1911 / 16 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 19 Jan 1911 18:00:01 GMT) scan diff

den Mitteln bestrittene Extraordinarium aus Anleihen genommen würde. Das Extraordinarium beträgt 120,4 Millionen. Erzellenz Kirchhoff will die Zentralfonds auf dem Extraordinarium belassen und aus laufenden Mitteln bestreiten, sodaß man mit rund 100 Millionen Anleihe rechnen kann. Es würden statt 100 Millionen direkter Aufwendungen für das Extraordinarium 100 Millionen weniger 29 Millionen = 71 Millionen in den Ausgleichs⸗ fonds zu den dort vorhandenen 3,5 Millionen hineinfließen, und außer⸗ dem würde eine Anleihe von 100 Millionen aufzunehmen sein. Kassenmäßig würde die Staatsverwaltung dann diese 74,5 Millionen doch dazu verwenden, um die Anleihe, welche notwendig ist, auszu⸗ schließen. Der Staat wird doch nicht eine Anleihe auflegen, wenn er auf der andern Seite so viel überflüssige Gelder in der Kasse liegen hat. Also kassenmäßig würden die Mittel des Ausgleichsfonds verwendet werden, um die Anleihe, welche zur Bestreitung des Extra⸗ ordinariums notwendig ist, nicht nötig zu machen. Das würde so lange bleiben, bis man die Substanz des Ausgleichsfonds angreifen muß, also so lange, bis ein Fehlbetrag in der Kasse vorhanden ist, der gedeckt werden muß. Buchmäßig würden wir auf der einen Seite große Rücklagen in den Ausgleichsfonds und auf der andern Seite größere Anleihen für das Extraordinarium haben, und das würde ungefähr dasselbe sein. Wenn nun in einem Jahre die Staatseisen⸗ bahnverwaltung nicht genügende Ueberschüsse herauswirtschaftet, müßte sie trotzdem der Finanzverwaltung 249 Millionen, welche für den Staatshaushalt notwendig sind überliefern, und zwar müßten dann alle diejenigen Beträge, welche unter dem Staatsbedarf sich befinden, von der Eisenbahn angeliehen werden, denn die Eisen⸗ bahnverwaltung hat sie auch nicht, sielmuß sie aus ihrem Ausgleichs⸗ fonds herausnehmen. Das würde genau dasselbe sein. Es würde außerdem die Verzinsung dieser Schulden der Eisenbahnverwaltung auferlegt werden, während nach der bisherigen Regelung die allgemeine Staatsverwaltung die Verzinsung für ihre 29 Millionen zu tragen hat. Der Staat bekäme seinen vollen Bedarf von der Staatseisen⸗ bahnverwaltuug, brauchte also in keiner Weise etwas aufzuwenden, auf der andern Seite müßte die Eisenbahnverwaltung Schulden auf⸗ nehmen zugunsten der allgemeinen Verwaltung, und die Zinsen für die Schulden müßte die Eisenbahnverwaltung tragen.

Also ein Allheilmittel liegt in den Kirchhoffschen Vorschlägen durchaus nicht. Dann ist das fernere Bedenken nicht hinweggeräumt, daß man tatsächlich mit dem Prinzip brechen würde, daß man An⸗ leihemittel für nicht werbende Anlagen nicht aufwenden darf. Die Ansichten gehen darüber auseinander, ob die Anlagen des Eisenbahn⸗ ertraordinariums durchweg werbender Natur sind oder nicht. Die Mehrheit des hohen Hauses ist dech der Meinung ge⸗

worden, daß das nicht durchweg werbende, sondern vorwiegend

ichtwerbende Anlagen sind. Wir würden ein ganz neues und sehr gefährliches Prinzip in unsere Staatshaushaltsgebahrung einführen, und das wäre sehr bedenklich. Nachdem nun mal das hohe Haus im vorigen Jahr sich schlüssig gemacht hat, auf 5 Jahre mit der neuen Regelung den Versuch zu machen, halte ich es für unmöglich, daß sowohl das hohe Haus wie die Finanzverwaltung von diesem Beschluß wieder abgeht. (Sehr richtig! rechts.) Es würde doch der Würde des Hauses nicht entsprechen, wenn es eine Regelung auf 5 Jahre beschließt und im folgenden Jahre in eine Beratung darüber eintritt, ob die Regelung, bevor sie sich als unhaltbar er⸗ wiesen hat, geändert werden soll. Wenn es sich herausstellen sollte, daß die Regelung falsch wäre, dann wäre es richtig; aber da in der Hinsicht sich bisher nichts ergeben hat, im Gegenteil dadurch, daß wirkliche Beträge in den Ausgleichsfonds abfließen, sich ergeben hat, daß der Weg gangbar ist, soll⸗man die 5 Jahre abwarten und nicht schwanken, ob man eine andere Regelung treffen will. Ich möchte dringend empfehlen, daß man dabei bleibt.

Durch diese Ausführungen erübrigt sich auch die Bemerkung des Herrn Dr. Wiemer, daß ich mit gewisser Wehmut erwähnt hätte, daß 3 ¼ Millionen in den Ausgleichsfonds geflossen seien. Nach meiner ganzen Stellung zu dieser Frage habe ich nicht Wehmut darüber empfunden, daß die 3 ½ Millionen zum Ausgleichsfonds fließen, sondern Freude, und ich habe bei meiner Etatsrede schon hervorgehoben, daß, wenn diese Regelung nicht gewesen wäre, dann tatsächlich diese 3 ½ Millionen in dauernde Ausgaben umgewandelt wären. So sind sie aber erspart. Also gerade im Interesse einer sparsamen Finanz⸗ wirtschaft habe ich festgestellt, daß diese 3 ½ Millionen erspart wurden.

Zuruf des Abg. Wiemer.)

Nun komme ich darauf, daß, wie Herr Dr. Wiemer gesagt hat, für die notwendigen und dringlichen Ausgaben nicht genug aufgewendet wird. Beim Anhören der Rede des Herrn Dr. Wiemer hat mich das eigentümlich berührt: auf der einen Seite ist Herr Wiemer gegen die Einnahmen, die der Staat bekommt der Staat hat zu viele Einnahmen und unsere Bürger müssen entlastet werden —: auf der anderen Seite hat er sich beklagt, es geschehe nicht genug für Kulturzwecke. Wie ist es möglich, daß der Staat mehr für Kulturzwecke tun kann, wenn ihm die Einnahmen nicht belassen werden? Da ist der Vorwurf des Herrn Dr. Wiemer doch nicht zu⸗ treffend. Herr Dr. Wiemer hat allerdings zwei Positionen angeführt, aus denen er wesentliche Mittel für Kulturzwecke schaffen will. Das eine war die Streichung des Postens für Gesandtschaften und das andere der Posten für die Orden. Aber die beiden Posten betragen nicht so viel, daß man damit Kulturzwecke in großem Maßstabe fördern könnte. Der Etat hat für Kulturzwecke soviel vorgesehen, daß man selbst wenn man scharfe Kritik anlegen will, immer zugeben muß, daß der Etat für Kulturzwecke reichlich vorsieht.

Dann möchte ich bemerken, daß ich bei meiner Etatsrede nicht habe sagen wollen, daß es durch ein Gesetz gereglt wonden sei, daß die ungedeckten Matrikularbeiträge auf 80 pro Kopf der Be⸗ völkerung des Reichs dauernd festgelegt seien. Ich habe nur ange⸗ deutet, es wäre eine Regelung getroffen. Durch ein Gesetz ist das nicht geschehen, die Regelung kann an sich jederzeit geändert werden. Ich muß nochmals betonen, daß ich es freudig begrüße, daß eine solche Regelung überhaupt da ist. Es ist immer besser, wenn man mit festen Zahlen zu rechnen hat, als wenn man nicht weiß: muß soviel bezahlt werden oder soviel? Meistens muß man mehr bezahlen, als man annimmt, und das macht sich sehr unangenehm bemerkbar beim Rechnungsabschluß. Aus diesem Grunde wäre ich sehr einverstanden, wenn die Regelung, welche freiwillig zwischen Preußen und dem Reiche stattgefunden hat, noch auf recht lange Zeit fortgesetzt würde. (Leb⸗ haftes Bravo rechts und im Zentrum.)

5 Abg. Dr. Pachnicke (fortschr. Volksp.): Die preußischen Finanzen waren gesund und sind gesund. Wir können uns mit unserer

Bilanz vor der ganzen Welt sehen lassen. Allerdings wird dadurch nicht der Umstand beseitigt, daß der kleine Mann von einer Ver⸗ zinsung mit 3 ¾ % nicht leben kann und sich daher anderen Papieren zuwendet. Man hat hier versucht, die Finanzreform zu verteidigen. Die Finanzreform ist aber und bleibt ein unrühmliches Werk sowohl nach der Art der Lastenverteilung als auch nach der politischen Seite. Das Zentrum ist durch seine Zustimmung zu dieser Finanzreform in den Sattel gehoben worden; die Partei des Herrn von Pappenheim hat dabei allerdings kein besonders gutes Geschäft gemacht. Einer Glorifizierung der agrarischen Wirtschaftspolitik müssen wir energisch entgegentreten. In der Fürsorge für die Bauernschaft lassen wir uns aber von niemand übertreffen. (Zuruf: In den Wahlaufrufen!) Wenn keine einseitige Großgrund⸗ besitzerpolitik getrieben würde, so könnten in Deutschland dreimal so viel Menschen leben; diesen Gedanken hat kürzlich Prof. Sehring in einer Versammlung von Landwirten entwickelt. Von einem Kultur⸗ kampf wollen wir auf der Linken nichts wissen. Wir stören fromme Gemüter nicht. Stören Sie aber auch freier Denkende nicht! Mit Religionskämpfen waren frühere Jahrhunderte genug angefüllt. Die Zentrumsredner sprachen hier von der Friedenshand, die sie uns reichen wollten. Tun Sie (zum Zentrum) das aber draußen im Lande? Tut das Rom? Denken Sie an die Enzyklika mit ihren auch in der Form verletzenden Urteilen. Daran muß man erinnern, wenn Sie sich jetzt als die unschuldigen Lämmer hinstellen wollen. Dann kam der Modernisteneid! Durch den Modernisteneid ist es dem Prof. Schnitzer, der ein frommer Katholik ist, aber mit Zähigkeit an seinen Anschauungen über die Geschichte des Papsttums festhält, unmöglich gemacht, noch weiter an der Universität München zu lehren und die Sakramente zu spenden. Das ist das Maß der Freiheit, das Sie noch zulassen. Daraus kann man erkennen, wie es jetzt nach dem Modernisteneid werden wird. Sie reden hier im Hause von Frieden, draußen predigen Sie aber den Kampf. Das zeigt sich am besten in den Aeußerungen Ihrer Presse. Den Baron de Mathies schütteln Sie sich zwar ab; das „Bayrische Vaterland“ würden Sie sich auch abschütteln, aber doch wohl nicht die „Germania“. Da stand von der Borromäus⸗ Enzyklika geschrieben, sie habe mit apostolischem Freimut und auf Grund der geschichtlichen Wahrheit gesprochen. Die „Sächsische Volkszeitungk, an der Herr Erzberger mitarbeitet, werden Sie auch nicht abschütteln können. Da heißt es über die Enzyklika: Das ist alles wahr, was darin steht, und es wird von der Lügenatmosphäre gesprochen, die die Katholiken umgebe. Dann die „Pfälzische Volkzseitung“! (Lachen im Zentrum.) Sie lachen ja Ihre eigenen Zeitungen aus. Diese schreibt: es bleibt also bei dem, was der Papst sagt. Oder erinnern Sie sich der Ausführungen der „Mosella“, wo im Anschluß an die Beurteilung Luthers geschrieben wurde, daß unser großer Dichter Luther nachempfunden habe, als er schrieb: Uns ist so kannibalisch wohl, Als wie fünfhundert Säuen.

Der Kampf, den wir führen, ist kein Kulturkampf, das ist ein Kampf für die Freiheit der Wissenschaft und des Gewissens. Zu einem Re⸗ ligionsstreit möchten Sie es stempeln. Sie möchten gern, daß wir den konfessionellen Nerv reizen, weil Sie dann alle Katholiken in das Zentrum hineintreiben wollen. Diesen Gefallen tun wir Ihnen aber nicht. Die Schuldigen von Moabit mußten bestraft werden; wer sich gegen das Gesetz auflehnt, muß bestraft werden; das Gericht hat sich auch bemüht, gerecht Recht zu sprechen. Nicht so war Licht und Schatten in der Rede des Ministers von Dallwitz verteilt. Das Gericht hatte die Ueberzeugung, daß nicht einzelne Mißgriffe, sondern eine größere Zahl seitens der Schutzleute vorgekommen seien. Darauf hat der Minister nicht hingewiesen. Der freikonservative Redner hat sogar den Zeugen falsche Aussagen vorgeworfen. Einen so schweren Vor⸗ wurf erhebt man nur, wenn man Beweise dafür hat. Bei der Ver⸗ waltungsreform würde es uns darauf ankommen, daß das bäuerliche Element und das städtische Element in den Kreistagen eine stärkere Vertretung bekäme. Wir wollen den Bauern zu Einfluß gegenüber den Großgrundbesitzern verhelfen. Sie aber auf der Rechten wollen die Macht des Landrats stärken. Die politischen Beamten sollen nach der Rede des Ministers unparteiisch sein, aber auch die Regierungspolitik unterstützen; sie sollen einerseits das tun und anderseits das, eine schwere Aufgabe. Herr von Zedlitz hat auf den Beamtenerlaß von 1882 hingewiesen. Es besteht aber noch der andere Erlaß aus der Reaktionszeit zu Recht, wonach die Landräte auf konservative Wahlen mit allen Mitteln hin⸗ wirken und all ihren Einfluß dazu aufbieten sollen. Es scheint, daß der Geist dieses Erlasses noch immer nicht ausgestorben ist. Herr von Zedlitz hat selbst in einem Artikel betrübt geschrieben, daß die Zugehöri keit zur freikonservativen Partei kaum noch genüge zur Anstellung als höherer Beamter. Das Zentrum von 1907 gab die Parole aus: Für die Sozialdemokratie; das Zentrum von 1910 gibt die Parole aus: Gegen die Sozial⸗ demokraten. (Große Unruhe im Zentrum und lebhafte Widersprüche.) Das läßt sich doch aktenmäßig aus Bayern beweisen, und ich erinnere daran, wie ein Breslauer Lehrer dadurch in Gewissenskonflikt gekommen ist. Die Gastwirte in Ostelbien können ihre Lokale wegen des kon⸗ servativen Druckes nicht für liberale Versammlungen hergeben. Der Landrat denkt immer, die Minister seien nur vorübergehende Er⸗ scheinungen, und kümmert sich nicht um deren Anweisungen. Ich er⸗ innere an Köslin, Labiau⸗Wehlau usw. Der Landrat Schröder hat jetzt allerdings einen Erholungsurlaub angetreten. Landräte sollten bedenken, daß sie Staatsbeamte sind, aber nicht Parteibeamte. Nur einmal ist gegen die Landräte etwas geschehen, nämlich gegen die Kanalrebellen, aber da hätte man es nicht tun sollen, denn da hondelte es sich um die Stellungnahme im Parlament. Der Ministerpräsident ist nicht hier erschienen, wie es des Parlaments würdig gewesen wäre; er hat sich bezüglich der Wahlrechts⸗ vorlage des Ministers als Sprachrohr bedient. Dessen Erklärung war aber doch im Einvernehmen mit dem Staatsministerium gegeben, und deshalb hätte sie der Ministerpräsident selbst abgeben müssen. Aus dieser Erklärung erfährt man nur, daß die Parteimeinungen sich erst ausgleichen sollten, aber nicht, wann die Vorlage kommen kann. Das heißt nicht mehr Regieren und Leiten. Herr von Zedlitz sagt, es wäre eine politische Dummheit, die Wahlrechtsvorlage in diesem oder dem nächsten Jahre einzubringen. (Abg. von Zedlitz: Ich habe nur gesagt: in diesem Jahre!) Nun, dann kann man ja bei Ihnen noch für das nächste Jahr Hoffnungen haben. Die Konservativen sagen, das Versprechen der Thronrede sei durch die Vorlage im vorigen Jahre erfüllt. Welche Stellung weist man damit der Krone zu, wenn man meint, daß sie einmal diese und dann eine andere Stellung einnehmen könnte! Die „Kreuzzeitung“ sagte, ein demokratisches Wahlrecht wirke vergiftend nach allen Seiten. Wir haben uns heute noch der Wiederkehr des Tages der Gründung des Reiches erinnert; was wir im Reiche er⸗ reicht haben, haben wir unter einem demokratischen Wahl⸗ recht erreicht. Aber in Preußen bleibt es bei dem un⸗ gleichen Wahlrecht und der ungerechten Wahlkreiseinteilung, und das Zentrum leistet dabei Hilfe. Das Zentrum sagt, bei den auf⸗ geregten Zeiten und angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen könnten wir eine solche Reform nicht machen. Die Nationalliberalen erklären, daß sie die Gründe verständen, weshalb die Regierung jetzt nicht die Vorlage wieder einbringe, daß sie aber an dem direkten und geheimen Wahlrecht festhielten. Eine Reform aber, die nichts weiter bringt, verdient nicht den Namen einer Reform. Herr von Arnim hat uns gestern die Meinung seiner Freunde über das Wahlrecht gesagt, wobei er allerdinas auf einen Zwischenruf den Herrn von Oldenburg mit dem Großherzogtum Oldenburg verwechselte. Die Konservativen sollten endlich daran denken, daß sie auf diesem Gebiete Konzessionen in fortschritt⸗ lichem Sinne machen müssen. Es ist immer der Vorzug der englischen Konservativen gewesen, daß sie Konzessionen, die sie später doch hätten machen müssen, sofort freiwillig gemacht haben. Unsere Konservativen identifizieren Liberalismus, auch den National⸗ liberalismus, mit der Sozialdemokratie. Ein tiefer Graben trennt uns aber von der Scozialdemokratie (Lachen rechts); wenn Sie darüber lachen, so verkennen Sie das ganze Parteiwesen. Die ganze

Weltanschauung trennt uns von der Sozialdemokratie; wir sind auch nicht Republikaner, wir sind und fühlen monarchistisch, um so mehr, je mehr die Monarchie es vermeidet, sich in den Dienst einer Partei zu stellen. Wir lehnen auch nicht, wie die Sozialdemokratie, die Ausgaben für die 1“ ab: wir treten nicht lediglich für die Interessen einer Klasse ein: wir mißbilligen auch die Aufreizung, die zu gefährlichen Spannungen führt. Wir wollen aber zum Kampf gegen die Sozialdemo⸗ kratie nur die richtigen Mittel anwenden, und dazu rechnen wir Ausnahmegesetze nicht. Herr von Arnim tadelt die Reichskanzler Caprivi, Hohenlohe, Bülow; dann hätte er auch Herrn von Bethmann Hollweg tadeln müssen, denn 8 er hat gesagt, daß exr usnahnsegesetze nicht wolle. Was hat man denn mit dem Sozialistengesetz erreicht? Die Erinnnerung an das Schicksal des Arbeitswilligengesetzes sollte die Regierung davon abhalten, noch einmal mit einem solchen Gesetz zu kommen. Die Liberalisierung Deutschlands bei den Wahlen von 1907 hat dahin gewirkt, daß die Sozialdemokratie auf die Hälfte ihrer Mandate zurückgedrängt wurde. Infolge der Gesetzgebung seit dieser Zeit ist sie wieder von 40 auf 52 Mandate angewachsen. Ueberall bei den letzten Nachwahlen sind die konservativen Stimmen um viele Tausende zurückgegangen; in fünf Wahlkreisen haben die Konservativen über 31 000 Stimmen eingebüßt. Die konservative Partei war früher eine Partei des Prinzips, jetzt ist sie eine Partei des Interesses, wie ihre Verbindung mit dem Bunde der Landwirte zeigt. Die IJeengemeinschaft zwischen dem Bunde der Landwirte und der konservativen Partei tritt immer mehr zutage. Und jetzt hat sich die konservative Partei auch wieder mit dem Zentrum zusammengeschlossen, sie hat deshalb die Verantwortung dafür, daß das Zentrum seine Forderungen wieder stärker betont. Das Zentrum sagt allerdings, es habe sich nur zufällig mit den Konservativen auf demselben Wege getroffen; es be⸗ steht aber doch tatsächlich eine Geistesverwandtschaft. (Abg. von

Pappenheim: Wie bei Ihnen mit der Sozialdemokratie!) Es war immer eine Zeit des Niederganges, wenn die Reaktion das Land beherrschte. Alle Liberalen müssen zusammen halten, um dem Bunde der Rechten und der Mitte die geschlossene Kraft des freiheitlichen Bürgertums entgegenzustellen, damit solche Rückfälle vermieden werden, und die Kreise der Bevölkerung, auf die geistig und politisch so viel ankommt, auch politisch zu ihrem te kommen.

Justizminister Dr. Beseler:

Meine Herren! Ich will nur an einen kleinen Teil der Rede des Herrn Abg. Dr. Pachnicke anknüpfen, und bitte Sie, mir ein kurzes Gehör zu schenken. Ich meine seine Bemerkungen über die Moabiter Vorfälle. Es ist über sie des längeren in den letzten Tagen hier im Hause und vordem auch im Reichstage gesprochen worden, und wenn auch als der berufene Vertreter der Regierung in diesen Fragen in erster Linie der Herr Minister des Innern in den Be⸗ sprechungen genannt ist, so sind doch auch, wenngleich nur in geringem Maße, die Justizbehörden erwähnt worden. Ich glaube, mich aber auch über die anderen Dinge, die nicht gerade das Justizressort be⸗ treffen, aussprechen zu sollen, weil doch alle Verhandlungen in Räumen und unter Leitung einer Gerichtsbehörde stattgefunden haben.

Meine Herren, von dem von der Regierung stets festgehaltenen und auch von diesem Hause durchaus anerkannten Grundsatze, schwebende Prozesse nicht einwirkend hineinzureden, werde ich keines wegs abweichen. Ich bin der Meinung: in einen schwebenden Prozes⸗ redet man hinein und man sucht Einfluß zu üben, wenn man di Schuldfrage und die Strafabmessungsfrage behandelt. Daneben gibt es vieles, was ausgesprochen werden kann, ohne daß man auf die ent scheidende Tätigkeit des Gerichts einwirkt. Diesem Gedanken folgen hat man ja auch in diesem Hause über vieles gesprochen, was nicht angeklagte Personen bedarf; ebenso war es vor dem Reichstage. Di Besprechungen über die Tätigkeit der Polizeibehörden betrafen nicht die Schuld der Angeklagten, betrafen auch nicht die Strafabmessung sondern sie betrafen Leute, gegen die ein Anklageverfahren überhaupt nicht schwebte. Ich bin der Meinung, daß in dieser Hinsicht im Reichstage und in diesem Hause gleichmäßig verfahren worden ist von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, die, wie ich später darlegen werde, in diesem Hause vorgekommen sind.

Freilich hat der Abg. Dr. Wiemer in der Rede, die er neulich hier gehalten hat, bemerkt, es wäre zu wünschen gewesen, daß auch der Ministerpräsident von dem von ihm als richtig anerkannten Grund satze, sich nicht in den Prozeß einzumischen, nicht abgewichen wäre⸗ Also er behauptete, das sei der Fall gewesen; er hat es sogar direkt ausgesprochen. Der Herr Ministerpräsident hat kein Wort über di Schuld der Angeklagten gesprochen, kein Wort über die Abmessun der Strafe. Er hat sich ebenso verhalten wie eine große Zahl de Redner hier im Hause, und ich verstehe nicht, weshalb der Abg. Dr. Wiemer hier besonders betont hat, daß der Herr Ministerpräsident den von mir als richtig vorausgeschickten Grundsatz nicht beachtet hat.

Und nun will ich gleich hieran anknüpfend weiter bemerken: Herr Abg. Wiemer ist bei seiner Besprechung auch auf den Prozeß, der in Greifswald verhandelt worden ist, zurückgekommen und hat da gesagt hier ist das Stenogramm; ich bemerke, ich habe mit dieser Er⸗ klärung zurückgehalten, weil ich die Aeußerung des Herrn Abg. Wiemer während seiner Rede gar nicht verstanden habe (Heiterkeit), und ich habe mir erst Sicherheit verschaffen wollen, was er gesagt hat; der Herr Abg. von Zedlitz hat ja die Frage bereits gestreift also der Herr Abg. Wiemer hat gesagt:

Aber, meine Herren, soweit können wir auf den Prozeß Becker jedenfalls eingehen, und das hat auch der Herr Minister Jfer meinte den Herrn Minister des Innern ““ getan, als es sich um festgestellte Tatsachen handelt, an denen die eingelegte Revision, die sich nur noch mit dem Strafmaß be⸗ schäftigen wird, nichts mehr ändern kann. Da muß ich zunächst meinem lebhaften Bedanern über die unerhört harte Strafe Aus⸗ druck geben, die das Gericht erster Instanz über den Ritterguts⸗ besitzer Becker verhängt hat, und ich kann nicht anders, als der Meinung Ausdruck geben, daß hier eine gewisse Einseitigkeit, wenn nicht Voreingenommenheit, gegen den Angeklagten obgewaltet hat. Meine Herren, die Erklärung des Herrn Abg. Wiemer ist gerade ein Eingriff in einen schwebenden Prozeß. (Sehr richtig! rechts.) Herr Abg. Wiemer befindet sich zunächst in einem fundamentalen Irrtum⸗ Er meinte, es könne sich in der Revisionsinstanz nur noch um das Strafmaß handeln. (Abg. Dr. Liebknecht: Es ist nur ein Versprechen gewesen!) Nein: „an denen die eingelegte Revision, die sich nur noch mit dem Strafmaß beschäftigen wird, nichts mehr ändern kann“. Herr Abg. Wiemer meint also, die Revision beschäftigt sich mit dem Strafmaß. Meine Herren, hier ist, soweit ich übersehen kann, eine Strafe ausgesprochen, die den gesetzlichen Straf⸗ rahmen nicht überschreitet; da suchen Sie mal einen Revisionsgrund. Also gerade das wird nicht der Revision unter⸗ liegen. Ich stelle also fest, diese Auffassung des Herrn Abgeordneten ist rechtsirrig. Jedenfalls schwebt der Prozeß noch; ändert das Reichs⸗

gohht und hebt das Urteil auf, dann geht die ganze Untersuchung

orn an, und dann werden also die Tatsachen und namentlich af das Strafmaß nochmals der Entscheidung des Gerichts unter⸗ bset. Und gerade auf diesen Punkt will der Herr Abg. Wiemer esirken, indem er das Strafmaß als wie er sagt erstaunlich

schildert. (Sehr wahr! rechts.) Also das ist gerade das, was es Erachtens der bisherigen Uebung in diesem hohen Hause nicht pricht.

Nun muß ich noch auf die letzte Bemerkung des Herrn Ab⸗ rdneten zurückkommen, wo er sagt, es habe ja eine gewisse Ein⸗ tigkeit, wenn nicht Voreingenommenheit gegen den Angeklagten ob⸗ valtet. Meine Herren, das ist auch eine Einwirkung, aber eine, die er in diesem Hause ausgesprochen ist und die meinen entschiedensten iderspruch hervorrufen muß. (Sehr richtig! rechts. :) Wie

ann Herr Abg. Wiemer den Richtern vorwerfen oder wenigstens em Verdacht Ausdruck geben, die Richter hätten hier aus Vor⸗ ingenommenheit geurteilt?! Es wäre allenfalls erklärlich das päre das Mildeste wenn er hätte sagen wollen, sie hätten unbewußt ch beeinflussen lassen; aber dem Wortlaut nach ist auch die andere peutung möglich. Im Interesse der Rechtspflege und des Staates iderspreche ich entschieden dieser Aeußerung. (Bravo! rechts.)

Nun, meine Herren, zu dem Moabiter Prozeß. Ich für meine erson glaube sagen zu können, daß das Ergebnis der langen Aus⸗ hprungen doch nur das hat sein können, daß sich bei jedem hig denkenden Manne die Ueberzeugung bilden mußte: die Polizei t einen erheblichen Aufruhr zu bekämpfen gehabt. (Sehr wahr! Fts.) Sie ist bei ihrer Tätigkeit schwer beschimpft und angegriffen arden, selbst mit Gefährdung ihrer Person: sie hat ihre Aufgabe jst unter ganz bedeutender körperlicher Anstrengung bei ihrer ichterfüllung, und sie hat sie gelöst ohne große, im Verhältnis Sache wesentliche, an sich gewiß beklagenswerte, aber für das ze nicht sehr bedeutende Einwirkung auf Leben und Gesund⸗

Meine Herren, jeder ruhig denkende Mann wird der Polizei diesen Erfolg volle Anerkennung zollen müssen. (Sehr richtig! 8.)

Nun, meine Herren, bei demselben Prozeß stehenbleibend, möchte uf das zurückkommen, was über die Staatsanwaltschaft gesagt en ist. Herr Dr. Friedberg hat erklärt, viele Juristen seien der Iung gewesen, daß die Staatsanwaltschaft nicht opportun gehandelt indem sie alle diese Fälle vereinigte. Nachdem die Anklage erhoben und nachdem sich Aeußerungen in diesem Sinne hören ließen, habe ich darüber von der Staatsanwaltschaft Bericht erstatten lassen. hat mir erklärt, daß dieses Vorgehen wohl erwogen sei; denn der ganzen Art, in der dieser Aufruhr sich abgespielt habe, und sich um Streikende und Arbeitswillige gehandelt habe, habe sie Sicherheit vorausgesehen, daß ein großes Beweismaterial herbei⸗ afft werde, um die Behauptungen der einzelnen Interessierten zu isen. Diese Beweisaufnahme war unvermeidlich. Hätte nun

Staatsanwaltschaft alle Prozesse, die sich als notwendig ergeben

n, einzeln behandelt, dann wäre die Beweisaufnahme in einer

een Reihe von Prozessen erforderlich gewesen, während sie sich jetzt

er Zusammenfassung mit einem Mal abmachen ließ.

Ich will hier nur schätzungsweise mitteilen, wie sich das wohl

ltet haben könnte. Soviel ich mich erinnere, sind ungefähr Angeklagte gewesen, oder 35, das ist ja einerlei. Ich

stelle einmal, daß davon eine ganze Reihe ausscheidet, vielleicht nicht unmittelbar an dem Aufruhr beteiligt sind für sich hätten abgeurteilt werden können. Immerhin den nach ungefährer Schätzung etwa 20 Anklagefälle übrig ben, in denen eine umfangreiche Beweisaufnahme mit Sicherheit auszusehen war. Hätte nun die Staatsanwaltschaft 20 besondere rhandlungen herbeigeführt, so hätten wir 20 gesonderte Beweis⸗ fnahmen gehabt. Wenn ich auch nun nicht glaube, daß jede dieser erhandlungen einen solchen Umfang angenommen hätte wie die jetzt Ende geführte, also von etwa 9 Wochen, sondern daß man sich elleicht mit 2 oder 3 Wochen hätte behelfen können, so kommen doch merhin, wenn wir diese Wochenzahl mit der Zahl der Anklagen ob mit 20, mit 18 oder mit 16, ist ziemlich gleich multipli⸗ eren, über 40, 50 Wochen hinaus. (Hört! hört!) Also ganze 0 Wochen lang wären die Strafkammern des Landgerichts in An⸗ rruch genommen worden. Was hätte das bedeutet? Für diese strafkammern, die sich nur mit dieser einzigen Sache beschäftigen unten, schied die übrige Tätigkeit aus, und es wäre in dieser Zeit in Noabit überhaupt nichts anderes verhandelt worden. Berück⸗ htigen Sie nun, daß die einzelnen Fälle nebeneinander ver⸗ ndelt worden wären, daß vielfach dieselben Zeugen nötig esen wären, so wäre das ein Hin⸗ und SHerlaufen vesen, eine Konfusion wäre notwendig eingetreten; überdies re eine Art Justitium entstanden. Ich habe der Staatsanwalt⸗ aft nicht sagen können, daß ich ihr Verfahren nicht billige. - Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch noch, um einer Art kegende, die sich da gebildet hatte, entgegenzutreten, hervorheben: Anfangs wurde im Prozeß gesagt, die Staatsanwaltschaft habe sich eine ihr besonders erwünschte Kammer ausgesucht. Es sind deswegen auch Beschwerden an mich gekommen. Meine Herren, unser Präsidium am Landgericht I ist ja schon vor längerer Zeit dem Gedanken, daß überhaupt derartiges geschehen könnte, entgegengetreten durch die Art der Geschäftsverteilung, und ich glaube, es denkt auch kein staatsanwaltlicher Beamter daran, derart vorzugehen. (Abg. Dr. Liebknecht: Na, na!) Nein, zur Zeit nicht! (Erneuter Zuruf des Abg. Dr. Liebknecht: Wir kennen den Plötzenseeprozeß!) Wann ist denn der gewesen? (Zuruf des Abg. Dr. Liebknecht: 1905!) Meine Herren, Sie wissen, was das Präsidium seitdem gemacht hat. Ueber den Plötzenseeprozeß kann ich Ihnen keine Auskunft geben; da bin ich gar nicht hier gewesen.

Ich habe also die Staatsanwaltschaft befragt, was denn daran wäre, ob sie wirklich ein Interesse daran habe, die Sache gerade vor diese Kammer zu bringen. Ich bin darauf einem aufrichtigsten Er⸗ staunen begegnet; die Staatsanwaltschaft habe, so wurde mir ent⸗ gegnet, lediglich die Aufgabe gehabt, die Sache möglichst zu fördern; sobald der erste Fall aus der Voruntersuchung gekommen war, sei die Anklageschrift gefertigt worden, und bei jeder folgenden Sache sei dann die Bitte ausgesprochen worden, sie mit der ersten zu vereinigen, und alle Abteilungen und Instanzen der Gerichte hätten dieser Be⸗ bHandlung der Sache zugestimmt. Damit ist doch wohl die Idee, die damals auftauchte, die Staatsanwaltschaft habe ein Interesse daran, ein besonders strenges Gericht auszusuchen, als haltlos erwiesen. (Sehr wahr!)

Was nun das Gericht anbetrifft, so ist von diesem eigentlich gar nicht gesprochen worden, und das ist ja das Beste. Ich will nur be⸗ tonen, daß das Gericht mit großer Ruhe und Geduld gearbeitet hat. Es ist keine leichte Sache, viele Wochen hindurch so zu ver⸗ handeln und die Ruhe so zu bewahren, wie das Gericht es getan hat. (Abg. Dr. Liebknecht: Sehr richtig!) Das Gericht mußte nach der Lage unserer Gesetzgebung diese Geduld bewahren; es mußte nach unserer Gesetzgebung auch weiten Beweisanträgen stattgeben: denn seine Befugnis in der Ablehnung auch von Anträgen, die es nicht für begründet hält, ist gering.

Das ist ein wichtiges Moment, und, wie einer der Herren Redner aus dem Zentrum bereits erwähnt hat dasselbe ist auch von anderer Seite gesagt worden —, ist es wohl geboten, dieser Frage der Be⸗ weiserhebung jetzt näher zu treten. Meine Herren, die verbündeten Regierungen haben den Entwurf einer Strafprozeßordnung vorgelegt; die preußische Regierung hat es sich zur ernstesten Aufgabe gestellt, dahin zu wirken, daß das Gericht die Befugnis erhält, bei Ablehnung von nach seinem Ermessen und seiner Ueber⸗ zeugung ungenügenden, überflüssigen, verzögerlichen Anträgen ein ent⸗ scheidendes Wort zu sprechen. (Bravo! rechts Lebhaftes Hört, hört! und Zurufe bei den Sozialdemokraten Lebhaftes Bravo! bei den Nat ionalliberalen und rechts.)

Von diesem Standpunkt aus wird die preußische Regierung diese Angelegenheit im Reichstage vertreten. Ich glaube, meine Herren, daß Sie in der großen Mehrheit mir zustimmen werden, daß das ein richtiger Gedanke ist, der wohl zur Durchführung gelangen kann, ohne daß irgend jemandem zu nahe getreten wird. (Abg. Dr. Lieb⸗ knecht: Das glaube, wer kann!) Ich ersuche die Herren auch aus diesem hohen Hause, bei den entsprechenden Fraktionen des Reichs⸗ tages dahin zu wirken (Wiederholtes lebhaftes Hört, hört! bei den Sozialdemokraten), daß diesem Gedanken Rechnung getragen wird⸗ (Abg. Hammer: Sehr richtig! Heiterkeit links Abg. Dr. Lieb⸗ knecht: Die preußische Reaktion noch da hineinhetzen!) Ja, ich habe es als eine Selbstverständlichkeit aufgefaßt, daß jedermann, der diese wichtige Frage fördern will, das Seine dazu tut. Ich werde das Meinige tun, und wo ich Unterstützung finde, da begrüße ich sie. (Sehr richtig! und Bravo! rechts und bei den Nationalliberalen Unruhe bei den Sozialdemokraten Wiederholter Zuruf des Abg. Dr. Liebknecht: Kein Wort gegen Zedlitz! Wiederholter Beifall rechts, im Zentrum und bei den Nationalliberalen.)

Abg. Graf Praschma (Zentr.): Der Abg. Pachnicke scheint nicht verstanden zu haben, was mein Freund Porsch über die Wahlrechtsvorlage sagte. Wenn das direkte Wahlrecht angenommen worden wäre, so wäre keine Mehrheit für die gesamte Vorlage zu finden gewesen, denn in dem Moment, wo das direkte Wahlrecht angenommen wäre, hätten die Konservativen und wahrscheinlich auch die Freikonservativen gegen das ganze Gesetz gestimmt. Die Nationalliberalen wollten bei der Drittelung die plutokratische Wirkung noch vermehren. Wie sollte da eine Mehrheit zu stande kommen! Da sind wir natur⸗ gemäß, wenn wir etwas erreichen wollten, das nicht das Bestehende verschlechterte, auf die Seite der Konservativen geführt worden, weil mit ihnen zusammen eine Mehrheit für das Wahlrecht, wie es bisher war, aber mit der großen Verbesserung der geheimen Wahl zu stande kam. Also unsere Stellung war klar und un⸗ anfechtbar. Wohin wären wir gekommeu, wenn die Herren Konservativen sich mit den Nationalliberalen zusammengetan hätten und dann gegen uns und Sie (nach links) die Drittelung hineingebracht hätten! (Zuruf: Wo sind wir jetzt hingekommen!) Nicht durch unsere Schuld, die hauptsächliche Schuld tragen die National⸗ liberalen. (Lachen bei den Nationalliberalen.) Jawohl, die Nationalliberalen. Der Abg. Pachnicke hat die Maßregelung des Lehrers in Breslau angeführt. Gerade den Breslauer Fall an⸗ zuführen, das finde ich etwas unvorsichtig. Wohin sind denn unsere Reichstagsstimmen gekommen? Die Reichstagsstimmen des Zentrums sind sämtlich für Sie (nach links) abgegeben worden. Und was haben Sie bei der Landtagswahl dafür getan? Sie haben sich mit der Sozialdemokratie verbündet, und auf den Krücken der Sozial⸗ demokratie sind Sie hier hineingekommen. Sie haben gesagt, das Zentrum hätte bei der letzten Wahl die Parole: „Für die Sozialdemokratie“ ausgegeben. Wo ist denn diese all⸗ emeine Parole ausgegeben worden? Es sind in einzelnen Fällen einige von unseren Wählern für die Sozialdemokratie ein⸗ getreten; das haben wir nie geleugnet. Aber wollen die Herren sich doch einmal bei den jungliberalen Freunden der Herren Schmieding und Hirsch erkundigen, ich will damit nicht sagen, daß die Herren Schmie⸗ ding und Hirsch an dem Verhalten der Jungliberalen schuld wären. Wenn das Zentrum gegen den blau⸗gelb⸗rosa Block damals dieselbe Parole ausgegeben hätte; die jetzt der Abg. Pachnicke gegen den schwarz⸗blauen Block ausgibt, und wenn wir überall mit den Sozial⸗ demokraten zusammengegangen wären, wo wäre dann Ihre ganze Blockherrlichkeit geblieben? Die ganze Blockherrlichkeit hätte über⸗ haupt nicht existiert; dann wäre die Zeit nicht gekommen, Herr Pachnicke, wo Ihre freisinnigen Herren an den Tischen der Regie⸗ rung ein ernstes und entscheidendes Wort mitgesprochen haben. Wenn wir diese Parole ausgegeben hätten, dann wären diese schönen, köst⸗ lichen Jahre in Ihrer Parteigeschichte gar nicht gewesen. Man soll wahrhaftig nicht auf die Vorübergehenden mit Steinen werfen, wenn man in einem solchen Glashause sitzt. Daß die Finanzreform mit einigen Steuern nicht so vollkommen geworden ist, daran sind die Liberalen und die Nationalliberalen schuld, die die ganze Arbeit im Stich ließen. Daß das Urteil über die Finanzreform in liberalen Kreisen nicht überall so schlecht lautet, zeigt ein Urteil der Handels⸗ kammer in Bochum, das vom Beginn der erfolgten Annahme der Reichsfinanzreform durch den Bundesrat den Anfang der Besserung der wirtschaftlichen Lage datiert. Auch das „Berliner Tageblatt“ hat geschrieben, daß die wirtschaftliche Lage besser geworden sei, seitdem die Finanzen des Reiches sich in fortschreitender Ge⸗ sundung befinden. Wir halten es nach wie vor für richtig, daß das mobile Kapital schärfer herangezogen wird. Das bezweckt ja auch die Talonsteuer. Daß die Börse nicht unter der Finanzreform gelitten hat, sehen Sie ja aus der Aeußerung des „Berliner Tageblattes“. Der Abg. Pachnicke hat gesagt, daß die Religion ihn nicht interessiere, und in demselben Augenblick hat er lange Ausführungen über religiöse Dinge gemacht. (Zuruf links: Auf Provokationen!) Das ist un⸗ richtig, der Abg. Porsch hat nur auf Angriffe von Ihrer Seite ge⸗ antwortet. Der Abg. Pachnicke hat drei oder fünf Zeitungsartikel hier vorgebracht. Was bedeuten diese gegenüber den Tausenden von Angriffen, die von Ihrer Seite aus erfolgt sind! Das katholische Volk ist an der Grenze dieser Zurückhaltung angelangt, es hat es satt, sich so behandeln zu lassen. Sie beweisen dadurch nur, daß Sie keinen Sinn für das religiöse Gefühl haben. Sie verletzen auf das tiefste unser religiöses Gefühl. Oder glauben Sie, daß es eine Schonung unseres religiösen Gefühls wäre, wenn Ihre Parteigenossen im Lande umherziehen und erzählen, die Konservativen schädigten durch das Zusammengehen mit uns die evangelischen Interessen? Sehen Sie denn nicht ein, was das für ein Faustschlag in das Gesicht der katholischen Beyvölkerung ist Und an der Spitze dieser Bewegung, gewissermaßen jum Schutze des evangelischen Gefühls, befindet sich ein Organ wie das „Berliner Tageblatt“. Das schert sich zum Kuckuck um Ihren evangelischen Glauben. Die evangelischen Christen werden ihre Interessen allein wahren können und brauchen sich nicht Vor⸗ schriften machen zu lassen von Leuten, die sonst nichts mit ihnen zu

tun haben wollen. Aber dafür sollten Sie doch wenigstens!

Empfinden haben, wie Sie uns beleidigen. Sie machen uns den Vorwurf, daß wir uns konfessionell zusammenschließen, aber Sie boykottieren ja nicht bloß uns, sondern auch die, die mit uns zusammengehen wollen. (Widerspruch links.) Das ist doch ein Boykott, wenn Sie die Konservativen deshalb angreifen, weil sie mit uns zusammengehen. Aber Sie haben dafür kein Verständnis. Was Sie von dem Modernisteneid gesagt haben, ist nur ein Beweis dafür, daß Sie nichts davon verstehen. Das ist kein neuer Gewissenszwang. (Zuruf: Neuer? Abg. Hoffmann: Nein, es ist nur der alte!) Was hat Professor Schnitzer mit dem Modernisteneid zu tun? Sie hätten beweisen müssen, daß der Modernisteneid irgendwie in staatliche Interessen eingreift. Wir verbitten uns auf das ent⸗ schiedenste, daß Sie hier die Lehren und Vorschriften der katholischen Kirche vor das Forum des Parlaments ziehen. Das geht den Landtag und den Reichstag gar nichts an. (Zuruf links: Wir sind anderer An⸗ sicht!) Ziehen wir etwa die Vorschriften der evangelischen Kirche oder der jüdischen Religion hervor? Es geht Sie (nach links) und ihre Freunde absolut nichts an, was die Kirche von ihren Angehörigen verlangt, welchen Zwang sie ihnen auferlegt, welches Maß von Gewissensfreiheit sie ihnen gewähren will. Da kann die Kirche machen, was sie will, und wer sich ihren Vorschriften nicht fügen will, der kann gehen. Sie sagen, wir wollen die Fortbildungsschule unter die Herrschaft der katholischen Kirche bringen. Wir verlangen nur den Religionsunterricht, nicht nur den katholischen, sondern auch den evangelischen, und wenn es notwendig ist, auch den jüdischen. Wir wollen die Freiheit aller Religionsbekenntnisse, aber wir verlangen, daß Sie auch die Freiheit unseres Religionsbekenntnisses anerkennen. Lassen Sie uns mit derartigen Phrasen zufrieden. 8 8 Abg. Leinert (Soz.): Derartige Debatten, wie sie eben geführt worden sind, würden nicht vorkommen, wenn unser Grundsatz, daß Religion Privatsache ist, durchgeführt wäre. Kirche und Staat müssen unbedingt voneinander getrennt werden. Wir sehen in jeder Session hier auf der Ministerbank neue Gesichter. Seit dem Regierungs⸗ antritt Wilhelms II. haben wir sechs Ministerpräsidenten, vier Finanzminister, neun Minister des Innern, sieben Kriegsminister, vier Justizminister, sechs Kultusminister, sechs Minister der Land wirtschaft, sechs Handelsminister und vier Minister der öffent⸗ lichen Arbeiten gehabt. Am leichtesten scheinen ja die Minister des Innern zu ersetzen zu sein. Bei der Wahlrechtsvorlage hat man den Willen des Volkes schmählich mißachtet. Das Zentrum hat die getrennte Abstimmung über die geheime und direkte Wahl verhindert, sonst wären beide angenommen worden. Das Kainszeichen des Volks⸗ verrats ist dem Zentrum auf die Stirn gedrückt. Es ist wahr, daß in Moabit ein Pulverfaß zur Explosion gekommen ist. Wer hat dieses Pulverfaß aber gefüllt? (Zuruf von rechts: Sie doch nicht! Präsident von Kröcher: Wir wollen uns doch nicht darum streiten, wer das Pulver erfunden. hat!) Wie die Polizei in Moabit gewirtschaftet hat, das haben d Zeugenaussagen bewiesen! „Ach was, Recht? Quatsch ist das. Sie haben zu machen, daß Sie weg kommen“, das waren die typischen Antworten der Polizisten. Dann werden die Leute festgenommen und auf der Wache noch tüchtig verhauen. Das ist die Kulturarbeit der Polizei, das ist das Pulver, das Sie fabrizieren. Der Abg. Zedlitz hat davon gesprochen, daß die Zeugenaussagen suggeriert worden wären. Diese Behauptung ist so bodenlos, so.. .. Verzeihen Sie, ich will mir keinen Ordnungsruf zuziehen, ich finde

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keinen Ausdruck, der zutreffend ist für eine solche nichtswürdige Be⸗

hauptung. (Präsident von Kröcher: Wenn Sie keinen Ordnungs⸗ ruf haben wollten, dann hätten Sie auch das Wort nichtswürdig nicht gebrauchen dürfen. Ich rufe Sie dafür zur Ordnung.) Die Schutzleute haben für die Mißhandlung der Arbeiter Orden be⸗ kommen, die die Arbeiter mit ihren Steuern bezahlen müssen. Ein englisches Gerichtsurteil kennzeichnet die Streikbrecher als Verräter, und auch der Vorsitzende des Gewerbegerichts in Hannover hat in einem Urteil gesagt, die Streikbrecher seien in der Regel moralisch minderwertige Menschen, die nach dem Streik wieder ver⸗ schwinden und auch sonst im Leben keine Rolle spielen. Für solche Menschen ist die Polizei eingetreten. Hintze, der seine Leute Sieben⸗ monatskinder nannte, rühmte sich des Schutzes der Partei. Und die konservative Partei ist die Schutzpatronin des minderwertigen Streik⸗ brechergesindels. Die Arbeiterklasse wird den Sieg erringen auch gegen den preußischen Staat. Wer nicht pariert, der fliegt (Ruf rechts: Hat Bebel gesagt!), das ist ein Grundsatz des preußischen Staats. Mein Freund Ströbel hat Ihnen schon gesagt, daß das ein Unterschied in einer Partei und in einem Staate ist. Gegen Rebellen will man Ausnahmegesetze machen; in Preußen ist nur die konservative Rebellion erlaubt. Vor Gericht ist nicht der Schatten eines Beweises dafür erbracht, daß die Sozialdemokratie mitschuldig sei an den Vorgängen in Moabit; das Gericht hate das Gegenteil festgestellt. Das weiß der Minister des Innern, und trotz⸗ dem behauptet er diese Unwahrheit.

Präsident von Kröcher: Herr Abg. Leinert, dafür rufe ich Sie zum zweiten Male zur Ordnung und weise Sie gleichzeitig auf die Folgen nach § 48 der Geschäftsordnung für den Fall des dritten Ordnungsrufes hin.

Abg. Leinert (fortfahrend): Gegen solche Behauptungen wehren wir uns mit allen Mitteln. Wir werden bis zum letzten Atemzuge für unsere Rechte kämpfen. Die Sozialdemokratie ist eine groß⸗ artige Bewegung. Vor den letzten Reichstagswahlen haben alle Parteien an unserem Tische gesessen, sie sind allzumal Sünder. In Hildesheim haben die Nationalliberalen sogar Flugblätter gefälscht, um unsere Stimmen zu bekommen. (Stürmischer Widerspruch bei den Nationalliberalen.) Das ist gerichtlich im Prozeß in Hannover festgestellt. Nun, ich hoffe, Sie werden alle wieder den Weg zu uns zurückfinden. Wir befinden uns in Uebereinstimmung mit der Rede des Kaisers in Königsberg, der sagte: Der Jugend müsse gelehrt werden, daß es nicht angehe, auf Kosten anderer ein gutes Leben führen zu wollen. Herr von Zedlitz will den Generalstreik wie Hochverrat bestraft haben. Wir reizen nicht zu Streiks auf, wenn aber einmal der Eisenbahner⸗ streik bei uns ausbrechen sollte, wird er nicht infolge sozial⸗ demokratischer Verhetzung ausbrechen, sondern weil er durch die Verhältnisse eine Naturnotwendigkeit geworden ist. Die Parteien haben jetzt Angst vor den Reichstagswahlen. Im Westen wird es vielleicht zum Zusammenstoß von Zentrum und Nationalliberalen kommen. Konservative, Zentrum und Nationalliberale kann man als Angstblock bezeichnen, das ist der Block der Arbeiterfeindlichkeit. Mit all dem Golde des Hansabundes, des Bauernbundes usw. können Sie keine Ueberzeugung schaffen, die Arbeiterklasse ist gerüstet und wird über die nichtsnutzige Junkerklasse siegen.

Auf Antrag des Abg. von Pappenhei Diskussion geschlossen.

Persönlich bemerkt

Abg. Freiherr von Zedlitz und Neukirch (fr. kons.): Meine Kritik der Zeugenaussage in Moabit stützte sich auf die Erkenntnis⸗ gründe, wonach ein Teil der Zeugen unter der Suggestion der Sozial⸗ demokratie gestanden habe. (Ruf bei den Sozialdemokraten: Unwahr!) Ich halte deshalb meine Behauptung aufrecht.

Abg. Gronowski (Zentr.) hofft, auf die Angriffe des Abg. Leinert gegen seine Partei bei der zweiten Lesung antworten zu können.

Abg. Krethäekons.): Der Abg. Friedberg hat in seiner Rede meinen Namen erwähnt; es ist nicht meine Gewohnheit, in diesem Hause Religionsgespräche zu halten, aber ich werde mir überlegen, ob ich nicht doch bei der zweiten Lesung darauf antworte.

Abg. Leinert (Soz.): Durch die letzten Bemerkungen des Abg. von Zedlitz sind seine Behauptungen nicht wahr geworden.

Darauf werden der größte Teil des Etats und der An⸗ leihegesetzentwurf an die Budgetkommission überwiesen.

Schluß 4 ½ Uhr. Nächste Sitzung Donnerstag, 1 Uhr. (Interpellation der Volkspartei wegen der Uebergriffe der Landräte.)

(kons.) wird die