1911 / 56 p. 3 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 06 Mar 1911 18:00:01 GMT) scan diff

Vorlage der Königlichen Eisenbahndirektion, betreffend: 1) All⸗ gemeine Frachtermäßigung für frische Seesische von den deutschen Seehäfen nach binnenländischen Verbrauchsplätzen, 2) Anwendungs⸗ bedingungen der Ausnahmetarife für frische Seefische und Salzheringe.

ntrag wegen Beseitigung von Mißständen a. bei Zusammen⸗ ladung von Tabak mit anderen Gütern, b. im Nachnahmeverkehr. v. Fahrplanangelegenheiten.

Antrag auf Durchführung des Schlafwagens Altona Würzburg in den Zügen D 76/0D 88, D 87/D 75 bis und von München.

Altona, den 3. März 1911. vW

Königliche Eisenbahndirektion. Franke.

Deutsches Reich. Preußen. Berlin, 6. März. 8

Ddie Bevollmächtigten zum Bundesrat, Herzoglich sächsischer Staatsminister Dr. von Richter aus Gotha und Fürfstlich schwarzburgischer Staatsminister Freiherr von der Recke aus Sondershausen sind in Berlin angekommen.

Der Gesandte Phya Sridhamasasana ist süch Berlin zurückgekehrt und hat die Leitung der Gesandtschaft

wieder übernommen.

Laut Meldung des „W. T. B.“ ist S. M. Tpdbt. „Sleipner“ am 2. März in Algier eingetroffen und hat vorgestern die Reise nach Catania fortgesetzt.

S. M. S. „Loreley“ ist am 3. März in Cattaro ein⸗ getroffen und vorgestern von dort nach Corfu in See gegangen.

Wilhelmshaven, 6. März. Seine Majestät der Kaiser ist gestern vormittag, „W. T. B.“ zufolge, über Oldenburg, woselbst Allerhöchstderselbe von Ihren König⸗ lichen Hoheiten dem Großherzog und dem Erb⸗ großherzog empfangen wurde und einen kurzen Aufenthalt nahm, hier eingetroffken. Vom Bahnhof, auf dem sich zur Begrüßung Seine Königliche Hoheit der Prinz Heinrich von Preußen, der Staatssekretär des Reichs⸗ marineamts, 11“ von Tirpitz, die Admirale Graf von Baudissin und von Holtzendorff und der Konteradmiral Schmidt eingefunden hatten, fuhr Seine Mafestät der Kaiser mit Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Heinrich durch die beflaggten Straßen der Stadt zum Exerzierhaus der Matrosendivision, wo die Vereidigung der Rekruten erfolgte. Anschließend hieran hielt Seine Majestät der Kaiser eine kurze Rede, worauf der Inspekteur der zweiten Marineinspektion, Konteradmiral Jacobsen nach Worten des Dankes ein Hoch auf den Allerhöchsten Kriegsherrn ausbrachte. Nach der Feier fand im Kasino Frühstückstafel statt, an der Seine Majestät der Kaiser, Seine Königliche Hoheit der Prinz S die Admirale, die Gefolge und die an der Vereidigung eteiligten Offiziere teilnahmen.

Wilhelmshaven, 6. März. Seine Königliche Hoheit der Geas hers von Oldenburg ist, „W. T. B.“ zufolge, heute früh hier eingetroffen, um an den Beͤsichtigungen durch

Seine Majestät den Kaiser teilzunehmen.

Oesterreich⸗Ungarn.

Der Kaiser Franz Joseph, der vorgestern von Budapest wieder in Wien eingetroffen war, empfing, „W. T. B.“ zu⸗ folge, gestern vormittag im Schönbrunner Schlosse den König von Bulgarien, der seinen Dank für die Gratulation zum 50. Geburtstage ausdrückte.

Die Oesterreichische Delegation hat vorgestern das gesamte Heereserfordernis nebst dem außerordent⸗ lichen Heereskredit angenommen.

Der Reichskriegsminister Freiherr von Schoenaich betonte im Laufe der Debatte laut Meldung des „W T. B.“, da die Forde⸗ rungen für Heer und Marine nur 12 % des gesamten Staats⸗ aufwandes erforderten, sei die Behauptung unbegründet, daß die Heeresausgaben der Befriedigung der kulturellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse im Wege ständen. Gegenüber den Klagen über die Nichtbeachtung des nationalen Empfindens in der Armee erklärte der Minister, das nationale Moment werde nicht vernachlässigt, aber zwischen der nationalen Bewegung, die zu beklagen sei, weil sie die ruhige Entwicklung der Monarchie hemme, und dem Geiste der Armee bestehe eine unüberbrückbare Kluft. Diese Be⸗ wegung dürfe man nicht in die Armee einziehen lassen. Der Minister erwähnte sodann den Zwischenfall bezüglich der Armeelieferungen und ersuchte, ihn beiseite zu lassen. Unter dem lebhaftesten Bei⸗ fall des Hauses gab der Minister der Ueberzeugung Aus⸗ druck, daß die Delegation zu dem gegenwärtigen Marine⸗ kommandanten wegen seines umfassenden Wissens, seiner Erfahrung und einer bewundernswerten Tatkraft Vertrauen besitze. Der Minister wies darauf hin, daß der Erzherzog Karl und der Feldmarschall Radetzky mit unfertigen, zusammen⸗ erafften Armeen glänzende Siege erfochten hätten. Was ihnen ge⸗ fehlt habe, sei durch den echten Soldatengeist worden, der noch heute in der Armee fortlebe. Der Minister sei bestrebt, die Lücken in der Heeresorganisation auszufüllen und diesen alten Geist der Armee zu erhalten. Er bitte die Delegation, diese Bestrebungen durch Bewilligung der Heeresforderungen zu unterstützen.

Der Präsident der Delegation, Dr. Baernreither, hob in seiner Schlußrede hervor, daß die Monarchie nicht nur im Rüstungswettbewerb der Mächte, sondern auch in dem wirt⸗ schaftlichen Wettbewerbe bestehen müsse. Mit einem Hoch auf den Kaiser wurde die Session geschlossen.

Die Ungarische Delegation wurde vorgestern mit einer Ansprache des Präsidenten Grafen Zichy geschlossen, der den Wunsch aussprach, daß die großen Opfer zur Befestigung der Großmachtstellung Oesterreich⸗Ungarns beitragen, die Schiffsbauten der Industrie zum Nutzen gereichen und die neuen Schiffe Hüter des Friedens sein möchten. Die beste Gewähr dafür sei die Friedensliebe des Königs.

Frankreich.

Der Ministerrat hat gestern den Wortlaut de

Ministerpräsidenten Monis abgefaßten Regierungserklärung genehmigt. Rußland.

Vorgestern ist in ganz Rußland die fünfzigste Wieder⸗

kehr des Tages der Aufhebung der Leibeigenschaft

gefeiert worden. In Städten und Dörfern fanden, wie

„W. T. B.“ meldet, in den Kirchen aller Konfessionen, in den

8

Moscheen und Synagogen feierliche Gottesdienste statt; über die Truppen murde Parade abgehalten, allenthalben wurden feier⸗ liche Sitzungen, populäre Vorlesungen und Volksver⸗ gnügungen veranstaltet. In fast allen Dorfgemeinden wurden die von den Bauern errichteten Denkmäler für Alexandex II. feierlich enthüllt. Viele Stadtverwaltungen, Semstwos und Bauerngemeinden gründeten zum Andenken an das Jubiläum Lehranstalten oder errichteten Stipendien für arme Bauern⸗ kinder. Außer neuen Schulen wurden auch noch Krankenhäuser, Volkshäuser und Mäßigkeitsgesellschaften gegründet. Besonders feierlich verlief der Festtag in den Residenzstädten. Bei ihrer Fahrt zum Gottesdienst in der Kasanschen Kathedrale wurden dem Kaiser und der Kaiserin vom Publikum jubelnde Kundgebungen dargebracht. Nach dem Gottesdienst war im Winterpalaßt Empfang beim Kaiser für die Nachkommen von Mitarbeitern Alexanders II. bei der Durchführung der Bauern⸗ reform. Außerdem wurden 51 bäuerische Abgeordnete der Reichsduma empfangen, die vor dem Gebäude der Duma ein Denkmal für Alexander II. errichtet haben, das die Inschrift trägt: „Dem Zaren⸗Befreier die dankbaren Bauernmitglieder der Reichsduma. 1861 —1911.“ Im Anschluß an den Empfang fand im Winterpalast Festtafel für die Aeltesten der Dorfgemeinden des Gouvernements St. Petersburg statt.

Portugal.

Nach einer Meldung des Blattes „Novidades“ hat sich die Mehrheit der Bischöfe in einem Telegramm an die Regierung bereit erklärt, deren Anordnungen, durch die den Pfarrern die Verlesung des Hirtenbriefes während der Messe unter⸗

sagt wird, zu respektieren. 8 Türkei.

In der Deputiertenkammer wandte sich vorgestern bei fortgesetzter Beratung des Budgets der Führer der gemäßigten Liberalen Ismail Kemal gegen den Bagdadbahnvertrag und verlangte, daß die Bahn nur bis El Helif gebaut und die Verbindung von Konstantinopel nach Bagdad durch eine Linie Homs-— Bagdad hergestellt würde. Der Großwesir Hakki Pascha legte darauf die Vorteile der Bagdadbahn dar und er⸗ klärte „W. T. B.“ zufolge:

Der Staat sei zum Weiterbau der Bahn durch einen Vertrag gebunden, den die Regierung nicht brechen dürfe. Die Regierung könnte sich höchstens bei den Verhandlungen günstige Bedingungen sichern. Die Bahn könne unmöglich bei El Helif enden. Wegen einer jährlichen Ausgabe von 300 000 Pfund könne der Staat den Weiterbau nicht preisgeben und die Aussicht auf eine Zollerhöhung von 4 % einbüßen. Der Großwesir sprach schließlich die Hoffnung aus, daß sich ein Einvernehmen über den Weiterbau der Linie von Bagdad bis Basra ermöglichen lasse, da alle Beteiligten einsehen müßten, daß die Türkei nur ottomanische Inte ressen verfolge.

Wie „W. T. B.“ meldet, haben nach einer von amt⸗ licher Seite stammenden Mitteilung neuerdings griechische Soldaten der Wachthäuser in der Nähe von Koskoj türkische Posten beschossen, die das Feuer erwiderten. Während des Kampfes wurden zwei Evzonen getötet; auf Seite der Türken waren keine Verluste zu verzeichnen. Als die Griechen das 88 einstellte kehrten die türkischen Soldaten in ihre Wacht⸗ häuser zurück. Infolge der in der letzten Zeit bei Dereli vorgekommern. Cee sind 100 Mann zur Ver⸗ stärkung der fürrxifchen achthäuser aus Larissa dort eingetroffen. Die griechischen Wachtposten provozierten daraufhin abermals Reibereien, worauf ein Erzone erschossen und einige türkische

vom

Soldaten verwundet wurden. In der Gegend von Loros ver⸗ suchten vier verdächtige Griechen die Grenze zu überschreiten, ohne die Haltrufe des türkischen Postens zu beachten. Darauf wurde auf die Griechen gefeuert, wobei drei getötet wurden. Der vierte Grieche flüchtete, obgleich er verwundet worden war.

1 Rumänien.

Bei den Kammerwahlen aus dem zweiten Distrikts⸗ wahlkollegium wurden nach einer Meldung des „W. T. B.“ 57 regierungsfreundliche Konservative, 5 Mitglieder der geeinigten Opposition, und zwar 3 konservative Demokraten und zwei Liberale, gewählt. Acht Stichwahlen sind erforderlich. Die Sozialisten und Nationalisten, die sich zum ersten Male bei den allgemeinen Kammerwahlen um Mandate bewarben, vermochten nur wenige Stimmen aufzubringen. 1

““

Amerika.

Der Taft hat eine

Session

außerordentliche 8 zur Beratung des Handels⸗ abkommens mit Canada auf den 4. April einberufen.

Präsident des Kongresses

Der Senat hat, wie „W. T. B.“ meldet, die Vorlage, die eine Tarifkommission schafft, angenommen. Im Repräsentantenhause ist die Vorlage infolge der Obstruktion der Demokraten nicht durchgegangen. Nach der Mitteilung von der Einberufung der en hat sich der Kongreß unter lebhafter Bewegung vertagt.

Nach einer Meldung des „W. T. B.“ aus Puerto Cortez (Honduras) sind die Friedensverhandlungen, die lange Zeit nicht von der Stelle rückten, mit der Ernennung Francisco Bertrands, eines Parteigängers des Generals Bonilla, zum provisorischen Präsidenten zum Abschluß gelangt. Die Wahl des Nachfolgers des Präsidenten Davila findet im Oktober statt.

Einer Erklärung des chilenischen Finanzministers zufolge wird das Finanzjahr einen Ueberschuß von 4 Millionen Pesos ergeben. Das von früher her vorhandene Defizit von 65 Millionen wird durch außerordentliche Einnahmen und Er⸗ sparnisse im laufenden Budget gedeckt werden.

Das neue Kabinett in Uruguay hat sich, „W. T. B.“ zufolge, vorgestern konstituiert. José Romeu wurde zum Minister des Aeußern und José Serrato zum Finanzminister

ernannt. Asien.

Der Regent von Persien hielt vorgestern im Medsch⸗ lis, bevor er den Eid auf die Verfassung ablegte, eine Rede, in der er „W. T. B.“ zufolge sagte:

Sein langer Aufenthalt in Europa sei nicht seiner Furcht, sondern der Tatsache zuzuschreiben, daß die auf seine Depeschen aus Teheran kommenden Antworten nicht befriedigend gewesen seien. Er stehe über allen Parteien und werde auf keinen Fall von dieser Auffassung seiner Pflichten abweichen, obwohl viele Leute, wie dies aus zahl⸗ reichen Depeschen und Aufforderungen an ihn hervorgehe, der Ansicht zu sein schienen, daß des Regenten Tätigkeit darin liege, an der Politik regen Anteil zu nehmen. Er beschwöre die Kammer, Meinungsverschiedenheiten beiseite zu lassen und freundschaftlich an der Erlösung Persiens mitzuarbeiten. Wenn aber der Medschlis sich seinem Rate nicht anschließe, werde er dem Verderben des Landes nicht ruhig zusehen. Schließlich erklärte der Regent, daß der Sihpadar voraussichtlich in wenigen Tagen sein Kabinett dem Medschlis

vorstellen werde.

in den Fabriken und der Hausindustrie beschäftigten Arbeit

Koloniales. 6

Der älteste Offizier der vor Ponape LCT“ versammelten deutschen Seestreitkräfte, Fetanin nh Vollerthun meldet, wie „W. T. B.“ berichtetus Guam:

Die Operationen gegen die Aufrührer Ponape sind am 22. Februar beendet worden. Der ver Oschokatsch ist gefangen genommen, 15 Mörder, die am utbade vom 18. Oktober beteiligt waren, sind auf Grund des Urteilsg Bezirks⸗ amtmanns vom 24. Februar standrechtlich erschossen den. Alle übrigen Aufständischen, zusammen 426 Menschen, 88 n Yap ver⸗ bannt und werden dorthin von „Titania“ übergefü ;t. st alle im Besitze von Eingeborenen befindlichen Gewehre sind abgelert. Die schnelle und gründliche Erledigung hat nachhaltigen Eindrugemacht. Die Eingeborenen, bei denen starke Friedensneigung vorherrschtnpfinden die verhängten Strafen als gerecht. Der Bezirksamtmann und Weißen der Kolonie halten die Anwesenheit von „Condor“ für ausreigid, und die 1t übrigen Schiffe sind daher hier entbehrlich. 130 Nan der Polizeitruppe bleiben zurück. „Nürnberg“ geht nach den Tkinseln (Karolinen), um dort Urteil und Strafe bekannt zu geben. X Ver⸗ wundeten befinden sich auf „Emden“ zur Ueberführung nach Igtau. Ihr Befinden ist gut. Sie befinden sich in der Genesung undzerden völlig wiederhergestellt werden mit Ausnahme des Obermrosen Meyer, dessen linkes Bein amputiert werden mußte.

8 artrirs Serskäße⸗

Die Baumwollfrage. 8 Uunter diesem Titel veröffentlicht das Reichskolonialmt eine „Denkschrift über Produktion und Verbrauch von Baumylle

sowie Maßnahmen gegen die Baumwollnot“, die das Problemer

Versorgung der deutschen Baumwollindustrie mit Rohstoff behandt, eine Frage, die man als eine der wichtigsten und brennendsten unser nationalen Volkswirtschaft bezeichnen muß und die bekanntlich af kolonialem Boden ihre Lösung finden soll. Man hat nach dem englische Ausdruck „Cotton famine“ bei uns das Wort „Baumwollnot“ ge prägt, und es läßt sich nicht leugnen, daß unsere Baumwollindustrie und deren Konsumenten sich in steigendem Maße in einer mißlichen Lage befinden. Wenn diese Notlage der Kleidungsversorgung noch nicht so allgemein bemerkt wird, wie etwa eine Nahrungsmittelnot, so liegt dies daran, daß eine solche doch noch unmittelbarer von dem einzelnen empfunden würde und durch Einschränkung weniger zurück⸗ gedrängt werden könnte. Für das Haushaltungsbudget macht es aber wenig Unterschied, ob durch teuere Kleidung oder teuere Nahrung eine Belastung eintritt. Es sind zwei Hauptgrundlagen der Baum⸗ wollnot auseinanderzuhalten, die in der Denkschrift untersucht werden, nämlich: 1) das Mißverhältnis von Rohmaterial⸗ produktion und Verbrauchsentwicklung unter gleichzeitiger über⸗ triebener Entwicklung der industriellen Einrichtungen für die Ver⸗ brauchsversorgung sowie unter der immer schärfer werdenden Ein⸗ wirkung des monopolistischen Charakters der nordamerikanischen Produktion, 2) die besondere Gefährdung der europätschen Baumwoll⸗ industrie durch die Entwicklung der Rohbaumwolle verarbeitenden Industrie in den Produktionsgebieten der Rohbaumwolle selbst. dem Schlußergebnis der Denkschrift heben wir das folgende hervor:

Eine ausreichende Versorgung der deutschen Baumwollindustrie mit billigem oder preiswertem Rohstoff ist von den derzeitigen Pro⸗ duktionsgebieten der Baumwolle nicht zu erwarten. Die asiatischen Produktionsgebiete werden in zunehmendem Maße ihre Rohbaum⸗ wolle auch bei erheblicher Steigerung der Produktion für den eigenen und den Verbrauch anderer asiatischer Märkte benötigen. Mit der Maßgabe, daß es sich nicht um einen asiatischen, sondern um einen europäischen Markt handelt, gilt dies auch für die russische Pro⸗ duktion in Mittelasien. Gleiches läͤßt sich sür Südamerika voraussagen, wenn sich dort die Produktion unter Ueberwindung der Schwierig⸗ keiten des Arbeiter⸗ und Kapitalmangels noch wesentlich steigern sollte. Dasselbe gilt für Australien, sofern sich dort Boden und Klima für ausgedehnteren Baumwollbau eignen sollten. Es verbleibt also nur der afrikanische Erdteil, in dem bis jetzt nur Aegypten eine nennenswerte Produktion für die Versorgung des Weltmarktes auf⸗ weist. Diese ist aber auf ein sehr beschränktes, meist künstlich zu bewässerndes Gebiet angewiesen, dessen Bodenpreise immer höher werden. Aus diesem Grunde ist eine nennenswerte Steigerung der Produktion billiger Baumwolle nicht zu er⸗ warten, ja es ist nicht ausgeschlossen, daß sich Aegypten in steigendem Maße anderen Produktionsarten zuwendet. Das übrige Afrika ist fast durchweg kolonialer Boden der europäischen Industriestaaten. Diese machen sämtlich große Anstrengungen, in den geeigneten Teilen ihrer afrikanischen Gebiete Baumwolle zu bauen, um dem drohenden Mangel an Rohmaterial in ihrer Textilindustrie vorzubeugen. Gleichzeitig sind die europäischen Industriestaaten be⸗ strebt, mit handels⸗ und verkehrspolitischen oder sonstigen Mitteln die eigene koloniale Baumwollproduktion in Afrika ihrer heimischen nationalen Industrie zu sichern und zu reservieren. Je mehr in Nordamerika die Zuversicht auf die Erhaltung des Produktions⸗ monopols und auf die Erreichung der Vorherrschaft in der Baum⸗ wollindustrie sich befestigt, umsomehr muß sich bei uns der energische Wille durchsetzen, das Rohmaterial für unsere Baumwollindustrie mehr und mehr auf eigenem kolo⸗ nialen Boden selbst zu erzeugen. Wenn wir den Baumwoll⸗ bau in unseren afrikanischen Kolonien nicht in gleicher Weise pflegen und fördern, wird die deutsche Textilindustrie in steigendem Maße immer mehr und immer ausschließlicher auf die Versorgung aus dem nordamerikanischen Produktionsgebiete angewiesen sein. Was dies bedeutet, bedarf keiner weiteren Erörterung mehr. Die unzweifehaft steigenden Produktionskosten und vor allem die zunehmende Befestigung der Monopol⸗ stellung Nordamerikas würden dahin wirken, daß die Entnahme unseres Be⸗ darfs aus dem nordamerikanischen Produktionsgebiete nur zu andauernd steigenden Preisen erfolgen könnte. Dazu ist noch zu berücksichtigen, daß der Bedarf eines Industriestaates mit zunehmender Bevölkerung wie des Deutschen Reichs rasch steigt, jedenfalls verhältnismäßig rascher als die Produktion in Nordamerika. Aber selbst wenn diese Schritt halten würde, verblieben wir in vollständiger Abhängigkeit von der Spekulation der nordamerikanischen Börsen und der Organi⸗ sationen der Farmer, die ja bereits auf dem Wege der Genossenschaften und gemeinsamer Lagerhäuser dahin ge⸗ langt sind, auch bei den besten Ernten die Preise hoch zu halten. Die Abhängigkeit von Nordamerika kann aber dadurch noch bedrohlicher werden, daß dieses Land dazu übergeht, uns all⸗ mählich überhaupt keine Rohbaumwolle mehr zu liefern, sondern nur noch Fabrikate, die es aus seinem eigenen Rohmaterial hergestellt hat. Dies würde den Ruin einer unserer größten Industrien sowie eine außerordentliche Verschlechterung unserer Handelsbilanz und unserer ganzen weltwirtschaftlichen Stellung bedeuten. Daß ein industriell so rasch aufsteigendes Land wie die Vereinigten Staaten von Amerika den Wunsch hegt, die einheimischen Rohstoffe selbst zu wert⸗ vollen Fertigfabrikaten zu verarbeiten, würde auch dann angenommen werden können, wenn dieses Ziel nicht schon mehrfach von hohen Regierungsbeamten, denen die Förderung des Baumwollbaues in Nord⸗ amerika obliegt, ausgesprochen worden wäre. So sprach unter anderen der Direktor des Departments of Commerce and Labour in Washington S. N. D. North bei einer Versammlung der Baumwollinteressenten: „Ich sehe der Zukunft vertrauensvoll entgegen bis zu dem Augenblick, in dem die Vereinigten Staaten, statt zwei Drittel ihrer Ernte aus⸗ zuführen, den größten Teil selbst verarbeiten und ihrem Lande den ungeheuren Nutzen sichern dürfen, den die Verarbeitung dieses Roh⸗ stoffs abwirft.“

Die Fabriken, denen dieses Rohmaterial zugeführt wird, die Baumwollspinnereien und Webereien, nebst Hilfs⸗ und Nebenbetrieben, stellen eine gewaltige Interessengruppe der deutschen Volkswirtschaft dar. Eingehende statistische Angaben über die Baum⸗ wollindustrie im Deutschen Reiche sowohl wie in den einzelnen Glied⸗ staaten, über die Zahl der Betriebe und namentlich über die Zeh 898 inden

8

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sich in den Anlagen auf Grund amtlichen Materials die Schätzungen, die bisher in den 3 1 1 Baumwollfrage nach der allgemeinen berufsgenossenschaftlichen Statistik der gesamten Textilindustrie gemacht wurden. Während dort nur ein gewisser Prozentsatz der Textilindustrie schätzungsweise der Baumwollindustrie zugerechnet wurde, ist nunmehr aus den er⸗ wähnten Tabellen das Interesse der deutschen Industrie und der deutschen Arbeiterschaft ziffernmäßig genau ersicht⸗ lich. Die Tabellen zeigen aber auch, in welch hohem Maße neben der Großindustrie Aktiengesellschaften und sonstigen Großbetrieben und deren Arbeitern auch der Mittel⸗ stand, das Kleingewerbe und die Hausindustrie an der Baumwollfrage interessiert sind. Ergibt sich somit, daß an der Baumwollfrage in Deutschland auch der gewerbliche Mittel⸗ stand in beträchtlichem Maße interessiert ist, so bleiben doch die industriellen Interessen und damit in erster Linie die Arbeiter⸗ interessen uberwiegend. Im verflossenen Jahre 1910 hat die Preis⸗ treiberei auf dem Baumwollmarkte der deutschen Baumwollindustrie bei einem Bezuge von Rohmaterial im Werte von etwa ½ Milliarde Mark eine Mehrbelastung von etwa 150 Millionen Mark gebracht. Es ergibt sich dies daraus, daß der Verbrauch etwa 350 000 000 kg, der Durchschnittspreis aber 150 betrug, während der Durch⸗ schnittspreis der letzten zehn Jahre sich auf nur 104 für 1 kg belief. Alle jene Lohnkürzungen und Betriebseinschränkungen, die im verflossenen Jahre in der Baumwollindustrie notwendig wurden, sind in letzter Linie auf diese Verteuerung des Rohmaterials zurückzuführen. Außer diesen Lohninteressen haben aber gerade die arbeitenden Klassen noch ein sehr wesentliches anderes Interesse an der Baumwollfrage, nämlich das Konsumenteninteresse. Sind doch gerade die ärmeren Klassen in ihrer Kleidung auf billige Baumwollstoffe an⸗ gewiesen. Da anzunehmen ist, daß die Industrie die Mehrbelastung für ihr Rohmaterial, die, wie erwähnt, im vergangenen Jahre 150 Millionen Mark betrug, soweit als möglich auf die Konsumenten abzuwälzen sucht, ist damit unzweifelhaft ein erhebliches Moment für die gegenwärtig allgemein beklagte Verteuerung der Lebenshaltung gegeben. ““ Es sind also außerordentlich große und vielseitige wirtschaftliche und soziale Interessen Deutschlands, die bei der Baumwollfrage in Betracht kommen. Daß in einer Frage von so weittragendem öffent⸗ lichen Interesse auch der Staat nicht untätig bleiben kann, dürfte nicht zu bestreiten sein. Tatsächlich wird von allen europäischen Kolonialstaaten das Ziel des unabhängigen Baumwollanbaues auf eigenem kolonialen Boden in steigendem Maße von den Regie⸗ rungen gefördert. Interessant ist in dieser Beziehung der in den Anlagen zur Denkschrift abgedruckte Schriftwechsel zwischen der British Cotton Growing Association und den beteiligten britischen Regierungs⸗ stellen. Auch die englische, der Staatshilfe für privatwirtschaft⸗ liche Produktion sonst nicht sehr geneigte Regierung hat eingesehen, daß in diesem Falle besondere Verhältnisse vorliegen. Damit wird der Privatinitiative kein Abbruch getan, diese vielmehr nur ergänzt. Die British Cotton Growing Association erfreut sich denn auch zunehmender Unterstützung aus privaten Mitteln, namentlich seitens der beteiligten r büftrne und der in ihr beschäftigten Arbeiter. Sie verfügt bereits über 500 000 Pfd. Sterl. Beiträge, wovon 20 000 Pfd. Sterl. von den Arbeitern gezeichnet sind. 1 Ein Vergleich der von England, Deutschland und Frankreich für das Baumwollversuchswesen in Afrika bis Ende 1909 aufgebrachten Mittel mit dem bisherigen Ergebnis dieser Kulturversuche, also der tatsächlichen Baumwollproduktion, ergibt folgendes: Mittel sind für

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zu der eingangs erwähnten Denkschrift. Diese bearbeiteten Tabellen ersetzen Veröffentlichungen zur

Baumwollkulturversuche in Afrika bis zum Schluß des Jahres 1909

aufgebracht worden:

von England.. .9,4 Mill. Mark

1 Rq17 1“ Frankreich .0,9

Als Folge der Kulturversuche ist bis Ende 1909

2 2

2

die nachstehende

n englischen Kolonien in Afrika. 20,1 Mill. Mark

n deutschen 8 8 1“ 8

in französischen s 8. E 6WDWD1“ 8 Hieraus ergibt sich, daß die gemachten Aufwendungen bei Deutsch⸗ land in einem ganz besonders günstigen Verhältnisse zu dem Produktionsergebnis stehen. Wir können also die Hoffnung hegen, daß wir bei einer weiteren Bekämpfung der Baumwollnot durch Produktion auf unserem kolonialen Boden in größerem Maß⸗ stabe und mit größeren Aufwendungen auf dem richtigen Wege sind. Das Programm, das die Kolonialverwaltung hierbei verfolgen will, ist bei der Darstellung der deutschen Kolonien als Produktionsgebiet in der Denkschrift mitgeteilt. 9. u““

Baumr vollproduktion erzielt worden:

Eine Unternehmung gegen die Bapeas im Schutzgebiet Kamerun.

Unweit von der Nunmündung in den Mbam, den des Sanaga, berühren sich nicht weniger als fünf Bezirke: von Norden her Bamenda und Dschang, im Osten Jaunde⸗Joko und von Süden und Westen her Edea und Jabassi. Da nimmt es nicht wunder, daß sich in den Schlupfwinkeln der nahen Bapeaberge von jeher alle diejenigen Elemente zusammengefunden haben, denen ein Zusammentreffen mit dem Weißen aus irgendwelchen Gründen unerwünscht war. Wie aber die Eingeborenennatur stets zur Frech⸗ heit und Ueberschätzung neigt, wenn sie die überlegene Macht des Weißen nicht sieht, so beschränken sich auch diese Elemente, sobald ihrer mehr geworden, nicht mehr auf ihre verborgene Existenz; sie bilden vielmehr durch Uebergriffe aller Art und aufreizende Reden eine fortgesetzte Beunruhigung der angrenzenden Bezirksstämme.

Schon der verstorbene Major Dominik sah sich Ende 1904 ge⸗ zwungen, von Jaunde aus diesen Winkel zu säubern. Danach herrschte einige Jahre Ruhe. Seit über Jahresfrist aber sind die gleichen Klagen wieder laut und immer dringender geworden, sodaß schon der frühere Gouverneur Dr. Seitz dem Major Dominik bei seiner Wiederausreise im vergangenen Jahre die Abrechnung mit dieser Bande im Interesse der Sicherheit des Landes als erste Maßnahme in Aussicht gestellt hatte. Der Makaaufstand verhinderte Dominik daran. Ein längeres Hinausschieben dieser Expedition aber könnte von den Eingeborenen als Schwäche der Regierung aufgefaßt werden, was gerade jetzt nach dem Tode des Majors Dominik vermieden werden muß. .

Auf Befehl des Gouverneurs wird daher der Kommandeur der Schutztruppe eine neue Unternehmung gegen die Bapeas durchführen; zu diesem Zwecke ist ein gleichzeitiger Einmarsch in das Bapeagebiet von zwei Seiten her für das letzte Drittel des Februar angeordnet. Von Westen her soll die sechste (Expeditions⸗) Kompagnie von Jabassi aus auf der Straße nach Kudue vorgehen, während der Kommandeur selbst mit der Jaunde⸗Kompagnie aus südöstlicher Richtung in das Bapeagebiet einmarschieren will. Die Dauer der Unternehmung wird bei der relativ geringen Ausdehnung des in Frage kommenden Gebiets auf wenige Wochen berechnet.

Parlamentarische Nachrichten.

Der Schlußbericht über die vorgestrige Sitzung des Hauses der Abgeordneten befindet sich in der Ersten und Zweiten Beilage.

In der heutigen (42.) Sitzung des Hauses der Ab⸗ geordneten, welcher der Minister der öffentlichen Arbeiten von Breitenbach beiwohnte, nahm vor dem Eintritt in die

Tagesordnung Abg. Graf Henckel von Donnersmarck (Bentr.) das Wort, n folgendes zu erklären: D Abg. Leinert hat

meiner Kenntnis gekommen ist,

in der Sitzung I1 März ge⸗ sagt: „Am ist ein Warenhaus, in das der Graf Henckel von Donnersmarck vom Zentrum seine Millionen hinein⸗ gesteckt hat. Da hilft er, das Handwerk und das Kleingewerbe ver⸗ nichten, und hier erklären dann die Parteigenossen des Herrn, sie träten für das Handwerk ein. Ach, Theorie und Praxis gehen beim Zentrum und ganz besonders auf der rechten Seite sehr weit auseinander.“ Ich erkläre, daß an den mich betreffenden Behauptungen kein wahres Wort ist.

Darauf setzt das Haus die Beratung des Etats der Bauverwaltung bei dem Kapitel der einmaligen und außerordentlichen Ausgaben fort.

Zu der Forderung von 180 000 als 19. Rate für die Nachregulierung der größeren Ströme bemerkt

Abg. von Kloeden (B. d. L.): Die beiden Rheininseln Kleine und Große Aue oberhalb von Lorch bieten zurzeit ein wenig erfreuliches Bild. Sie gehören den Weinbergsbesitzern Altenkirch und Fendel in Lorch. Die Rheinstrombauperwaltung hat in einem Schreiben vom 4. No⸗ vember 1910 an Herrn Fendel anerkannt, daß die in früheren Jahren staat⸗ licherseits ausgeführten Uferschutzbauten nicht im Interesse des Insel⸗ besitzers, Herrn Fendel, sondern allein zur Erhaltung der Schiffahrts⸗ straße vorgenommen seien. Trotzdem wehrt sich die Strombauverwaltung jetzt dagegen, die durch das vorjährige Hochwasser in Verbindung mit den

chlagwellen der großen Schlepp⸗ und Personendampfer hervorgerufenen Abspülungen beträchtlicher Teile dieser Inseln wiederherstellen zu lassen, indem sie diese Reparaturen den Eigentümern der Inseln zuschiebt. Angesichts der von der Strombehörde zugegebenen Beschädigung durch die schnell fahrenden Dampfer und der staatlich anerkannten Notwendigkeit der Erhaltung besagter Inseln als Barre zur Regu⸗ lierung des Fahrwassers ist diese Entscheidung höchst anfechtbar. Dienen die Inseln, wie in den Erlassen des Ministeriums vom 16. Mai 1903 und des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 4. November 1910 klargestellt ist, nur zur Stromregulierung, dann muß der Staat auch vollauf deren Schutzbauten übernehmen; dienen S aber nicht zur Regulierung, dann soll der Staat die Hände davon lassen. Auf jeden Fall soll man sich an denjenigen halten, der den Schaden verursacht hat, nach Ansicht der Regierung also an die Dampfschiffahrtsgesellschaften, nicht aber an die Unglücklichen, die den Schaden unverschuldet zu tragen haben, die Inselbesitzer. Die abgespülten Stellen sind so lang und breit, wie unsere Prinz Albrecht⸗Straße. Ich bitte den Minister, die erforderlichen Repara⸗ turen veranlassen zu wollen, da z. B. ein auf der Großen Aue ange⸗ legter Wingert des Herrn Fendel bereits vom Rhein unterspült zu werden beginnt. Die Sache ist auch von allgemeinem Interesse. Das Gesetz, auf das man sich beruft, um die Besitzer der Inseln haftbar zu machen, entstammt einer Zeit, in der kleinere Holzschiffe und nicht so schnell fahrende Dampfer den Rhein befuhren. Das Gesetz bedarf also dringend einer Revision. Es handelt sich hier nicht um reiche Leute, solche gibt es bis auf wenige Standesherren und Fabrikanten im Rheingau überhaupt nicht. Winzer und Weingutsbesitzer sind vom Notstand gleichmäßig hart betroffen. Deshalb bitte ich den Minister dringend, im Interesse der Winzer sowohl wie der Strombauperwal⸗ tung selbst die Wiederherstellungsarbeiten an den beiden Inseln in die Hand zu nehmen.

Geheimer Oberbaurat Roeder erkennt eine gewisse Verpflichtung des Staates, den entstandenen Schaden zu ersetzen, an und sichert wohlwollende Prüfung zu.

Abg. Graf Clairon d'Haussonville (kons.) bittet, bei dem Häub des Kanals Leipzig Halle die preußischen Interessen im Auge zu behalten.

Minister der öffentlichen Arbeiten von Breitenbach: Wir sind bestrebt, nach Möglichkeit diesen Wunsch zu erfüllen.

Abg. Ecker⸗Winsen (nl.) wünscht Verbesserung der Schiffahrts⸗ verhältnisse bei Lüneburg.

Geheimer Regierungsrat Dr. Tull sagt Prüfung zu.

Abg. Lüdicke (freikons.) äußert sich über die Schiffahrtsverhält⸗ nisse bei Spandau. 8 v 116“

(Schluß des Blattes.)

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Kunst und Wissenschaft.

Den vierten und letzten Vortrag in jener Vortragsreihe, die einige Berliner Universitätsprofessoren für wissenschaftliche Zwecke und zur Förderung der Bestrebungen der „Vereinigung der Freunde der Universität“ in der neuen Aula veranstalteten, hielt gestern mittag der Wirkliche Geheime Rat, Professor Dr. von Wilamowitz⸗ Moellendorff über das Thema „Odysseus und Penelope“. Einleitend wies der Redner darauf hin, wie der Kern der uns überlieferten Odyssee, gleichsam die dramatische Novelle des Epos, ein in der Literatur häufig wiederkehrendes Motiv sei: die von ihrem in die Welt hinausziehenden Gatten zurückgelassene Frau und ihr endliches Wiedersehen nach manchen Fährlichkeiten ein Motiv, das in der Odyssee, wie auch sonst öfter, in der Treue der Frau gipfele, während andere Dichter die Frau die Treue brechen lassen, wie unter den Modernen Tennyson im „Enoch Arden“ und Maupassant im „Schiffer“. Geheimrat von Wilamowitz erzählte nun kurz und schlicht den Inhalt der Odysseenovelle, um dann darauf aufmerksam zu machen, daß sie in der uns überlieferten Form manche Unstimmigkeiten ent⸗ halte. So berühre es den Leser wundersam, daß der zum Jüngling herangewachsene Telemach, der nach griechischem Recht Vormund seiner Mutter gewesen wäre, diese in keiner Weise gegen den Uebermut der Freier schütze. Auch der Dichter habe dasselbe Gefühl gehabt und Telemach daher einige Zeit aus Ithaka entfernt. Ebenso auffällig sei das Verhalten des Laörtes, der auf seinem Altenteil ruhig und rüstig seine Obstbäume pflege, ohne der bedrängten Schwiegertochter zu Hilfe zu kommen. Freilich sei das im übrigen dichterisch äußerst anmutige Laörtes⸗Idyll im letzten Gesange der Odvyssee wohl ein späterer Zusatz. Aber auch die Gestalt des Odvysseus trage bei näherem Zusehen manches Auffällige. So sei sein alter Bogen und seine Meisterschaft mit dieser Waffe auffällig, denn der Bogen wurde von griechischen Kämpfern nicht geführt, wie ihn denn auch in der Ilias kein griechischer Krieger handhabt; er war vielmehr eine Waffe der barbarischen Kreter und Perser. Aber wie dem auch sei, jedenfalls war die Persönlichkeit des Odysseus aus der Ilias fest überliefert; der trojanische Krieg, wie er dort geschildert wird, wäre ohne den Odysseus in seinem ganzen Verlauf undenkbar; ebenso wird schon in der Ilias Laërtes als des Odysseus Vater und Ithaka als seine Heimat genannt. Wie aber steht es mit Penelope? Die Ilias kennt sie nicht und auch in manchen Teilen der Odyssee verschwindet sie aus dem Ge⸗ sichtskreis des Lesers, wie sie dem Gedächtnis des Odysseus ent⸗ schwunden zu sein scheint. Man hat ihr durch die Deutung ihres Namens, der so viel wie „wilde Ente“ besagt, näher zu kommen ver⸗ sucht, aber ohne Erfolg. Man hat sich dabei in Erinnerung an Kastor und Pollux, die die Sage aus einem Ei entstehen läßt, auch bei der Suche nach der Herkunft der Penelope, der „Wild⸗ ente“, in die Urgründe der griechischen Volksmythologie verloren, ohne zu einem Ziel zu gelangen. Sind doch auch die mythologischen Erkläͤrungen der Persönlichkeit des Odysseus fehl⸗ geschlagen. Liegt nun seiner Gestalt eine eschichtliche ““ zugrunde? Wohl möglich. Was wir aber von dieser etwaigen geschichtlichen Persönlichkeit wissen, ist auf die Kunde der Ilias be⸗ schränkt: er war des Laörtes Sohn und stammte aus Ithaka. Die Silen chast kommt in dieser Frage zu keinem genaueren Ergebnis, wie sie denn überhaupt auf allen Forschungsgebieten, wenn sie nur weit enug vordringt, auf Schranken stößt, die einstweilen unübersteigbar

nd. Man kann hoffen, daß es späteren Forschern vielleicht gelingen wird, über si hinwegzukommen; unter ihnen hindurchzukriechen, ist aber jedenfalls nicht erlaubt. Und doch hat man es auch gegenüber

was gestern erst zu

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versucht. So hat man die Irrfahrten des Odysseus g zulegen, gleichsam seine Reiseroute festzusetzen unternommen. zunaͤchst sein Aufenthalt bei den Phäaken. Dieses Abenteuer des Vielumhergetriebenen deutet zurück auf die uralten Vorstellungen von einem Jenseits, in dem über weite Einöden ein König der Schatten herrscht, die dort trostlos über die unwirtlichen Steppen irren. Der König dieses düsteren Jenseits war aber wiederum abhängig von einer schemenhaften uralten Göttin, mit deren Erlaubnis allein er einem Abgeschiedenen erlauben konnte, zu den Menschen zurückzukehren. Dieser düstere Mythos ist nun in de Odyssee erhellt, veranschaulicht und aufs lieblichste dichterisch durch leuchtet, wie alles, was in das verklärende Licht der ionischen Poest trat. Das ferne Schattenland, das man sich in den Steppen nördlich vom Schwarzen Meer vorstellte, ist in das Land der Phäaken per wandelt, an Stelle des düsteren Königs der Geister ist der wackere gastfreie Alkinoos getreten, dessen Töchterchen Nausikaa dem gött lichen Dulder den Rat gibt, sich nur zuerst an die im Haus schaltende Mutter der Heimkehr zu wenden, dann werde de Vater seine Bitte nicht abschlagen. Bei der eographischen Be stimmung dieses Phäakenlandes setzten die Bemühungen der Deuter bald ein. Die Griechen selbst verlegten es nach dem benachbarten Korfu. Als dann die Römer in Griechenland zur Herrschaft gelangten fanden sich bald griechische Schmeichler, die auf Sizilien als den Ort jenes freundlichen Abenteuers hinwiesen. Als zur Kaiserzeit der Norden bekannt geworden war, wurde der Ort der Handlung nach der Rhein⸗ mündung verlegt, und Tacitus weiß sogar zu berichten, daß dort sicher deutbare Inschriften über den Vorfall aufgefunden seien. Aehnlich erging es der Oertlichkeit, an der Polyphem gehaust haben sollte, die ein findiger Thebaner unserer Tage schließlich 88 Südafrika verlegte, indem er den in den Sagen vieler Völker wiederkehrenden einäugigen Riesen als „Gorilla“ deutete. Der Vortragende wandte sich entschieden gegen derartige geographische Fütrehapnaen und Deutungsversuche, wie er sich auch mit Nachdruck gegen die Folgerungen aussprach, die man aus Gräberfunden ziehe, die an den in den homerischen Dichtungen angegebenen oder aus ihnen hergeleiteten Oertlichkeiten gemacht sind. Natürlich fände man an den Stätten alter Siedlungen auch alte Gräber und in ihnen gegebenenfalls menschliches Totengebein. Hätten diese alten, nicht bestimmbaren Gerippe aber irgend einen Wert für uns und für die ewig lebensvolle homerische Dichtung? Herr von Wilamowi schloß mit den Versen Schillers: 1 Alles wiederholt sich nur im Leben, 8 Ewig jung ist nur die Fantasie. 8 Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie! Die Zuhörerschaft, die die Aula und ihre Emporen bis auf den letzte Platz füllte, war dem Vortrag mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Leider war es der letzte in der vorgesehenen Reihe. Das große Interesse, das diese Vorträge gefunden führt hoffentlich dazu, sie bei gegebener Gelegenheit fortzusetzen. 8

Die Abteilung der Bildwerke christlicher Epochen des Kaiser Friedrich⸗-Museums hat eine Reihe von Kleinbronzen als Geschenk erhalten, über die der Generaldirektor Dr. Bode im Märzheft der „Amtlichen Berichte aus den Königlichen Kunstsammlungen“ Mitteilungen macht. Bei der Reichhaltigkeit der Berliner Sammlung an Bronzen und der Seltenheit guter Arbeiten auf dem Markt und ihren hohen Preisen Neuerwerbungen nur selten. So hat sich der Bestand der Plakettensammlung von rund 1400 verschiedenen Täfelchen in den letzten zwei Jahren nur um etwa ein Dutzend Stücke vermehrt. Unter den erwähnten Geschenken befindet sich eine Bacchantinfigur, deren eigentümliche, zierliche Gewandparallel⸗ falten, aufgebauschtes Obergewand und Haarbehandlung an Agostino di Duccio erinnern, dessen Zeit und Richtung die Arbeit jedenfalls angehört. Das Motiv scheint einem antiken Sarkophag entlehnt zu sein. Von dem Parmenser Gian Francesco Enzola besaß die Sammlung bereits neun Stücke; jegt sind zu diesen zwei weitere hinzugekommen, nämlich der Blazabf lag der Rückseite einer Medaille mit vier musizierenden Putten (1467) sowie der Bronzeausguß eines ovalen Siegelstempels des Bischofs von Siponto. er Stil der Siegel und Stempel zeigt veutlich, daß Enzola von Haus aus Stempelschneider war; augenscheinlich ist seine Kunst von der Donatellos in Padua stark beeinflußt worden. Eine merk⸗ würdige größere Plakette ist etwa gleichzeitig in Rom entstanden, da die zahlreichen Einzelmotive rönescer Kampfszenen den Dar⸗ stellungen an der Trajanssäule entlehnt sind. Freilich ganz frei, sodaß nur der allgemeine Charakter der gleiche geblieben ist. Der Künstler steht dem Filarete nahe, der ähnliche kleine Darstellungen an den Einrahmungen der Peterstüren angebracht hat. Eine Florentiner Plakette, die eine Darstellung der Madonna mit dem kleinen Johannes trägt, stammt aus der ersten Sett des Cinquecento; sie zeigt noch den Reiz späterer Arbeiten eines Majano oder Civitale; wahrscheinlich handelt es sich bei solchen Stücken um Abgüsse oder Proben von Silberarbeiten oder Arbeiten in Halbedel⸗ stein. Eine charakteristische größere Plakette des Valerio Belli, von der bisher nur dieses eine Exemplar bekannt ist, zeigt in ovaler Form eine Götterversammlung. Das wertvollste Stück unter den Neuerwerbungen ist aber eine Porträtplakette des Dogen Francesco Foscari, der 1457 im Alter von 84 Jahren abgesetzt wurde und bald darauf starb. Das Bildnis zeigt ihn zwar. als ge⸗ alterten Mann mit tiefgefurchten Zügen, aber doch noch energisch und frisch, sodaß man es in die Mitte des Jahrhunderts oder wenig früher ansetzen kann. Die meisterhaft gearbeitete Plakette, deren Eindruck durch die prachtvolle Patina noch gehoben wird, hat wahrscheinlich einem dekorativen Zwecke gedient; vielleicht war sie in einem Möbel, einem Rahmen oder dergleichen verwendet. Einige eigentliche Medaillen verdankt die Abteilung Herrn James Simon, der sie der Medaillensammlung des Kaiser Friedrich⸗Museums zugewiesen hat. Es sind zwei Bleimodelle, von denen die Medaillen noch nicht ausgeführt wurden oder doch nicht be⸗ kannt And. Die eine zeigt das sehr individuelle Selbstbildnis des Malers Francesco Francia, die andere einen Mönchskopf und auf der Rückseite das Profilbild Christi, das dem altbyzantinischen Kameo im Schatz der Peterskirche nach⸗ gebildet ist. Der Kopf erinnert sehr an die Mönchsbilder vom Savonarola, seiner Anhänger und Gegner, die dem Niccolo Forzore zugeschrieben werden. Wahrscheinlich rühren auch diese beiden Plaketten von ihm her. Eine dritte, kleinere Bleimedaille, die nach ihrer In⸗ schrift den Stan. Mrziglod und seine Gemahlin darstellt und von 1561 datiert ist, weist auf einen Nürnberger Medailleur hin. Deutscher Herkunft sind auch einige größere Bronzeplaketten des 15. Jahrhunderts, die Darstellungen des Marientodes, des Oelbergs und des Abend⸗ mahls tragen. .““ 6

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In der hiesigen amerikanischen Botschaft überreichte gesiem nach mittag der Botschafter Hill mit einer Ansprache dem Göttinger Geographen, Professor Hermann Wagner im Auftrage der National Geographical Society of. America die Cullum⸗ Medaille für seine Verdienste um die geographische Wissenschaft. Der Feier wohnten, „W. T. B.“ zufolge, auch der Direktor im Reichsamt des Innern Dr. Lewald, der Vorsitzende der Geographischen Gesellschaft, Geheimer Regierungsrat, Professor Dr. Penk und der Bruder des Ausgezeichneten, der Wirkliche Geheime Rat, Professor Dr. Adolf Wagner bei.

Gesundheitswesen, Tierkrankheiten und Absperrungs⸗ maßregeln.

Die Generalversammlung des Deutschen Zentral⸗ komitees zur Bekämpfung der Tuberkulose findet am 10. Juni im Reichstagshause statt. Im Anschluß daran wird die

Tuberkuloseärzte⸗Versammlung in diesem Jahre mit Rücksicht auf die

Internationale Hygieneausstellung am 12. und 13. Juni nach Dresden einberufen werden

den Schranken, die in der homerischen Frage aufgerichtet sind, vielfach

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