1910 / 95 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 23 Apr 1910 18:00:01 GMT) scan diff

werden würde. Es ist unbegreiflich, daß an der Stelle, wo jeden Tag um dieselbe Minute ein solcher Expreßzug durchsaust, ein Militärzug auf das Gleis gestellt wurde, das der Expreß passieren mußte. Es ist immer gesagt worden, daß die Zeit nicht vorhanden gewesen sei, jenen Zug auf das Ueberholungsgleis zu schieben. Diese Zeit hätte in jedem Falle vorhanden sein müssen. Der Minister stellte die Eisenbahnanlage als vollkommen hin; eine Zuschrift an die „Kölnische Volkszeitung“ stellt aber fest, daß an der Unglücks⸗ stelle, wo die Bahn eine vollständige S⸗Kurve beschreibe, sich schon vor einem halben Jahre ein aͤhnliches Unglück ereignet hat. Die Zeitung hat schon damals die Anlage an dieser Stelle als ver⸗ fehlt bezeichnet und gefordert, daß hier eine Geradlegung der Linie noch nachträglich eintreten müsse. Der Abg. Semler will darauf kein Gewicht legen; ich meine, wo es irgend möglich ist, soll man die Strecke geradlinig anlegen. Es baut sich hierauf eine schwere Anklage gegen die Bahnverwaltung auf; es fragt sich auch, ob man nicht dem gewaltigen Karlswerk der Firma Felten⸗Guilleaume, die mit ihrem Terrain da anstößt, auf Kosten der Betriebssicherheit zu sehr entgegengekommen ist. Nicht 62 Züge passieren die betreffende Stelle des Bahnhofes, sondern 272 Personenzüge, wo neben noch 387 Güterzüge zum Teil die Strecke passieren. Die Linie Cöln Mülheim —Düsseldorf ist ganz enorm überlastet; längst war eine auskömmlichere Verbindung dort dringendes Bedürfnis. Die von Privaten projektierte Schnellbahn Cöln Düsseldorf Dort⸗ mund hat ja die Genehmigung des Ministers bis jetzt nicht erhalten können. Bei solchen Schwierigkeiten muß aber die Verwaltung ein⸗ greifen; will sie nicht selbst Abhilfe schaffen, so muß sie private Unternehmungen konzessionieren. Das Rettungswerk hat fast voll⸗ ständig versagt, wie ich entgegen der Darstellung des Ministers be⸗ haupte. Daß etwas nicht in Ordnung gewesen ist, hat er wohl selbst gefühlt. Die Sanitätswagen der Eisenbahnverwaltung langten erst 2 ½ Stunden nach dem Unfall an. Auch soll nur ein einziger Arzt rechtzeitig eingetroffen sein. Ferner wird Klage darüber geführt, daß die Angehörigen der getöteten Soldaten von dem Unfall erst am nächsten Tage in Kenntnis gesetzt worden sind. Mit Stolz hat die „Kölnische Zeitung“ erklärt, daß sich die Wagen des Lloyd⸗Expreß bestens be⸗ währt hätten, daß von den 12 Passagieren dieses Zuges niemand verunglückt wäre. In dem Urlauberzug saßen dicht gepreßt 460 Mann. Es waren wirklich zwei Welten aufeinander gestoßen. Im Aloydexpreß saßen Leute, die an der Riviera ihre Zeit möglichst angenehm totschlagen, in dem Militärzuge Proletarier, deren Väter nicht Geld genug haben, ihre Söhne einjährig dienen zu lassen, bemerkt sehr richtig die „Rheinische Zeitung’. Ich habe selbst Ge⸗ legenheit gehabt, das grausige Werk der Zerstörung zu sehen. Der Aoydexpreß hat die Wagen des Militärzuges wie Streichhölzchen zusammengedrückt. Es soll nicht wahr sein, daß beim Militärzuge alte Kasten fuhren. Die „Kölnische Zeitung“ sprach gegenüber der „Rheinischen Zeitung“ von sozialdemokratischer Hetze. Sie hat aber selber zugegeben, daß die ältesten Wagen 17, 19 und 20 Jahre in Betrieb waren: solche Wagen sind in der Tat alte Kasten. Die „Rheinisch⸗Westfälische Zeitung“, das Organ der Schlotbarone, brachte eine Zuschrift von fachmännischer Seite, worin es heißt, daß das Unglück nicht so furchtbar gewesen wäre, wenn nicht, wie üblich, bei Militärzügen die ältesten Wagen in Gebrauch gewesen wären. Das Scharfmacherorgan schrieb zu dieser Zuschrift, wer die zerschmetterten Wagen gesehen hätte, müsse sich jenen Ausführungen ohne weiteres anschließen; die letzten Wagen, die besseres Material aufwiesen, seien lange nicht so schwer beschädigt worden. Wir müssen verlangen, daß ähnlich wie in der Kriegsflotte die Eisenbahn⸗ fahrzeuge nur eine gewisse Lebensdauer haben dürfen. Es sind mir eine Menge Zuschriften zugegangen, in welchen die traurigen Bahn⸗ verhältnisse im Ruhrgebiet, die Unzulänglichkeit der Transportmittel geschildert werden. In neuerer Zeit sind ja neue Anlagen gemacht worden, die aber als Flickwerk bezeichnet werden müssen. Es gibt noch immer auf gewissen Strecken Straßenübergänge, man muß drei Gleise überschreiten. St. Bureaucratius spielt dabei eine große Rolle. Auf einer Anzahl von Bahnhöfen müssen die Reisenden sich wie im vorigen Jahrhundert auf unbedeckten Perrons aufbalten, weil sich in den schmutzigen Wartesälen kaum ein Hund aufhalten kann. An Festtagen muß man sich wundern, daß bei dem kolossalen Verkehr nicht häufiger Massenunglücke stattfinden. Gerade in Mülheim habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie die dritte Klasse mit Männern, Frauen und Kindern voll gepökelt, während die höheren Klassen nur halb besetzt waren. Sehr eifrige Beamte sind oft bei der Hand, den Passagieren dritter Klasse den Uebertritt in die höhere Klasse zu verwehren. Ein ähnlicher Unfall, wenn auch nicht ein so schwerer wie der in Mülheim hat sich vor einigen Jahren in Duisburg ereignet. Ein schwer verletzter Passagier mußte seine Entschaͤdigungsansprüche erst gerichtlich einklagen. Der diensttuende Stationsassistent war schwer überlastet, trotzdem wurde er schwer bestraft. Nun frage ich, wer ist schuld an dem Unglück in Mülheim? Es soll der Lokomotivführer des Lloydzuges sein. Wir meinen, daß die Schuld in der Hauptsache das geradezu un⸗ glaubliche System der Sparsamkeit der preußischen Eisenbahn⸗ verwaltung trifft, um nicht einen schärferen Ausdruck zu gebrauchen. Vor allem wird am Personal gespart, das Fahrpersonal ungebührlich überbürdet, namentlich die Lokomotivpführer. Von Zeit zu Zeit, und zwar in kurzen Zwischenräumen, müßte eine Untersuchung der Lokomotivführer auf Farbenblindheit und auf den Zustand ihrer Nerven eintreten, da von ihrem Gesundheitszustand das Leben der Passagiere abhängt. Ist denn der Etat der Eisenbahnverwaltung so schlecht, daß so gespart werden müßte? Der preußische Eisenbahn⸗ minister hat neulich die finanzielle Lage der preußischen Eisenbahn als glänzend geschildert, auf der anderen Seite hat er aber darauf hingewiesen, daß an Ausgaben gespart werden könnte. Man hätte im Abgeordnetenhause untersuchen müssen, ob darunter nicht die Betriebssicherheit leidet. Jedenfalls darf sich die preußische Eisenbahnverwaltung aus Spar⸗ samkeitsrücksichten der Einführung von Einrichtungen zur Erhöhung der Betriebssicherheit nicht entziehen. Es müßte uns die durchschnitt⸗ liche Dienst⸗ und Ruhezeit der Lokomotivführer mitgeteilt werden. Der Minister hat darauf hingewiesen, daß die Zahl der Unfälle für das Zugkilometer verhältnismäßig gering sei. Er hat dabei aber zu erwähnen vergessen, daß in den letzten Jahren eine große Zahl von Nebenbahnen gebaut sind, die eine viel geringere Fahrgeschwindigkeit haben als die Schnellzüge. Wenn er nicht bald Einkehr bei sich hält und die bloße Ueberschußwirtschaft aufgibt, so wird man von ihm sagen müssen, daß er nicht der richtige Mann an der richtigen Stelle ist.

Präsident des Reichseisenbahnamts Wackerzapp: Gegenüber den heftigen Angriffen, die von verschiedenen Seiten gegen die preußische Staatsbahnverwaltung gerichtet worden sind, halte ich es doch für ange⸗ zeigt, daß der an Ort und Stelle entsandte Kommissar über den Unfall bei Mülheim nähere Ausführungen macht. Zuvor möchte ich wenige Worte den Vorrednern erwidern. Es ist auf einige frühere Unfälle hingewiesen worden. In dem Falle Herrnsheim wäre mit Sicherheits⸗ vorrichtungen nicht zu helfen gewesen, auch der Unfall in Gerolstein hatte damit nichts zu tun. Dieser Unfall ist nach meinen Informa⸗ tionen durch Zugsprengung berbeigeführt worden. Wenn bemängelt worden ist, daß die preußische Eisenbahnverwaltung sich Vorschlägen versage, die von privater Seite ihr gemacht werden, so muß ich das als unrichtig bezeichnen. Es werden in den betreffenden amtlichen Stellen alle Vorschläge auf ihre praktische Brauchbarkeit geprüft. Allerdings gibt es darunter welche, die den sachverständig⸗ technischen Herren von vornherein als unausführbar erscheinen. Auf eine Pruüfung derartiger Vorschläge können und wollen wir aller⸗ dings nicht eingehen. Der Abg. Hengsbach hat gefragt, ob man nicht bei der Anlage des Mülheimer Bahnhofs im Interesse der Firma des Karlswerkes von einer Abschneidung ihres Terrains abgesehen hätte. Ich bin allerdings nicht informiert über die Gründe, die die preußische Staatseisenbahnverwaltung bestimmt haben, die Führung der Linie unter Vermeidung des Terrains des Karlswerkes zu beschließen. Ich darf aber annehmen, daß es geschehen ist, um den großen Entschädigungsforderungen dieser Firma aus dem Wege zu gehen; im Interesse der Firma ist es nicht geschehen.

8 8 1.

Was die Beschaffenheit der Wagen des Militärzuges betrifft, so hat bereits der preußische Eisenbahnminister festgestellt, daß fämtliche Wagen dieses Zuges drei⸗ oder vierachsig und gerade für Schnellzüge geeignet waren. Alte Kasten waren es auf keinen Fall. Von einer übertriebenen Sparsamkeit der preußischen Staatsbahn⸗ verwaltung gegenüber Verbesserungen auf dem Gebiete der Betriebs⸗ sicherheit kann absolut keine Rede sein. Das beweisen schon die Ausgaben, die die preußische Verwaltung für diesen Zweck gemacht hat. Sie betrugen 1909 34 Millionen. Dazu kommen noch die großen Aufwendungen für den Bau zweiter und mehrerer Gleise und für den Umbau der Bahnhöfe usw. Es handelt sich hier ungefähr um 227 Millionen. Ein großer Teil davon entfällt ebenfalls auf Anlagen zur Vermehrung, der Betriebssicherheit.

Geheimer Oberbaurat Petri vom Reichseisenbahnamt führt aus, daß er sich selbst an der Unfallstelle überzeugt habe, daß sowohl das Vorsignal wie das Hauptsignal von weither gut erkennbar sind, daß von einer Unübersichtlichkeit der Strecke keine Rede sein könne. Eine Betriebs⸗ gefahr läge nicht vor, auf die Ueberführungsanlage sei der Unfall nicht zurückzuführen. Bei richtiger Beachtung der Signale hätte der Lloydexpreßzug bereits 500 Meter vor der Ueberführung in gerader Linie halten müssen, während der Militärzug weit dahinter stand. Er wiederhole, daß auf die Art der neuen Bahnhofsanlage bei Mülheim das Unglück nicht zurückzuführen sei. Allerdings sei dort wie überall die Voraussetzung, daß die Signale beachtet würden.

Abg. Kölle (wirtsch. Vgg.): Wir benutzen die Gelegenheit, vor dem Lande zu bekennen, daß auch wir durch den Eisenbahnunfall aufs tiefste erschüttert sind, und daß wir bestrebt sein müssen, alles daran zu setzen, um derartige Katastrophen in Zukunft auszuschließen. Die Interpellation hat für uns nur insofern eine Berechtigung, als sie uns Gelegenheit zu übrigen scheint uns kein genügender Anlaß dazu vorzuliegen. Wir haben auch nach dem, was wir von der Regierung gehört haben, kein Mißtrauen gegen die preußische Eisenbahnverwaltung. Der zweite Teil der Interpellation ist durch die gesetzlichen Be⸗ stimmungen geregelt; erst wenn Preußen in diesem Punkt seine Pflicht verletzt hätte, könnten wir einschreiten. Es kann keine Rede davon sein, daß die nationalliberale Partei, wie der Abg. Hengsbach sagte, das Eisenbahnunglück zu Reklamezwecken benutzt hat. Die nationalliberale Partei hat 45 Anträge und Interpellationen eingebracht, warum sollte sie gerade ein so trauriges Ereignis zum Ausgangspunkt einer parteipolitischen Aktion machen? Die Forde⸗ rung des Abg. Hengsbach, mit dem System der Sparsamkeit zu brechen, verstehe ich nicht, da die Sozialdemokraten doch den Etat überhaupt ablehnen. Ich bitte, das zu beachten, was in der Petition des Vereins der deutschen Lokomotivführer niedergelegt ist.

Abg. Seyda (Pole): Ich lasse es dahingestellt, was die national⸗ liberale Partei veranlaßt hat, das schwere Mülheimer Unglück hier zur Sprache zu bringen. Ich glaube nicht, daß es derartige Inter⸗ essen gewesen sind, wie man ihr untergeschoben hat. Das Unglück an sich ist ein genügendes Motiv für eine Interpellation. Meine politischen Freunde haben um so mehr Anlaß, den Opfern des Unglücks und ihren Hinterbliebenen das tiefste Mitgefühl. auszudrücken, als sich darunter eine große Zahl braver polnischer Jünglinge befanden, die fern von der Heimat ihrer Militärpflicht genügten. Wenn durch die Unachtsamkeit eines Mannes ein solches Unglück verschuldet ist,

so muß man unwillkürlich zu dem Schluß kommen, daß dann eben die Einrichtungen nicht genügen. Dem Laien ist ein richtiges Urteil schwer.

dieser Erklärung gibt. Im

Es muß alles genau untersucht werden, nicht nur hinsichtlich der in Betracht kommenden Personen, sondern auch der Institutionen und der gesamten Organisation. Wir wünschen dringend, daß die Betriebssicherheit nach Möglichkeit gefördert wird, und besonders, daß kein Unterschied gemacht wird unter den Passagieren zwischen Luxus⸗, Soldaten⸗ und Arbeiterzügen. Den Hinterbliebenen muß die Entschädigung in durchaus liberaler und auskömmlicher Weise ohne ein langwieriges Verfahren und ohne Prozesse auf dem kürzesten Wege zu teil werden. Das wird in ge⸗ wisser Weise wenigstens eine Sühne für das schwere Unglück sein.

Abg. Werner (d. Rfp.): Den letzten Ausführungen kann ich mich nur anschließen. Es ist mir einigermaßen unverständlich, daß die nationalliberale Partei eine besondere Interpellation hier ein⸗ gereicht hat, nachdem durch die Verhandlungen im preußischen Land⸗ tage durchaus Klarheit geschaffen ist. Die preußische Eisenbahn⸗ verwaltung darf es an nichts fehlen lassen, vor allem nicht an ihrer Fürsorge für die Lokomotivführer, denn es gibt kaum einen auf⸗ reibenderen Dienst. Dem Bedauern über das Unglück schließen wir uns an.

Abg. Dr. Paasche (nl.): Auf die Vermutung des Abg. Hengsbach, daß uns parteitaktische Gründe dazu bestimmt hätten, ein so tief⸗ trauriges Unglück zum Gegenstand einer Interpellation zu machen, kann ich nur erwidern: man sucht niemand hinter der Tür, wenn man nicht selbst dahinter gestanden hat. Auch der Einwand, daß es sich um eine rein preußische Angelegenheit handele, trifft nicht zu; die Ausführungen meines Freundes Semler ließen es klar erkennen. Daß es sich hier gar nicht um eine preußische Angelegenheit handelt, geht schon daraus hervor, daß der preußische Eisenbahnminister nicht anwesend ist, und der Präsident des Reichseisenbahnamts mit Recht die Beantwortung übernommen hat. An ihn haben wir den dringenden Wunsch zu richten, alle Einrichtungen zu treffen, um Leben und Gesundheit der Fahrgäste sicher zu stellen. Warum steht auf so gefahrvollen Strecken licht ein zweiter Mann auf der Lokomotive? Wie ist es möglich, ß am helllichten Tage zwei Züge aufeinander fahren? Da müssen ch technische Mängel vorhanden sein. Jeder Beamte mußte öoch wissen, daß da, wo der eine Zug stand, in zehn Minuten r Schnellzug vorüber brausen mußte, ohne anhalten zu können. Den Lokomotivführer trifft ein schwerer Vorwurf, aber als normal enkender Mensch konnte er annehmen, daß die Strecke frei ist. Die Möglichkeit eines solchen Ereignisses liegt an der Organisation. Wir haben gute Gründe, hier im Reichstage darüber zu sprechen, denn wozu existiert ein Reichseisenbahnamt? Wenn größere Mittel ver⸗ langt werden, um die Hilfsmittel der modernen Technik in den Dienst der Betriebssicherungen zu stellen, so wird der Reichstag gern bereit sein, diesen Anforderungen zu entsprechen. Die technische Frage muß auch gelöst werden, wenn wir volle Sicherheit auf den Bahnen haben wollen.

Abg. Marx (Zentr.): Es handelt sich in der Tat um eine Frage, die das ganze Volk bewegt. Das läßt sich nicht leugnen, daß an Ort und Stelle Fehler vorgekommen sind. Die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses haben mich nicht überzeugen können, daß die preußische Eisenbahnverwaltung von aller Schuld frei ist. Es darf nicht die Linie so geschlängelt sein, daß vor einem so verkehrs⸗ reichen Bahnhofe die Strecke unübersichtlich ist. Diesen Vorwurf kann man nicht damit beseitigen, daß man sagt, solche Krümmungen gibt es überall. Eine solche S⸗Krümmung ist jedenfalls anderwärts nicht leicht zu finden. Daß ich mit meinen Ausführungen den Ein⸗ druck hätte machen wollen, daß wir der Regierung entgegenkämen, trifft nicht zu. Ich habe ausgeführt, daß wir allerdings als Volks⸗ vertreter bei solchen Unglücksfällen die Pflicht haben, in schärfster Weise Kritik zu üben und nichts zu beschönigen, daß wir aber ander⸗ seits auch die Pflicht der Gerechtigkeit der Staatsregierung gegenüber insofern zu wahren haben, als wir ihr durch Interpellation Ge⸗ legenheit geben, dem Publikum Rechenschaft abzulegen und damit Unzufriedenheit zu beseitigen, die nicht förderlich wirken kann.

Abg. Hengsbach 822 beruft sich dem Präsidenten Wackerzapp gegenüber auf Zeitungsberichte, namentlich die „Rheinisch⸗Westfälische Zeitung“, die „Kölnische Volkszeitung“ und den „Kölner Stadtanzeiger“, die die Wagen des Militärzuges als schlechtes Material be⸗ zeichnet haben.

Präsident des Reichseisenbahnamts Wackerzapp: Die Wagen des Militärzuges waren keineswegs alt, sondern gut erhalten.

Damit schließt die Besprechung.

Das Haus vertagt sich.

Präsident Graf Schwerin⸗Löwitz Sitzung abzuhalten Sonnabend 2

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schlägt vor, die Uhr mit der Tages⸗

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ordnung: Veteranenbeihilfen, erste Lesung des Kolonialbeamtengesetzen Nachtragsetat.

Vom Abg. Bindewald (Rfp.) wird angeregt, die Sitzung schon um 1 Uhr oder möglichst schon um 12 Uhr beginnen zu küsßun b

Nach kurzer Geschäftsordnungsdebatte, in der auf den kurz vorher gefaßten Beschluß der Senioren Bezug genommen wird wird der Vorschlag des Präsidenten angenommen. 8g

Schluß 5 ¾ Uhr.

Preußischer Landtag. 8 8 Haus der Abgeordneten. 55. Sitzung vom 22. April 1910, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sitzung, in der die zgeite Beratung des Etats des Ministeriums der geistlichen Unterrichts⸗ und Medizinalangelegenheiten im Kapitel „Elementarunterrichtswesen“ bei den Ausgaben für die Schulaufsicht fortgesetzt wird, ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ angelegenheiten von Trott zu Solz:

Meine Herren! Es ist eine notorische Tatsache, daß die Sozial⸗ demokratie sich bemüht, die Jugend in ihre Reihen zu ziehen. Z2 diesem Zweck hat sie eine weit verzweigte Organisation geschaffen, und diejenigen, welche in der Sozialdemokratie tätig sind, bemühen sich, dieser Organisation Leben und Inhalt zu geben, die Jugend immer mehr in die Reihen der Sozialdemokraten zu ziehen. (Sehr wahr! rechts.) Wenn das geschieht, kann man sich doch nicht wundern, wenn auch von der anderen Seite Bestrebungen hervortreten, die sich in Gegensatz zu den Bestrebungen der Sozialdemokratie stellen. (Abg. Dr. Liebknecht: Umgekehrt ist das der Fall; wir waren in der Aö⸗ wehr.) Es ist nicht richtig, daß das umgekehrt der Fal⸗ ist. (Abg. Dr. Liebknecht: Ich habe es nachgewiesen)) Wenn Sie die Protokolle von den Parteitagen der Sozial⸗ demokratie aufschlagen, finden Sie, wie eingehend darüber verhandelt wird, was man alles tun müsse, um die Jugend zur Sozialdemokratie heranzuziehen (sehr richtig! rechts), Rekruten für die Zukunft zu schaffen. (Abg. Dr. Liebknecht: Seit 1905 ist das! Lebhafte Rufe rechts: Ruhe!) Wenn der Herr Abg. Liebknecht immer spricht von Arbeitervereinigungen, von proletarischen Vereinigungen, so ist das nicht richtig; es sind sozialdemokratische Vereinigungen, die dazu dienen sollen, politische Zwecke zu fördern (sehr richtig! rechts); und das ist der einzige Gesichtspunkt, warum die Schulverwaltung diesen Bestrebungen, soweit sie dabei überhaupt in Betracht kommt, entgegen tritt. Das hat sie bisher getan, und das wird sie auch in Zukunft tun. (Bravog rechts.) Sie ist insofern daran beteiligt, als sie darüber zu befinden hat, ob einer Persönlichkeit, die Privatturnunterricht erteilen will, der Erlaubnisschein gegeben werden kann; und daß wir einer Persönlichkeit, die den Turnunterricht erwiesener⸗ maßen darüber kann gar kein Zweifel sein dazu benutzen will um politische Propaganda für die Sozialdemokratie zu machen, von unserem Standpunkt aus den Erlaubnisschein zum Turnunterricht nicht geben können, das, meine Herren, glaube ich nicht weiter nach⸗ weisen zu sollen. (Bravo! rechts. Abg. Dr. Liebknecht: Ist gar keine Rede von allem!) Die Schulbehörde hat nach keiner Richtung hin gegen die Gesetze gehandelt, sie hat durchaus auf dem Boden des bestehenden Rechts gestanden und nur die Gesetze zur Anwendung gebracht. Ich muß mit aller Entschiedenheit die entgegengesetzten Behauptungen auch meinerseits zurückweisen. (Bravo! rechts.) Es ist demgemäß von den Gerichten wiederholt entschieden worden (Abg⸗ Dr. Liebknecht: wo denn2), und wenn der Abg. Dr. Liebknecht sagt, mar könne gegen Verfügungen der Schulaufsichtsbehörden kein Recht findern setzt er sich ja selber in Widerspruch, denn er hat wiederholt von da bevorstehenden Entscheidung des Reichsgerichts gesprochen, welches die Praxis der Schulbehörden desavouieren würde. Wir wollen das ah⸗ warten. Ich kann also ein anderes Verfahren als bisher nicht in Aussicht stellen. (Bravo! rechts.) Ich halte es auch für durchaus mit dem Gesetz übereinstimmend, wenn gegen die Wirte, die in ihren Lokalen gesetzwidrige Handlungen dulden, vorgegangen wird. (Bravbo! rechts.) Darum handelt es sich. Diese Wirte erlauben, daß in ihrem Lokal eine Persönlichkeit, die dazu nicht befugt ist, Unterricht erteilt, sie beteiligen sich also an einer gesetzwidrigen Handlung, und es entspricht durchaus dem bestehenden Recht, wenn gegen eine ungesetzliche Handlungen fördernde Persönlichkeit vorgegangen wird. (Sehr richtig! rechts.) Wir müssen doch die Mittel haben, um die Bestimmungen, die einmal vorhanden sind, auch durchführen zu können, und lediglich das geschieht, aber nicht wird irgendwie das Gesetz gebeugt. (Abg. Dr⸗ Liebknecht: nur!)

Ich glaube, damit kann ich die Ausführungen des Herrn Abg. Liebknecht verlassen. (Sehr richtig! rechts.) Es wird ja wahr⸗ scheinlich dann wieder wie heute morgen im „Vorwärts' steh⸗

und Medizinal⸗

hen: der Abg. Liebknecht hat den Kultusminister gehörig zugedeckt. (Heiterkeit) Man sah es ihm an, wie unangenehm ihm das war (Abg. Leinert: sehr richtig!), wie unangenehm es ihm war, mit uns zu debattierer. Ach nein, Herr Liebknecht, es ist mir sehr angenehm, mit Ihnen in debattieren. (Abg. Liebknecht: Mir auch!) Ich habe dabei das Gefühl, eine gute Sache zu vertreten und das erfüllt mich mit Freude und innerer Genugtuung. (Bravol rechts.) . Ebenso wie Herrn Liebknecht gegenüber muß ich auch He Korfanty gegenüber behaupten, daß nicht mit verschiedenem Maß ge⸗ messen wird. Auch den polnischen Vereinen gegenüber wird nur das bestehende Recht angewandt. Auch sie müssen natürlich, wenn sie . L.2 Gesangunterricht oder Turnunterricht geben wollen, eine Erlaubnis dazu haben, und die wird eben dann nicht erteilt, wenn wir Bexeise dafür haben, daß ihr Vorhaben dazu benutzt werden soll, um nationale Bestrebungen zu fördern und gegen die bestehenden Einrichtungen Propaganda zu machen. (Bravo!l rechts.) Abg. Dr. Hintz mann (nl.): Ich möchte nochmals unserer grund⸗ sätzlichen Stellung gegenüber dem Verlangen der Kirche nach der Schulaufsicht Ausdruck geben. Wir können auf diesem Gebiete nur das positive Recht anerkennen, nicht das natürliche oder gar das übernatürliche, und daraus ergibt sich von selbst, daß wie das Recht des Staats auf die Schulaufsicht als ein unbedingter ansehen. Abg. Dr. Gaigalat kkons.): Das Eintreten verschiedener Abgeord⸗ neten für den freien Gebrauch der litauischen Sprache wird in den Herzen der Litauer einen freudigen Widerhall finden. Die Litauer sind gute Patrioten und wollen auch gern Deutsch lernen; aber

der Religionsunterricht muß ihnen in ihrer Muttersprache erteilt

3 Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Gerichtsentscheidungen, welche das Verhalten des Kultusministeriums billigen, existieren nicht, und die gegenteilige Behauptung des Ministers zeigt gerade, wie wenig er in dieser 8es orientiert ist. 8 Abg. Korfanty (Pole): Von den Deutschen wird nicht wie von

den Polen die Approbation für die Erteilung von Gesang⸗ und Turn⸗ unterricht verlangt. Zu vierstimmigen Kirchenliedern ist überhaupt die Erteilung von Gesangunterricht unnötig. Alle diese polnischen Gesangvereine sind unpolitisch. „Es bleibt dabei, daß man mit weierlei Maß mißt und nicht gleiches Recht gelten läßt; man gräbt alte, längst vergessene Bestimmungen aus, um dem polnischen Volke seine alten Sitten und Gewohnheiten zu rauben. Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten von Trott zu Solz: Der Herr Abg. Korfanty scheint die Sache noch nicht zu ver⸗ stehen. Ich habe behauptet, daß die hier in Betracht kommenden Bestimmungen jedermann gegenüber angewendet werden. Dabei bleibe ich stehen. Jeder, der Privatunterricht erteilen will, bedarf dazu der Genehmigung und wird ohne sie zum Privatunterricht nicht zugelassen. Allerdings handelt es sich nun darum, ob man die Genehmigung er⸗ teilt, und in dieser Beziehung wird natürlich unterschieden zwischen den verschiedenen Gesuchsstellern, ob Bedenken entgegenstehen oder nicht. Wenn es also wirklich so wäre, daß die Polen sich nur

zusammenschließen wollten, um das polnische Volkslied zu pflegen,

so würde dem Gesangslehrer ganz gewiß auch die Genehmigung erteilt werden können. Das ist aber eben nicht der Fall. Der Gesangverein wird benutzt, um politische Propaganda zu machen. Das ist der Grund, warum die Erlaubnis nicht gegeben wird.

Der Herr Abg. Liebknecht hat behauptet, solche Erkenntnisse der Gerichte, wie ich sie angezogen hätte, seien überhaupt nicht ergangen, und er würde mir dankbar sein, wenn ich ihm ein solches Erkenntnis nennen könnte. Ich will mir diesen Dank verdienen (Seiterkeit): Das Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts vom 27. März 1908, Zentralblatt der Unterrichtsverwaltung von 1909, Seite 338. Außer⸗ dem sind zahlreiche derartige Erkenntnisse ergangen, die meine Auf⸗ fassung bestätigen, in dem bekannten Schulstreik.

Abg. Hoff (fortschr. Volksp.): Der Lehrer Koch in Lehe hat seine Ehrenämter niederlegen müssen, und doch hat die Regierung gar kein Recht, die Niederleguug von Aemtern zu verlangen, zu deren Besetzung sie überhaupt keine Genehmigung zu erteilen hat. In Schleswig⸗Holstein ist aus rein bureaukratischen Rücksichten die Genehmigung zur Ein⸗ führung eines guten Lesebuches in der Volksschule versagt worden, und man hat ein schlechtes Lesebuch weiter führen lassen.

Abg. Dr. Liebknecht (Soz.) hält dem Minister gegenüber

nochmals seine Auffassung aufrecht und beruft sich auf ein Erkenntnis

des Reichsgerichts und des Landgerichts dafür, daß die alte Kabinetts⸗ order lediglich die schulpflichtige, aber nicht die schulentlassene Jugend

betreffe. Man hätte erwarten können, daß das Kultusministerium sich danach richten würde, aber das Verhalten des Ministeriums zeige die anze Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Schulwesen.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten von Trott zu Solz:

Meine Herren!

Das Kultusministerium hat sich nicht erst

neuerdings auf diesen Boden begeben, sondern es ist auf dem recht⸗ lichen Boden stehen geblieben, auf dem es schon seit langer Zeit stand. Das Landgerichtserkenntnis, welches Herr Abg. Liebknecht soeben ver⸗ slesen hat, ist ja eben das, gegen welches Revision beim Reichsgericht

chwebt, und ich versage mir gerade deshalb, weil die Sache noch nicht ausgetragen ist, auf die Ausführungen dieses Landgerichts⸗ erkenntnisses näher einzugehen. Die Ausführungen, die das Gericht

in diesem Erkenntnis gemacht hat, werden ja gerade in der Recht⸗ fertigung der Revision vor den

Reichsgericht angegriffen, welches demnächst in der Sache zu entscheiden haben wird. Daß das Kultus⸗ ministerium übrigens in seiner Auffassung der Dinge eine höchst⸗ instanzliche Entscheidung auf seiner Seite hat, möchte ich doch dadurch beweisen, daß ich aus dem von mir vorhin erwähnten Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts ebenfalls mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten einen Satz verlese:

Denn wie dargetan, lag es in der Befugnis der Schulaufsichts⸗ behörde, den Klägern die Erteilung von Turnunterricht zu ver⸗ bieten, wenn sie nach ihrem pflichtmäßigem Ermessen fand, daß die Kläger wegen Mangel an technischer Vorbildung Leben oder Ge⸗ sundheit der Schüler gefährdeten oder als Anhänger der Sozial⸗ demokratie bestrebt sein würden, der Staatsordnung widersprechende Anschauungen den Schülern beizubringen.

(Hört, hört! rechts.) Darauf will ich mich beschränken.

Abg. Korfan ty (Pole) erhebt Protest gegen die Behauptung, daß in den polnischen Gesangvereinen in Oberschlesien Politik getrieben werde. Es sei nicht richtig, daß die Kabinettsordern und Ministerial⸗ verfügungen ohne Rücksicht auf, die Partei angewendet werden. Die polnischen Vereine erhielten keine Genehmigung, es seien also nicht alle Preußen vor dem Gesetz gleich. Man wolle eben das polnische Volkslied verdrängen. F. 1 Abg. Dr. Liebknecht (Soz.) bleibt dabei, daß sich der Minister über die Entscheidung des Reichsgerichts hinwegsetze. Die Schul⸗ aufsicht sei der unzulässigen Anwendung der Gesetze nicht nur verdächtig, sondern schuldig.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten von Trott zu Solz:

Meine Herren! Ich bitte um Entschuldigung, aber ich muß noch bezüglich der Behauptung des Herrn Abg. Dr. Liebknecht eine kurze Ausführung machen, daß ich hier wohl eine Entscheidung des Ober⸗ verwaltungsgerichts für mich anführte, mich aber kurz über eine er⸗ gangene Entscheidung des Reichsgerichts hinwegsetzte. Das ist nicht richtig. Die Entscheidung des Reichsgerichts hat eine Verfügung der Regierung im wesentlichen aus formellen Gründen aufgehoben, und zwar deshalb, weil die Regierung in ihrer Verfügung keinen Unter⸗ schied gemacht hatte zwischen Erwachsenen und Nichterwachsenen, und aus dem Grunde hat das Reichsgericht in diesem Fall die Verfügung der Regierung aufgehoben. Also dieses Erkenntnis des Reichsgerichts kann gegen die Praxis des Kultusministeriums nicht angewendet werden. (Hört, hört! rechts.)

Abg. Hoff (fortschr. Volksp.) bedauert, daß ihm auf seine wiederholte Beschwerde keine Antwort zuteil geworden sei.

Die Besoldungen für die Schulräte bei den Regierungen werden bewilligt. 8 8 .

Die Petition des Landwirts Haacke in Holthausen, betreffend die Ausbildung der katholischen Lehrer, Leitung des Religions⸗ unterrichts in den Schulen und Ausübung der Kreisschul⸗ inspektion, wird der Regierung als Material überwiesen. Bei den Besoldungen der hauptamtlichen Kreisschul⸗ inspektoren und der Forderung der neuen 13 hauptamtlichen Stellen in Landsberg a. W., Glogau, Stendal, Halberstadt, Quedlinburg, Bitterfeld, Neumünster, Hemelingen, Herford, Witten, Fulda, Essen und Barmen bemerkt

Abg. Dr. Schepp (fortschr. Volksp.): Ich möchte nur kurz noch⸗ mals darauf hinweisen, daß wir eine schnellere Umwandlung der nebenamtlichen Kreisschulinspektoren in hauptamtliche wünschen, und dann auf das Anstellungsalter dieser Beamten aufmerksam machen. 4 % der Kreisschulinspektoren stehen in einem Lebensalter von 30 Jahren; das ist viel zu jung für ein so verantwortungsvolles Amt. Im Interesse der Schule ist zu wünschen, daß die Kreis⸗ schulinspektoren, denen mehrere hundert Lehrer unterstellt sind, in reiferem Lebensalter stehen. Die Statistik über 347 Kreisschul⸗ inspektoren zeigt, daß 69,9 % akademisch und nur 31,1 % seminarisch vorgebildet sind. Die meisten entstammen dem Ober⸗ lehrerstand; ich sage nichts gegen diesen Stand, aber der Volksschul⸗ betrieb ist ein ganz anderer als der in den höheren Schulen. Deshalb sollten zu Kreisschulinspektoren nur Männer gemacht werden, die eine erprobte Tätigkeit in der Volksschule hinter sich. haben. Der verstorbene Ministerialdirektor Kügler und die Minister Falk und Graf Zedlitz haben sich ebenfalls in diesem Sinne aus⸗ gesprochen. Nach Ostrowo ist jetzt ein Kreisschulinspektor berufen worden, der vorher Gymnasialdirektor war und unverheiratet ist; es sind in der Umgegend aber ältere bewährte Lehrer der Volksschule vorhanden, die verheiratet sind und ihre Kinder in entfernte Orte auf die höheren Schulen schicken müssen. Der Minister sollte dafür sorgen, daß die Seminaristen nicht zurückgesetzt werden. Das Tempo der Ersetzung der nebenamtlichen Kreisschulinspektorstellen durch hauptamtliche ist für uns viel zu langsam. Wir wollen hoffen, daß, wenn unsere Wünsche in dieser Beziehung einmal erfüllt werden, dann auch die Volksschullehrer mehr zu diesen Stellen herangezogen werden, auf daß sich das Wort erfüllt: Die Volksschule den Volks⸗ schullehrern. 9

Ministerialdirektor D. Schwartzkopff: Die Verurteilung der Ernennung in Ostrowo ist doch etwas verfrüht, denn die Stelle ist noch gar nicht frei, sondern nur interi⸗ mistisch besetzt. Wie die Besetzung schließlich erfolgen wird, kann ich heute noch nicht sagen. Man kann für diese doch recht schwierigen und an die körperliche Leistungsfähigkeit recht erhebliche Anforderungen stellenden Aemter doch auch nicht zu alte Be⸗ amte nehmen, aber wir werden uns bemühen, tunlichst schon erfahrene Personen zu gewinnen. Wenn einmal in einzelnen Fällen ein jüngerer Lehrer als Kreisschulinspektor angestellt wird, so erfolgt es nur, nach⸗ dem er vorher sehr lange kommissarisch beschäftigt gewesen ist und be⸗ sondere Tüchtigkeit bewiesen hat. Was die Verwendung von semina⸗ ristisch vorgebildeten Lehrern als Kreisschulinspektoren betrifft, so ist der Herr Minister damit durchaus einverstanden. Ein Drittel der Stellen ist auch bisher immer mit Seminaristen besetzt worden. Aus den statistischen Angaben kann man kein ganz klares Bild ge⸗ winnen, denn wenn da „Philologen“ gesagt wird, so befinden sich darunter eine ganze Anzahl von Seminaristen, die das Abiturienten⸗ eramen nachgemacht haben. Man muß schließlich doch die Per⸗ sönlichkeit so auswählen, wie sie tüchtig ist, nicht nur nach ihrer Vorbildung, und muß sehen, wie sich die betreffenden Herren in der Verwaltung bewährt haben.

Abg. Dr. Heß (Zentr.): Auch ich möchte die Bitte an den Herrn

Minister richten, daß eine größere Anzahl von seminaristisch vor⸗ gebildeten Kreisschulinspektoren angestellt werde. Ferner möchte ich bitten, daß diesen Kreisschulinspektoren, da sie verhältnismäßig spät angestellt werden das Durchschnittsalter kann man auf etwa 42 Jahre ansetzen —, eine Reihe von ihren früheren Dienst⸗ jahren angerechnet wird, damit sie das Höchstgehalt noch erreichen können. Abg. Rhiel (Zentr.) spricht sich gegen die vorgesehene hauptamtliche Kreisschulinspektorstelle in Fulda aus und beantragt deren Ablehnung. Der Bezirk sei viel zu groß, und die Verkehrsverhältnisse seien zu schwierig, als daß eine einzige, wenn auch noch so freudige Arbeitskraft dieses Amt so wahrnehmen könne, wie es erforderlich sei. Deshalb schlage er vor, Geistliche im Nebenamt mit der Kreisschulinspektion zu be⸗ trauen und dabei Protestanten und Katholiken gleichmäßig zu be⸗ rücksichtigen. 6

Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat von Bremen bemerkt, daß die Notwendigkeit dieser Stelle in der Kommission eingehend nachgewiesen sei.

Abg. Cassel (fortschr. Volksp.) schließt sich der Bitte des Abg. Schepp an, hauptsächlich erfahrene, nicht zu junge Kreisschulinspektoren anzustellen.

Abg. Dr. Hintzmann (nl.): Wir halten an unserem Grundsatz der

Anstellung hauptamtlicher Kreisschulinspektoren fest und werden darum die im Etat vorgesehenen neuen Stellen sämtlich bewilligen. Wir bedauern nur, daß nicht eine größere Zahl neuer Stellen vorgesehen worden ist. Ddie sämtlichen 13 neuen hauptamtlichen Stellen für Kreis⸗ schulinspektoren werden bewilligt, diejenige für Fulda in be⸗ sonderer Abstimmung gegen die Stimmen des Zentrums und der Polen.

Bei den Ausgaben für die Reise⸗ und Dienst⸗ unkosten der Kreisschulinspektoren bemerkt

Abg. Ernst (fortschr. Volksp.): Der Kreisschulinspektor gehört nicht in die Schreibstube, sondern mehr in seinen Bezirk. Die Schreib⸗ arbeiten der Kreisschulinspektoren sind aber so wesentlich gewachsen, daß sie sich besondere Sekretäre halten müssen, wenn sie nicht ungebührlich in ihrer Tätigkeit in ihrem Bezirk behindert werden wollen. Die in dem Etat vorgesehenen Entschädigungen müssen erhöht werden, da sonst die Kreisschulinspektoren von ihren eigenen Mitteln den Sekretär besolden müßten.

Bei den Ausgaben wendet sich

Abg. Siebert (kons.) dagegen, daß die Aufsichtsbehörden die Ge⸗ meinden hindern, den Lehrern angemessene Ortszulagen zu gewähren. Besonders unverständlich sei ihm dieses Eingreifen der Aufsichtsbehörde bei der Stadt Herford, wo durch die Erhöhung der Gemeinde nur eine ganz geringe Mehrausgabe erwachsen wäre.

Abg. Goebel (Zentr.): Die Lehrer beklagen sich, daß die Miets⸗ entschädigungen nicht mit dem Lehrerbesoldungsgesetz in Ueber⸗ einstimmung stehen. Aus einer Zusammenstellung der Nr. 2 der Schlesischen Schulzeitung vom Oktober 1909 über die Mietsentschädigungen in allen Provinzen geht hervor, daß der oberschlesische Industriebezirk am schlechtesten dasteht. Auch betreffs der Ortszulagen scheint von der Oppelner Regierung ein Druck auf die oberschlesischen Gemeinden ausgeübt worden zu sein. Man befürchtet, daß die Ergänzungszuschüsse gekürzt werden könnten, wenn die Gemeinden Ortszulagen geben würden. Ich bitte den Minister um eine beruhigende Erklärung in dieser Sache.

Abg. Reinbacher (fortschr. Volksp.): Ergänzungszuschüsse an die Gemeinden dürfen nur nach der Bedürftigkeit gegeben werden, aber nicht nach politischen Rücksichten. Auf diesem Standpunkt stehen alle Gemeinden. Wir freuen uns dessen, was wir haben, wenn es auch nur Kummerspeck ist, und beneiden keine andere Gemeinde, wenn sie mehr bekommt. Die Zuschüsse des Staates können aber zum Unsegen werden, wenn sie die Gemeinden veranlassen, die Orts⸗ zulagen nicht nach ihrer vollen Leistungsfähigkeit zu gewähren. Die Ortszulagen werden nicht zum Vergnügen gewährt, sie sollen nicht die Ueppigkeit der Lehrer fördern, sondern sie werden gewährt zum Ausgleich für Teuerungsverhältnisse. Sie sollen nach dem Gesetz nur da gewährt werden, wo die besonderen Verhältnisse es recht⸗ fertigen. Wo das aber der Fall ist, ist es eine Pflicht der Ge⸗ meinden, sie zu gewähren. Aber die Ortszulagen sind leider zu einer Quelle von Verstimmungen und Reibungen zwischen Lehrern und Schulverbänden geworden. Es ist immer Streit darum, ob und in welcher Höhe die Ortszulagen gegeben werden. So schlägt der Segen der Regelung der Besoldungsverhältnisse um und wird zum Unsegen. Als ich die Ehre hatte, in dieser Frage von der Re⸗ gierung in Potsdam empfangen zu werden, empfing mich der Dezernent stolz wie ein Spanier, er hieß Lehmann. Er sagte mir, daß die großen Gemeinden zu viel täten und die Ein⸗ heitlichkeit der Schulverwaltung zum Schaden der Schule störten.

für die Elementarschulen

Frankfurt a. M. und seinen Vororten hat man die Ortszulage von 900 gestattet, aber nicht den Vororten von Berlin, und doch sind dort die Verhältnisse nicht teurer als hier. Berlin hat nur eine Ortszulage von 750 beschlossen, es nimmt überhaupt eine exzeptionelle Stellung ein. Berlin hat einen Norden und einen Westen und muß nach dem Durchschnitt gehen. Aber anders liegt es in den westlichen Vororten von Berlin. Die Ortszulagen ringsum von Berlin sind natürlich verschieden, in manchen Vororten werden nur 300 gegeben, sechs Vororte im Westen wollten 900 ge⸗ währen. Alle Vororte von Berlin können nicht gleich behandelt werden, man kann doch nicht Alt⸗Glienicke mit Charlottenburg, Wittenau mit Schöneberg 1S. Der Stadt Schöneberg hat nun die Re⸗ gierung in Potsdam die Ortszulage von 900 nicht genehmigt; die Re⸗ gierung begründet dies damit, daß, wenn auchdie Lebensmittel in Schöneberg teuer seien, doch die Lehrer ihre Bedürfnisse in Berlin decken könnten, sie brauchten sie nur durch das Telephon zu bestellen, alle großen Geschäfte in Berlin sendeten ihre Wagen in die Vororte und lieferten die Waren ohne Transportkosten; ferner sagte die Regierung, es dürften jetzt nur 750 gewährt werden, damit noch innerhalb der vom Gesetz zugelassenen Höhe bis zu 900 später eine Erhöhung gewährt werden könne, da noch eine weitere Verteuerung der Lebens⸗ verhältnisse zu erwarten sei. Wenn die Lebensverhältnisse sich noch weiter verteuern, dann müssen die Besoldungsverhältnisse von neuem verbessert werden. Die Regierung sagte, diese 6 Orte könnten nicht weiter gehen mit der Ortszulage, weil7 andere Orte nicht leistungsfähig genug seien, um ihrerseits Ortszulagen in entsprechender Höhe zu gewähren. Mit einiger Anstrengung würden auch diese Gemeinden die Kosten aufbringen können, aber wenn sie wirklich nicht leistungsfähig genug sind, dann müssen eben die Staatszuschüsse für sie erhöht werden. Die sechs Gemeinden mit über 820 Lehrkräften dürften doch nicht zurückstehen, weil die sieben Gemeinden mit rund 700 Lehrkräften nicht dasselbe leisten können. Von der Regierung muß man sagen: sie soll regieren, aber nicht reglementieren.

Minister der geistlichen ꝛc. Angelegenheiten von Trott zu Solz:

Ich habe ja schon früher meine Auffassung über die Frage der Gewährung von Ortszulagen hier zum Ausdruck gebracht. Nachdem aber auf diese Frage von verschiedenen Seiten eingehend zurück⸗ gekommen ist, möchte ich doch noch einmal meine Stellungnahme kurz präzisieren.

Ich glaube den Intentionen des Gesetzgebers zu entsprechen, wenn ich mich auf diesem Gebiete zurückhalte. Die Absicht des Gesetzgebers ist gewesen, hier die Gemeinden als diejenigen hinzustellen, welche sich darüber schlüssig zu machen haben, ob sie solche Ortszulagen gewähren wollen und in welcher Höhe. Allerdings bedürfen ja nach dem Gesetz solche Beschlüsse der Gemeinden der Bestätigung der Regierung, und wenn Sie, meine Herren, diese Bestimmung in das Gesetz auf⸗ genommen haben, so haben Sie doch damit auch aussprechen wollen, daß die Regierungen, wenn sie vor die Frage der Genehmigung gestellt werden, eine sachliche Prüfung der Frage eintreten lassen und dann nach ihrem besten Wissen und Ermessen die Angelegenheit entscheiden sollen. Gegen die Entscheidung der Regierung ist nun auch nicht etwa der Unterrichtsminister als Be⸗ schwerdeinstanz zuständig, sondern der Provinzialrat. Sie haben also auch hier wieder im Gesetz ausdrücklich die Bestimmung gegeben, oaß eine Selbstverwaltungsbehörde entscheiden soll und nicht die Regiminalbehörde. Deshalb wird der Unterrichtsminister, glaube ich, richtig handeln, wenn er sich auf diesem Gebiete Zurückhaltung auf⸗ erlegt und den Dingen den geordneten Lauf läßt, der im Gesetze vor⸗ geschrieben ist.

Eine Ausführung, ich glaube von dem vorletzten Herrn Redner,

veranlaßt mich aber, doch noch hier besonders hervorzuheben, daß die Befürchtung unbegründet ist, daß einer Gemeinde deshalb, weil sie sich bereit findet, ihren Lehrern Ortszulagen zu geben, die Ergänzungs⸗ zuschüsse vorenthalten würden. Das ist nicht der Fall. Ich habe das auch gerade den Lehrern aus Oberschlesien, die bei mir gewesen sind, ausgesprochen, weil bei ihnen die Befürchtung bestand, und habe das ausdrücklich in einem Erlaß niedergelegt. Durch meine Ausführungen darüber den Lehrern Oberschlesiens gegenüber scheint, nach dem, was der Herr Vorredner ausgeführt hat, ein Mißverständnis entstanden zu sein; denn das habe ich, entsprechend der Stellung, die ich in der ganzen Frage eingenommen habe, nicht gesagt, daß in den Gemeinden Oberschlesiens Ortszulagen gewährt werden müssen. Ich habe mich auch den Lehrern aus Oberschlesien gegenüber in dieser Frage zurück⸗ haltend verhalten. Abg. Korfanty (Pole): Die finanzielle Lage der ober⸗ schlesischen Gemeinden ist außerordentlich schwierig, sie sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt und nicht in der Lage, die Ortszulagen aufzubringen. In keiner Gemeinde beträgt der Zuschlag weniger als 200 %. In gewisser Beziehung könnten die Gemeinden allerdings sparsamer wirtschaften, sie brauchten nicht so viel Geld zum Fenster hinauszuwerfen für Zwecke, die nur dazu angetan sind, die Gegensätze zwischen der polnischen und der übrigen Bevölkerung zu verschärfen.

Abg. Cassel (fortschr. Volksp.) bittet um eine lovale Aus legung der Bestimmung, daß Zuschüsse zum jüdischen Religions unterricht nur gewährt werden, wenn mindestens 12 Schüler an dem Unterricht teilnehmen. Besonders auf dem Lande wohnten die Juden in großer Zerstreuung, und es sei daher oft schwer, diese Zahl von 12 aufzubringen. Der Staat müsse doch selbst ein Inter⸗ esse daran haben, daß diese Kinder nicht ohne irgendwelchen Religions⸗ unterricht aufwüchsen. Wenn der Wortlaut des Gesetzes keine andere Auslegung zulasse, müsse auf dem Wege einer Aenderung des Gesetzes Abhilfe geschaffen werden.

Ministerialdirektor D. Schwartzkopff: Der Herr Minister steht der Frage, wie weit von Staats wegen dem jüdischen Religions⸗ unterricht geholfen werden kann, durchaus wohlwollend gegenüber, und die Unterrichtsverwaltung bemüht sich, diesen Bestrebungen nach Kräften entgegenzukommen. Aber es liegen auf diesem Gebiete doch rechtliche Schwierigkeiten vor. Man kann die jüdischen Schulen nicht besser behandeln als die katholischen und evangelischen. Es gibt auch Gegenden, wo die Katholischen und die Evangelischen sehr stark in der Zerstreuung leben. Wenn man die grundsätzliche Forderung, daß mindestens 12 Schüler vorhanden sein müssen, fallen lassen will, muß man alle Konfessionen in Betracht ziehen, und dadurch würde dem Staate eine recht erhebliche Mehrbelastung erwachsen.

Bei den Ergänzungszuschüssen an Schulverbände wegen Unvermögens für die laufenden Ausgaben der Schul⸗

unterhaltung bemerkt

Abg. Ziethen (freikons.): Die Belastung der Gemeinden Groß Berlins im Verhältnis zu ihrer Steuerkraft ist außerordentlich ge stiegen. Nun haben aber die Gemeinden für ihre Zuschläge zur Einkommensteuer nicht diejenige Bewegungsfreiheit, wie die Gemeinden in der Provinz. Die räumlichen Beziehungen zwingen auch die ärmeren emeinden, bei der Bemessung der Zuschläge Rücksicht zu nehmen auf die bessergestellten Gemeinden. Die Gründe, welche diese Letgervrberee Be lastung einzelner Gemeinden, namentlich im Osten, herbeigeführt haben, liegen darin, daß im Westen die wohlhabende und im Osten die ärmere Bevölkerung sich ansiedelt. Der § 53 des Schul unterhaltungsgesetzes, der einen Ausgleich zwischen den Beschäftigungs⸗ und Wohngemeinden herbeiführen will, hat eine Hilfe nicht gewährt. Es sollte deshalb zunächst einmal eine kommunale Zusammenfassung