkt fest, wir lehnen die Einführung des Reichstagswahl⸗ rechts in Preußen nach wie vor ab nicht nur in dem Sinne, daß
diese Forderung jetzt nicht durchsetzbar wäre, sondern wir würden ihr auch sonst widersprechen. Ich widerhole dabei, da wir nicht daran denken, im Reichstag das Reichstagswahlrecht anzutasten, sondern daß wir dort das Wahlrecht gegen jeden Angriff verteidigen werden. Bei einer Reform des preußischen Wahlrechts erstreben wir fünf Punkte: die Beseitigung der indirekten Wahl, die Beseitigung der cansche b
Starrheit der Wahlrechtsabstufung, die Be⸗ eitigung der Drittelung in den Urwahlbezirken, die Be eitigung der öffentlichen Stimmabgabe und die Revision der Wahl kreiseinteilung. Diese Vorlage hier kann uns nicht genügen, sie hat uns eine schwere Enttäuschung bereitet, und ich bin aus⸗ drücklich ermächtigt, zu erklären, daß diese Enttäuschung auch bei denen in unseren Reihen Platz gegriffen hat, die im allgemeinen radikaler Anschauungen und Ansprüche am wenigsten be 2 eh sind. Die Beseitigung der indirekten Wahl ist ein großer Vorteil, aber ich kann ihn doch nicht so hoch einse ätzen; sie scheint mir mehr eine formale Verbesserung des ahl⸗ verfahrens als eine materielle Verbesserung des Wahlrechts zu sein. Herr von Richthofen hat auch dagegen Bedenken an edeutet, ich hätte gern seine Gründe gehört, aber er hat sich leider mit der Vorlage zu wenig und mit der Sozialdemokratie zu viel beschäftigt. Der Beibehaltung des Dreiklassensystems widerspreche ich nicht fundsätgich uns ist die Form gleichgültig; wenn es nur gelingt, gesunde Gesichtspunkte in das Dreiklossenmuhlrecht hinein⸗ zuarbeiten, dann werden wir nichts Erhebliches dagegen einzuwenden haben. Aber dieser Versuch ist hier im weiten Umfange nicht ge⸗ lungen. Die Vorlage will den plutokratischen Charakter des Wa lrechts in sich selbst angreifen, indem sie die Anrechnung der Steuer eistung zugunsten der Aermeren und zuungunsten der Reichen verschiebt, und ihn schwächen, indem sie neben die Steuerleistung noch andere Merkmale stellt. Der Beamte soll aus der dritten in die zweite Klasse kommen, aber nur, solange er im Amt ist, oder wenn er sehr lange Zeit, zehn Jahre im mte gewesen ist; das Prinzip ist nur, baß der Beamte nur während seiner Amtszeit diese Bevor⸗ zugung hat. Das ist eine Anwendung des bekannten “ satzes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Aber man darf doch diesen Sa nicht umkehren: Wem Gott ein Amt nimmt, dem nimmt er d8 den Verstand. Der ganze Aufbau der Vorlage! ist eine dreifache Ungerechtigkeit: zugunsten des rein formalen Examens und zuungunsten des faktischen Könnens, eine unberechtigte Bevorzugung der Beamten vor den freien Berufen und eine ungerechte Bevorzugung des Militärs vor den Zivil⸗ beamten. Was wir seit Jahren anstreben, die Anerkennung des praktischen Lebens, wird vollkommen in den Hintergrund gestellt. Daß das Einjährig⸗Freiwilligen⸗Zeugnis zum Merkmal werden soll, bedeutet für mich einen Rückschritt nicht nur für das Wahlrecht, ür die ganze Volksbildung überhaupt, die schwer unter dem allast leidet, den dieses Examen in die Schulen bringt. Man könnte vielmehr erwägen, ob nicht dieses Examen überhaupt unvereinbar mit dem Schulinteresse ist. Ein grundsätzlicher Mangel der Vor⸗ lage ist, daß die dritte Abteilung geradezu isoliert und deklassiert wird. Wir können nicht zugeben, daß in die dritte Klasse nur diejenigen hineinkommen, die arm an Geld und arm an Geise sind. Bisher galt Armut nicht als Schande; aber in Zukunft wird die Zu⸗ gehörigkeit zur dritten Klasse eine Schande sein, weil man sich sagen wird: wer nur ein bißchen Geist hat, gehört zur zweiten Klasse. Es muß auch dem kleinsten Mann ermöglicht werden, aufzusteigen, das wird hier vollkommen versperrt. Die A sch vächung des plutokratischen Charakters des Wahlrechts ist auf diesem Wege nicht zu erzielen. Die Maximierung der Steuersätze ist sehr bedenklich, sie bedeutet eine Bevorzugung des platten Landes vor den Städten, denn die stärksten Steuerzahler sind in den Städten vorhanden. Die Wirkung auf dem Lande wird außerdem ungleich sein, da die großen Güter üesergich in Pommern und Schlesien liegen. Eine “ der Wahlkreise haben wir immer verlangt, aber nicht nach der Be⸗ völkerungszahl, sondern nach der geschi Zusammengehörigkeit. Es ist bedauerlich, daß man uns in dieser Beziehung zusammenwirft mit den Freisinnigen, die lediglich die Bevölkerungszahl maßgebend sein lassen wollen. Das ist eine vollständig falsche Darstellun 8dr lediglich agitatorischen Zwecken dienen soll. Die Vorlage hält an der Drittelung der Urwahlbezirke fest, weil schon durch die früheren Abänderungen der plutokratische Charakter abgeschwächt sei; es handelte sich dabei aber nur um eine Abänderung um 3 % in der Zusammensetzung der Abteilungen; und diese Wirkung wird sofort wieder verschwinden, wenn erst die höheren Einkommen ebenso scharf und richtig veranlagt werden, wie das Einkommen der Arbeiter. Wir können bei dieser Vorlage nicht Vorschläge annehmen, die geradezu widersinnig sind. Man bedenken, daß die e. sich hier nicht kompensieren, sondern summieren. Der Mi
ionär wird niemals in der dritten Abteilung und sein Kutscher niemals in der ersten Abteilung wählen können. „Der Ministerpräsident sprach von der natürlichen Abhängigkeit; wir bekämpfen aber die illegitime Abhängigkeit. Auch eine Petition des konservativen Vereins in Minden⸗Lübbecke tritt für das geheime Wahlrecht ein mit der Begründung, daß die Freiheit der Ueberzeugung und der sittliche Charakter des Volkes erhalten bleiben müßtten. Daß die Wahl mit dem Geiste des preußischen Volkes nicht vereinbar sei, können wir nicht einsehen. ir haben doch schon geheime Wahlen, z. B. für den Reichstag, für die Präsentation im Herren
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