1911 / 44 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 20 Feb 1911 18:00:01 GMT) scan diff

gesagt hat, will

ich übergehen; da kann Herr Liebknecht ein maßgebendes Urteil nicht haben. Wir haben eine große Zahl solcher Einrichtungen, die zum größten Segen gewirkt haben, denen die Sozial⸗ demokratie nichts an die Seite stellen kann; wir haben bis vor wenigen Jahren einen Mann in unserer Mitte gehabt, der auf diesem Gebiete eine Tätigkeit entfaltet hat, wie sie nicht großartiger sein konnte, das war der verstorbene Pastor von Bodelschwingh. Schon früher haben wir die Frage der Unterbringung irrer Ver⸗ brecher oder vielleicht richtiger verbrecherischer Irren, hier zur Sprache gebracht. Durch Erkenntnis des Oberverwaltungs⸗ gerichts ist ein für allemal den Provinzen die Unterbringung dieser irren Verbrecher übertragen worden. Die Unterbringung derselben kann nun in keiner Weise in den Provinzialirrenanstalten zweck⸗ entsprechend erfolgen. Aus den Zeitungen erfahren wir alle Augen⸗ blicke, daß wieder irre Verbrecher entwichen sind. Die Provinzial⸗ instanzen sind auch nicht in der Lage, Maßregeln zu treffen, wie sie notwendig sind, um ein Entweichen dieser gemeingefährlichen oder irren Verbrecher zu verhindern. Die Provinzialirrenanstalten betrachten mit Recht die Zuweisung derartiger Irren als eine ganz außerordentlich schwere und ihre eigentliche Aufgabe störende Belästigung. Daß sie sie nicht gern nehmen, ist klar, sie erkennen in dieser Unterbringung auch ein Unrecht gegenüber den anderen Geisteskranken in ihren An⸗ stalten, wenn diese mit irren Verbrechern zusammenkommen. Die Frage der Unterbringung der geisteskranken Verbrecher ist eine sehr dringende, und ich möchte den Herrn Minister bitten, dieser Frage seine ernste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es haben fast alle Parteien die dringende Bitte und Forderung aufgestellt, es möchten An⸗ stalten für solche irren Verbrecher gebaut werden, in denen ihr Ent⸗ weichen so weit wie irgend möglich verhindert werden kann. Ich hoffe und wünsche, dqß die Staatsregierung so bald wie möglich mit einer entsprechenden Vorlage an das Haus herantreten wird.

Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat Dr. Krohne: Die Ge⸗ fängnisverwaltung kann den Herren Vorrednern nur dankbar sein für die anerkennenden Worte, die sie hier ausgesprochen haben; sie wird sich be⸗ mühen, diese Anerkennung auch ferner zu finden. Es ist hier auch gesprochen worden von den Ergebnissen der Kommission, welche auf Antrag dieses Hauses zusammengetreten ist, um über die Gefängnisarbeit zu beraten. Das wesentlichste Ergebnis dieser Konferenz ist wohl das, daß Vertreter der erwerbenden Stände sich bereit erklärt haben, mitzuwirken an einer guten Organisation der Ge⸗ fängnisarbeit, und daß sie sich auch in der Richtung bemühen wollen, daß den entlassenen Gefangenen die Rückkehr in das bürgerliche Leben er⸗ leichtert wird. Auf dieses Zusammenarbeiten der erwerbenden Stände mit der Gefängnisverwaltung legt diese einen besonderen Wert. Die Bezüge der Anstaltsärzte sind um 9 % aufgebessert worden. Wenn man sich über eine differentielle Behandlung der Aerzte in den beiden Kategorien der Anstalten beklagt hat, so ist darauf hinzuweisen, daß die Ver⸗ hältnisse in den beiden Verwaltungen anßerordentlich verschieden sind. Wir haben den Aerzten diejenige Stellung eingeräumt, die ihnen gebührt. Sie haben einen Einfluß auf die innere Verwaltung. Die vorzeitige Entlassung der Strafgefangenen ist eine alte Forderung, sie ist hier wiederholt zum Ausdruck gebracht worden, sie hat auch bei den Beratungen über den Vorentwurf eines Reichsstrafgesetzbuches eine Rolle gespielt. Nach der Meinung wissenschaftlicher Autoritäten soll die vorzeitige Cr Nagluns an die Vorbedingung einer Probezeit von mindestens zwei Jahren geknüpft werden. Hoffentlich wird die Frage in dem neuen Strafgesetzbuch zur Zufriedenheit gelöst weiden. Wenn der Abg. Marx bedauert hat, daß die Gehaltsverhältnisse der Anstaltsgeistlichen, insbesondere der katholischen, noch „nicht be⸗ friedigend geregelt seien, so glaube ich, daß der Finanzminister seine Beschwerde wohlwollend prüfen wird. Dies gilt wohl auch von den Wünschen der Lehrer. Wenn wirklich die kleinen Gewerbetreibenden an kleinen Orten bei Gefängnislieferungen übergangen sein sollten, so würde das den Intentionen des Herrn Ministers wider⸗ sprechen. Die Bedürfnisse der Strafanstalten sollen in erster Linie am Orte selbst beschafft werden. Natürlich kann dies nicht geschehen, wenn die Lieferanten etwa das Privilegium zu haben glauben, 50 % mehr zu nehmen, als es in der nächsten größeren Stadt geschieht. Der Abg. Liebknecht hat eine ganze Reihe von Beschwerden und Fragen an mich gerichtet, die zum Teil auf Mißverständnissen beruhen. Was die Behandlung der Redakteure betrifft, so werden ihnen alle diejenigen Vergünstigungen gewährt, welche im Rahmen der Gefängnisse möglich sind, und die in Ueber⸗ einstimmung stehen mit den im Bundesrat darüber erlassenen Vor⸗ schriften. Der Abg. Liebknecht hat bemängelt, daß der Gefängnis⸗ verwaltung eine viel zu große Gewalt übertragen sei. Er darf nicht übersehen, daß es sich um eine große Zahl von schwer erziehbaren Gefangenen handelt, die sich wiederholt gegen die Rechtsordnung ver⸗ gangen haben. Wenn er gemeint hat, daß der große Unterschied in der Krankheits⸗ und Sterbeziffer in den verschiedenen Strafanstalten wahrscheinlich daher komme, daß die hygienischen Einrichtungen in der einen Anstalt besser, in der andern schlechter seien, so ist dies nicht der Fall. Der Unterschied ist vielmehr darauf zurückzuführen, daß die älteren und die jüngeren Strafgefangenen in verschiedenen Anstalten untergebracht werden, natürlich ist die Sterblichkeitsziffer in den Anstalten mit älteren Gefangenen größer als in denjenigen mit jüngeren Gefangenen. Was die Infektionskrankheiten, insbesondere die Tuberkulose an⸗ betrifft, so wird jeder Gefangene mehrere Male daraufhin sorgfältig untersucht, besonders sorgfältig werden sie auf Bazillen unter⸗ sucht. Jeder Gefangene wird desinfiziert, ebenso das gesamte Zeug der Kranken. Die Tuberkulosekranken werden in einem besonderen Saale mit leichten Arbeiten beschäftigt, sie machen auch be⸗ sondere Spaziergänge. Die Anstellung von mehr Aerzten, die der Abg. Liebknecht wünscht, ist eine Geldfrage. Ich glaube kaum, daß sie damit einverstanden sein würden, wenn man ihnen die freie Praxis untersagte. Sie würden es wahrscheinlich als eine Einengung ihres Geschäftskreises ansehen, wenn man ihre Praxis auf den engen Kreis der Strafgefangenen beschränkte. Im übrigen haben sie bei allen wichtigen Fragen mitzusprechen, so z. B. in der Frage der Kostentziehung, der Arrestverhängung und selbstverständlich bei hygienischen Einrichtungen. Es werden an die Aerzte vielleicht größere Anforderungen gestellt, als es der ihnen gewährten Ent⸗ schädigung entspricht. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, daß die Herren Aerzte ihre Aufgabe als ein nobile officium ansehen und sie nicht etwa widerwillig, sondern mit der größten Freundlichkeit und mit größtem Entgegenkommen erfüllen. Die Gefängnis⸗ verwaltung ist ihnen zu großem Dank verpflichtet. Die zu ent⸗ lassenden Strafgefangenen verweisen wir zunächst an die kirch⸗ lichen Fürsorgevereine. Wir haben damit die besten Erfahrungen gemacht. Aber ich möchte auch an den Abg. Liebknecht eine Bitte richten. Auch Sie können für die entlassenen Strafgefangenen etwas tun, namentlich, wenn die Arbeiterschaft die entlassenen Arbeiter bei ihrer Absicht, Arbeit zu suchen, unterstützt, wenn sie die gefallenen Kameraden wieder aufnimmt in ihre Mitte, ihnen die helfende Hand reicht und ihnen nicht dadurch die Möglichkeit, Arbeit zu finden, er⸗ schwert, daß gesagt wird: Der hat gesessen! Da können sich auch die weitesten Kreise der Arbeiterschaft in der Fürsorge betätigen.

Ein Schlußantrag wird angenommen.

899 Dr. Liebknecht (Soz.) bemerkt persönlich, daß er noch gern darauf hingewiesen hätte, daß die letzten Anregungen, die Geheimrat Krohne gegeben hat, sicherlich gern von der Sozialdemokratie aus⸗ geführt würden, und daß alle Mißstände, die sich in dieser Richtung ereignet haben sollten, von der Sozialdemokratie mißbilligt würden.

Abg. Heine (nl.) bedauert, verhindert zu sein, auf die Konkurrenz einzugehen, die durch die Gefängnisverwaltung in Wolfenbüttel dem Handwerk gemacht wird.

Bei dem Fonds zur Förderung der Fürsorge für die aus der Strafhaft und der Fürsorgeerziehung Entlassenen befürwortet

Abg. Dr. Glattfelter (Zentr.) eine reichliche Unterstützung der in Betracht kommenden Vereine, da es die Hauptaufgabe sei, die ent⸗ 11 wieder zu ordentlichen Mitgliedern der Gesellschaft

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Beim Kapitel „Wohltätigkeitszwecke“, und zwar bei der Beihilfe für Unterstützung bedürftiger ehe⸗ maliger Krieger, 17 029 800 ℳ, schildert

Abg. Dr. Runze (fortschr. Volksp.) das große Elend vieler alter Veteranen. Oft sei es vorgekommen, daß sich solche Vaterlands⸗ kämpfer aus Hunger und Verzweiflung selbst das Leben genommen hätten. Viele Veteranen würden in ihren berechtigten Ansprüchen zurückgewiesen, das fortwährende Verweisen von einer Behörde zur anderen sei ein reines Spießrutenlaufen. Die Offiziere würden ganz anders behandelt.

Minister des Innern von Dallwitz: 1

Meine Herren! Daß es erwünscht ist, alten verdienten Veteranen zu helfen und sie in ihren alten Tagen nicht auf Almosen anzuweisen, wird wohl von allen Seiten anerkannt werden. Es ist das ein Wunsch, der ja wiederholt mit besonderer Wärme von Angehörigen aller Parteien hier vorgetragen worden ist. Nun hat der Reichstag ja erst in den letzten Tagen dieser Ansicht dadurch Ausdruck gegeben⸗ daß er weitere 5 Millionen zur Unterstützung der Veteranen bewilligt hat. (Sehr richtig! rechts.) Der Herr Regierungskommissar hat bereits vor einigen Tagen mitgeteilt, daß ein ansehnlicher Betrag ich glaube 3 Millionen hiervon auf Preußen entfällt und daß es mit diesen Mitteln möglich sein wird, die bisherigen Unterstützungen zu erhöhen oder eine größere Anzahl von Veteranen zu unterstützen, je nach den vom Bundesrat zu erlassenden Ausführunge bestimmungen. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß wir an die Aus⸗ führungsbestimmungen des Bundesrats gebunden sind, daß wir mithin gar nicht in der Lage sind, Bevorzugungen eintreten zu lassen oder Leute abzuweisen, die ein Recht darauf haben, aus diesem Titel Unterstützungen zu erhalten. Es ist mithin durchaus unrichtig, wenn der Herr Vorredner gesagt hat, daß Veteranen mit ihren berechtigten Ansprüchen zurückgewiesen worden seien (sehr richtig!), daß sie genötigt seien, Spießruten bei den Behörden zu laufen, und daß eventuell sogar Offiziere vor den alten Veteranen bevorzugt würden. Ich stelle ausdrücklich fest, daß aus diesem Fonds kein Offizier auch nur einen Pfennig erhält. (Bravo! rechts.)

Abg. von Oertzen (frkons.): Der Abg. Dr. Runze hat mit seiner Rede meinen alten Kameraden weniger genützt als geschadet. Meine Freunde sind im Reichstage seit Jahren dafür eingetreten, daß im Etat eine höhere Summe für die Veteranen ausgeworfen werde. Wir sind dafür eingetreten, daß die Grenzen für die Bewilligungen der Unterstützungen an Veteranen höher gezogen würden, daß von der Würdigkeit bei der Bewilligung der Unterstützung abgesehen werde. Wir waren der Ansicht, daß allein der Umstand, daß der Mann für das deutsche Vaterland gekämpft hatte, und daß die Mittel, welche durch seine Privattätigkeit ihm zu Gebote stehen, nicht ausreichen, maßgebend für die Bewilligung der Unterstützung sein soll. Wenn die bisherige Summe nicht ausreichte, so han das niemand mehr bedauert als wir. Ein Hauptmoment für die Bewilligung der von uns ungern bewilligten Wertzuwachssteuer war der, daß dadurch erhöhte Mittel für die Veteranenfürsorge bereit ständen. (Abg. Hoffmann: Hübsche Dekoration!) Das ist keine Dekoration, sondern ein Grund. Wenn man Fremdwörter gebraucht muß man sie auch richtig gebrauchen. Nach meiner Kenntnis ver⸗ steht man unter dem Worte Dekoration etwas anderes. Wenn es vorgekommen ist, daß ein alter Kamerad von mir nicht in der ent⸗ gegenkommendsten Weise behandelt worden ist, so bedauert das niemand mehr als wir.

Ab. Dr. Runze (fortschr. Volksp.): Wenn ich etwas stärker aufgetragen habe, so kommt es daher, daß ich mehr in der alten Kriegersache stehe als andere. Ich habe viel Elend und Jammer der alten Veteranen miterlebt. Viele sind hungernd und bettelnd zu mir gekommen. Die 5 Millionen sind schön, aber es kann gar nicht genug getan werden.

Abg. Wallenborn (Zentr.): Wenngleich auch bei uns schwere Bedenken gegen die Wertzuwachssteuer bestanden, so haben wir doch zugestimmt. Mehr wert als alle schönen Worte ist doch die Tat.

Bei dem Fonds zu Unterstützungen für ehemalige Privatbeamte der Landräte wünscht

Abg. Dr. Runze ffortschr. Volksp.) eine bessere Sicherstellung dieser Beamten für die Zukunft und eine Aufbesserung ihrer Gehälter. Den Landräten sollten bestimmte Mindestgehaltssätze für ihre Beamten vor⸗ geschrieben werden, und für die aus dem Dienst geschiedenen alten Beamten sollten periodische feste Bezüge bestimmt werdben.

Das Kapitel wird bewilligt.

Zu dem Kapitel der allgemeinen Ausgaben zu ver⸗ schiedenen Bedürfnissen der Verwaltung des Innern bemerkt

Abg. Schmedding (Zentr.), daß das Gesetz über die Wander⸗ arbeitsstätten, das in Hessen⸗Cassel bereits eingeführt sei und in Westfalen am 1. April werde eingeführt werden, nicht fruchten werde, wenn nicht gegen die Wanderer streng vorgegangen werde, die nicht in die Wanderarbeitsstätten aufgenommen werden könnten, weil sie sich der geforderten Arbeitsleistung nicht unterziehen wollten. Der Provinzial⸗ landtag für Westfalen habe in einer Resolution die Regierung um einen Gesetzentwurf ersucht, durch den nicht nur säumige Unter haltungspflichtige, sondern auch solche Personen, die sich durch Arbeitsscheu oder Trunksucht in hilfsbedürftigen Zustand versetzen, zur Arbeit angehalten werden können. In dieses Gesetz müßten die arbeitsscheuen Wanderer einbezogen werden. Auch der Deutsche Verein für Armenpflege habe sich bei seiner Versammlung in München 1909 für ein solches Arbeitszwanggesetz ausgesprochen. Der Redner bittet, den schon ausgearbeiteten Gesetzentwurf noch in dieser Session vor⸗ zulegen.

Das Kapitel wird bewilligt.

Bei den einmaligen Ausgaben, und zwar zu den Kosten der Volkszählung vom 1. Dezember 1910 be⸗ merkt

Abg. Losinski (Pole): Bei den früheren Volkszählungen ist immer der Grundsatz befolgt worden, daß jede Zählkarte von der betreffenden Person selbst ausgefüllt wurde. Diesmal war es anders. Der Ostmarkenverein hat in den polnischen Landes⸗ teilen die Volkszählung überhaupt zu einer politischen Aktion gemacht. Das Recht der Selbstbeantwortung der Fragen wurde der polnischen Bevölkerung beeinträchtigt oder ganz genommen. Bei der Auswahl der Zähler wurde auf die politische Gesinnung gesehen, und es wurden ganz ungeeignete Leute als Zähler an⸗ gestellt, z. B. ein 18jähriger Dorfjunge oder ganz junge Beamte. Solche Leute nahm man nur, um nicht Polen zu nehmen. Manche Zähler machten sich die Sache sehr leicht, beriefen einfach die Haus⸗ haltungsvorstände zu einer Versammlung und ließen sich dort öffentlich die Antworten für die Zählkarte geben. Vielfach sind dadurch irrtümliche Eintragungen gemacht worden. Nach einer Mitteilung des „Oberschlesischen Couriers“ sollen in Zabrze gegen 1000 Haus⸗ haltungen bei der Verteilung der Zählkarten übergangen worden sein. Deshalb sollte man dort eine neue Zählung vornehmen. Ganz ungenau waren die Feststellungen der Muttersprache. Man ließ diese wichtige Frage nicht von den Leuten selbst beantworten, sondern die Zähler schrieben die Antworten nach ihrem Ermessen. Es sind auch absichtlich falsche Eintragungen gemacht worden. Die Frage nach der Kenntnis der deutschen Sprache wurde einfach mit ja beantwortet, obwohl die Leute gar nicht gefragt wurden und auch tatsächlich der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Die polnischen Schulkinder wurden einfach als der deutschen Sprache mächtig bezeichnet; in Neustadt wurde sogar der Lehrer zu solchen falschen Angaben verl itet, indem ihm aufgetragen wurde, die Zähl⸗

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zu setzen.

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karten zu revidieren. Ein Distriktskommissar in der Provinz Posen stellte einen Zähler zur Rede, weil in dessen Bezirk zu wenig Leute als der deutschen Sprache mächtig bezeichnet wurden, und als der Zähler sagte: „Herr Kommissar, das ist aber wirklich so“, da meinte der Kommissar: „Aber Sie brauchen doch die Leute nicht zu fragen, oh sie der deutschen Sprache mächtig sind; tragen Sie es einfach so ein.“ Der Distriktskommissar änderte dann allein die gemachten Eintragungen.

Minister des Innern von Dallwitz:

Meine Herren! Auf die Frage des Herrn Abg. Eosiüski kann ich ihm mitteilen, daß seitens der Zentralstelle irgendwelche besonderen Weisungen nicht ergangen sind.

Was die Beschwerde darüber, daß ungeeignete Zähler bestellt worden seien, betrifft, so kann ich darüber augenblicklich keine Aus. kunft geben. Es ist auch wohl Sache des persönlichen Ermesseng ob man einen Zähler für geeignet oder ungeeignet hält. Wenn jüngere Beamte mit diesem Amt betraut worden sind, so kann ich darin noch keinen Beweis dafür finden, daß das besonders ungeeignete Personen seien; denn in der Regel werden Beamte in ländlichen Ort. schaften trotz jugendlichen Alters diejenigen sein, die am ehesten in sachgemäßer Weise die Arbeit des Zählers werden besorgen können. Wenn der Abg. Losiüski behauptet hat, daß Haushaltungen übergangen worden seien, so bedauere ich das. Wenn es rechtzeitig angezeigt worden wäre, hätte das Uebergehen gewisser Haus⸗ haltungen noch nachgeholt werden können. Im allgemeinen ist jetzt das Statistische Landesamt mit der Prüfung des Materialz beschäftigt, und es würde in der Lage sein, etwaige Beschwerden nach dieser Richtung hin jetzt noch nachzuprüfen oder eine Prüfung zu veranlassen.

Wenn die Befugnis zur Aenderung der Eintragungen bemängelt worden ist, so ist das nicht zutreffend. Wie ganz richtig in einem Artikel des „Kuryer Poznanski“ ausgeführt ist, „soll die Volks⸗ zählung ein photographisches Bild der Volksgemeinschaft sowie ihrer wichtigsten Verhältnisse“ bringen, und darum ist es auch Pflicht des Zählers nachzuprüfen, ob die von den einzelnen gemachten Angaben auch richtig sind. Nun ist gerade in den polnischen Landesteilen eine richtige Zählung ganz außerordentlich dadurch erschwert worden, daß die polnische Presse öffentlich Weisungen an die polnische Bevölkerung hat ergehen lassen, aus denen sich ergibt, daß das Bestreben vorlag, die Leute zu veranlassen, auch in den Fällen, in denen ihnen die Kenntnis der deutschen Sprache innewohnt, diese Kenntnis zu verheim⸗ lichen beziehungsweise sie nicht in den Zählkarten anzugeben. (Hött, hört! rechts. Widerspruch bei den Polen.) Der „Orendownik“ hat am 30. November ausdrücklich geschrieben:

„Wer gestatten sollte, daß die beiden Worte „polnisch“ und „deutsch“ unterstrichen werden, der will doch wohl nicht für einen echten Polen gelten, sondern für einen halben Polen und einen halben Deutschen.

Unter Nr. 9 steht auch die Frage: Wenn nicht deutsch, ob der deutschen Sprache mächtig?

Wer nicht fließend und korrekt deutsch spricht, der gebe die Wahrheit an und unterstreiche das Wort „nein“, oder er lasse die Amtsperson das Wort „nein“ unterstreichen. Laßt Euch nicht die Unwahrheit einreden! Es ist das eine wichtige Sache; denn von der Zahl der polnischen Bevölkerung wird es abhängen, ob wir in Posen werden in öffentlichen Versammlungen polnisch sprechen können.“

Diese letztere Vermutung ist unrichtig; denn die Kenntnis der deutschen Sprache hat mit den Bestimmungen des Vereins⸗ und Ver⸗ sammlungsrechts nichts zu tun; es kommt lediglich auf die Mutter⸗ sprache an. Daß aber gegenüber derartigen Belehrungen in der polnischen Presse auch seitens der Behörden die Pflicht vorlag, besonden Vorkehrungen dahin zu treffen, daß nicht unzutreffende Angaben in die Zählkarten eingetragen wurden, kann keinem Zweifel unterliegen. Wenn daher der Lehrer, der genau weiß, daß die Kinder deutsch sprechen, als Zähler Korrekturen vorgenommen hat, weil die von dem Kind infolge irgend welcher Einflüsse gemachten Angaben unzutreffend waren, so würde das keinen Grund zu Beschwerden abgeben können.

Die einmaligen Ausgaben werden bewilligt.

Darauf geht das Haus über zur Beratung der Ausgaben und Einnahmen im Etat für das Medizinalwesen, welches in dem Staatshaushaltsetat für 1911 zum ersten Male in dem Ressort des Ministeriums des Innern erscheint. Ueber den Etat der Medizinalabteilung sowie über die Denkschrift des Staatsministeriums, welche die Loslösung dieser Abteilung vom Kultusministerium und ihre Angliederung an das Ministerium des Innern näher begründet, referiert Abg. von der Osten (kons.)

Abg. von Arnim⸗Züsedom (kons.): Wir sind mit dieser Uebertragung, die wir selbst jahrelang gewünscht haben, durchaus einverstanden und sind überzeugt, daß Nachteile aus dieser Ressortverschiebung nicht ent⸗ stehen werden. Die Ueberlastung des Kultusministeriums wird damit wenigstens zu einem kleinen Teile beseitigt. Ich habe eine Klage vorzubringen über die Haltung des Leipziger Aerzteverbandes. Ich erkenne an, daß sie Anlaß hatten, sich gegen die Bedingungen zu wehren, welche ihnen durch die vielfachen sozialdemokra⸗ tischen Krankenkassenvorstände zugemutet wurden. Man kann nicht erstaunt sein, wenn sie jetzt zur Wahrung ihrer Rechte den Weg des Zusammenschlusses beschritten haben. Ich klage auch nur über ge⸗ wisse Auswüchse, welche dabei hervorgetreten sind, und wodurch öffent⸗ liche Interessen geschädigt wurden. In der Lausitz wurde 1902 ein Arzt angestellt mit 1200 festem Gehalt, der auf verschiedenen Gutsbezirken seine Praxis ausübte. 1904 wurde die Stelle gekündigt, dann gesperrt, und es war nicht möglich, sie neu zu besetzen. Ein anderer Fall betrifft die Kündigung des Kassenarztes an dem Diakonissenmutterhause in Eberswalde, wo 60 bis 80 Schwestem wirken. Dort wirkten drei Aerzte mit, welche mit der Kündigung ein⸗ verstanden waren. Auch diese Stelle wurde gesperrt. Nun gehören etwa 95 bis 96 % der praktizierenden Aerzte dem Leipziger Verbande an. Es ist doch ein sonderbares Verhältnis, daß eine solche Stelle nicht wieder besetzt werden kann; das öffentliche Interesse wird dadurch geschädigt. Ich will den Aerzten diesen Anspruch auf Gewinn. gar nicht beschneiden; aber die Behörde hat anderseits die Ver⸗ pflichtung, öffentliche Interessen, die dadurch leiden könnten, su schützen. Ich erwarte daher von der Medizinalperwaltung, daß sie in geeigneter Weise bei der Gestaltung der dieichoverficherungacgde ge darauf hinwirkt, daß durch ein Schiedsgericht auch solche Fälle ge⸗ schlichtet werden können. Wie steht es in dieser Beziehung mit den Kreisärzten, den voll⸗ und den nicht vollbesoldeten? Anscheinend ge⸗ hören auch vollbesoldete Kreisärzte dem Leipziger Verband an, auch Militär⸗ und Marineärzte. Daraus können sich höchst eigenartige und schwierige Verhältnisse ergeben, wenn die Bestimmungen des Verbandes schroff ausgelegt werden. Die Chefarztstelle in Cberk⸗ walde ist ja inzwischen durch einen nicht dem Verband angehörenden Arzt besetzt worden; aber was wäre eingetreten, wenn das n. 1 möglich war? Es geht doch nicht an, solche Anstalten de Roten Kreuzes und ähnliche durch derartige Sperren außer Betrie

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

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keichsanzeiger und Königlich Preu

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Abg. Dr. Friedberg (nl.): Ueber den Uebergang der Medizinal⸗

abteilung an das Ministerium des Innern ist nur noch wenig zu sagen, da die öffentliche Diskussion darüber voll erschöpft ist. Ich gehöre zu denjenigen, die diesen Uebergang doch mit einigen inneren Zweifeln begleiten. Es könnte doch die Gefahr vorliegen, daß der wissenschaftliche Charakter der Abteilung bei dem Ministerium des Innern nicht so garantiert ist, wie er es beim Kultusministerium war. Vor allem befürchte ich, daß die Selbständigkeit der Medizinal⸗ behörden infolge dieser Ressortverschiebung nicht in dem bisherigen Maße bestehen bleiben wird. Die Sanitätspolizei ist ja von hervor⸗ ragender Wichtigkeit und eine der größten Aufgaben der Staats⸗ verwaltung; aber auch dem Medizinalwesen muß seine volle Unab⸗ hängigkeit gewährleistet werden. In den Kreisen der Aerzte und Medizinalbeamten wird dringend gewünscht, daß an die Spitze der Medizinalabteilung ein aus ihren Kreisen hervorgegangener Mann gestellt werde. Wir alle erkennen ja die Verdienste der Verwaltungs⸗ heamten, zumal des Ministerialdirektors Förster an; aber wenn einmal 89 Personenwechsel in Frage kommt, sollte man diesem Wunsche will⸗ ahren. Abg. Wallenborn (Zentr.): In der Kommission hat einer meiner Parteifreunde die Anfrage an die Regierung gerichtet, ob das Gesetz, betr. die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, auch gegenüber der Pestgefahr eine genügende Handhabe biete. Die Regierung hat darauf eine beruhigende Erklärung abgegeben. Es wäre sehr er⸗ wünscht, wenn sie diese hier wiederholte, damit Beruhigung im Lande erfolgt. Die Stellung der Aerzte verdient bei den hohen An⸗ forderungen, welche an die Vorbildung und Tätigkeit gestellt werden, Stärkung. Sperren, bei denen die öffentlichen Interessen geschädigt werden, dürfen allerdings nicht vorkommen. Wir haben schon früher Klagen über die großen Kosten vorgebracht, die durch Einführung der obligatorischen Fleischbeschau in der Rheinprovinz erwachsen, und bitten auch jetzt wieder um Abhilfe.

Geheimer Obermedizinalrat Dr. Kirchner: Die Frage, ob das Reichsseuchengesetz uns genügende Machtmittel zur eventuellen Bekämpfun der Pest bietet, kann bejaht werden. Die jetzt im Osten herrschende pes ist die Beulenpest, die man im Mittelalter den schwarzen Tod nannte, und die Lungenpest. Beide Formen gehen häufig ineinander über. Die Pest ist ganz außerordentlich verbreitet, nicht nur in ganz Asien, sondern auch in Amerika und in dem Lande, für das wir besonderes Interesse haben, in Aegypten, so daß es eigentlich verwunderlich ist, wenn man so erschrocken über ihr Auftreten in der Mandschurei war. In Indien sterben noch jetzt mehr als eine Million Menschen jährlich an der Pest. Sogar in Europa ist sie in letzter Zeit gewesen. Wir haben in den letzten Wochen drei Fälle in London gehabt, die durch Ratten auf Schiffen eingeschleppt worden sind. Die Ausbreitung in der Mandschurei ist besonders durch die große Eisenbahn von Charbin nach dem Westen gefördert. Der Chef der Medizinalverwaltung hat eine Aerztekommission zum Studium an Ort und Stelle geschickt. Was die Abwehrmaßregeln anbetrifft, so sind die Ausführungsbestimmungen verschärft worden; besonders wurde die Befürchtung geäußert, daß Menschenhaare die Pest übertragen könnten. Allerdings hat man feststellen können, daß ganz kollossale Mengen von Haaren, jährlich ettha 8000 Doppelzentner, aus China eingeführt werden. Durch die bakteriologischen Untersuchungen sind wir im Reichsgesundheitszatwt aber zur Ueberzeugung gekommen, daß diese Befürchtungen nicht berechtigt sind. Auch Felle sollten zu den Krankheitsüberträgern gehören, sie werden aber durch einen bestimmten Prozeß schon in jenen Gegenden ge⸗ trocknet, und es ist auch hier kein Grund zur Beunruhigung gegeben. Besondere Maßregeln sind vorläufig nicht beabsichtigt. Dagegen sind Quarantäneanstalten an der Nord⸗ und Ostsee vollständig neu erbaut. Sollte in der Bevölkerung die Befürchtung bestehen, daß bei uns, wie in früheren Zeiten, wieder der schwarze Tod auftreten könnte, so kann man beruhigt sein. Wir sind in der Lage, die Schiffe, welche aus pestdurchseuchten Gegenden zu uns kommen, auf das sorgfältigste zu beobachten, und so gut es uns gelungen ist, der Cholera Herr zu werden, so gut werden wir, wenn wir das Unglück haben sollten, die Pest bei uns begrüßen zu müssen, in kurzer Zeit auch sie vernichten.

Abg. Rosenow (fortschr. Volksp.): Diese Erklärung des Re⸗ gierungskommissars wird weite Kreise beruhigen. Wir haben das Ver⸗ trauen, daß die Verwaltung alles tun wird, um diesen Feind, die Pest, von den Grenzen unseres Vaterlandes fernzuhalten. Was die Abtrennung der Medizinalabteilung vom Kultusministerium betrifft, so hätten wir es gern gewünscht, wenn ein selbständiges Medizinalministerium gebildet worden wäre. Ebenso haben die Aerzte den dringenden Wunsch, daß bei einem Personenwechsel an die Spitze der Medizinalabteilung und der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen ein Arzt gestellt wird, wofür sich auch hervorragende wissen⸗ schaftliche Autoritäten ausgesprochen haben. Es handelt sich bei den Fragen, die in der wissenschaftlichen Deputation zur Ent⸗ scheidung kommen, in der Hauptsache um Fachfragen, in denen ein Vorsitzender als Jurist doch nicht zuständig ist. Von seiten der Medizinpraktikanten wird darüber geklagt, daß sie wenig Ge⸗ legenheit haben, sich in den Krankenanstalten wirklich für ihren ärztlichen Beruf auszubilden, ganz abgesehen davon, daß die Zahl der für sie disponiblen Krankenhäuser eine sehr geringe ist. So sind z. B. die Juden von dem Krankenhause in Britz ausgeschlossen. Kommen sie aber in einer Anstalt an, so werden sie vielfach mit Schreibarbeiten, dem Verfassen von Krankheitsgeschichten usw. be⸗ schäftigt, sodaß sie eigentlich wenig lernen und nur ein Jahr für ihre Praxis und eine Menge Geld verlieren. Ich möchte den Minister dringend bitten, nach dieser Richtung hin Wandel zu schaffen. Was die ärztlichen Ehrengerichte betrifft, so haben diese den bherechtigten Wunsch, daß ihnen die Möglichkeit gegeben wird, das Erscheinen von Zeugen in der Vorverhandlung zu erzwingen. Dagegen scheint mir die Forderung des Ehrengerichts für Brandenburg und die Stadt Berlin, daß den Ehrengerichten gestattet sein soll, auf den Verlust der Approbation erkennen zu dürfen, unbillig zu sein. Eine so schwere Strafe darf nur durch ein ordentliches Gericht ver⸗ hängt werden und nicht von einem ärztlichen Ehrengericht, bei dem doch ganz andere Tendenzen obwalten können als bei einem ordent⸗ lichen Gericht. Es kann ja vorkommen, daß z. B. Aerzte sich mit Kurpfuschern verbinden, aber solche Fehler dürfen doch nicht gleich mit Ausstoßung aus dem Aerztestande geahndet werden. Für ungerecht⸗ fertigt halte ich auch den Wunsch der beamteten Aerzte, daß sie mit geringeren Beiträgen zu der Unterstützungskasse von Berlin⸗ Brandenburg zugezogen werden. Auch sie und ihre Hinterbliebenen haben doch ebenso ePeehes Vorteile von den Kassen wie die anderen Aerzte, und der Hinweis darauf, daß sie den Ehrengerichten nicht unterstehen, ist kein stichhaltiger Gegengrund. Schließlich möchte ich den Minister bitten, der sozialen Medizin seine, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es liegt im Interesse der jungen Mediziner, die vielfach genötigt sind, Kassenärzte zu werden, wie des Publikums, der Land⸗ wirtschaft und der Industrie, daß unser junger medizinischer Nach⸗

wuchs Gelegenheit hat, sich in dieser wichtigen Disziplin auszubilden.

Minnister des Innern von Dallwitz:

Meine Herren! Die Aenderung der Bestimmungen über die Ausbildung der Medizinalpraktikanten ist Sache des Bundesrats. Ich kann aber dem Herrn Vorredner mitteilen, daß seitens des Kultus⸗

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Zweite Beilage

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Berlin, Montag, den 20. Februar

ministeriums die Anregung gegeben ist, in Verhandlungen darüber einzutreten, in welcher Weise eine Reform des praktischen Jahres bei den Medizinalpraktikanten erfolgen könne.

Zu den von dem Herrn Vorredner, wie vorhin schon von dem Herrn Abg. Friedberg, angeregten organisatorischen Aenderungen in der Leitung der Medizinalverwaltung und der vissfnschaftlichen Deputation jetzt schon Stellung zu nehmen, möchte ich als verfrüht ansehen, da die Medizinalverwaltung mir noch nicht untersteht, sondern erst am 1. April d. J. an mein Ressort übergehen soll. Ich bin also zurzeit zu einer Mitwirkung bei diesen Fragen noch gar nicht zu⸗ ständig.

Gegenüber den Bedenken, die der Herr Abg. Friedberg ge⸗ äußert hat, bitte ich dessen versichert zu sein, daß ich jedenfalls bestrebt sein werde, die von der Medizinalverwaltung bisher schon so erfolgreich wahrgenommenen Interessen, die ja in ganz besonderem Maße die Interessen des ganzen Volkes, der ganzen Bevölkerung sind, auch meinerseits mit besonderem Wohlwollen und mit besonderer Sorgfalt wahrzunehmen, nicht minder aber auch die berechtigten Interessen des um unser Volk so hochverdienten ärzt⸗ lichen Standes. (Bravo!)

Ich bedauere, daß nach den Mitteilungen, die Herr Abg. von Arnim vorhin gemacht hat, hier und da Mißhelligkeiten entstanden zu sein scheinen. Es wird meines Dafürhaltens Aufgabe der Medizinal⸗ verwaltung sein, in solchen Fällen zunächst den Versuch zu machen, unter objektiver Abwägung der in der Billigkeit begründeten Ansprüche einerseits und des öffentlichen Interesses andererseits, etwa entstehende Streitigkeiten auszugleichen. Zu einem schiedsgerichtlichen Ein⸗ schreiten ist sie nach Lage der Gesetzgebung zurzeit nicht befugt. Es würde meines Dafürhaltens auch ein vergebliches Bemühen sein, jetzt schon in der Reichsversicherungsordnung eine Ausdehnung der dort für Streitigkeiten zwischen Aerzten oder Aerztevereinigungen einerseits und Kassenverbänden andererseits vorgesehenen schiedsgerichtlichen Funktionen auf andere Fälle anzu⸗ streben, da die Reichsversicherungsordnung naturgemäß nur die Ver⸗ hältnisse der Krankenkassen und der sonstigen in ihr bezeichneten Kassen regeln kann. Sollte daher die Notwendigkeit einer Aenderung in dem von Herrn von Arnim gewünschten Sinne, also nach der Richtung hin, daß Schiedsgerichte auch für andere Fälle eingerichtet werden, sich herausstellen, so würde dies unabhängig von der Reichs⸗ versicherungsordnung durch Erlaß einer besonderen Novelle zur Gewerbeordnung geschehen müssen. Ob es möglich sein wird, gegebenenfalls nach dieser Richtung Entschließungen des Bundesrats herbeizuführen, darüber kann ich eine Auskunft nicht geben.

Abg. Dr. von Niegolewski (Pole): Die deutschen Aerzte in den polnischen Landesteilen haben sich in einer Petition an den Reichstag gegen die freie Arztwahl ausgesprochen. Sie befürchten, daß dann die polnischen Aerzte zu viel Zulauf haben würden. Die Grundlage für eine gute ärztliche Behandlung muß aber das Vertrauen sein. Und wenn die polnische Bevölkerung zu einem polnischen Arzte mehr Vertrauen hat, so dürfen ihr keine Schwierigkeiten durch die Be⸗ seitigung der freien Arztwahl in den Weg gelegt werden. Der Redner beschwert sich ferner über zu rigorose Einführung der obligatorischen Leichenschau, besonders im oberschlesischen Industriebezirk.

Geheimer Obermedizinalrat Dr. Kirchner: Es wird großer Wert darauf gelegt, daß die obligatorische Leichenschau stattfindet. Der Minister des Innern und der Kultusminister haben seit einer Reihe von Jahren die nachgeordneten Behörden ersucht, möglichst dafür zu sorgen, daß die obligatorische Leichenschau eingeführt wird. Es ist keineswegs in rigoroser Weise vorgegangen worden. Wir werden in Erwägung ziehen, ob und inwieweit es möglich ist, Laien hinzuzuziehen.

Abg. Hirsch⸗Berlin (Soz.): Was würde man sagen, wenn an die Spitze des Justizministeriums ein Arzt berufen würde! An die Spitze der Medizinalverwaltung gehört ein Mediziner. Die obliga⸗ torische Leichenschau muß eingeführt werden, natürlich ohne daß der Bevölkerung dadurch Kosten erwachsen. In den Streit zwischen G und den Krankenkassen soll sich die Regierung nicht ein⸗ mischen.

Abg. Dr. Wendlandt (nl.): Die Presse ist ja von Natur sensationell veranlagt; sie ist aber wenig geneigt, sengionele Nach⸗ richten, die sich als unrichtig herausgestellt haben, zu widerrufen. Diesen Vorwurf muß ich auch ausdehnen auf das „Wolffsche Tele⸗ graphenbureau“, das sich geweigert hat, die Nachricht über eine Margarinefabrik richtigzustellen. Ich halte das nicht für richtig. Denn wenn das „Wolffsche Telegraphenbureau“ eine Nachricht bringt, so muß es auch die tatsäͤchliche Feststellung der Unrichtig⸗ keit wiedergeben. Der Margarineindustrie ist durch diese sensationell aufgebauschten Nachrichten viel Schaden zugefügt worden. Die Nahrungsmittelgesetzgebung ist übrigens veraltet. Wir müssen dringend eine Reform fordern.

Geheimer Obermedizinalrat Dr. Abel: Unsere Nahrungsmittel⸗ gesetzgebung ist jetzt dreißig Jahre alt und entspricht nicht mehr den Interessen der Konsumenten wie der Produzenten. Erwägungen über eine Reform sind schon im Gange. Die Medizinalverwaltung wird sich gern die weitere Förderung der Materie angelegen sein lassen.

Abg. Peltasohn (fortschr. Volksp.): Die Geschäfte der gericht⸗ lichen Medizin werden zurzeit von besonderen Gerichtsärzten und von den Kreisärzten wahrgenommen. Diese Organisation läßt es ja nicht aus⸗ führbar erscheinen, die gerichtliche Medizin, wie es von vielen Seiten gewünscht wird, von der Medizinalabteilung zu trennen und dem Justizministerium anzugliedern; denn man wird nicht die Gerichts⸗ ärzte allein diesem zuweisen und die Kreisärzte beim Ressort des Innern belassen können. Wohl zu prüfen wäre aber die Frage einer anderweiten Organisation des gerichtlichen Medizinalwesens. Auf die Dauer wird das nicht angehen, den Kreisärzten ihre bis⸗ herigen Funktionen auf dem Gebiet der gerichtlichen Medizin zu be⸗ lassen. Diese Funktionen erfordern eine immer vielseitigere wissen⸗ schaftliche und praktische Spezialausbildung, wenn ein richtiges Gut⸗ achten z. B. über den geistigen Zustand einer Person erstattet werden soll. Alle Sachverständigen werden die Schwierigkeiten kennen, auf welche man bei diesen Gutachten stößt; und die Kom⸗ pliziertheit und Mannigfaltigkeit der Fälle findet sich nicht nur in der Großstadt, sondern erstreckt sich auf die ganze Provinz und erfordert spezialisierte theoretische und praktische Kenntnisse, wie sie den Kreisärzten nicht immer voll beiwohnen können. In Bayern und Nordösterreich sind schon jetzt diese Funktionen besonderen angestellten Gerichtsärzten übertragen. Solange man bei uns noch nicht radikal vorgehen kann, sollte mindestens die Zahl, der angestellten Gerichtsärzte vermehrt und ihnen ein angemessener Berufskreis übertragen werden, der ja nicht mit dem Landgerichts⸗ bezirk ö“ braucht. Ich bitte den Minister, diese An⸗ regung zu erwägen.

Abg. Müller⸗Prüm (Zentr.): In der Rheinprovinz hat sich die

obligatorische Leichenschau als eine drü ihe, kostspielige und beschwer⸗

1911.

liche Maßregel erwiesen. Hauptsächlich wird geklagt, daß die Einführungspolizeiverordnung nicht die ländlichen, besonders die gebirgigen Bezirke anders als die städtischen behandelt. Auf dem Lande und im Gebirge sind der Aerzte weniger als in der Stadt, sie wohnen oft recht weit entfernt, und ihre Heranziehung ist deshalb recht kostspielig und selten. Die Heranziehung von Laien ist in der Rheinprovinz nur als Ausnahme zugelassen; sie hätte als Rege eingeführt werden sollen. Das zu erstrebende Ziel ist die obligatorische Leichenschau auf Kosten der Gesamtheit. Da es sich um eine Polizei⸗ maßregel handelt, sollte man die Polizeidiener in der Leichenschau ausbilden. Ich bin kein Freund unnützer Erweiterung der Polize befugnisse auf Kosten der Kommunen, aber der Polizeidiener scheint mir auf dem Lande der geborene Leichenbeschauer zu sein. Es würden dadurch große Zeit⸗ und Geldopfer erspart und viel Verärgerung vermieden. Fuür eine Leichenschau muß eine Gebühr von 6 bis 18, ja bis 21 gezahlt werden. Der Tagesverdienst des Kleinbauern beträgt 3 ℳ, der arme Bauer muß also bis zum Siebenfachen seines Tagesverdienstes als Leichenschaugebühr zahlen. Auch die Fristen für die Anzeige und für die Beschaffung des Toten⸗ scheines sollten verlängert werden; zur Ausstellung des Totenscheines sollten auch die welethhe Mitglieder der krankenpflegenden Ver⸗ einigungen aller Konfessionen berechtigt sein. Ich bitte um wohl⸗ wollende Prüfung dieser Vorschläge. 1

Bei den Ausgaben für die Kreisärzte weist

Abg. Rosenow (fortschr. Volksp.) darauf hin, daß nach einer Versicherung eines Regierungskommissars in der Kommission jüdische Aerzte von dem Amte eines Kreisarztes nicht ausgeschlossen sein sollen. Die jüdischen Aerzte könnten sich also ruhig in größerer Zahl zum Kreisarztexamen melden. Der Redner wünscht dann noch, daß im Interesse einer ausreichenden Versorgung kleiner Orte mit Aerzten solche Aerzte, die kein rechtes Auskommen an diesen Orten haben, Staatsunterstützungen erhalten.

Ministerialdirektor Dr. Förster: Solche Unterstützungen werden tatsächlich gewährt; es werden pro Jahr 14 000 verteilt.

Bei den Ausgaben für die Versuchs⸗ und Prüfungs⸗ anstalt für Wasserversorgung und Abywässer⸗ beseitigung in Berlin führt

Abg. Freiherr von Eynatten (Zentr.) eindringliche Beschwerde darüber, daß die guten Absichten der Stadt Aachen durch die kost⸗ spielige Herstellung einer Kläranlage durch eine unterhalb derselben elegene Fabrik dadurch illuforisch gemacht werden, doß diese ihre Abwässer auf den Wurmfluß loslasse, wodurch der Fluß sand⸗ grau gefärbt und das Wasser dadurch zur Viehtränke unbrauchbar gemacht werde. Es müsse geradezu als ein Skandal und eine Unverschämtheit bezeichnet werden, wenn eine Fabrik sich auf Kosten von Tausenden von Personen bereichere. Es sei unverständlich, wie man einem Fabrikanten gestatte, einen Fluß meilenweit zu verderben, zu verpesten und zu ver⸗ unreinigen, während man jede kleine Uebertretung wegen Ausgießung des Jauchewassers usw. auf die Straße u. dergl. bestrafe. So etwas müsse Sozialdemokraten züchten. Seine Freunde seien entschlossen, den Kampf aufzunehmen und einen solchen Terrorismus nicht zu dulden. Recht müsse Recht bleiben.

Bei den Ausgaben für das Bad Bertrich empfiehlt

Abg. Itschert (Zentr.) der Regierung dringend, für dieses Bad mehr zu tun als bisher, vor allem durch den Bau eines neuen Kur⸗ hauses und durch bessere Verbindung mit der Bahn Berlin —-Metz.

Der Rest des Ordinariums für die Medizinalabteilung wird genehmigt, ebenso das Extraordinarium. 1

Damit ist die Beratung des Etats des Ministeriums des Innern erledigt.

Schluß gegen

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6 Uhr. Nächste Sitzung (Eisenbahnetat) 8

Gesundheitswesen, Tierkrankheiten und Absperrungs⸗ maßregeln.

Das Kaiserliche Gesundheitsamt meldet den Ausbruch der Maul⸗und Klauenseuche aus: Rodderhof, Kreis Mülheim a. Rh., Reg.⸗Bez. Cöln, Volkmannsdorf, Kreis Neisse, Reg.⸗Bez. Oppeln, Kreuzwald, Kreis Bolchen, Bezirk Lothringen, Buschhütten, Kreis Siegen, Reg.⸗Bez. Arnsberg, und Hummendorf, Bezirksamt Kronach, Reg.⸗Bez. Oberfranken, am 17. Februar, sowie aus: Gültlingen, Oberamt Nagold, Königreich Württemberg, und Markneukirchen, ZZ“ Oelsnitz, Königreich Sachsen, am 18. Fe⸗ ruar 1911.

Griechenland. 8

Seitens der griechischen Regierung sind folgende Quarantäne⸗ verfügungen erlassen worden:

1) Die Passagiere und Besatzungen der aus Suez und Beirut kommenden Schiffe unterliegen einer ärztlichen Revision, 8

2) den von Mekka kommenden Pilgern ist ein Verlassen des Schiffes während des Aufenthalts in griechischen Häfen untersagt.

China.

Der Kaiserliche Konsul in Tientsin hat unterm 23. v. M. an⸗ geordnet, daß die aus den Häfen der Mandschurei, einschließ⸗ lich Dairen kommenden und den Hafen von Tschinwangtau anlaufenden deutschen Seeschiffe der gesundheitspolizei⸗ lichen Kontrolle unterliegen.

Berlin, 18. Februar. (W. T. B.) Von amtlicher Stelle wird mitgeteilt, daß aus dem Schutzgebiet Kiautschou und von dem ost⸗ asiatischen Marinedetachement in Peking irgendwelche Nach⸗ richten über das Vorkommen von Pestfällen in diesen Bezirken nicht eingegangen sind. Hiernach ist die Lage im Schutzgebiet und beim Marinedetachement unverändert gut, sodaß kein Anlaß zur Be⸗ unruhigung vorliegt. 1

Paris, 18. Februar. (W. T. B.) Die Regierung hat die Regierungen der fremden Staaten eingeladen, im nächsten Mai in Paris eine internationale, Gesundheitskonferenz abzu⸗ halten. Nach der Choleraepidemie, die im vorigen Jahre in gewissen Bezirken Italiens aufgetreten ist, und infolge des ver⸗ heerenden Auftretens der Lungenpest in der Mandschurei erscheint eine neue Beratung notwendig. Auf Ansuchen der Regierung hat der Präsident des permanenten Ausschusses des Internationalen Ge- sundheitsamts zur Vorbereitung der zur Diskussion . stellenden Fragen den Ausschuß zum 8. März zusammenberufen. ie von ihm gefaßten Beschlüsse werden den beteiligten Regierungen alsbald mit⸗ geteilt werden.

St. Petersburg, 18. Februar. (W. T. B.) Hier ist die Nachricht eingetroffen, daß in Sachaljan, gegenüber von Blago⸗ weftschensk, die Pest ausgebrochen ist. .

Konstantinopel, 18. Februar. (W. T. B.) In Dscheddah sind zwei Pestfälle vorgekommen, von denen einer tödlich verlief.

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