1910 / 97 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 26 Apr 1910 18:00:01 GMT) scan diff

Mecklenburg⸗Schwerin.

In einem Gnadenerlaß aus Anlaß der Geburt des Erbgroßherzogs bestimmt, „W. T. B.“ zufolge, Seine König⸗ liche Hoheit der Großherzog, daß allen Personen, gegen die bis zum 22. April d. J. diesen Tag mit eingerechnet Geld⸗ oder Freiheitsstrafen von nicht mehr als sechs Wochen bezw. 150 rechtskräftig erkannt ist, diese Strafen, soweit sie noch nicht vollstreckt sind, und die rückständigen Kosten erlassen werden. Haftstrafen bleiben ausgeschlossen sofern zugleich auf Ueberweisung an die Landespolizeibehörde erkannt sit.

Oesterreich⸗Ungarn.

Das österreichische Herrenhaus hat gestern die Anleihevorlage nach längerer Debatte angenommen.

Wie das „W. T. B.“ meldet, gab Baernreiter im Laufe der Beratung der Ansicht Ausdruck, daß der von der Regierung ent⸗ wickelte Finanzplan ein Plan von der Hand in den Mund sei. Be⸗ züglich der angeregten Ersparungskommission befürwortete er das Bei⸗ spiel der preußischen Immediatkommission. Plener er⸗ klärte, bei Einführung von neuen Steuern sei um so größere Vorsicht geboten, als man noch immer vor der Möglichkeit ganz gefährlicher auswärtiger Verwicklungen stehe, die die Anspannung der Steuerkraft mit sich bringen könne, sodaß man gewisse Reserven in relativ friedlichen Zeiten nicht ganz erschöpfen dürfe. Der Fi. nzminister Dr. von Bilinski verwahrte die Regierung gegen den Vorwurf der Schwäche, weil sie auf den Rück⸗ stellungen im Budget nicht beharrte. Die Beseitigung des Defizits durch bloße Ersparungen sei unmöglich. Seit der notwendig ge⸗ wordenen Zurückziehung der Biersteuervorlage könne auch von einer Sanierung der Landesfinanzen nicht mehr die Rede sein. Der Staat, der die größeren Steuern für sich brauche, könne die Länder nur an dem Erlöse einzelner Steuergattungen, insbesondere an den Verzehrungssteuern, teilnehmen lassen. Der Minister rechtfertigte schließlich die Rentenbegebung durch die Postsparkasse, weil aus finanzpolitischen sowie aus staatspolitischen Gruͤnden eine weitere Heranziehung des gesamten Kapitals aller Banken sowie der Bevölkerung wünschenswert sei. Der Minister sprach die Hoffnung aus, daß die Rothschild⸗Gruppe an den nächsten Emissionen sich wieder beteiligen werde. Von einer gleichmäßigen Behandlung aller Banken bei der Begebung der Renten durch die Postsparkasse könne jedoch nicht abgegangen werden.

Großbritannien und Irland.

Das Unterhaus hat gestern nach einer Meldung des T. B.“ in zweiter Lefung das Finanzgesetz mit 328

gegen 242 Stimmen angenommen. Die irischen Nationalisten stimmten mit der Regierungspartei, die O'Brienisten mit der Opposition.

Im Laufe der Debatte erklärte der Schatzkanzler Lloyd George, daß seit der ersten Einbringung des Budgets der Handel zugenommen und die Beschäftigungslosigkeit abgenommen habe; er sei der festen Ueberzeugung, daß das Land sich auf dem Wege zu einem geschäftlichen Aufschwung befinde, wie es einen solchen größer selten erlebt habe.

Rußland.

Der Reichsrat hat, wie das „W. B.“ meldet, gestern den Gesetzentwurf über Maßnahmen zur Beseitigung der Preissteigerung des Zuckers auf den Innenmärkten an⸗ genommen und sich dann bis zum 11. Mai vertagt.

1 9 Türkei. —†

8 Nach dem letzten Bulletin ist der Zustand des Sultans andauernd befriedigend.

Die türkischen Vertreter haben, „W. T. B.“ zufolge, vorgestern bei den Schutzmächten eine Erklärung abgegeben, nach welcher die Pforte die Eidesleistung der kretischen Abgeordneten auf den Namen des Königs der Hellenen als einen argen Uebergriff gegen die Souveränitätsrechte der Türkei betrachtet und die Mächte auffordert, dies zu verhindern. Die Pforte würde sich gegen die Eidesleistung wehren.

Die Nachrichten aus Oberalbanien lauten un⸗ günstig. Nach Meldungen des „W. T. B.“ stehen bei Ghilan 3000, an der Drenitza 2000, in der Gegend von Lipljan 4000, bei Podrima 5000, in der Umgegend von Priz⸗ rend bei Podgori 3000, bei Lapleseli und bei Ljuma je 6000 bewaffnete Arnauten; hierzu kommt noch der 2000 Mann starke Stamm der Ostrosops. Weitere zwölf Bataillone und vier Batterien sind nach Albanien unterwegs, sodaß die Gesamtzahl der Truppen 52 Bataillone und 16 Batterien beträgt. Die Reservisten von Saloniki sind einberufen worden. Schefket Torget Pascha hat versäumt, das Defilé von Katschanik rechtzeitig zu besetzen, sodaß sich 3000 Arnauten dort festsetzten und den Bahnverkehr hindern. Sie ließen nur die Post passieren, entwaffneten zwanzig einen Bahnzug begleitende Soldaten und zwangen diese, nach Uesküb zurückzukehren. Militärtransporte sind auf dieser Bahnstrecke eingestellt worden. 8

Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika Sherman hat gestern in Saint Louis vor der Industrie⸗ vereinigung eine Rede gehalten, in der er, „W. T. B.“ zu⸗ folge, den neuen Tarif warm verteidigte und sagte:

Die Schutzzollpolitik werde von Amerika niemals aufg egeben werden. Das neue Gesetz werde den Fehlbetrag wahrscheinlich im ersten Jahr verschwinden lassen. Andererseits übersteige die Einfuhr der letzten acht Monate diejenige der ent⸗ sprechenden Zeit im Vorjahr um mehr als 200 Mill. Dollars. Neun Zehntel der eingeführten Waren könnten in Amerika hergestellt werden. Wenn die Tariffrage noch einmal wieder aufleben sollte, würde es vielleicht für notwendig befunden werden, die Einfuhrzölle in einigen Punkten noch zu erhöhen. ““ ““

Asien.

Die Lage in der Provinz Urmia ist nach einer Meldung der „St. Petersburger Telegraphenagentur“ äußerst schwierig, da weder die persischen Behörden noch die Führer der türkischen Truppenabteilung, die mehrere Gebiete besetzt hält, für Ordnung und Sicherheit sorgen. Die mohammedanische Bevölkerung zeigt offene Feindschaft gegen die Christen, ins⸗ esondere gegen die orthodoren Syrer. Die Gutsbesitzer be⸗ drängen die in ihrer Leibeigenschaft befindlichen Christen, Kurden verüben nächtliche Ueberfälle, rauben die Christendörfer aus, entführen die Frauen und zwingen sie, den Islam anzu⸗ nehmen. Ein vor drei Wochen entführtes orthodoxes Mädchen wurde trotz des Protestes des russischen Konsuls nicht aus⸗ geliefert. Ohne das energische Einschreiten Rußlands und Englands besteht keine Hoffnung auf Wiederherstellung der Ordnung und Erleichterung der Lage der Christen.

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Die Ber⸗eper die gestrigen Sitzungen des Reichs⸗ tags und de [Belluses der Abgeordneten befinden sich in der Ersten um Zweiten Beilage.

Das Haus der Abgeordneten setzte in der heutigen (58.) Sitzung, welcher der Minister der geistlichen ꝛc. An⸗ gelegenheiten von Trott zu Solz beiwohnte, die zweite Beratung des Etats des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts⸗ und Medizinalangelegenheiten im Kapitel „Unizpersitäten“ fort.

Als Zusschuß für die Universität Münster werden 541 518 ℳ, 62 787 mehr als im Vorjahre, gefordert. Hierzu liegt folgende Resolution der Budgetkommission vor:

„die Stagatsregierung zu ersuchen, zur besseren Ausgestaltung und Ausstattzung der philosophischen Fakultät der Universität Münster in den nächsten Etat erheblichere Mittel einzustellen“.

Abg. Haarsmann e Ueber den Wunsch eines vollständigen Ausbaues der Umiversität Münster sind sich alle Parteien des Provinzial⸗ landtages in Westfalen einig. Die Provinz Westfalen hat früher eine Volluniversität gehabt, es erklärt sich deshalb ihr Wunsch, daß sie nicht hinter anderen Universitäten in dieser Beziehung zurückstehen möchte. Mit Neid sehen whir Westfalen auf das Blühen der Universität in Bonn, namentlich was die wissenschaftliche Förderung der Landwirt⸗ schaft betrifft. In der Generaldebatte ist auch ein rheinischer Abgeordneter, der Abg. Eickhoff, für den Ausbau der Uni⸗ versität Münster eingetreten, Abgeordnete anderer Provinzen haben sich ihm angeschlossen, sodaß wohl Einmütigkeit in dieser Frage besteht. ir sind ja der Regierung dankbar für das, was sie bisher getan hat, auch dafür, daß der Minister dem Abg. Schmedding gegenüber ein Entgegenkommen gezeigt hat. Der Minister würde sich den Dank der Provinz Westfalen er⸗ werben, wenn er dem berechtigten Wunsche nachkäme. Vor allem ist notwendig die Schaffung einer eigenen medizinischen Fakultät und einer evangelisch⸗theologischen Fakultät. Münster ist eine moderne Stadt, und wer da sagt: in Münster ist es finster, versündigt sich an der Wahrheit. Widerwärtige Gehässigkeit und Unduldsamkeit in religiösen Dingen wollen wir nicht aufkommen lassen. Heute sollten alle West⸗ falen sich einig zeigen.

Abg. von Gescher dan⸗ In dem Wunsche der Ausgestaltung der Universität Münster sind sich alle Bewohner und Vertreter West⸗ falens einig; das kann ich nur aus vollem Herzen bestätigen. Der Grund für diese auffallende Einigkeit liegt in dem ausgesprochenen Rechtsgefühl des Westfalen. Das bäumt sich dagegen auf, daß seine Pro⸗ vinzialuniversität ungleich schlechter behandelt werden soll als alle übrigen Universitäten des Landes. Man sagt, daß das jüngste Kind meistens verzogen wird; von dem jüngsten Kinde unter den preußischen Uni⸗ versitäten kann man dies beim besten Willen nicht behaupten; im Gegenteil, die Universität Münster hat sich bereits den Namen des Aschenbrödels unter den preußischen Universitäten zugezogen, und wie sehr sie diesen Namen verdient, illustriert schon die eine Zahl, daß von den Gesamtaufwendungen für die 10 preu⸗ ßischen Universitäten Münster nicht etwa , sondern nur 2s und von den außerordentlichen Ausgaben sogar nur bekommt. Immerhin zeigt der gegenwärtige Etat ein freundlicheres Bild für diese Universität, und die Provinz Westfalen weiß die wohlwollende Erklärung des Ministers voll zu würdigen. Die Regierung hat die moralische Verpflichtung, Münster zu einer vollen Universität aus⸗ zubauen; vor allem muß die Universität eine voll ausgestaltete medizinische Fakultät haben.

Abg. Schmedding (Zentr.): Ich kann mich den Wünschen der Vorredner nur anschließen. Münster steht den übrigen preußischen Universitäten in jeder Beziehung nach. Auch wir legen besonderen Wert auf den vollen Ausbark der medizinischen Fakultät, da die Zahl der Medizin Studierenden stetig im Wachsen begriffen ist. Dem Minister ist die westfälische Bevölkerung für seine wohlwollende Hal⸗ tung dankbar. Die Stadt Münster hat nahezu 400 000 für die Universität aufgewendet; deshalb erwarten wir, daß auch der Staat mit größeren Mitteln sich betätigt.

Abg. Haarmann⸗Altena (nl.): Auch ich hoffe, daß die be⸗ rechtigten Wünsche der Provinz bald in Erfüllung gehen, und daß aus dem Aschenbrödel eine schöne, blühende Jungfrau werden möge. Wir haben keine Ueberproduktion an Universitäten. Seit der Gründung von Bonn im Jahre 1818 ist keine neue Universität errichtet worden, und doch hat sich die Bevölkerung seitdem verzehnfacht.

Der ordentliche Zuschuß für die Universität Münster wird darauf bewilligt und die Resolution der Budgetkommission an⸗ genommen, ebenso ohne Debatte der Zuschuß für das Lyceum in Braunsberg.

Der Zuschuß für das Charité⸗Krankenhaus in Berlin ist in Höhe von 794 791 ℳ, d. s. 107 515 mehr als im Vorjahre, in den Etat für 1910 eingestellt; im Extra⸗ ordinarium sind für die Charité 1 149 420 ausgeworfen. Darunter befindet sich ein Posten von 427 000 zur Deckung des Fehlbetrages bei den sächlichen Fonds der Charité.

Referent Abg. Dr. von Savign y führt aus, daß diese Fehl⸗ beträge offenbar der unzureichenden Dotierung dieser Fonds ihre Ent⸗ stehung verdankten.

Ein Kommissar des Finanzministers bestreitet dies. Der ordentliche Zuschuß für die Charité habe sich seit 1897 mehr als verdreifacht und habe noch im letzten Jahre eine sehr beträchtliche Erhöhung erfahren. b

Abg. Busch (Zentr.) tritt für die Anstellung eines katholischen Geistlichen im Hauptamt am Charité⸗Krankenhause ein. Ein Raum zur Abhaltung des Gottesdienstes müsse dort vorhanden sein.

Abg. Sauermann (Zentr.): Das Pflegepersonal in der Berliner Charité sollte höhere Löhne und kürzere Arbeiszeit haben.

Der Zuschuß für das Charité⸗Krankenhaus wird ge nehmigt und darauf der Rest des Kapitels „Universitäten“ ohne Debatte bewilligt. 4 8 6 1

(Schluß des Blattes.) 1

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Statistik und Volkswirtschaft. 8

Ausgaben für alkoholische Getränke im Haushalte minderbemittelter Familien.

In dem vom Kaiserlichen Statistischen Amt im Märzheft des „Reichsarbeitsblatts“ (S. 189 202) veröffentlichten „Beitrage zur Alkoholfrage“, auf den schon in Nr. 77 des „Reichs⸗ und Staats⸗ anzeigers“ hingewiesen wurde, ist auch zahlenmäßig festgestellt, welche Rolle der Alkohol im Arbeiterhaushalte spielt. Diese Frage ist von besonderer Wichtigkeit, da die Gefahr besteht, daß bei der Begrenztheit des Arbeitereinkommens der Anteil der Aufwendungen für alkoholische Getränke unter den Aus⸗ gaben für den Lebensunterhalt überhaupt so groß wird, daß der Rest der Einnahmen nicht mehr ausreicht, um eine Lebens⸗ haltung zu gewährleisten, wie sie zur Erhaltung eines gesunden und arbeitsfähigen Geschlechts erforderlich ist. Eine neuere Untersuchung, deren Ergebnisse ein Urteil über jene Frage gestatten, liegt für das Jahr 1907 in der vom Kaiserlichen Statistischen Amte angestellten Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche vor. Bei dieser hat für 155 Arbeiter⸗ und 60 Beamten⸗ und Lehrerfamilien eine Sonderermittlung hinsichtlich des Verbrauchs alkoholischer Getränke stattgefunden, bei der nicht nur die Ausgaben für alkoholische Getränke gesondert aus⸗ ezählt wurden, sondern auch von den Ausgaben für Vergnügungen,

für Alkohol ausgegeben angesehen wurde. Alsdann stellte heraus: Sämtliche 155 Arbeiter familien wand!

ei einer durchschnittlichen jährlichen Gesamtausgabe von 1789 35 5 86,30 oder 4,8 % für alkoholische Getränke auf, säm 5 50 Beamtenfamilien bei einer Gesamtausgabe von 2850,89 n.

71,44 oder 2,5 %. Nach der Wohlhabenheit gegliedert, er 8 sich, daß bei den Arbeiterfamilien mit einer jährlichen Gesamtausgat von 1600 bis 2000 auf alkoholische Getränke 83,87 9 4,6 %, bei den Beamtenfamilien von der gleichen Gesamtausgabe hingegen nur 47,54 o der 2,5 % auf alkoholische Getränke ent⸗ fielen. Bei einer beiderseits gleichen Gesamtausgabe von 2000 bis 3000 wurden von den Arbeiterfamilien 98,12 oder 4,30

von den Beamtenfamilien 70,72 oder 2,7 % für den gleichen Zweck aufgewendet. 1

Die Erhebung gibt gleichzeitig einen Anhalt für die Beantwortung der Frage, in welchem Verhältnisse die Ausgaben für Alkohol zu denen für Nahrungs⸗ und Genußmittel überhaupt stehen. Im Durchschnitt sämtlicher Arbeiterfamilien (nicht nur der bei der vorerwähnten Sonderuntersuchung betrachteten) mit unter 2000 Jahresausgabe wurden für alkoholische Getränke im Hause oder im Wirtshause jährlich 62,46 ausgegeben gegenüber 23,50 bei fämtlichen Beamtenfamilien. Das sind im ersteren Falle 8,02 %, im letzteren Falle 3,18 % sämtlicher Ausgaben für Nahrungs⸗ und Genußmittel (ausschließlich von Tabak, aber einschließlich alkoholfreier Getränke wie Limonade u. dgl.). Bei einer beiderseits gleichen Jahresausgabe von 2000 bis 3000 entfielen auf die beiden Familiengruppen 93,58 bezw. 68,12 das sind bei den Arbeitern 9,18 %, bei den Beamten 7, 3 % der Nahrungs⸗ und Genußmittelausgaben. In Wirklichkeit dürfte der Anteil der Alkoholausgaben an den gesamten Nahrungs⸗ und Genuß⸗ mittelausgaben noch etwas höher sein, da ein Teil des Verbrauchz außer dem Hause, der ja nicht nur im Wirtshause stattfindet, hier nicht erfaßt, sondern in den Ausgaben für Vergnügungen u. dgl. mit⸗ enthalten sein dürfte. Auch geben die mitgeteilten Zahlen kein Bild von dem Alkoholverbrauch im allgemeinen. Dazu ist einmal die Zahl der untersuchten Familien zu gering; andererseits stellen diese Familien, die ein Jahr hin⸗ durch regelmäßige Anschreibungen ihrer täglichen Ausgaben vorzunehmen imstande waren, eine Auslese dar, die in ihrer ganzen Lebensführung wohl über dem Durchschnitt stand. Immerhin aber geht aus den Berechnungen hervor, daß der Alkoholverbrauch in den Arbeiterfamilien ziemlich beträchtlich war, und daß er sich wesentlich über denjenigen erhob, der in Familien anderer Berufszweige, die über die gleichen Einkommen verfügten, festzustellen war.

Vergleicht man mit den Ergebnissen der deutschen Erhebung die der letzten allgemeinen Uutersuchung des Arbeitsamts der Ver⸗ einigten Staaten von Amerika, die sich auf 2567 Familien erstreckte, so findet man, daß die nordamerikanischen Arbeiter, deren Lebens⸗ haltung als die zurzeit höchste angesehen wird, im Durchschnitt nur 1,62 % ihrer Gesamtausgaben auf alkoholische Getränke verwandten. Allerdings waren von diesen Familien 1265 oder 49,5 % abstinent. Werden nur die nicht abstinenten berücksichtigt, so erhöt sich der Prozentsatz auf 3,19 % der Gesamtausgaben, Auch dieser Satz ist noch niedriger als der oben erwähnte für die beobachteten 155 ausgesuchten deutschen Arbeiterfamilien. 1

Eine neuere nordamerikanische Erhebung von Wirtschaftsrechnungen New Yorker Arbeiterfamilien (Theo Standard of living among Workingmen’s Families in New VYork City by Robert Coit Chapin [New. Vork 1909]) hat bezüglich des Alkoholverbrauchs zu folgenden Ergebnissen geführt: Von 361 Arbeiterfamilien wurden, nach dem Einkommen gegliedert, für Alkohol in und außer dem Hause durchschnittlich ausgegeben:

Einkommen Ausgaben für Alkohol

Dollar ollar

699

799.

NLEEE 111u“

99 36,65 1000 1099 . . .. 6075 E1““

Ueber die Beteiligung der verschiedenen Nationalitäten am Alkoholgenuß ergab die Untersuchung, daß von den unter⸗ suchten Familien überhaupt Ausgaben für im Hause genossenen Alkohol verzeichneten: 1

46,3 % der Familien nordamerikanischer Herkunft 18 deutscher 70,8 irischer 67,9 farbiger 100,0 89,4 sis 84,4 österreichischer

8119 98,2 . italienischer 11“ Auch diese Teilerhebung spricht für einen stärkeren Alkoholverbrauch bei den deutschen Arbeitern im Vergleich mit den nordamerika⸗

nischen.

in % des

Die Bewegung der Bevölkerung in Elsaß⸗Lothringen im Jahre 1908.

Nach dem Statistischen Jahrbuch für Elsaß⸗Lothringen (III. Jahr⸗ gang) wurde die Gesamtbevölkerung Elsaß⸗Lothringens um die Mitte des Jahres 1908 auf 1 863 200 geschätzt, d. i. auf 18 400 mehr als um die Mitte des Vorjahres und auf 309 200 mehr als vor 30 Jahren. Bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 waren, einschließlich von 81 109 Militärpersonen, 935 807 Bewohner männlichen und 878 757 weiblichen Geschlechts, zusammen 1 814 564 Bewohner festgestellt. Lebendgeboren wurden im letzten Berichts⸗ jahre 50 887 Kinder, totgeboren 1479, sodaß auf je 1000 Bewohner 28,1 Geburten entfielen; diese Geburtsziffer hatte i. J. 1901 noch 31,8 %o betragen und ist seitdem fast ununterbrochen von Jahr zu Jahr gesunken. Außerehelicher Abkunft waren von den 52 366 neu⸗ geborenen Kindern 3771, d. s. 7,20 %; von den 1325 Kindern, die bei Zwillings⸗ oder Drillingsgeburten zur Welt kamen, waren 64 außerehelich und 77 tot geboren. Gestorben sind im ganzen 34 363 Personen lausschließlich der Totgeborenen), darunter 12 752, d. s. 37,1 %, nach Ablauf des 60. Lebensjahres und 206 sogar erst nach 90 und mehr Lebensjahren. Im 1. Lebensjahre starben 8767 Kinder, d. s. 172 auf je 1000 Lebendgeborene, daneben kamen 28 totgeborene Kinder auf je 1000 Lebendgeborene. Im Alter von 1 bis 5 Jahren starben 2644 Kinder, sodaß etwa ein Drittel aller Sterbefälle (33,2 %) Kinder der ersten 5 Lebensjahre betraf. Von den 247 Selbstmördern waren nur 165 Elsaß⸗Lothringer, 64 gehörten anderen deutschen Staaten an, 13 waren Ausländer und 5 unbekannter Staatsangehörigkeit: durch Vergiftung hatten 7 Selbstmörder geendet. Von den 964 „tödlichen Verunglückungen“ waren 49 durch Mord oder Totschlag herbeigeführt, 151 durch Ertrinken, 141 durch Ueberfahren usw., 17 der Verunglückten waren durch Un⸗ vorsichtigkeit erschossen, 23 durch Tiere verletzt, 13 waren einer Ver⸗ giftung erlegen. Der Ueberschuß der Geburten über die Sterbe⸗ fälle betrug im Berichtsjahre 16 524, d. s. 8,9 % der mittleren Be⸗ völkerung, und war geringer als in den beiden Vorjahren. Die Zahl der Zugewanderten unter der Zivilbevölkerung war in den Jahren 1900 bis 1905 um 3954 höher als die Zahl der Abgewanderten gewesen, nachdem bis 1900 für alle 6 Jahrfünfte seit 1871 ein Ueberwiegen der abgewanderten Personen über die zugewanderten fest

gestellt worden war.

Zur Arbeiterbewegung.

1. für das Baugewerbe in einer Zuschrift folgende arstellung: „Die dem Deutschen Arbeitgeberbund für das Bau⸗ gewerbe nahestehenden baugewerblichen Fachblaäͤtter setzen in dieser

Ausgänge u. dgl. schätzungsweise ein gewisser Prozentsatz als

Woche die Veröffentlichung der Zahlen

Einkommens

Von der Lage im Baugewerbe gibt der Deutsche Arbeit⸗

der ausgesperrten Arbeiter

fort. Danach sind u a. bisher als entlassen gemeldet worden: im Königreich Sachsen 28 000, in Elsaß⸗Lothringen 6000, in Baden 2500, im Frankfurter (mitteldeutschen) Bezirk 12 000, in Posen 4100, in Mecklenburg 4800, in Pommern 2500, in der Lausitz 1000, in Ostpreußen 2800, Westpreußen 4500, im bergischen Bezirk 3100, Braunschweig 2200. Diese 12 Bezirksverbände haben demnach zu⸗ sammen 70 000 Mann ausgesperrt. Die übrigen 15 großen Bezirks⸗ verbände (darunter ganz Nord⸗, Nordwest⸗, in Westdeutschland, Bayern, Württemberg, Thüringen, Provinz Sachsen, Brandenburg, Schlesien) werden ihre Zahlen noch im Laufe der Woche bekannt geben, ebenso die dem Bund direkt angeschlossenen Ortsverbände.“ Die in den Lagerbierbrauereien, Malzfabriken und Bierniederlagen Groß⸗Berlins beschäftigten organisierten Arbeiter und Handwerker nahmen, wie die „Voss. Ztg.“ be⸗ richtet, am Sonntag in einer von mehr als 5000 Personen besuchten Versammlung Stellung zu den zwischen der Lohnkommission der Gewerkschaften und der Kommission des Vereins der Brauereien geführten Tarifverhandlungen. Der alte Tarifvertrag ist am 1. April abgelaufen und vorläufig verlängert worden. Die Arbeiter fordern einen zweijährigen Tarifvertrag mit einer Lohn⸗ erhöhung von 3 die Woche für die meisten Arbeiterkategorien. Weiter fordern sie eine Verkürzung der Arbeitszeit um eine Stunde bei Tag⸗ und Nachtschicht, sodaß die Arbeitszeit bei Tage 8 ½ Stunden netto und 10 Stunden brutto, bei Nacht 8 Stunden netto und 9 Stunden brutto beträgt. Gegen eine erhebliche Minderheit wurde folgende Erklärung angenommen: „Die Versammlung lehnt mit Entrüstung die minimalen Zugeständnisse der Unternehmer ab. Ins⸗ besondere hält die Versammlung an der einer Verkürzung der Netto⸗ und Bruttoarbeitszeit bei Tag⸗ und Nachtschicht fest. Auch eine Lohnerhöhung ist notwendig, die der Belastung der Arbeitnehmer entspricht. Die Zugeständnisse der Unternehmer sind auch in dieser Hinsicht nicht ausreichend. Die Kommission wird beauftragt, die Verhandlungen zu beschleunigen und das Resultat einer sofort einzuberufenden Versammlung zu unterbreiten.“ Die Minder⸗ heit wollte sofort in Ausstand treten. Bei der Gerüstbau⸗ firma L. Altmann, deren Arbeiter sich zum Teil im Ausstande befinden, wollten gestern, wie dasselbe Blatt meldet, etwa 20 Arbeits⸗ willige ihrer Beschäftigung nachgehen und befanden sich zu diesem Zweck auf einem Gerüstwagen der Firma, der friedlich die Bismarck⸗ straße in Charlottenburg entlang fuhr. Da tauchte plötzlich ein Trupp Streikender auf und warf sich auf das Gefährt. Einige versuchten die Pferde aufzuͤhalten, ließen indessen sofort davon ab, da der Kutscher aus einem Revolver einen Schuß abgab, der einen Strei⸗ kenden nicht unerheblich verletzte. Die Schutz mannschaft, die sich inzwischen eingefunden hatte, mußte sich sehr anstrengen, um die Menge auseinanderzubringen. Einige Sistierungen wurden vorge⸗ nommen. Die Arbeitswilligen derselben Firma hatten auch an den Terrassen in Halensee sowie auf dem Schinkelplatze, wo sie arbeiteten, viel von den Streikenden auszustehen. 8

Eine Lohnbewegung in den Gießereien des Bezirks Hagen⸗ Schwelm hat, wie die „Rh.⸗Westf. Ztg.“ mitteilt, bereits weitere Kreise gezogen. Wegen des Ausstandes der Former der Firma „Gevelsberger Stahlwerk“ hat der Arbeitgeberverein die Arbeit der Firma an andere Firmen des Verbandes überwiesen. In mehreren Betrieben ist nun die Ausführung dieser sogenannten „Streikarbeit“ von den Arbeitern verweigert worden, sodaß Arbeiterentlassungen vor⸗ genommen werden mußten. Bei der Firma Rentrop in Milspe haben 19 Former die Arbeit unter Kontraktbruch verlassen.

Aus Paris wird dem „W. T. B.“ telegraphiert: Bei den Erdarbeiten an der Bahn nach Saint⸗Denis gsriffen 150 streikende Arbeiter die Polizei und die Soldaten an, welche die Arbeiten überwachten. Es kam zu einem heftigen

Zusammenstoß, bei dem mehrere Polizeibeamte verwundet wurden. Ein Polizist verwundete einen Streikenden durch einen Revolverschuß.

„Statistische Nachrichten“ s. i. d. Zweiten Beilage.)

8— 5 51 f 8 Kunst und Wissenschaft. Die Ausstellung der Sezession. II. )

Die drei durch Sonderausstellungen geehrten Künstler sind Haber⸗ mann, Zorn und Trübner. Habermann beherrscht das Handwerks⸗ mäßige seiner Kunst zweifellos ausgezeichnet. Diese Beherrschung ist eine gute Münchener Tradition. Der alte Wilhelm von Diez wußte es seinen zahlreichen Schülern ebenso bei⸗ zubringen wie Defregger, Löfftz und andere. Viele gute Früchte entwuchsen diesem goldenen Boden, aber vielen auch ward es zum Verhängnis, daß sie zu schnell mit sich und der Kunst fertig wurden; zu rasch durch öffentliche Anerkennung verwöhnt, verfielen sie der Manier. Habermann ist einer von diesen. Seine Ausstellung. ist kunstgeschichtlich recht interessant, weil sie den Gang seiner Ent⸗ wicklung, von seinen Anfängen im alten Münchener Atelierstil mit der dunkeln Palette, über die Anfänge seiner Manier in den neunziger Jahren und deren geringe Schwankungen bis heute zeigt. Gewiß 85 darf es keines geringen Talents und tüchtiger Arbeit, um bis zu diesem Grad von Pinselfertigkeit und Beherrschung der Farben und Formen vorzudringen. Schade nur, daß sich dieses Talent mit Oberflächlich⸗ keit gepaart hat und an so billigen dekorativen und andern Effekten seine ö und sein Genügen findet! Man soll sich jedoch nicht an den Grenzen einer Persönlichkeit stoßen, die innerhalb dieser ihr Gleichgewicht gefunden hat und darüber hinaus ins Uferlose geriete. Mit dem Durchschnitt der Bildnismaler hat Habermann noch lange nichts gemein, wenn er auch meistens Posen malt, die man ihm und seinen Heldinnen nicht glaubt. Vereinzelt begegnet man seiner ge⸗ würzten Art recht gern aber mit Sonderausstellungen größeren Umfangs tut man weder ihm noch dem Publikum einen Gefallen. Der zweite ist Anders Zorn. Eine Enttäuschung. Vor wenigen Monaten erst zeigte er sich in der graphischen Ausstellung als einen der glänzendsten und bedeutendsten Radierer unserer Zeit. Das Los, als Maler nicht annähernd Gleichwertiges schaffen zu können, teilt er mit manchem andern Meister der Griffelkunst. Trotzdem er hat auch als Maler viel mehr versprochen und weit Besseres ge⸗ leiste, als diesmal zu sehen ist. Das stark betonte folkloristische Moment, das in seinen Volkstypen wie bei einigen Ungarn stark betont ist, wirkt im Ausland naturgemäß fremd. Das Bild „Weibliche Akte im Freien“ zeigt den Rückgang der Zorn⸗ schen Kunst ganz besonders. Das grelle Grün des Laubes und die völlig lokalfarbig behandelten Mädchenkörper könnten sich nicht mehr widersprechen, und die Ueberwindung der herkömmlichen Modellhaltung ist gar nicht versucht. Das Portraͤt des Königs Gustav von Schweden ist elegant gemalt, läßt aber keinerlei tieferes Interesse aufkommen. Recht fein ist die Beleuchtung im „Kirchenhaus“, und das „Kari“ be⸗ nannte Mädchenbildnis zeigt Zorn in seiner sonst gewohnten farbigen Frische und übersprudelnden Sinnlichkeit. Neues ist auch von Wilhelm Trübner für die nicht zu finden, ie die Sammlung seiner Bilder auf der letzten sfoßen Dresdner Kunstausstellung gesehen haben und die seither neu inzugekommenen Pilder im Salon Gurlitt. Doch sieht man seine kernige deutsche

Art immer wieder gern, wenn es auch viele geben mag, denen sie zu.

kühl ist. Seine Pferde⸗ und Reiterbilder zeigen ihn ebenso wie die seinen Landschaften vom Starnbergersee als markige Persönlichkeit, und er verdient es, heute als eine der Säulen deutscher Malerei ge⸗ f zu werden. Von den Figurenbildern Lovis Corinths ist die Malerfamilie“ das weitaus beste. Es ist eines seiner humorvollen, leben⸗ rotzenden Bilder und außerdem ein Meisterwerk origineller Komposition.

ur im links stehenden Jungen ist die Modellpose nicht ganz über⸗ wunden. Dagegen ist in den „Waffen des Mars“ alles im ersten Stadium der Konzeption stecken geblieben und keinerlei Einheit Freicht. Man staunt über die Naivität, mit der hier verschiedene Figuren zusammengestellt sind. Auf Corinths großen Wurf müssen

*) Vergl. Nr. 93 d. Bl.

wir also noch warten. Max Slevogt dagegen hat einen voll⸗ bracht. Nicht als ob man seinen „Hörselberg“ restlos bejahen könnte aber ein wohldurchdachtes Meisterwerk ist dieses Kolossalgemälde. Nicht parfümierte Wollust herrscht in dieser Liebeshölle, sondern ewige Leidenschaft. Hinreißend wirkt dieser, seine Hüllen ab⸗ streifende, sich von aller Weltenqual mit einem Ruck be⸗ freiende Tannhäuser, der sich Venus in die Arme stürzt. Störend wirkt vorläufig die rosige Beleuchtung, doch dürfte die Zeit ihren etwas faden Ton dämpfen. Jedenfalls ist es zu begrüßen, daß Slevogt mit diesem Bild ältere Bahnen, die er in den letzten Jahren scheinbar nicht gepflegt hat, wieder betritt und an die Erfüllung dessen schreitet, was er schon vor anderthalb Jahrzehnten versprochen hat. Die zweite freudige Ueberraschung sind Ferdinand Hodlers Studien „Holzhauer“ und „Mäher“. Nicht als für sich abgeschlossene Bilder, sondern als Bewegungsstudien für eine größere Kom⸗ position. Die Bewegungsmomente dieser beiden Arbeiter sind in ihrem Rhythmus so restlos zwingend erfaßt, daß sie den Eindruck reinster Schönheit auslösen. Hodler scheint mit diesen Werken in ein neues Entwicklungsstadium getreten zu sein, das zu den größten Hoffnungen berechtigt. Seine dekorativ behandelten Land⸗ schaftsstudien wären indessen wohl besser 8 da sie in dieser fragmentarischen Schaustellung höchstens Mißverständnis erregen. Gute Beispiele ihrer Kunst sind auch von den alten Meistern Hans Thoma und Fritz von Uhde zu sehen, die gewohnte, uns längst vertraute Bahnen wandeln. qVööI.

Bauwesen. 8 Im Architektenverein in Berlin hielt am Montag der Architekt

Jansen als Erster Sieger im Wettbewerb einen Vortrag über den Wettbewerb um einen Grundplan für Groß⸗ Berlin. Dieser Vortrag sollte in erster Linie den Fachleuten eine Anleitung bieten zum Studium der vielen, zum Teil nicht leicht ver⸗ ständlichen Wettbewerbspläne, die vom 1. Mai bis 15. Juni auf der hiesigen Städtebauausstellung weitesten Kreisen zugänglich sein werden. Es erschien erwünscht, um schneller und sicherer in die selbst den meisten Fachleuten fremde Materie eindringen zu können, über die Wichtigkeit der einzelnen hier gelösten Aufgaben Aufschluß zu erhalten, vor allem zu zeigen, welche Aufgaben als die dringlichsten anzusehen sind. Als solche bezeichnete der Redner, der jahrelang diese Fragen eingehend studierte, vor allem die Notwendigkeit einer günstigeren Ansiedlung der Großstadtbewohner in und um Berlin. Dies könne nur geschehen dadurch, daß endlich den Bebauungsplänen erhöhte Wichtigkeit von allen verantwortlichen Behörden beigemessen und daß ferner für eine gerechtere und zum Teil, zumal was die Bebauung mit 4⸗ und 5stöckigen Zinshäusern angeht, menschenwürdigere Bauordnung gesorgt werde. Schlimmer könne der Bodenspekulation gerade bei den Bauklassen I, II und A nicht Vorschub geleistet werden, als es jetzt geschehe. Seiten⸗ und Hinterbauten seien zu verbieten, die rückwärtige Bauflucht sei vor⸗ zuschreiben, ebenso daß der Abstand der Rückfronten mindestens gleich der Höhe der Hinterhäuser sei und möglichst durchgehende Höfe und Gärten gewahrt würden. Das 4. Geschoß sei aus den Vororten, die schon über Gebühr hiermit vollgepfercht seien, zu verbannen. Gerade dieses verschandele Umgegend meilenweit und gebe ihm sein berüchtigtes Aussehen. Aehnliches gelte von den anderen Bauklassen. Sehr erwünscht, wirtschaftlich und ästhetisch, sei die ge⸗ mischte Bauordnung; sie sei bisher u. a. daran gescheitert, daß es den Gesetzesmachern nicht leicht gewesen, dem Gesetz entsprechende

Fassung zu geben; eine sinngemäße Gestaltung der Bebauungspläne

erleichtere sie wesentlich. Verkehrt sei es nur, den Bebauungsplan des gesamten Geländes statt vorläufig nur in großen Zügen zu ge⸗ nehmigen und gleichzeitig die betreffende Bauordnung auf die einzelnen Quartiere und Straßen zu legen. Am wichtigsten für Groß⸗Berlin sei die erweiterte Einführung des Bauverbots für zusammen⸗ hängende große Flächen, zum allermindesten für die nächsten 30 Jahre und das nachdrücklichste Eintreten aller Kreise der Bevölkerung be⸗ sonders auch der Architektenkreise für Erhaltung der Wälder und Er⸗ holungsplätze. Um diese mit nicht zu großen Opfern zu erzielen, empfehle sich eine bedeutende Einschränkung des in den Vororten üblichen und z. T. vorgeschriebenen teuren Straßengeländes. Es brauchte nicht jeder Bau und jede Häusergruppe eine eigne breite und teure Straße. Es sei gerade das Verdienst architektonisch durchgeführter Be⸗ bauungspläne, die schweren Opfer, die dieser Straßenüberfluß den Ansiedlern auferlegt, wesentlich einzuschränken. Als Beispiel hierfür führte Redner seinen preisgekrönten Plan für die Aufteilung des Tempelhofer Feldes vor, der bei großer Ausnutzungsmöglichkeit durch Vermeidung unnütz breiter Straßen eine verhältnismäßig sehr große⸗ zusammenhängende Parkfläche vom Viktoriapark bis zum Bahnhof Tempelhof gewährt, die für Spiel und Sport reichlich Platz bietet. Weiter wurde auf die großen Durchbrüche eingegangen, die weniger eilig seien und nur allmählich von den Gemeinden vorbereitet werden sollen. Die Erzielung künstlerischer Städtebilder sei hierbei erste Bedingung, desgleichen eine Mindestbelastung des Gemeindesäckels. Daß ein erstklassiges Platzbild geschaffen werden könne ohne die geringste Ausgabe, zeigte die von dem Redner durchgeführte Platz⸗ gestaltung am Köllnischen Park, für deren Gelingen er die Verwaltung von Berlin verantwortlich machte. Analog wurden an Hand zahl⸗ reicher Lichtbilder die schwierigen Eisenbahnfragen, die Kanäle, anlagen usw. besprochen bezw. angedeutet; denn das Thema sei so un⸗ erschöpflich, daß nur wiederholtes Studium, möglichst unter Führung der verschiedensten Fachleute, hier einigermaßen weiter helfe, und diese Führung sollen die 1 Einzelvorträge auf der Städteausstellung bieten, sowie besonders die Besichtigung der vielen dort ausgestellten, höchst lehrreichen Pläne und Modelle des In⸗ und Auslands. Eine gleich wertvolle Sammlung sei bisher noch nicht zusammengebracht worden; ihr Besuch sei jedem, der im öffentlichen Leben an ver⸗ antwortungsvoller Stelle stehe, eine Pflicht und ein Genuß: sie werde manchem die Augen öffnen. .

Land⸗ und Forstwirtschaft. Saatenstand in Rumänien.

Der Kaiserliche Generalkonsul in Bukarest berichtet unterm 14. d. M.: Dem rumänischen Staatsanzeiger sind folgende Nachrichten über den Stand der Saaten im Monat März entnommen.

Die trockene und warme Witterung der ersten Hälfte des Monats März war sowohl für die Fortsetzung der Frühjahrsfeldarbeiten, als auch für die Entwicklung der Vegetation so vorteilhaft als nur irgend möglich. Infolge der milden Witterung im Winter, der Wärme im Monat Februar und einem großen Teile des Monats März entwickelten sich die Herbstsaaten und Knospen der Obst⸗ bäume zu stark. Schneefall, Reif, kalte Witterung und der Frost der letzten Dekade des Monats März waren von großem Nutzen, da dadurch die Entwicklung etwas aufgehalten wurde; außer⸗ dem wurde dadurch die allzu starke Verdunstung der Feuchtigkeit der Erde aufgehalten, sodaß die Erde in der Tiefe nicht zu trocken wurde. Während des ganzen Monats März ist überall mit dem Ackern und der Aussaat von Roggen, Hafer, Luzerne, Erbsen usw. fortgefahren worden; an vielen Orten wurden auch Zuckerrüben und teilweise auch Kartoffeln angebaut. Gegen Ende des Monats begann man in einigen Gegenden der Ebene der Bezirke Mehedintz, Dolj, Romanatz, Buzeu und Covului mit der Aussaat von Mais. Der Regen und der Schneefall der letzten Tage haben viel zur weiteren Entwicklung der Saaten beigetragen. Die Herbst⸗ saaten stehen im ganzen Lande so schön wie nur irgend möglich. Sie haben sich so stark entwickelt, daß sie allerorts die Erde bedecken, ja, man ließ, damit sie nicht zu hoch wachsen und sich lagern, das Vieh darauf weiden oder schnitt sie auch. Der Raps ist, trotzdem er gut überwintert hat, an einigen Gegenden in Gefahr, zugrunde zu gehen, da er von Insekten und Larven angegriffen wird. Die Frühjahrs⸗ aussaaten vom Monat Februar und Anfang März haben gekeimt und sich gut entwickelt; die später gesäten sind noch nicht aufgegangen, da die Witterung in der letzten Dekade des Monats März etwas kühl war und die Erde nicht genügend Feuchtigkeit enthielt. Roggen und besonders

Hafer gelangen noch in vielen Gegenden zur Aussaat, mit Ausnahme der Moldau, wo infolge der kühlen Witterung der letzten Märztage die Feldarbeiten an vielen Orten eingestellt werden mußten. Die Weinreben sind ausgegraben und an vielen Stellen auf Spalier gelegt worden; die Weinstöcke sind gut entwickelt, und bei einigen Arten haben sich bereits Knospen gezeigt. Die Wiesen haben im ganzen Lande zu grünen begonnen; man läßt das Vieh bereits darauf weiden.

Im Verlage von Paul Parey, Berlin, erschien der fünfte Jahresbericht über die Tätigkeit der Kaiserlichen Biologischen Anstalt für Land⸗ und Forstwirtschaft, der sich auf das Jahr 1909 bezieht und von dem Direktor, Professor Dr. Behrens erstattet ist. Er enthält zunächst Mitteilungen zur Geschichte der Anstalt und behandelt sodann deren wissenschaftliche Untersuchungen über die Aufnahme von gelösten Salzen durch Wurzeln, über die Brandkrankheiten des Getreides, über die Biologie des Antherenbrandes von Melandryum album, über die Kartoffelpflanze, über Kartoffelfusarien, über die Ursachen der Herz⸗ und Trockenfäule der Rüben, über Anbauversuche zur Bekämpfung der Herz⸗ und Trockenfäule der Rüben, über Infektionsversuche mit Plasmodiophora Brassicae Woronin, über Magenuntersuchungen heimischer Raub⸗ vögel, über Gewölluntersuchungen, über Versuche mit Insektengiften, über die Biologie der Maulwurfsgrille (Gryllotalpa vulgaris L.), über Chermiden, über Phylloxeriden, über den Einfluß einer Schwefel⸗ kohlenstoffbehandlung des Bodens auf das Pflanzenwachstum, über das Verhalten der Bakterien in einer Stickoxydulatmosphäre, über die Frage der Anwendbarkeit von Arsenpräparaten als Pflanzenschutz⸗ mitteln, über die Verteilung von Schwefelkohlenstoffdampf in einem großen Desinfektionskasten, über den Einfluß von bleihaltigem Boden auf das Wachstum der Pflanzen, über die Epidemiologie der sogenannten Faulbrut der Bienen und über die Ruhr der Bienen. Zum Schluß wird über die Organisation zur Beobachtung und Bekämpfung der Pflanzenkrankheiten und Auskunftserteilung über Schädigungen der Kulturpflanzen berichtet. 1 8

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Gesundheitswesen, Tierkrankheiten und Absperrungs⸗ maßregeln.

Der IV. Internationale Kongreß zur Fürsorge für Geistes kranke wird in Berlin in der Zeit vom 3. bis 7. Ok⸗ tober d. J. im Abgeordnetenhause abgehalten werden. Er wird sich nicht ausschließlich mit den Fragen und Aufgaben der zeitgemäßen Behandlung und Unterbringung Geisteskranker befassen, vielmehr alle Untersuchungen, Maßregeln und Einrichtungen vereinigen, die dem Schutze der geistigen Gesundheit in jeder Richtung dienen. Mit dem Kongreß wird eine Ausstellung der Fürsorge für Gemüts⸗, Geistes⸗ und Nervenkranke verbunden sein und darin eine Uebersicht über die in den letzten 3 Jahrzehnten auf diesem Gebiete in Deutschland gemachten Fortschritte Wund ein Ueberblick über die in anderen Kulturstaaten geschaffenen Einrichtungen gewährt werden. Unter den für die Be⸗ ratungen ausersehenen Referaten und Vorträgen sind verschiedene auch für weitere Kreise bemerkenswert, z. B.: „Ueber den Zusammenhang zwischen Zivilisation und Geisteskrankheit“; „Läßt sich eine Zunahme der Geisteskranken feststellen?“; „Die Schlafkrankheit“: „Die Be⸗ deutung einer geordneten Säuglings⸗ und Kleinkinderfürsorge für die Verhütung von Epilepsie, Idiotie und Psychopathie“; „Psychopatho⸗ logisches in moderner Kunst und Literatur“. Anfragen und Mit⸗ teilungen sind zu richten betreffs der Ausstellung an Professor Dr. Alt, Uchtspringe (Altm.), betreffs der Referate und Vorträge an Professor Dr. Boedecker, Schlachtensee⸗Berlin, betreffs sonstiger Angelegenheiten an Oberarzt Dr. Falkenberg, Lichtenberg⸗Berlin, Herzbergstraße 79.

Hinterindien.

Die durch Verordnung der Kolonialregierung in Singapore vom 12. Oktober 1907 wegen Auftretens von Cholera über den Hafen von Manila verhängte Quarantäne ist durch Verordnung vom 12. März d. J. aufgehoben worden. (Vergl. „R.⸗Anz.“ vom 13. November 1907, Nr. 271.)

Der Hafen von Moulmein ist wegen Auftretens von Beulen⸗ pest durch Verordnung der Kolonialregierung in Singapore vom 12. März d. J. für verseucht erklärt worden.

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Verkehrsanstalten.

Am 1. Mai tritt bei der Försterei Saatwinkel eine Telegraphenhilsfstelle mit öffentlicher Fernsprechstelle in Wirksamkeit.

Verdingungen im Auslande.

(Die näheren Angaben über Verdingungen, die beim ‚„Reichs⸗ und

Staatsanzeiger“ ausliegen, können in den Seeen in dessen

Expedition während der von 9 bis 3 Uhr eingesehen werden.

Oesterreich⸗Ungarn. Spätestens 4. Mai 1910, 10 Uhr. K. K. Bauleitung, neues Gerichtsgebäude, Wien: Arbeiten für den Zubau zum Gerichtsgebäude Innere Stadt Wien. Näheres bei der vorgenannten Bauleitung, I, Riemergasse 7, 4. Stock, Tür Nr. 158, und beim ‚Reichsanzeiger“.

Bulgarien.

Gemeindeverwaltung der Stadt Rustschuk. 15./28. Mai 1910, 10 Uhr Vormittags, im Rathause daselbst. Geheime Konkurrenz be⸗ hufs Vergebung folgender Arbeiten: 1) Herstellung des Wasserrohr. netzes der Stadt Rustschuk, und zwar: a. Erdarbeiten, b. Maurer⸗ arbeiten, c. Lieferung und Montage der Röhren, Zubehör und Arma⸗ turen. 2) Herstellung des Wasserhochbehälters, und zwar: a. Erd⸗ arbeiten, b. Maurerarbeiten, c. Lieferung und Montage der Röhren, Zubehör und Armaturen des Hochbehälters. 3) Lieferung der Reserveteile. Ungefährer Wert der auszuführenden Arbeiten und Lieferungen ö 1 141 000 Fr. Kaution zur Teilnahme an der Submission 57 050 Fr. Schriftliche Offerten werden bis 11 ½ Uhr Vormittags am selben Tage entgegengenommen. Die Bedingungen, Kostenanschläge, Pläne und andere Submissionsunterlagen stehen den Interessenten zur Einsichtnahme jederzeit in der Wasserabteilung der städtischen Verwaltung in Rustschuk (Bulgarien) zur Verfügung. Das Heft, enthaltend die Einheitspreise, Kostenanschläge und Bedin⸗ gungen, kann gegen Erlegung von 4 Fr., die Kopien der Pläne önnen gegen Erlegung von 16 Fr., insgesamt sür , vom Magistrat der Stadt Rustschuk bezogen werden.]

Theater und Musik.

Kammerspiele.

Als Schlußneuheit dieser Spielzeit tischte man am Sonntag Feinschmeckerpublikum der Kammerspiele eine nach orientali⸗ Märchenmotiven entworfene Pantomime „Sumurun“

Freksa auf. Sie unterschied sich von anderen man sie häufig im Zirkus und Ballett ge⸗ sehen hat, nur dadurch, daß die stummen Rollen der agierenden Figuren der diskreteren Kunst von Schauspielern anvertraut

waren, und daß der Regievirtuose Max Reinhardt das Werk in Szene gesetzt hatte. Ein neuer Erfolg dieser uralten Kunstgattung

war es nicht. immer ermüdend. Wer aber wacker aushielt, wurde dadurch belohnt, daß die besten Szenen, in denen auch die anmutigen Schwestern

Wiesenthal ihre Tanzkunst entfalten konnten, zuletzt kamen. Es han⸗ delt sich um eine Art Entführung aus dem Serail. Ein junger arabischer

dem schen von Friedrich ihrer Art, wie

Vier Stunden lang stummes Spiel anzusehen, wirkt