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der Congoverwaltun
s in einer großen Zahl bedeutsamer Beschlüsse niedergelegt ist, zurück⸗ blicken. ner aeosenh zu der Ihnen als Vorlage der Königlichen Staats⸗ regierung zugegangenen Allerhöchsten Propositien darf reiflicher Er⸗ wägung durch den zur Aufstellung des neuen Armenpflegetarifs be⸗ rufenen Herrn Minister des Innern gewiß sein. Von Ihrer wohl⸗ wollenden Fürsorge für die provinzialständischen Beamten legt die zu endgültiger Verabschiedung gelangte Besoldungs⸗ und Dienstordnung erfreuliches Zeugnis ab. Mit besonderer Genugtuung ist zu be⸗ grüßen, daß Sie durch Bewilligung eines erheblichen Zuschusses zu den Kosten der Wartheregulierung zur baldigen Durchführung dieses so wichtigen Projektes wirksam beitragen. Mit dem Dank, den ich Ihnen allen, meine Herren, namens der König⸗ lichen Staatsregierung für Ihre Tätigkeit zum Wohle der Hrovinz abstatte, verbinde ich besonderen Dank an Ihren Herrn Landeshauptmann, der durch sorgfältige Vorbereitung Ihrer Arbeiten wesentlich zu deren sachgemäßer Erledigung beigetragen hat. Nicht minder gilt mein Dank Ihnen, Herr Landtagsmarschall, der Sie auch diesmal mit sachkundiger Hand die Verhandlungen geleitet und zum gedeihlichen Ende geführt haben. In der Hoffnung und mit dem Wunsche, daß Ihre Beratungen mit Gottes Hilfe sich auch diesmal für die Weiterentwicklung der Hroving als segensreich erweisen mögen, erkläre ich im Namen Seiner Majestät des Kaisers und Königs den 42. Provinziallandtag der Provinz Posen für geschlossen. Mit einem dreifachen Hoch auf Seine Majestät den Kaiser und König, das der Landtagsmarschall, Kammerherr Freiherr Schlichting ausbrachte, trennten sich die Ver lte
Oesterreich⸗Ungarn.
Der Kaiser Franz Joseph hat, „W. T. B.“ zufolge, anläßlich des Todes des Bürgermeisters Dr. Lueger an dessen Schwester und an das Präsidium des Gemeinderats eine Bei⸗ leidsdepesche gesandt. 18 .
Im österreichischen Abgeordnetenhause widmete gestern der Präsident Dr. Pattai dem verstorbenen Bürger⸗ meister einen Nachruf, in dem er hervorhob, daß Dr. Lueger im Parlament aus einsamer Stellung zu einem auch von den Gegnern geachteten Parteiführer, zu einem Volksmann von beispielloser Popularität und zu Wiens erstem Bürger empor⸗ gestiegen sei. Der Nachruf wurde stehend angehört, und die Sitzung zum Zeichen der Trauer alsdann geschlossen.
Großbritannien und Irland.
In der gestrigen Sitzung des Unterhauses fragte Austen Chamberlain bei der Beratung des Provisoriums
von acht Millionen Pfund Sterling für den Zivil⸗ dienst für sechs Wochen vom 1. April ab, warum das Pro⸗ visorium in diesem Jahre einen so geringen Betrag aufweise und für eine so kurze Zeit bestimmt sei.
Nach dem Bericht des „W. T. B.“ führte der Schatzkanzler Lloyd George in Beantwortung der Anfrage aus, daß die Regie⸗ rung zu der Praxis zurückkehre, die vor dem Jahre 1896 geherrscht habe. Die finanzielle Lage sei sehr ungewöhnlich. Er glaube, daß das Haus eine andere Gelegenheit haben werde, besonders nach Ablauf der sechs Wochen, seine Ansicht über das Ministerium auszusprechen, welcher Partei es auch angehören möge. Es sei sehr wichtig, daß das Haus volle Kontrolle über die Exekutive habe, besonders über jene Zeit. — Chamberlain entgegnete, der einzige Erfolg, den die Re⸗ gierung beharrlich erstrebt habe, sei, daß sie die finanziellen Verhält⸗ nisse r Nachfolgern in der größten Verwirrung hinterlassen habe.
Nachdem die Generaldiskussion über das Rechnungswesen zu Ende geführt war, ging das Haus zur Congofrage über.
Der Staatssekretär des Auswärtigen Grey wiederholte seine. früheren Erklärungen und führte aus, daß das belgische Reforloe⸗ programm nicht völlig befriedigend sei, obgleich man sich auf dem Papier Mühe gegeben habe, den englischen Anschauungen gerecht zu werden. Aber es hänge viel von dem Personal der Congoverwaltung ab. Die britische Regierung werde die Annexion des Congostaates nicht anerkennen, bevor sie nicht dem Parlament britische Konsular⸗ berichte vorlegen könne, aus denen zu ersehen sei, daß in dem System in tatsächlicher Wandel latz gegriffen habe.
s‚scech.
Im Senat stand gestern die Zolltarifrevision zur Beratung.
Wie das „W. T. B.“ berichtet, führte der Senator Sculfort in der Generaldiskussion aus, die vorgeschlagene Revision sei eine Folge der Erhöhung der Tarife, die sich in verschiedenen Ländern voll⸗ zogen habe. Der Redner untersuchte die Lage Frankreichs in bezug auf die ausländischen Märkte und stellte fest, daß die Ausfuhr Frank⸗ reichs nach Deutschland sich vermehrt habe, aber die Zunahme jetzt nachlasse. Die Deutschen hätten eine bessere Methode, indem sie die Ausfuhr subventionierten und die Kartellbildung begünstigten, um die Preise zu erhöhen und zu regeln. Frankreich habe sich ohne Protest vor der Erhöhung der Tarife anderer Länder gebeugt; er glaube nicht, daß Frankreich Repressalien zu fürchten habe. 1
Hierauf wurde die Fortsetzung der Beratung auf heute vertagt.
Die Deputiertenkammer verhandelte in der gestrigen
Sitzung über den Gesetzentwurf zum Schutze der Laien⸗ schule.
“ Laufe der Debatte machte der Abg. Denys Cochin (konservatip) der Regierung den Vorwurf, daß sie ein Gesetz gegen Familienväter und gegen die Freiheit der Presse und die freie
Keinungsäußerung mache. Der Abg. Grousseau k(konservativ) betonte das Recht der Katholiken, gegen die atheistische Lehre, die die Gesellschaft bedrohe, Einspruch zu erheben. — Der Abg. Piou (liberal) erklärte, wenn die Radikalen versuchen würden, die Rechte der Familienväter zu beeinträchtigen, so würden sie entschlossene Gegner vor sich finden. — Der Abg. Lefas (fort⸗ schrittlicher Republikaner) empfahl, den Kampf gegen die Familien⸗ väter einzustellen.
Hierauf wurde die Sitzung aufgehoben und auf die Tages ordnung der heute stattfindenden Sitzung die Interpellationen über die Geschäftsführung der Liquidatoren gesetzt.
Spanien. Bei einem Fetnpah. das gestern in Madrid zu Ehren Sagastas veranstaltet wurde, hielt der Ministerpräsident Canalejas eine Rede, in der er, „W. T. B.“ zufolge, an die Union aller linken Parteien den Appell richtete, dem festen Block der Rechten die Stirn zu bieten, damit die Regierung die wachsende Invasion des Klerikalismus bekämpfen könne.
Amerika. Das canadische Unterhaus hat, wie das „W. T. B.“ meldet, gestern die Regierungsvorlage, betreffend die Schaffung einer canadischen Flotte, angeno 1
1
Die Vorlage des Komitees zur Ausarbeitung konstiltutioneller
Gesetze über die Abschaffung der Sklaverei ist, einer
Meldung der „St. Petersburger Telegraphenagentur“ zufolge,
von der chinesischen Regierung genehmigt worden. Von nun
an sind Kauf und Verkauf von Menschen bei strenger Strafe tbotihu. 1“ 1“
Nach einer Meldung der „Agenzia Stefani“ aus Addis Abeba ruft die Haltung mehrerer Häuptlinge und die Un zufriedenheit der Soldaten eine gewisse Beunruhigung hervor. Da die Haltung des zum Oberhaupt der Provinz Harrar er⸗ nannten Degiac Abate einigen Verdacht erregt hatte, legte man ihm nahe, nicht weiter gegen Addis Abeba vorzugehen, sondern in Uoro Jelu zu bleiben. Anfangs lehnte er dies Ansinnen ab, aber, als die Kaiserin den Befehl gegeben hatte, ihn am Vorgehen gewaltsam zu verhindern, unterwarf er sich und lieferte seine Artillerie dem Befehlshaber von Uoro Jelu aus.
Parlamentarische Nachrichten. Der Schlußbericht über die gestrige Sitzung des Reichs⸗ tags befindet sich in der Ersten Beilage.
— Auf der Tagesordnung der heutigen (54.) Sitzung des Reichstags, welcher der Staatssekretär des Innern Del⸗
brück und der Staatssekretär des Reichspostamts Kraetke
beiwohnten, stand zunächst die folgende Interpellation der Abgg. Albrecht u. Genossen:
Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß der Polizeipräsident von Berlin 8 eine zum 6. März d. J. nach dem Treptower Park bei Berlin einzuberufende öffentliche Versamm⸗ lung unter freiem Himmel in Wicelsenuth zu dem § 7 des Reichsvereinsgesetzes, der die Versagung der Genehmigung nur dann für zulässig erklärt, wenn Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu befürchten ist, die Genehmigung verweigert hat? Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler zu ergreifen, um eine derartige Beeinträchtigung des Versammlungsrechts für die Zukunft zu verhüten? 2
Nachdem auf die Anfrage des Präsidenten Grafen von Schwerin⸗Löwitz der Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Delbrück sich bereit erklärt hatte, die Interpellation heute zu beantworten, erhielt zu deren Be⸗ gründung das Wort der
Abg. Ledebour (Soz.): Der Polizeipräsident von Berlin hat eine für den letzten Sonntag im Treptower Park geplante Ver⸗ sammlung unter freiem Himmel verboten. Es ist das nicht das einzige Verbot, das an jenem Sonntag ergangen ist; in Bochum, Halle und mehreren anderen Städten ist dasselbe geschehen. Wir beschränken uns auf das Berliner Verbot, um die Verhandlung ab⸗ zukürzen, und weil die Berliner Vorgänge auf Grund persönlicher Beobach⸗ tung durch Abgeordnete das günstigste Objekt für die Diskussion bieten. Dazu kommt, daß der Hauptschuldige selbst in dem dringenden Be⸗ wußtsein, daß er der Verteidigung für sein Verhalten notwendi bedarf, fortgesetzt in der Presse sogenanntes Entlastungsmateria in fieberhaftem Eifer produziert, das gerade zu seiner Belastung und Ueberführung für die polizeilichen Uebergriffe die günstigste Handhabe bietet. Es hat sich die Notwendigkeit ergeben, im Laufe dieser Wahlrechtsbewegung, da die Bevölkerung in steigendem Maße wünscht, sich an der Beurteilung der neuesten preußischen Wahl⸗ rechtsvorlage demonstrativ zu beteiligen, öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel einzuberufen. In geschlossenen Versammlungen können die Massen der Arbeiterschaft, des Proletariats, nicht bloß unsere Parteigenossen, sondern auch Mitglieder anderer Parteien, diesem Bedürfnis nicht mehr gerecht werden. Solche Versammlungen haben stattgefunden in Frankfurt a. M., in Essen, und dort mitten in der Stadt, und an zahlreichen anderen Orten. Diese Versamm⸗ lungen wurden also erst im Laufg, der Wahlbewegung notwendig wegen der Größe und Gewaltigkeit der Wersammlungen; sie sind auch genehmigt worden und haben nicht im geringsten die öffentliche Ordnung und Sicherheit gestört, im Gegenteil, die daran geknüpften Demonstrations⸗ züge sind so musterhaft verlaufen, daß sogar vorurteilslose Vertreter
bürgerlicher Parteien ihre Anerkennung ausgesprochen haben. Wes⸗
halb sollte also eine solche Versammlung nicht in Berlin statt⸗ finden? Für die Auswahl des Treptower Parks war der Gedanke mitbestimmend, daß der dortige Platz eine so außerordentliche Ver⸗ sammlung aufzunehmen besonders geeignet und von Berlin weit genug entfernt war, um Störungen der öffentlichen Sicherheit aus⸗ zuschließen. Man wollte gerade der Polizeibehörde jeden Vorwand zur Verweigerung wegnehmen. Borgmann und Ernst verlangten von dem Oberbürgermeister Kirschner die Genehmigung zur Benutzung des Platzes; es wurde auch die Errichtung von Rednertribünen zugestanden. Der Polizeipräsident von Jagow lehnte aber die Genehmigung zunächst mündlich ab. Nachher hat er noch seine Gründe schriftlich angegeben.
(Schluß des Blattes.)
Auf der Tagesordnung für die heutige (38.) Sitzung des Hauses der Abgeordneten, welcher der Präsident des Staatsministeriums, Reichskanzler Dr. von Bethmann Hollweg, der Justizminister Dr. Beseler und der Minister des Innern von Moltke beiwohnten, stand die zweite Be⸗ ratung des Gesetzentwurfs zur Abänderung der Vor⸗ schriften über die Wahlen zum Hause der Ab⸗ geordneten auf Grund des Berichts der 12. Kommission.
Die Regierungsvorlage bestimmte im wesentlichen die Beibehaltung der Dreiklassenwahl unter Einführung der Maximierung des anrechnungsfähigen Steuerbetrags auf 5000 ℳ und des Aufrückens bestimmter Wählergruppen in höhere Klassen, sowie der direkten öffentlichen Wahl.
Die Kommissionsbeschlüsse bestimmen die Bei⸗ behaltung der Dreiklassenwahl mit Maximierung auf 5000 ℳ, die indirekte Wahl durch Wahlmänner, die geheime Wahl der Wahlmänner, aber die öffentliche Wahl der Abgeordneten. Die Kommission hat ferner den fingierten Steuerbetrag für jeden zur Staatseinkommensteuer nicht veranlagten Wähler von 3 auf 4 ℳ erhöht und die Auswahl der Wahlmänner aus der Gemeinde statt aus den Stimmbezirken zugelassen.
Die Kommission hat endlich zwei Resolutionen gefaßt, betreffend Sicherung des Wahlgeheimnisses durch Aufnahme entsprechender Bestimmungen in die Wahlordnung (Stimm⸗ zettelkuverts, Isolierraum, vom Staate zu liefernde Wahlurnen) und Aufnahme einer Bestimmung in die Strafprozeßordnung, nach der die Befragung eines Zeugen darüber, wem er bei ge⸗ heimer Abstimmung seine Stimme gegeben hat, verboten wird.
Aus dem Hause liegen die folgenden Anträge vor:
Die Sozialdemokraten Borgmann und Genossen beantragen: a. die Einführung des gleichen und ditekten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für alle in Preußen wohnenden Deutschen über 20 Jahre ohne Unterschied des Geschlechts, unter Zugrundelegung des Proportionalwahlsystems, b. die Neueinteilung der Wahlbezirke nach den Ergebnissen der jedesmaligen Volkszählung und die Neubestimmung der Gesamtzahl der Abgeordneten.
Die Mitglieder der fortschrittlichen Volkspartei Aronsohn und Genossen beantragen gleichfalls Einführung des gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe, anderweitige Festsetzung der Wahlbezirke und Neubestimmung der Abgeordnetenzahl.
Die Konservativen Ahrens⸗Klein⸗Flöthe und Genossen beantragen die öffentliche Stimmabgabe für die Wahlmänner⸗ und für die Ab⸗ geordnetenwahlen sowie die Terminswahl statt der Fristwahl in Ort⸗ schaften bis zu 5000 Einwohnern.
Die Nationalliberalen Hobrecht und Genossen beantragen die direkte und geheime Wahl, die Streichung der Maximierung von 5000 ℳ, die Erhöhung des fingierten Steuerbetrags auf 5 ℳ, ferner
die Drittelung durch die ganze Gemeinde bezw. den ganzen Wahlbezirk (statt des Stimmbezirks), für den Fall der Ablehnung dieses Antrags die Zuteilung von mindestens 10 Wählern an die erste Abteilung und von mindestens 30 Wählern an die zweite Abteilung, die Zulässigkeit der Auswahl der Wahlmänner aus dem ganzen Stadt⸗ oder Landkreise, dem der Stimmbezirk angehört, endlich eine Re⸗ solution betreffs Vermehrung der Abgeordneten nach Maßgabe, der veränderten wirtschaftlichen und Bevölkerungsverhältnisse. —
Bei Artikel. JI, der lediglich die Aufhebung der geltenden Vorschriften der Verfassung bestimmt, findet auf Voͤrschlag des Vizepräsidenten Dr. Porsch eine allgemeine Besprechung statt, die sich zugleich auf den Antrag Borgmann unter a erstreckt.
Referent Abg. Dr. Bell gibt eine Uebersicht über die von der Kommission zur Wahlrechtsvorlage bei der ersten und bei der zweiten Lesung gefaßten Beschlüsse im Vergleich mit der Regierungsvorlage und dem bestehenden Recht.
Abg. Hirsch⸗Berlin (Soz.): Wir haben beantragt, die Re⸗ gierung zu ersuchen, noch in dieser Session einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen allen in Preußen wohnenden DWeutschen über 20 Jahre ohne Unterschied des Geschlechts das gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe unter Zu⸗ grundelegung des Proportionalwahlrechts gewährt und vor jeder Wahl eine anderweitige Feststellung der Wahlbezirke herbeigeführt wird. Wir wollen damit unseren prinzipiellen Standpunkt zum Aus⸗ druck bringen. Wir haben schon bei der ersten Lesung erklärt, daß wir in der Regierungsvorlage eine Verhöhnung, geradezu eine Heraus⸗ forderung des Volkes erblicken. Auch die Beschlüsse der Kommission sind für uns unannehmbar; man weiß noch nicht, ob die Regierungsvorlage oder die Kommissionsbeschlüsse schlechter sind; beide verdienen das Prädikat „völlig ungenügend“. Durch den uns von der Regierung gegebenen Nachweis über die Wahlsysteme der verschiedenen Länder ist klar erwiesen, daß Preußen das elendeste aller Wahlrechte hat. Preußen ist damit in der Welt nicht voran, sondern hinkt hinten nach. Wenn Fürst Bülow die deutschen Arbeiter für die intelligentesten Arbeiter erklärt hat, so ist es nicht zu begreifen, wie man ihnen ein solches Wahlrecht bieten darf. Sie protestieren gegen diese Herausforderung, und sie werden schließlich die herrschenden Klassen und die Regierung zwingen, ihnen ein Wahlrecht zu geben, welches sie verdienen. Abgesehen von unserem prinzipiellen Standpunkte, haben wir davon Abstand genommen, weitere Anträge zu stellen, weil es voll⸗ kommen zwecklos wäre. Aus dem Verlaufe der Kommissionsver⸗ handlungen hat sich ergeben, daß die Hauptschuld daran, daß das preußische Volk weiter unter dem elendesten Wahlrecht stehen soll, das Zentrum trägt. Das Zentrum hat seinen Wahlspruch „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“ in der Kommission ebenso mit Füßen getreten, wie seine Forderung des Reichstagswahlrechts. Wenn die indirekte Wahl beibehalten werden soll, weil ohne Preis gabe der direkten Wahl das geheime Wahlrecht nicht zu erlangen wäre, so ist diese Behauptung des Zentrums eine Täuschung des Volks. In der Kommission hatten wir die geheime Wahl bereits durchgebracht; wäre es dem Zentrum mit seiner Forderung Ernst ge⸗ wesen, so hätte es daran festhalten müssen, und wir hätten die geheime und die direkte Wahl erhalten. Aber das Zentrum wollte es nichk. Es erklärte, es lege so großen Wert auf die geheime Wahl, daß es ihr zu Liebe die direkte Wahl preisgebe. Auch das ist eine Täuschung des Volks. Denn wir haben ja gar nicht das Recht der geheimen Wahl erhalten, sondern nur den Schein eines solchen; solange die Wahlmänner öffentlich die Abgeordneten wählen, ist das Recht der geheimen Wahl, welches das Zentrum uns gibt, keinen Pfifferling wert. Ist doch auf Betreiben des Zentrums ein Antrag auf Sicherung der geheimen Wahl abgelehnt und statt dessen nur eine Resolution gefaßt worden. Es ist klar: das Zentrum ist auf dem Wahlrechtsgebiet auch nicht zur geringsten Konzession bereit. Warum ist eine Mehrheit für die geheime und direkte Wahl nicht vorhanden? Weil das Zentrum sie nicht will, weil eine ganze Reihe von Herren im Zentrum sitzt, die davon nichts wissen wollen. Unter dem Zentrumsantrag, der 1907 die Uebertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen forderte, fehlten nicht weniger als 13 Unterschriften von Zentrums⸗ leuten, darunter waren Graf Praschma, Graf Spee, Graf Strachwitz, von Strombeck u. a. Die Herren gehören trotzdem noch heute dem Zentrum an. Aber im Zentrum hat eben alles Platz, angebliche Freunde der Ueber⸗ tragung des Reichstagswahlrechts, wirkliche Gegner desselben und auch solche, die sich gegenüber der Sozialdemokratie dazu verpflichtet haben, nicht nur für dessen Uebertragung, sondern auch für die Neueinteilung der Wahlkreise zu stimmen. Mein Leinert hat hier Aktenstücke mitgeteilt, aus denen hervor geht, daß die Zentrumsmitglieder Gronowski, Sauermann und Bartscher der Sozialdemokratie gegenüber bindende Verpflichtungen eingegangen sind, weil sie sonst nicht gewählt worden wären. Ich komme nur ungern und nur wegen der nichtswürdigen, infamen Heuchelei darauf zurück, welche die Zentrumspresse treibt. (Vize⸗ präsident Dr. Porsch ersucht den Redner, sich in seinem eigenen Interesse in seinen Ausdrücken zu mäßigen.) Wenn sich die Zentrums⸗ presse in ihren Ausdrücken gemäßigt hätte, würde ich nicht zu diesen Ausführungen auf der Tribüne gezwungen sein. Die Zentrumspresse hat Leinert vorgeworfen, er lüge unter dem Schutze der Abgeordnetenimmunität. Eine solche Beleidigung lassen wir nicht auf uns sitzen. Der Abg. Gronowski meinte, er habe seine Erklärung betreffs der Neueinteilung der Wahlkreise ganz freiwillig abgegeben. Wäre dies bei ihm und bei den anderen beiden der Fall gewesen, wie hätte dann der Abg. Sauermann für die Wahlunterstützung durch die Sozialdemokraten noch einen Dankbrief schreiben können. Der Brief lautet: „Meinen aufrichtigsten und herzlichsten Dank für die überaus prompte Aus⸗ lösung Ihres Versprechens bezüglich der Wahlhilfe am gestrigen Tage. Ich bitte, auch bei Gelegenheit den Wahlmännern Ihrer Partei diesen meinen Dank nochmals auszusprechen, aber nicht in der Zeitung, weil mir dadurchvonandererSeite sehr, sehr große Schwierigkeiten erwachsen würden. Wenn ich auch politisch nicht Ihrer Partei angehöre, so ist es doch selbstverständlich, daß ich als armer, besitzloser Arbeiter auch als solcher denke und fühle und immer an erster Stelle dort zu finden sein werde, wo es gilt, die Interessen meines Standes wahr⸗ zunehmen oder für unsere heiligsten Rechte zu kämpfen, vor allem für das Reichstagswahlrecht im Königreich Preußen.“ Der Brief gereicht ja dem Abg. Sauermann zur Ehre; aber wem er nicht zur Ehre gereicht, das sind diejenigen, vor denen er Furcht hat. Dex Abg. Bartscher hat es neulich so hingestellt, als ob⸗ er nationalliberale Hilfe erhalten hätte. Wenn man dies hört, so muß man annehmen, daß er einer der wütendsten Gegner der Sozialdemokratie sei und alles tue, um sie zu bekämpfen. Das mag heute so sein, früher war es anders. Abg. Bartscher hat im Wahlkreise Bochum schriftlich wiederholt, daß er in seiner Programmrede erklärt hat, daß er für die Uebertragung des Reichstagswahlrechts und für eine andere Wahl⸗ kreiseinteilung eintreten werde, falls er gewählt werde; er werde für alle unsere Anträge stimmen, allerdings nicht sofort jetzt solche stellen, weil er das als Neuling nicht könne. Daraus geht deutlich hervor, daß sich eine Reihe von Mitgliedern des Zentrums verpflichtet hat, für die vorhin erwähnte Forderung zu stimmen. Wir werden später namentliche Abstimmung be⸗ antragen, leider ist unsere Fraktion allein dazu zu schwach. Wir sind nur zahlenmäßig schwach, und das ist gerade der Fehler des jetzigen Wahlsystems. Wir hoffen, daß die „Hartei für Wahrheit, Freiheit und Recht“ so freundlich sein wird, uns mit ihren Stimmen zu unterstützen. Dazu ist sie verpflichtet im Interesse ihrer eigenen Ehre. ir werden diese namentliche das ganze Gesetz zum Schluß beantragen, und wenn Sie die Verpflichtung eingegangen sind, für das Gesetz zu stimmen, so würden Sie damit beweisen, daß Sie Ihr Wort brechen. Sie würden damit zeigen: wer für die Vorlage stimmt, entrechtet damit noch weiter die breiten Massen des Volkes. Selbstverständlich be⸗ antragen wir auch eine Neueinteilung der Wahlkreise. Nicht nur bei der jetzigen Wahlrechtsvorlage, sondern stets hat das Zentrum bei allen
Wahlrechtsvorlagen einseitige Partei⸗ und Machtpolitik getrieben,
Abstimmung über
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o auch 1892, als es mit den Konservativen ein Kompromiß abschloß
lediglich zu dem Zwecke, die Nationalliberalen aus der zweiten Wählerabteilung zu verdrängen. Wir werden dafür sorgen, daß den Geistesblinden die Augen geöffnet werden. Wir haben glücklicher⸗ weise in unserer Mitte einen Kollegen, der sich mit Prophezeiungen 8 die manchmal eintreffen, es ist der Freiherr von Zedlitz. Er hat am 17. Januar bei der Etatsberatung mit Bezug auf die Taktik des Zentrums gesagt: eher könnte man wohl glauben, daß das Zentrum jetzt die Rechnung präsentieren werde für die Unterstützung, die es seinen Freunden geliehen hat, um seine politischen Machtziele zu er⸗ reichen. Die Annahme ist zum mindesten nötig, daß das Zentrum dafür sorgen wird, daß keine Aenderung des Wahlrechts zustande kommt, der die Konservativen zuzustimmen vermögen. Ich bin leider gezwungen, dem Abg. von Zedlitz ein Kompliment zu machen. Was er sagte, ist voll eingetroffen. Allerdings weiß ich nicht, ob jener Ausspruch — der Abg. von Zedlitz mag es mir nicht übelnehmen — weniger ein Ausfluß seines Prophetengeistes ist, als ein Hinweis darauf, welche Taktik das Zentrum hat einschlagen sollen. Wir sehen hier eine Folge der Umtriebe des schwarz⸗blauen Blocks, der auch in diesem Hause sein Unwesen treibt. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß das Zentrum seine Grundsätze preisgibt. Die Herren sind ja außer⸗ ordentliche Geschäftsleute. Ich fürchte sehr, daß sie beim Kultusetat mit ihren Forderungen hervortreten und die Konservativen zu Bundes⸗ genossen haben werden. Dann wäre ja das Ziel erreicht, das Ihnen vorschwebt: die Entrechtung und erdummung des Volkes. Die Ausbeutung haben Sie schon bei der Reichsfinanzreform besorgt. Damit verlasse ich diese Partei. Wenn Sie wollen, bin ich bereit, Ihnen Ihr ganzes Sündenregister aufzurollen; ich kann Ihnen aber in Aussicht stellen, daß dann heute niemand mehr zum Worte kommen würde. Ich wende mich nun zu Ihren (zum Zentrum) lieben Bundesbrüdern, den Konservativen. Die Konservativen streben nur nach der Erhaltung ihrer Macht. (Ruf rechts: Sie auch!) Selbstverständlich wir auch. Aber Ihre Partei hat ausgespielt. Wir heucheln nicht und sagen nicht, wir seien selbstlos. (Vizepräsident Dr. Krause: Ich nehme an, daß Sie mit dem Ausdruck „heucheln“ kein Mitglied des Hauses gemeint haben.) Ich beziehe den Ausdruck auf diejenigen, die ihn auf sich beziehen. (Vizepräsident Dr. Krause: Herr Abg. Hirsch, ich rufe Sie zur Ordnung!) Der Abg. von Hammer⸗ stein hat früher offen ausgesprochen, daß seine Partei bei diesem Wahlrecht im Abgeordnetenhause bessere Geschäfte mache. Die Konservativen wollen nicht nur ihre Macht erweitern, sondern sich auch auf Kosten der anderen Bevölkerungskreise bereichern und das Volk entrechten. Auf die Dauer können aber die Konservativen am Dreiklassenwahlsystem nicht festhalten, denn der Boden wankt unter ihren Füßen. In ihren eigenen Reihen herrscht Meinungs⸗ verschiedenheit. Der konservative Verein der Hamburger Vorstädte hat sich für ein anderes Wahlrecht erklärt. Dem Abg. Hammer dagegen genügt noch nicht einmal das jetzige Dreiklassenwahlrecht, er sagte neulich, daß das Volk für dieses Wahlrecht auch jetzt noch nicht reif sei. Die Leute, die den Abg. Hammer wählen, sind allerdings noch lange nicht reif. Die Konservativen haben überhaupt nur 14,5 % der Wähler hinter sich, und darunter ist noch eine Menge erzwungener Stimmen. Abg. Hammer ist nur gewählt worden, weil sich die Gegenparteien, die auf dem Boden des Reichstagswahlrechts stehen, nicht über ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten. Gerade durch die Taktik gegen⸗ über der Sozialdemokratie am letzten Sonntag ist erreicht worden, daß die Berliner Polizei dem Fluch der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Die Wahlrechtsdemonstrationen, die vorzüglich organisiert waren, zeigen, wie reif das Volk ist. (Lachen rechts.) Mit Ihnen (zur Rechten) ist darüber natürlich nicht zu reden. Sie lachen über die Demonstranten, aber Sie fürchten sie. Man meint, der Mob beteilige sich daran, der Graf Moltke hat sogar die De⸗ monstranten mit dem Gesindel verglichen, das einen Juwelierladen plündert. Ich antworte darauf nicht, um mir nicht einen Ordnungsruf zuzuziehen. Die Demonstranten sind bereit, ihr Alles einzusetzen für ihre Ueberzeugung und für die Ehre des Volkes. Die Freikonservativen sind gegen die Beschlüsse der Kommission, sie wollen wieder die Drittelung in den Wahlbezirken und die Termin⸗ wahl einführen. Dann sollten die Herren den Mut haben einzu⸗ gestehen, daß sie nicht eine Wahlreform für das Volk haben wollen, sondern eine solche, die auch noch die wenigen wirklichen Volks⸗ vertreter, die hier sind, hinausbringt. Die Nationalliberalen sind jetzt wenig standhaft, aber wir geben doch keinen Deut für ihre Zu⸗ verlässigkeit. Die Konservativen werben um die Stimmen der National⸗ liberalen, aber nur aus ihrem bösen Gewissen heraus, damit nicht das Gesetz nur von zwei Parteien des Hauses gemacht wird. Wir sehen mit aller Gemütsruhe den weiteren Verhandlungen hinter den Kulissen entgegen, denn schlechter als jetzt kann doch das Gesetz nicht gemacht werden. Ueber die Parteien, die in dieser Frage mit uns zusammengehen, spreche ich nicht. Die Freisinnigen und die Polen sind mit uns für das Reichstagswahlrecht. Die Regierung wollte direkte und öffent⸗ liche Wahl, die Kommission läßt umgekehrt die indirekte Wahl be⸗ stehen und macht sie geheim. Die Regierung glaubt, wenn jeßt eine Wahlreform irgendwie zustande komme, werde sie Ruhe haben. Nein, diese Ruhe wird nicht eintreten, wir werden dafür sorgen. Wir werden das Volk aufpeitschen, wir werden dafür sorgen, daß ein Sturm im Volke erregt wird, der die Regierung und die Mehrheitsparteien wegfegt. In nationalliberalen Kreisen wächst die Wahlrechtsbewegung immer mehr; wir werden nichts unversucht lassen, um das Volk auf⸗ zuklären. Das sollen Sie vom Zentrum an Ihrem eigenen Leibe er⸗ fahren. Wir werden diesen Kampf weiter führen im Parlament und außerhalb des Parlaments. Sie sagen immer, wir sollten gesetzlich vorgehen. Das Wort macht sich besonders schön im Munde eines Hauses, das selbst nicht auf Gesetz beruht. (Lärm rechts.) Haben Sie denn vergessen, durch welchen niederträchtigen Gewaltstreich 1849 die Verfassung zustande gekommen ist? (Vizepräsident Dr. Porsch: Ich bitte Sie, sich in Ihren Ausdrücken zu mäßigen.) Diese oktroyierte Verfassung vom 30. Mai 1849 ist dann nachträglich vom Hause genehmigt worden. Aber auch dieser Umstand ändert nichts daran, daß ein auf Grund des Dreiklassenwahl⸗ systems gewährtes Recht nicht auf parlamentarischem Boden steht. Glauben Sie denn wirklich, daß die Massen nur verhetzt sind? (Lebhafte Zurufe von rechts: Jawohl!) Glnaben Sie wirklich, daß eine Hand voll von Volksverführern solche Massen auf die Beine bringen kann? Wenn das Volk verhetzt ist, dann ist es verhetzt durch Sie. Ein solches Grundrecht läßt sich das Volk nicht vorenthalten. Sie wissen doch, was der Dichter sagt: .“
Wenn der Bedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, — greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.
Wir haben schon hundertmal erklärt, daß wir friedlich vorgehen. Ob aber auch friedlich alles abläuft oder nicht, das steht nicht in unserer Macht, das hängt von Ihnen ab. Wir werden dafür kämpfen, daß dem Volke das zukommt, was ihm von Rechts wegen gebührt: das allgemeine, gleiche und geheine Wahlrechht.
Hauses der
s hl eines Mitglieds des H. Abgeordneten für den verstorbenen Abg. Koenig⸗Guben (nl.), die in dem aus Stadt⸗ und Landkreis Guben, Kreis Sorau und Stadtkreis Forst bestehenden 7. Wahlbezirk des Regierungsbezirks Frankfurt stattfand, wurde nach einer Meldung des „W. T. B.“ aus Forst vom heutigen Tage der Stadtrat Schmidt⸗
Forst (nl.) mit 328 Stimmen gewählt. Rittergutsbesitzer Schön⸗Brestau (kons.) erhielt 299 Stimmen. Die sozial demokratischen Wahlmänner enthielten sich der Abstimmung.
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8 Statistik und Volkswirtschaft.
Zur Arbeiterbewegung.
Zur Lohnbewegung im Malergewerbe berichtet die „Rh.⸗Westf. Ztg.“ aus Essen, daß nach erfolgter Annahme des in der Zeit vom 5. bis 16. November 1909 in Berlin beratenen Reichs⸗ tarifs und der dazu seitens der Unparteiischen erlassenen Schiedssprüche jetzt vom Essener Gautarifamt unter dem Vorsitz des Beigeordneten Rath die Verhandlungen zur Durch⸗ führung des Reichstarifvertrages in dem Gau Rheinland und Westfalen aufgenommen wurden. Das Gautarifamt brachte die Vereinbarungen über Arbeitszeit und Arbeitsleistungen (Leistungsnorm) für das ganze Gebiet zustande. Am 15. d. M. sollen in Essen die Verhandlungen darüber beginnen, für welche Lohngebiete von Rheinland und Westfalen in Gemäßheit des 3. Schiedsspruchs eine Lohnerhöhung von 1 ₰ als Ausgleich der durch § 3 des Tarif⸗ vertrags eintretenden Ausfälle an Lohnzuschlägen und Fahrvergütungen einzutreten hat.
In der Weberei von Achter u. Ebels in München⸗ Gladbach beanspruchten die Weber besondere Vergütungen, weil das zu verwebende Garn nicht mehr so gut wie früher sei. Als dieses Verlangen abgelehnt wurde, haben sie, wie die „Köln. Ztg.“ meldet, am Mittwoch ohne Kündigung die Arbeit eingestellt. Die Zahl der Ausständigen beläuft sich auf 100.
(Weitere „Statistische Nachrichten“ s. i. d. Zweiten Beilage.)
Wohlfahrtspflege.
Die diesjährige Konferenz der Zentralstelle für Volks⸗ wohlfahrt findet vom 5. bis 8. Juni in Braunschweig snatt. Auf der Tagesordnung steht als erstes Thema: „Aufgaben und Organisation der Fabrikwohlfahrtspflege in der Gegen⸗ wart“. Als zweites Thema ist die Bekämpfung der Schund⸗ literatur auf die Tagesordnung gesetzt. Ebenso wie im vorigen Jahre wird sich auch diesmal an die Tagung eine Spezialkonferenz von Jugendvereinsleitern anschließen, in der die Vereinsleiter über die augenblicklich besonders interessierende Frage der Forderung von Turnen, Spiel und Wandern in den Jugendvereinen und an der Fortbildungsschule beraten sollen.
Kunst und Wissenschaft.
Die physikalisch⸗mathematische Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften hielt am 3. März unter dem Vorsitz ihres Sekretars Herrn Auwers eine Sitzung, in der Herr Penck über eine Klimaklassifikation auf physiogeo⸗ graphischer Grundlage las. Der Vortragende unterschied ein nivales, humides und arides Landklima auf Grund der Schicksale des auf dem Lande gefallenen Niederschlages und zerlegte jedes dieser drei Klimareiche nach gleichem Gesichtspunkte in mehrere, insgesamt acht Klimaprovinzen, nämlich in die voll⸗ und seminivale, in die polare, subnivale, vollhumide und semihumide, in die voll⸗ und halbaride.
In der an demselben Tage abgehaltenen Sitzung der philo⸗ sophisch⸗historischen Klasse, die unter dem Vorsitz des Sekretars Herrn Diels stattfand, las Herr Erman über zwei Aktenstücke aus der thebanischen Gräberstadt. Ein Papyrus, den die Berliner Museen unlängst erwarben und der aus der Zeit Ramse’s III. stammt, enthält kurze Protokolle über Untersuchungen in der thebanischen Totenstadt. Es ergibt sich, daß dieselben Vor⸗ gänge in einem Ostrakon der Londoner Sammlung behandelt werden, das man bisher unter König Haremheb, d. h. 140 Jahre früher, ansetzte. Das angebliche 21. Jahr dieses Königs erweist sich als das 21. Jahr Ramses’ III.; der König Amenophis aber, der in diesem Ostrakon ebenso wie in anderen Schriftstücken der Gräberstadt als Richter auftritt, ist kein lebender König, sondern der alte König Amenophis I., der als Schutzpatron der Merbpole galt und Orakel erteilte. — Herr Diels legte eine Mitteilung des Dr. J. Heeg in München vor: Das Münchener Uncialfragment des Cassius Felix. Das früher von V. Rose bestimmte Stück einer alten Uncial⸗Hs. des Cassius Felix ist im 8. Jahrhundert geschrieben. Es wird eine Collation des Doppelblattes mitgeteilt.
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“ Aus den Kunstsalons. 8
Bei Paul Cassirer bildet diesmal eine Reihe neuer Ar⸗ beiten von Max Slevogt den Mittelpunkt des Interesses. Wie immer man sich zu seinen Bildern stellen mag, das eine steht fest: Er ist ein Maler. Er ist das, was man sich unter einem Maler vorstellen soll. Außer Liebermann und Corinth kann ihm heute in Deutschland niemand die Stange halten. Als Maler übertrifft er aber auch diese beiden. Sein Malertalent ist zum mindesten ur⸗ sprünglicher als das Liebermanns, der mit der braunen Farbe Israels begonnen hat, während Slevogts erste Bilder schon Pinselschlachten waren. Seine Landschaften geben heute mit ganz geringen Mitteln die gewollte Stimmung, sei es Regen oder Sonnenschein, Sommer oder Winter, Morgen oder Abend in überzeugender Weise wieder. Der einst schwere und grobe Pinselstrich ist heute zierlich und graziös geworden. Slevogt tänzelt heute nur mehr mit der Spitze seines Instruments über die Leinwand hin: Das ist der Beweis eines un⸗ geheuren Könnens. Seine Leichtigkeit verführt ihn ja manchmal, wie im großen Bild der russischen Tänzerin Maria Pawlowa, das etwas leer ausgefallen ist. Sein künstlerischer Leichtsinn tut nicht immer gut (Bildnisskizze des Professors Voll), wirkt aber anderswo um so ursprünglicher, wie die kecke Auffassung des Bildnisses Eduard uchs' zeigt. Das schönste Bild ist wohl der „Französische Dragoner“, ein Meisterwerk der Komposition Wund Stimmung. Nach Slevogt verdient in gemessenem Abstand Robert Breyer genannt zu werden. Einer von den vielen die kein eigentliches malerisches Temperament haben, die aber durch Fleiß und Selbstzucht zu beachtenswerten Leistungen kommen. Breyers „Bildnis eines Offiziers“ hat nichts Aufregendes, Unerwartetes, ist aber eine sehr tüchtige Arbeit. Vielversprechend sind seine Stilleben, soweit sie in angemessenen Formaten bleiben. Sie künden ein diffe⸗ renziertes Gefühl für vornehme Farbenklänge an. Wenn jedoch das fast zwei Meter hohe Blumenarrangement nicht auf ausdrückliche Be⸗ stellung nach Maß für irgend eine kunstfremde Dame angefertigt ist, wäre es besser ungemalt geblieben. Leo Klein⸗Diepold gehört zur Nordwyker Gilde und malt mit Vorliebe Tulpen⸗ und Narzissenfelder oder rote und gelbe Farbenstreifen. Dazu ist wenig Phantasie und nicht viel Können nötig. Ein deutsches Fontainebleau scheint Nordwyk nicht werden zu wollen — nicht einmal ein zweites Worpswede. Heinrich E. Linde⸗Walter hat sich für seine bretonischen Bilder eine zwar scheinbar originelle, aber doch gar nicht befriedigende Manier zurecht gelegt. Auch mit Fritz Rhein vermag ich nicht mehr mit⸗ zugehen. Seine Bilder sind glatten Farbenreproduktionen zum Ver⸗ wechseln ähnlich. Was Reinhold Nägele mit seinen Guaschen bei Cassirer will (oder umgekehrt), ist nicht recht verständlich. Aber Cassirer scheint solche Anomalien manchmal zu lieben.
Im Kunstverein hat Robert Hoffmann⸗Zehlendorf den Hauptsaal mit seinen Bildern besetzt. Es gibt darunter recht gute Winterstimmungen und Rheinlandschaften. Aus dem „Künstler⸗ bund Freie Gruppe“ sieht man die beiden Landschaftslyriker Edmund Steppes und Hugo Gugg, die beide stark an Thoma anklingen, doch rein malerisch mehr zu geben verstehen als ihre Vorbilder. Max Gildemeister aus Berlin malt Salonlandschaften. Endlich stellt die „Freie Vereinigung der Graphiker von Berlin“ aus. Der Dresdner Richard Müller, M. Jacoby, Heicee Clauß, Stassen, H. L. Braune, Schuhmacher, Paczka, Oemke, Struck und O. H. Engel befinden sich darunter. Bis auf die farbigen Blätter von Paczka und die tüchtigen Biehostafstef von Engel läßt sich dieser Ver⸗ einigung jedoch wenig abgewinnen.
In der Galerie Schulte zeigt Raffael Schuster⸗ Woldau alte und neue Werke. Seine großen figuralen Kompositionen „Auf
freier Höhe“, „Legende“, „Memento vivere“ sind schon längst be⸗ kannt und werden hoffentlich bald dauernde Unterkunft und Ruhe finden, aber nicht in öffentlichen Galerien. Weit bedenklicher als diese entimental⸗liebenswürdigen Kompositionen sind Woldaus Damen⸗ bildnisse, die mit dem billigsten Salongeschmack rechnen. Das inter⸗ essante Porträt seines Vaters verdient ausgenommen zu werden. Er hat sich dazu einen guten Paten ausgesucht: Rembrandt. Otto Heicherts „Ekstasen der Heilsarmee“ sind recht charakte⸗ ristisch gesehen und werden immerhin kulturhistorisch interessante Dokumente bleiben. Die nächste Parallele zu diesen religiösen Exzessen findet man erst bei den tanzenden Derwischen in Skutari. Olof Jernberg malt recht gefällige, sonnige Land⸗ schaften, unter denen die kleinen Formate am meisten befriedigen. Sehr erfrischend wirken die humoristischen Aquarelle des französischen Illustrators Boutet de Monvel zu den bekannten Fabeln von Fuchs und Storch, dem Bären und den zwei Jägern usw. Sein großer Illustrationszyklus zur Geschichte der Jeanne d'Arc ist mit feinstem Geschmack und subtiler Technik durchgeführt. Jedenfalls ist
Boutet mehr ein glänzender Aquarelltechniker und geschickter Zeichner
als eine markante Individualität. Dr. N
Literatur.
In der rühmlichst bekannten, an dieser Stelle wiederholt ge würdigten Sammlung wissenschaftlich⸗gemeinverständlicher Dar⸗ stellungen, die der Verlag von B. G. Teubner in Leipzig unter dem Gesamttitel „Aus Natur und Geisteswelt“ herausgibt, liegt wieder eine stattliche Reihe neuer Bändchen zum Teil als Neuerscheinungen, zum Teil in neuer Auflage vor. Es ist nicht möglich, hier auf alle diese Büchlein, deren jedes in seiner Art Vortreffliches bietet, näher einzugehen, es sei daher nur auf einige hingewiesen, die besonders geeignet erscheinen, das Interesse weiterer Kreise zu fesseln. Im 75. Bändchen zeichnet der Professor Dr. G. Steinhausen, Bibliotheksdirektor in Cassel, unter dem Titel „Germanische Kultur in der Urzeit“ unter Berücksichtigung der ge⸗ samten einschlägigen Literatur und auf Grund eingehender Quellenforschung in gemeinverständlicher Form ein sehr anschauliches Bild des germanischen Lebens in der Urzeit. Das Büchlein kann auch als dankenswerte Ergänzung der „Geschichte der deutschen Kultur“ desselben Verfassers gelten, in der die Urzeit nur sehr kurz behandelt wurde, es ist aber durchaus eine in sich abgeschlossene, selbständige Darstellung. Der Verfasser geht von der Lage und dem Charakter der germanischen Länder aus und schildert ihren Einfluß auf die Be⸗ völkerung, um dann die Einwirkung der früh einsetzenden fremden Kultureinflüsse nachzuweisen. Den Quellen für die germanische Kultur⸗ geschichte ist das zweite Kapitel gewidmet, während das dritte eine feinsinnige und objektive Schilderung des germanischen Volks⸗ charakters enthält. In den zwei folgenden Kapiteln sind dann das religiöse und geistige Leben sowie die sozialen Zustände der alten Germanen behandelt, wobei der Verfasser auf alle systematischen Konstruktionen verzichtet, vielmehr die landschaft⸗ lichen und sozialen Unterschiede scharf betont und gleichzeitig diejenigen Züge plastisch hervorhebt, die auch andern Völkern auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe eigen waren. Im Schlußkapitel wird zusammen⸗ fassend ein anschauliches Bild von dem allgemeinen Kulturzustand im alten Germanien geboten, wie er in den Verhältnissen des täglichen Lebens zum Ausdruck kam. Das lesenswerte Buch ist mit geschickt ausgewählten Abbildungen verfehen. — Ein kulturgeschichtliches Thema wird auch in dem 292. Bändchen behandelt, in dem der Dozent an der Universität Kopenhagen Dr. V. Vedel „Heldenleben“, mittelalterliche Kulturideale, schildert. Als die vier Haupttypen, in denen sich das Kulturleben im Mittelalter ausprägte, hebt er Kriegsleben, höfisches Ritterwesen, kirchlich⸗klösterliches Leben und das Bürgertum in den Städten heraus, mit deren Eigenart er den Leser in vier Bändchen bekannt machen will, von denen das erste, „Heldenleben“, vorliegt. Als Hauptquellen für seine Darstellung der Sitten und des Lebens und Treibens der fränkischen und sächsischen Krieger, der Ritter und Fürsten des 12. und 13. Jahrhunderts, zieht der Verfasser nicht die alten Chroniken und Kapitularien heran, vielmehr zeichnet er ein Idealbild des damaligen Kriegslebens, wie es uns farbenprächtig die alten nationalen Heldendichtungen überliefert haben. Er geht dabei von der Ansicht aus, daß das Lebensprinzip eines Kulturtypus und seine herrschenden Kräfte und leitenden Tendenzen klarer durch die
Bilder zutage treten, die ein Stand sich selbst zum Vorbild zeichnet,
als durch die immer nur bedingten Annäherungsversuche der Wirklichkeit. Mit großer Belesenheit verbindet der Verfasser eine große Anschaulichkeit in der Schilderung und eine dem Stoff angemessene gehobene, poetisch anmutende Sprache sowie die Fähigkeit, die bunte Mannigfaltigkeit der einzelnen Züge zu einheitlichen, plastischen Gesamtbildern zu ver⸗ einigen. Er beschränkt sich auch nicht auf den Rahmen der mittel⸗ europäisch⸗mittelalterlichen Heldendichtungen, sondern erweitert die Darstellung zu einer Charakteristik des für die Kindheit aller Völker typisch gemeinsamen Heldenideals und zieht die Heldendichtung der Perser, Griechen, Germanen und die der nordischen Völker in den Kreis seiner Darstellung. Die Kapitelüberschriften mögen die Gruppierung des reichen Stoffs skizzieren, sie lauten: juventus mundi, Krieg und Kultur, Heldensage und Heldengesang, der Held, Heldengeist, der Helden Mißgeschick, das Weib, der Kampf, Kriegsmoral, Sippe, König und Volk, Adelsanarchie, der Bandit. — Man kann den folgenden Bändchen des Werkes mit Interesse entgegensehen. — Eine
einzelne, für das gesamte Kulturleben unseres Volkes ausschlaggebende
Persönlichkeit ist im 113. Bändchen behandelt, in dem der Professor Dr. H. Boehmer in Bonn „Luther im Lichte der neueren Forschung“ behandelt. Das Büchlein ist aus Vorträgen entstanden, die sein Verfasser im Jahre 1905 vor rheinischen Lehrern und dann vor rheinischen Geistlichen in Bonn gehalten hat. Es bietet eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Probleme der neueren Lutherforschung, eine Zusammenfassung der Forschungen
über Fragen, die in den Lutherbiographien meist gar nicht beachtet
werden, die aber für das Gesamturteil über Luthers welthistorische Stellung von größter Bedeutung sind. Das Buch ist in folgende Abschnitte
gegliedert: das alte Lutherbild und die Entwicklung der Luther⸗ forschung; die Stufen der Bekehrung; der Beginn des offenen Kampfes
gegen die alte Kirche und die ersten praktischen Reformversuche; der gelehrte und der innere Mensch;
Professor an der Universität Jena Dr. W. Lubosch eine „Ver⸗
gleichende Anatomie der Sinnes organe der Wirbeltiere“’.
Das Büchlein setzt sich zum Ziel, darzustellen, wie sich die Sinnesorgane der Tiere aus primitiven Anfängen zu ihrer heutigen staunenswerten Vollkommenheit im Laufe der Stammesentwicklung allmählich gebildet haben, und will zugleich einen neuen Weg zum Verständnis des fertigen Organs eröffnen. Nach einer allgemeinen Einleitung über die Abstammungs⸗ und Verwandtschaftsverhältnisse der Wirbel⸗ tiere wird zunächst die Geschichte des Geruchsorgans durch den Stamm baum hindurch verfolgt; daran schließt sich die Geschichte des Haut⸗ sinnes und des Geschmacks. Dann folgen die höheren Sinnesorgane: Gehörorgan und Auge. — Einen Ueberblick über die von Kirchhoff begründete junge Wissenschaft der Spektroskopie gibt im 284. Bändchen der Assistent am physikalischen Institut der Universität Bonn, Dr. L. Grebe. Das mit vielen Abbildungen aus gestattete Büchlein zeigt dem Leser die wichtige Stellung der Spektroskopie in der Physik, in der sie berufen scheint, über die molekulare Zusammensetzung der Körper Aufschluß zu geben und die Beziehungen chemisch verwandter Körper erkennen zu lassen. Dann erfährt er das Wichtigste über ihre praktische An⸗ wendung in der Astrophysik, wo sie uns die Zusammensetzung und Bewegung der Himmelskörper erkennen lehrt und über die merk⸗ würdigen Erscheinungen auf der Sonne Aufschluß gibt, sowie über den Nutzen, den die Technik aus ihr gezogen hat und in noch höherem Maße in Zukunft ziehen dürfte. Die Schrift ist in einer auch für Laien verständlichen Form abgefaßt. — Endlich sei noch 27 ein
Bändchen hingewiesen, in dem eine wichtige volkswirtschaftliche Frage
der Denker und Prophet. Am Schluß des Buches wird eine Literaturübersicht geboten. — Auch das naturwissenschaftliche Gebiet ist in den neuvorliegenden Bändchen wieder mannigfach vertreten. So gibt (im Bd. 282) der außerordentliche