1911 / 71 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 23 Mar 1911 18:00:01 GMT) scan diff

grenzenden deutschen Bundesstaaten eingeführt. Das Verbringen von Leichen aus Preußen nach den Nachbarstaaten zum Zwecke der Leichen⸗ verbrennung läßt sich, wie die Verhältnisse nun einmal liegen, nicht verhindern. Unter diesen Umständen findet tatsächlich jetzt schon die Feuerbestattung für Preußen Anwendung, aber nur bei einem natur⸗ gemäß engbegrenzten Personenkreise, während in diesen Fällen die⸗ jenigen Kautelen, die gegen einen Mißbrauch der Leichenverbrennung aus kriminalistischen Gründen unbedingt notwendig sind, zurzeit noch völlig fehlen. Es kommt noch hinzu, daß, wie dies auch in der Ent⸗ scheidung des Oberverwaltungsgerichts in der Streitsache des Feuer⸗ bestattungsvereins in Hagen vom Jahre 1908 ausgeführt ist, die Feuer⸗ bestattung an sich in Preußen schon jetzt gesetzlich nicht verboten ist, daß mithin lediglich die Anwendung der Leichenverbrennung in jedem einzelnen Fall in Ermangelung einer ausreichenden polizeilichen Regelung aus polizeilichen Gründen inhibiert werden kann.

Hieraus ergibt sich nun ferner, daß eine grundlegende Aenderung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen über das Bestattungswesen garnicht erforderlich ist, sondern nur eine Ergänzung dieser Bestim⸗ mungen infoweit, als dies durch die besondere Eigenart der Feuer⸗ bestattung bedingt wird.

Hiervon ausgehend, beschränkt sich daher der Gesetzentwurf darauf, in den §§ 1 bis 6 über die Herstellung, die Beschaffenheit und den Betrieb der Verbrennungsanlagen Bestimmung zu treffen, während die §§ 7 und 9 die besonderen Voraussetzungen regeln, unter denen die Verwendung der Verbrennungsanstalten zu dem bestimmungs⸗ mäßigen Zweck im Einzelfall erfolgen darf.

Meine Herren, auf die Details dieser Bestimmungen näher ein⸗ zugehen, erscheint mir jetzt nicht angebracht; das dürfte besser in der

Kommissionsberatung geschehen.

Abg. Graf von Wartensleben⸗Rogäsen (kons.): Dieses Thema hat das Haus schon mehrfach beschäftigt, und die Mehrheit des Hauses hat sich immer ablehnend gegen die Feuerbestattung verhalten. Auch die Regierung hat sich immer dagegen geäußert. Nur im vorigen Jahre wurde eine Resolution zu Gunsten der Feuerbestattung durch eine Majorität angenommen. Im Jahre 1904 wurde von einer Kommission ein schriftlicher Bericht erstattet, der eine klare Dar⸗ stellung der ablehnenden Stellung der Regierung und der Stellung der verschiedenen Parteien enthält, und ich nehme auf ihn Bezug. Zu meinem großen Bedauern hat die Regierung ihre Stellung jetzt geändert, und ich spreche dieses Bedauern namens des größten Teils meiner Freunde aus. Es ist nicht zu leugnen, daß in der Bevölkerung eine große Abneigung gegen die Verbrennung des Menschen besteht. In diese Gefühle wird mit rauher Hand eingegriffen. Ich erinnere daran, wie an den Totenfesten große Bevölkerungs⸗ massen in Berlin auf die Kirchhöfe gehen und die Gräber schmücken. Die Motive der Vorlage berufen sich darauf, daß die Stellungnahme der evangelischen Kirche gegen die amt⸗ liche Beteiligung der Geistlichen bei den Feuerbestattungsakten eine Milderung erfahren habe. Die Generalsynode hat aber grund sätzlich an der durch Gotteswort und geheiligte Sitte bestehenden Erdbestattung festgehalten. Die Mehrheit meiner Freunde stellt sich also grundsätzlich ablehnend dem Gesetzentwurf gegenüber, wenn wir auch nicht verkennen, daß alle möglichen Kautelen in der Vorlage gegeben sind. Wir würden auch grundsäͤtzlich gegen die Ueberweisung der Vorlage an eine Kommission sein, aber wenn die Kommissions⸗ beratung beantragt wird, so wollen wir nicht widersprechen. Der Ausdruck „Feuerbestattung“ hat sich zwar eingebürgert, ist aber keines⸗ wegs zutreffend. Ich würde dafür einfach „Leichenverbrennung“ oden „Aschenbestattung“ sagen. Feuerbestattung ist ein falscher Ausdruck, denn unter Bestattung versteht man, daß etwas zur Ruhe gebracht wird, aber durch die Verbrennung wird etwas zerstört.

Abg. Dr. Schmitt⸗Düsseldorf (Zentr.): Wir stehen der Vorlage ablehnend gegenüber, weil wir darin einen Vorstoß gegen das Christentum sehen. (Widerspruch links.) Man kann anderer Ansicht sein, ich kann Ihnen aber die Richtigkeit meiner Ansicht beweisen. Die Anfänge der Leichenverbrennung fallen in die Zeit der französischen Revolution. 1894 erklärte der Führer der Feuerbestattungsbewegung, es sei ein Unsinn, an ein Jenseits zu glauben. Das Feuer galt bei den Alten als der Durchgang zur göttlichen Unsterblichkeit. Also, Herr Kollege Hoffmann, auf diese Weise ist die Leichenverbrennung bei den Alten ein Ausfluß der Religion und Weltanschauung. Beim Christentum ist das Feuer das Zeichen der gesteigerten Strafe, und darum ist die Kirche gegen die Feuerbestattung. (Abg. Hoffmann: Sie haben ja Lebendige verbrannt!) In dem Begräbnis kommt die Lehre des Christentums von der Auferstehung zum Ausdruck. Die Religion ist sogar verpflichtet, dasjenige Symbol, durch das die Lehre der Kirche falsch dargestellt wird, zurückzuweisen. Wenn auch die Heilige Schrift nicht ausdrücklich die Verbrennung verbietet, so läßt z etiF. 2 a8 . 2 B sie uns doch in keiner Weise im Zweifel. Das zeigt klar die Rede⸗ weise unseres Herrn und Meisters und seiner Apostel. Tod und Verwesung gehören unzertrennlich zueinander. Wir halten es für verfehlt, die Verwesung auf diese Weise beseitigen zu wollen. Tod und Verwesung sind für den Christen pädagogische Erziehungs⸗ mittel in der Hand des allmächtigen Gottes. Die Feind⸗ schaft gegen Religion und Kirche wird von oben, von den höchsten Lehrstühlen aus gepredigt und ebenso von unten, durch die Agitation der Sozialdemokratie. Da muß man sich wundern, daß die Zahl der Mitglieder der Feuerbestattungsvereine nicht größer ist. (Abg. Hoffmann: Nur noch zu teuer!) Von einem Verfechter der Feuerbestattung wird erklärt, daß die Kirchhöfe als Fabriken des Teufels anzusehen seien, die die Luft mit Gestank erfüllten und das Wasser verunxreinigten. Dem wider⸗ sprechen alle hogienischen Erfahrungen, die Beobachtungen bei Aus⸗ grabungen usw. (Der Redner verliest eine Reihe von Urteilen hygienischer Kapazitäten, verschiedentlich durch Zurufe des Abg. Hoffmann unterbrochen.) Ich bin nicht genug Praktiker und berufe mich daher auf das Urteil erster Kapazitäten; aber Sie, Herr Hoff⸗ mann, schütteln ja alles einfach aus dem Aermel. Ich werde mit Erlaubnis des Abg. Hoffmann mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten ein Urteil des Reichsgesundheitsamts vorlesen. Da wird erklärt, daß selbst auf den Friedhöfen, wo Choleraleichen bestattet worden sind, nicht der Schatten einer Gefahr beobachtet werden konnte. Die kriminalistischen Gründe bestehen nach wie vor. Ausgrabungen kommen nicht nur in Frage, wenn es sich um Morde und Vergiftungen, sondern auch, wenn es sich um die Frage handelt: Mord oder Selbstmord. In der Asche kann von den verschiedenen Giften nur das Lieblingsgift der Mörder, Arsenik, gefunden werden; da wird man eben schnell zu anderen Giften greifen. Wir sind auf jeden Fall entschiedene Gegner der Vorlage.

Abg. Lieber (nl.): Namens meiner politischen Freunde kann ich erklären, daß wir die Vorlage annehmen und bitten, sie einer Kommission zu überweisen. Ich hätte gewünscht, daß auch die Be⸗ gründung der Vorlage in einem Deutsch abgefaßt wäre, das schön, klar und deutlich ist. Für die Beurteilung der Vorlage kommt es uns nur darauf an, daß der Staat der nicht unbeträchtlichen Anzahl unserer Mitbürger, die Freunde der Feuerbestattung sind, diese ge⸗ statten soll. Der Widerstand der kirchlichen Kreise gegen die Feuer⸗ bestattung ist immer mehr zurückgegangen. Die Pietät wird durch die Feuerbestattung nicht verletzt, sie vollzieht sich in durchaus würdigen Formen. In der Mehrzahl der deutschen Staaten ist die Feuerbestattung schon eingeführt. Die kriminalistischen Bedenken sind also schon in einem großen Teil Deutschlands fallen gelassen. Gegen, Einzelheiten der Vorlage haben wir Bedenken, die hoffentlich in der Kommission be⸗ seitigt werden.

Abg. Dr. Schrock (freikonf.): Der Ueberweisung der Vorlage an eine Kommission stimmen wir zu. Wir wollen aber die Feuer⸗

bestatturg nur als eine Ausnahme gelten lassen. Den weiten Volks⸗ kreisen, die das Heimatsgefühl noch haben, die mit der Muttererde in tieferem Zusammenhange stehen, wie sich das im unsteten Leben der Großstädte nicht erhalten läßt, wollen wir nicht zu nahe treten. Wir wollen nicht, daß der Argwohn entsteht, als ob wir dem christlichen Volksempfinden irgendwie entgegentreten. Wir meinen nicht, daß gesundheitliche Gründe besonders für die Feuerbestattung sprechen, wenngleich wir nicht verkennen, daß in Großstädten die Beschaffung der Friedhöfe Schwierigkeiten macht. Wir wollen vor allem den Personen, die ein anderes Empfinden haben, die Freiheit der Feuer⸗ bestattung lassen. Daß gewisse Kriminalbedenken vorliegen, müssen wir anerkennen. Oft ist die Todesursache erst lange nach dem Tode durch Sektion der Leiche festgestellt worden, oft tritt der Verdacht eines Verbrechens überhaupt erst einige Zeit nach dem Tode auf. Da in den anderen Bundesstaaten bereits die Feuerbestattung zu⸗ gelassen ist, so wollen meine und zwar einmütig, die Feuer⸗

bestattung auch in Preußen zulassen, soweit sie mit den Interessen der

christlichen Bevölkerung und den sonstigen Interessen des öffentlichen Wohles zu vereinbaren ist. Im einzelnen müssen wir aber Ver⸗ besserungen der Vorlage verlangen. Wir wünschen eine bessere Garantie dafür, daß der Verstorbene selbst die Feuerbestattung gewünscht hat; die zwei glaubwürdigen Zeugen allein genügen uns dafür nicht, wir müssen mehr verlangen. Die Zuziehung des Kreisarztes zu der Leichen⸗ schau ist durchaus notwendig, damit wir den behandelnden Arzt in keinen Konflikt bringen; der beamtete Arzt ist ein gänzlich unbefangener Beurteiler. Meine Freunde sind damit einverstanden, daß für die Verbrennungsanlagen die landespolizeiliche Genehmigung erforderlich ist, und daß diese nur an Körperschaften des öffentlichen Rechts, nicht aber an Vereine erteilt werden darf. Die Gegensätze in unserem Volke sind schon so groß, daß wir es bedauern würden, wenn die Feuerbestattung nur den wohlhabenden Kreisen möglich wäre, und dadurch ein neuer Riß in das Volk gebracht würde. Wir wollen deshalb die Freiheit der Feuerbestattung für alle Kreise. Wir halten, fest an den Kautelen der Vorlage, um auch die Partei zu beruhigen, die für die Annahme der Vorlage ausschlaggebend ist. Wenn wir dadurch diese Partei herüberziehen können, so glauben wir, daß wir 8 richtige Stellung eingenommen haben, um das Gesetz zustande zu bringen. 1

Abg. Dr. Pach nicke (fortschr. Volksp.): Es handelt sich nicht um

eine religiöse Frage, sondern um eine Zweckmäßigkeitsfrage. Die Rede des Herrn Abg. Schmitt klang uns etwas mittelalterlich; die beste christliche Liebe kann den Verwesungsprozeß nicht aufhalten. Jahr⸗ hundertelang hat die Leichenverbrennung bestanden in allen Ländern, bis die Erdbestattung an die Stelle trat, aber die neuere Zeit neigt sich wieder der Feuerbestattung zu. Eine große Menge von Mähnnern des geistigen Lebens hat sich für die Feuerbestattung aus⸗ gesprochen. Leute wie die Generale Schachtmeier, Xylander und Generalsuperintendent Schwarze haben ihre Verbrennung angeordnet. In Deutschland hat die Zahl der Verbrennungen sich schon in einem Jahre bis auf 6076 vermehrt, die Zahl der Krematorien hat sich in Deutschland auf 27 vermehrt. Da kann man nicht mehr von einer all⸗ gemeinen Abneigung dagegen sprechen. Warum wollen Sie (zum Zentrum) es anderen Leuten nicht möglich machen, ihren Anschauungen zu folgen? Sie verfolgen doch Ihre Anschauungen mit einer ganz außer⸗ ordentlichen Energie. Die kriminalistischen Bedenken werden durch die Erfahrungen beseitigt. Es ist auch schon möglich, andere Gifte als Arsenik in Aschenresten nachzuweisen, und wir hoffen, daß es den Fortschritten der Chemie noch in weiterem Maße gelingen wird. Im Ausland hat die Feuerbestattung keinerlei Erfahrungen gezeitigt, die uns abschrecken könnten. Die religiösen Gefühle werden nicht verletzt, schon in 70 % der Fälle findet eine religiöse Feier bei der Feuerbestattung statt. Zu den gesundheitlichen Rücksichten der Verschlechterung des Wassers durch die Friedhöfe kommt noch der kommunalpolitische Gesichtspunkt, daß es in den größeren Städten immer schwerer wird, die erforderlichen Kirchhöfe zu beschaffen; man muß schon weit hinausgehen vor die Stadt, um Friedhofsland zu bekommen. Diese Schwierigkeiten werden immer größer, da die Bevölkerung schnell wächst. Uebrigens führen wir mit diesem Gesetze die Feuer⸗ bessattung gar nicht erst ein, sie ist schon rechtlich zugelassen; wir schaffen kein neues Recht, wir schaffen nur die Möglichkeit der An⸗ wendung des bestehenden Rechts. Dem Grafen Wartensleben scheint die Ueberschrift des Gesetzes „Feuerbestattung“ zu edel zu sein, er will der Sache gleich einen Makel anheften, aber es handelt sich nicht um die bloße Verbrennung, sondern auch um die Beisetzung; der gewählte Name ist alfo gerechtfertigt. Die Bestimmungen über die Auf⸗ bewahrung der Aschenreste an bestimmten Stellen müssen gemildert werden, es genügt, wenn ein Mißbrauch verhindert wird. Die Vorlage macht nur einen sehr zaghaften Schritt, wir wollen aber die Sache möglichst erleichtern und wünschen deshalb auch, daß nicht in allen Fällen die amtsärztliche Bescheinigung geforder twird. In dieser kann eine empfindliche Erschwerung liegen; denn es wird nicht immer möglich sein, schnell einen beamteten Arzt heranzuziehen. Für die Beglaubigung der Anordnung der Feuerbestattung durch den Verstorbenen genügen uns zwei Zeugen vollkommen, denn es sollen ja zwei glaubwürdige Zeugen sein. Ich bin mit der Einsetzung einer Kommission von 21 Mit⸗ gliedern einverstanden, wenn uns auch eine solche von 14 Mitgliedern ausreichend erschienen wäre. Die Vorlage ist nur ein kleiner Schritt auf diesem Wege, aber eine gute Idee setzt sich schließlich doch durch. Erst war es unser Freund Langerhans allein, der hier diese Idee vertrat, jetzt sind auch andere Parteien zu uns herübergezogen, auch die Freikonservativen und sogar ein Teil der Konservativen. Wir hoffen auf die Annahme des Gesetzes in der Kommission, Preußens Ansehen würde nicht gewinnen, wenn es diesen kleinen Schritt nicht machen wollte.

Abg. Dr. Mizerski (Pole): Unbekümmert um den Vorwurf der Rückständigkeit, muß ich erklären, daß wir gegen die Vorlage find. Die Feuerbestattung widerspricht der christlichen Weltanschauung. Wer kann garantieren, daß diese fakultative Feuerbestattung nicht zu einer Vorstufe für die obligatorische wird?

Abg. Hoffmann (Soz.): Das Gesetz ist so geworden, wie wir es in Preußen erwartet haben. Ich gehöre nicht zu denen, die die Feuerbestattung verhimmeln und meinen, daß aus der Asche ein verjüngter Phönix emporsteigt, anderseits aber auch nicht zu denen, die wie der Pastor Schall hier im Hause Krematorien mit Backöfen und Rieselfelder mit Feuerbestattung verglich. Ich werde mich allerdings verbrennen lassen, wenn ich auch keinem Feuerbestattungsverein angehöre. Ich habe selbst einer Wiederausgrabung beigewohnt. Es handelte sich um einen Bankier, der aus der jüdischen Kirche ausgetreten und auf dem Be⸗ gräbnisplatz der Freireligiösen Gemeinde, deren Begräbnisinspektor ich war, beerdigt worden war, der aber wieder ausgegraben wurde, weil nachgewiesen wurde, daß er zur evangelischen Kirche hatte übertreten wollen. Er sah die Freireligiöse Gemeinde nur als ein Durch⸗ gangsstadium an, um nicht vom Judentum zum Christentum uͤberzugehen. Da habe ich kaum Leute gefunden, die die Aus⸗ grabung vornehmen wollten. Gegenüber dem Abg. Schmitt weise ich auch auf die Bibel hin, wo von Verbrennung berichtet wird, so im Jeremias Kap. 34, Vers 5, in der zweiten Chronica Kap. 16, Vers 14, im 1. Samuel Kap. 31, Vers 12. Sie sehen also, daß sich die Verbrennung der Leichen in der Bibel nachweisen läßt. (Abg. Dr. Schmitt: Nur im Notfall!) Auch in katholischen Kreisen nehmen die Anhänger der Feuerbestattung zu. Das zeigt der große Prozentsatz der Katholiken, die in Krema⸗ torien eingeäschert worden sind. Unsere Zustimmung oder Ablehnung werden wir davon abhängig machen, wie das Gesetz aus der Kom⸗ mission herauskommt. 8 1 1

Abg. Müller⸗Koblenz (Zentr.): Die Ausführungen des Ministers geben keine Erklärung dafür, weshalb eigentlich die Regierung ihren ablehnenden Standpunkt vollständig geändert hat. Die Gründe für die Aenderung scheinen mir weniger in der Frage selbst als in politischen Momenten zu liegen. In kriminalistischer Beziehung ist die Zu⸗ lassung der Leichenverbrennung eine einschneidende Maßnahme, die unübersehbare Folgen nach sich ziehen kann. Die Begründung der Vorlage ist in dieser Hinsicht recht ungenau. Die Regierung hat sich anscheinend nicht darüber auszusprechen gewagt, wie groß die Zahl

der Exhumierungen ist, und ob sie in der letzten Zeit zug

hat. Der Gesetzentwurf erschwert, ja macht in manchen Fällen die Entdeckung von schweren Verbrechen unmöglich. Die Zulassung der Feuerbestattung soll eine Pflicht der Toleranz sein. Wir wollen nicht nur begraben sein, sondern auf konfessionellen Friedhöfen begraben sein. Der. Abg. Pachnicke bezeichnet die Vorlage als einen kleinen Fortschritt. Wir haben von Fortschritt eine andere Anschauung. Er hat weiter deutlich zu erkennen gegeben, daß man bei dem Gesetzentwurf nicht stehen bleiben will, daß sehr bald die obligatorische Feuerbestattung folgen wird. Darum sagen wir hier bei diesem Entwurf: Principiis obsta.

Minister des Innern von Dallwitz: 1 .

Der Herr Vorredner hat den Hauptteil seiner Au ührunge das Gebiet der kriminalistischen Bedenken aufgebaut. Diese Be⸗ denken sind regierungsseitig in keiner Weise in Abrede gestellt worden. Wir erkennen voll an, daß es nicht angängig erscheint, die Feuer⸗ bestattung zuzulassen, wenn nicht zugleich entsprechende Kautelen ge⸗ troffen und gefunden werden, welche einen Mißbrauch der Feuerbestattung zur Vertilgung der Spuren von Verbrechen ermöglichen. (Sehr richtig! links.) Wir glauben aber, im vorliegenden Entwurf, namentlich durch die Bestimmung des § 9 so weitgehende Kautelen nach dieser Richtung hin treffen zu können, daß die Befürchtungen, die von juristisch⸗kriminalistischer Seite gegen den Entwurf geltend gemacht worden sind, dadurch be⸗ seitigt werden können. Insbesondere wird, wie ich soeben schon be⸗ tonte, durch die Bestimmung, daß der Verstorbene selbst das Ver⸗ langen nach der Anwendung der Feuerbestattung bei Lebzeiten un⸗ zweideutig und nachweisbar ausgesprochen haben muß, meines Dafür⸗ haltens diese Befürchtung wesentlich abgeschwächt und in Verbindung mit den anderen Kautelen, die in § 7 enthalten sind, wohl voll⸗ kommen beseitigt. Wir werden aber in der Lage sein, uns bei etwaigen Kommissionsverhandlungen darüber noch weiter zu unter⸗ halten, und dann wird auch ein Kommissar des Herrn Justizministers daber sein, der ja in erster Reihe etwaige sonstige Vorschläge zu prüfen haben wird, die eine noch weitergehende Sicherstellung gegen einen Mißbrauch der Feuerbestattung herbeiführen könnten.

Der Hauptgrund aber, weshalb ich das Wort genommen habe, waren die Anfangsworte des Herrn Vorredners, der, wie mir mit⸗ geteilt worden ist, behauptet hat, daß die Regierung bei Einbringung dieses Entwurfs sich nicht von sachlichen, sondern von politischen Gründen habe leiten lassen. Meine Herren, das ist völlig unzu⸗ treffend.

Der Anlaß, mit dieser Frage erneut sich zu befassen, lag für die Staatsregierung darin, daß sowohl das Abgeordnetenhaus wie auch das Herrenhaus im vorigen Jahre die früher von ihnen eingenommene ablehnende Haltung gegen die Wünsche nach Einführung der fakulta⸗ tiven Feuerbestattung verändert haben (hört, hört! links); sowohl das Herrenhaus wie das Abgeordnetenhaus haben Petitionen, über die sie früher zur Tagesordnung übergegangen waren, im vorigen Jahre der Regierung zur Erwägung überwiesen. Die Regierung hatte infolge⸗ dessen die Verpflichtung, der Frage näherzutreten, ob nicht die in⸗ zwischen fortgeschrittene Entwicklung ein Eingehen auf diese Wünsche berechtigt erscheinen lassen könnte.

Unter den sachlichen Momenten von den anderen in den Motiven erwähnten und von mir vorhin schon angeführten Gründen abgesehen ist der Gesichtspunkt in den Vordergrund zu stellen, daß in der Tat die Entwicklung der Krematorien an den Grenzen Preußens zum Teil in Ländern, die vollkommen von preußischem Gebiet umschlossen sind in den angrenzenden preußischen Gebietsteilen geradezu un⸗ haltbare Zustände insofern herbeigeführt hat, als neuerdings aus Preußen Leichen in nicht geringer Zahl zum Zwecke der Verbrennung dorthin übergeführt werden, ohne daß zurzeit irgendwelche Kautelen gegen einen Mißbrauch vom juristisch⸗kriminalistischen Standpunkt aus gegeben sind. Es mußte daher erwogen werden, ob nicht diesen nach Ansicht der Regierung äußerst bedenklichen Verhältnissen dadurch abgeholfen werden könnte, daß durch Einführung der fakultativen Feuerbestattung weitergehende Kautelen, als bis jetzt vorhanden sind, auch für solche Fälle geschaffen werden.

Meine Herren, der Hauptgrund aber, der die Regierung zur Ein⸗ bringung dieser Vorlage veranlaßt hat, ist der Grund gewesen, den der Herr Vorredner so scharf bekämpft hat: die Absicht, einen Akt der Toleranz gegen diejenigen auszuüben, die es ihrer Ueberzeugung nach nun einmal für richtiger halten, sich verbrennen zu lassen. (Bravo! und lebhafte Zustimmung links.) Man kann sehr verschiedener Meinung darüber sein, ob diese Ueberzeugung richtig ist; ich persönlich stehe nicht auf diesem Standpunkt. Aber ich habe doch das Gefühl, daß die Staatsregierung nicht richtig handeln würde, wenn sie dauernd ohne schwerwiegende Gegengründe die Möglichkeit inhibieren wollte, daß die zahlreichen preußischen Staatsbürger, die hierüber anderer Ansicht sind, in die Lage versetzt werden, ihrer Ueberzeugung gemäß die Art der Bestattung ihres Leichnams zu bestimmen. (Sehr richtig! links.)

Das sind die Gründe, welche die Regierung zur Einbringung der Vorlage veranlaßt haben; keine politischen Gründe. Wenn schließlich die Vorloge in der Thronrede nicht erwähnt worden ist, so findet das seine einfache Erklärung in dem Umstande, daß die Vor⸗ lage damals noch nicht völlig fertiggestellt war, daß über Einzelheiten noch Meinungsverschiedenheiten obwalteten, und daß noch nicht abzu sehen war, zu welchem Zeitpunkt die Vorlage fertiggestellt werden könnte, daß mithin auch nicht übersehen werden konnte, ob sie noch genügend rechtzeitig fertiggestellt werden würde, um im Laufe dieser Session eingebracht werden zu können. (Bravo! links.)

Damit schließt die Diskussion. Die Vorlage wird einer Kommission von 14 Mitgliedern überwiesen.

Präsident von Kröcher schlägt vor, die dritte Lefung des Etats am Donnerstag früh um 10 Uhr zu beginnen und nötigenfalls Abends fortzusetzen.

Abg. Dr. Friedberg (nl.) bittet, die Sitzung entweder um 10 Uhr zu beginnen und dann keine Abendsitzung abzuhalten oder, wenn eine Abendsitzung stattfinden soll, erst um 11 Uhr zu beginnen⸗

Abg. Dr. von Heydebrand und der Lasa (kons.) bittet gleich⸗ falls, erst um 11 Uhr zu beginnen, da seine Freunde noch nicht voll⸗ ständig zur dritten Lesung des Etats Stellung genommen hätten.

Abg. Dr. Pachnicke (fortschr. Volksp.) bittet gleichfalls, um 11 Uhr anzufangen, aber auch von einer Abendsitzung Abstand zu nehmen, eventuell die Dauer der Sitzung bis 5 oder 6 Uhr zu verlängern. Es wird uns eine Anspannung der Kräfte zugemutet, der man ni⸗ ht mehr gewachsen ist. Das Tempo unserer Etatsberatungen war ein derartig schleuniges, überhastetes, daß schon wiederholt Protest erhoben worden ist. Dieses Automobiltempo fortzusetzen, geht wirklich nicht an. Es kommt nicht darauf an, ob ein Tag mehr oder weniger gebraucht wird.

Präsident von Kröcher: Ich habe meinen Vorschlag nicht

aus Vergnügen gemacht, der Not gehorchend, nicht dem eigenen

Triebe. Sie haben aber vorgeschrieben, daß der Etat bis zum 24. feigeth öen Für ht um 10 Uhr aufangen, müssen wir intweder sehr lange sitzen, bis 6, 7 oder 8 Uhr, oder eine Abend⸗ Fbuntaugaltn 1 hr, oder eine Abend Abg. Freiherr von Zedlitz und Neukirch (freikons.): V. ine o 5 5 so N. ; einem Beschluß des Hauses ist nicht die Rede; ich habe nur die Hoff⸗ nung ausgesprochen, daß wir bis zum 24. fertig werden könnten. b Abg. Dr. Pachnicke (fortschr. Volksp.): Es handelte sich nur um einen Wunsch des Herrn von Zedlitz. Wir sind zu der Verein⸗ bqng Fsicht binzugezegen worden. Präsident von Kröcher hält seine Ansicht aufrecht, ist aber mi 8 2 ) ber mit dem Beginn der Sitzung um 11 Uhr einverstanden. 1 Schluß gegen 4 ¾¼ Uhr. Nächste Sitzung Donnerstag 11 Uhr. (Dritte Beratung des Etats.) h“

Parlamentarische Nachrichten.

. Dem Herrenhause ist der nachstehende Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Verpflichtung zum Besuche ländlicher Fortbildungsschulen in den Provinzen Brandenburg, Pommern, Sachsen, Westfalen sowie in der Rheinprovinz und in den Hohenzollernschen Landen, zugegangen:

Einziger Paragraph.

. Durch statutarische Bestimmung gr EGemneinde kann für die nicht mehr schulpflichtigen unter 18 Jahre alten männlichen Personen für drei aufeinander folgende Winterhalbjahre die Verpflichtung zum Besuch einer ländlichen Fortbildungsschule begründet werden.

In gleichem Umfange kann für einen Gutsbezirk auf Antrag des Gutsvorstehers durch Beschluß des Kreisausschusses die Verpflichtung zum Besuch einer ländlichen Fortbildungsschule begründet werden. In dem Statut (Abs. 1) oder dem Beschluß (Abs. 2) sind die 88W1“ 1““ Bestimmungen zu treffen, insbesondere sin ie zur Sicherung eines regelmäßi Schulbesuchs den Schulpflichtigen sowie öb enmfenen und Arbeitgebern obliegenden Verpflichtungen zu bestimmen und die⸗ jenigen Vorschriften zu erlassen, durch welche die Ordnung in der Fortbildungsschule und ein gebührliches Verhalten der Schüler ge⸗ Hveer hen. EE“ vom Gemeindevorstand und in den Fällen des Abs. om Kreisausschusse f in orts⸗ üblicher Weise bekannt zu machen. 11“ Von der Verpflichtung zum Besuch einer Fortbildungsschule sind diejenigen befreit, welche die Berechtigung zum einjährig⸗freiwilligen Militärdienst erworben haben, welche eine Innungs⸗, Fach⸗ oder andere Fortbildungsschule besuchen oder einen entsprechenden anderen Unterricht erhalten, sofern dieser Schulbesuch oder Unterricht von dem Regierungspräsidenten als ein ausreichender Ersatz des allgemeinen Fortbildungsunterrichts anerkannt wird. Die Bestimmung weiterer Ausnahmen durch das Statut ist zulässig.

An Sonntagen darf Unterricht nicht erteilt werden.

8 Mit Geldstrafe bis zu 20 und im Unvermögensfalle mit Haft bis zu drei Tagen für jeden Fall wird bestraft, wer den vorstehenden Bestimmungen oder den erlassenen statutarischen Bestimmungen zu⸗

biderhandelt.

In der diesem Gesetzentwurf beigegebenen Begründung wird ausgeführt: 8

Die Schaffung einer gesetzlichen Unterlage für die Ein⸗

der Verpflichtung zum Besuche ländlicher Fortbildungs⸗

in der Provinz Hessen⸗Nassau durch das Gesetz vom

8. August 1904 hat sich als ein äußerst wirksames Mittel zur Förderung

des ländlichen Fortbildungsschulwesens erwiesen. Infolge mehrfacher

Anregungen aus dem Hause der Abgeordneten ist die gleiche Einrichtung

durch die Gesetze vom 25. Januar 1909 und 2. Juli 1910 für die

Provinzen Hannover und Schlesien getroffen worden. Neuerdings

aben die zur Wahrnehmung der provinziellen Interessen berufenen Organe der Provinzen Brandenburg, Pommern, Sachsen, Westfalen und der Rheinprovinz sowie die kommunalständische Vertretung der Hohenzollernschen Lande den Erlaß gesetzlicher Vorschriften zur Eia⸗ führung des Besuchzwanges durch die Gemeinden auch für die Landes⸗ teile beantragt. Diesen Wünschen wird durch den hiermit vorgelegten Gesetzentwurf entsprochen.

„Gellegentlich früherer Verhandlungen beider Häuser des Landtags ist auf die Notwendigkeit eines planmäßigen Ausbaues der ländlichen Fortbildungsschule mehrfach hingewiesen worden. Die kurze Fest⸗

stellung, daß die sittliche Hebung und Festigung der männlichen schul⸗

entlassenen Jugend, sowie eine weitgehende soziale Fürsorge für sie isrch die ländliche Fortbildungsschule verfolgt, sowie eine allgemeine Weiterbildung und Unterstützung der beruflichen Ausbildung des jungen Mannes erstrebt wird, läßt diese Notwendigkeit ausreichend begründet erscheinen. Es kann auch keinem Zweifel mehr unterliegen und bedarf daher keiner weiteren Begründung, daß die ländliche Fortbildungs⸗ schule ohne den Schulzwang ihre Aufgaben nicht in dem wünschens⸗ werten Maße zu entsprechen vermag. 8 Ein Vorgehen nach dem Vorbild der Gesetze vom 8. August 1904 und 25. Januar 1909 für die Provinzen Hessen⸗Nassau und Hannover, vonach lediglich den Gemeinden die Möglichkeit zu ortsstatutarischer Einführung des Besuchszwanges für die ländliche Fortbildungsschule gegeben ist, wird um so eher den gewünschten Erfolg zeitigen, wenn die Entwicklung des Fortbildungsschulwesens in dem in Betracht ommenden Bezirk bereits vüraescreeren ist und die beteiligten Be⸗ völkerungskreise selbst schon ein ausreichendes Verständnis für den Wert der Fortbildungsschule erlangt haben. In dieser Beziehung nd die Vorbedingungen für den Erlaß eines derartigen Gesetzes in den beteiligten Landesteilen als gegeben anzusehen. 8 Die Entwicklung des ländlichen Fortbildungsschul⸗ wesens zeigt nach den amtlichen Feststellungen in diesen Provinzen lgendes Bild: a. in Brandenburg betrug: G im Jahre die Zahl der Schulen 1896 1 1899

b. in Pommern betrug: im Jahre die Z

c. in Sachsen betrug: im Jahre die Zahl

d. in Westfalen betrug: 1“ Jahre die Zahl der Schulen 1896

der Rheinprovinz betrug: 8 Jahre die Zahl der Schulen

in den Hohenzollernschen Landen betrug: im Jahre die Zahl der Schulen 1896 51 1899 I1 53 11 1 C6“

Das starke Wachstum der ländlichen Fortbildungsschule in den letzten Jahren läßt erkennen, daß sie in den beteiligten ländlichen Bevölkerungskreisen als eine für die Ausbildung und Erziehung der chulentlassenen Jugend wertvolle und segensreiche Einrichtung erkannt und geschätzt ist. Trotzdem kann nach den übereinstimmenden Angaben der zur Beurteilung der Verhältnisse berufenen Stellen auch in den vorgenannten Landesteilen auf ein wesentliches Fortschreiten der Ent⸗ wicklung infolge des Fehlens der Möglichkeit, den Besuch obligatorisch zu machen, kaum gerechnet werden. Es wird deshalb als ein dringendes Bedürfnis bezeichnet, die Verpflichtung zum Besuche der ländlichen Fortbildungsschulen dort, wo es angezeigt erscheint, begründen zu können.

Ein Beschluß, die Staatsregierung um Einbringung eines Gesetz⸗ entwurfs, betreffend die Einführung des Besuchszwanges an ländlichen Fortbildungsschulen, durch Gemeindestatut zu ersuchen, wurde für Brandenburg gelegentlich der letzten Tagung des Provinzial⸗ landtags am 27. Februar 1910 gefaßt.

Die Anregung für Pommern ging vom Provinziallandtage aus, der einen entsprechenden Antrag an die Staatsregierung in seiner Sitzung vom 19. März 1909 formulierte. Ein gleichgerichtetes Gesuch des Vorstands der Landwirtschaftskammer für die Provinz Pommern vom 29. Juli 1909 betonte ausdrücklich, daß der Besuchs⸗ zwang für die ländliche Fortbildungsschule nicht zu entbehren sei, wenn die an und für sich allgemein anerkannten Erfolge der Fort⸗ bildungsschule die wünschenswerte allgemeine Wirkung erzielen sollten. „In der Provinz Sachsen hat der XXVY. Provinziallandtag über die Angelegenheit verhandelt mit dem Ergebnis, daß eine gesetzliche Grundlage für die Einführung der Verpflichtung zum Besuch länd⸗ licher Fortbildungsschulen nach dem Vorbild anderer Provinzen zu erstreben sei. Der Provinziallandtag hat damit seine Uebereinstimmung mit einem in der XV. ordentlichen Pleaarversammlung der Landwirt⸗ schaftskammer für die Provinz Sachsen bereits am 26. Januar 1910 gefaßten Beschlusse bekundet. Auch die Handwerkskammern der Provinz haben den baldigen Erlaß eines entsprechenden Gesetzes befürwortet.

Der Antrag auf Einführung des Schulzwanges für Westfalen nach dem Muster des Gesetzes für Hessen⸗Nassau wurde zuerst von dem „Verein zur Förderung des Fortbildungsschulwesens in der Provinz Westfalen“ bei der Stgatsregierung und dem Provinzial⸗ landtage am 9. Oktober 1907 gestellt. Letzterer beschloß am 11. März 1908, den Antrag des Vereins bei der Staatsregierung zu unter⸗ stützen. Dieser Stellungnahme schloß sich die Landwirtschaftskammer für die Provinz Westfalen in ihrer Hauptversammlung vom 7. Ja⸗ nuar 1909 an.

Auch für die Rheinprovinz befürworten die Landwirtschafts⸗ kammer und Provinziallandtag durch ihre Beschlüsse vom 31. De⸗ zember 1909 und 11. März 1910 die baldige Regelung der Angelegen⸗ heit im Sinne dieses Gesetzentwurfs.

Schließlich ist noch zu erwähnen, daß für die Hohen⸗ zollernschen Lande sowohl die Zentralstelle des Vereins für Land⸗ wirtschaft und Gewerbe in Sigmaringen als auch der dortige Kom⸗ munallandtag gleichgerichtete Wünsche kundgegeben haben.

Die Vorschriften des Gesetzentwurfs decken sich inhaltlich mit denen der für Hessen⸗Nassau unter dem 8. August 1904 und für Han⸗ nover unter dem 25. Januar 1909 erlassenen Gesetze. Zwei Punkte, in denen von der Fassung dieser Gesetze abgewichen ist, beanspruchen eine besondere Erläuterung.

Zunächst, soll der eingefügte Absatz 2 des Entwurfs eine Handhabe bieten, um auch für Gutsbezirke, die in einigen der beteiligten Provinzen in größerer Zahl vorhanden sind, den Schulzwang einführen zu können. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Gutsbezirke mit eigener Fortbildungs⸗ schule, sondern auch um diejenigen Fälle, in denen mehrere Guts⸗ bezirke oder eine Gemeinde und ein Gutsbezirk zusammen eine ge⸗ meinsame Fortbildungsschule unterhalten. Für alle diese Fälle bildet die vorgeschlagene Fassung des Gesetzentwurfs die Möglichkeit zur Be⸗ gründung des Besuchszwanges. Dabei wird entsprechend der den Ge⸗ meinden gelassenen Freiheit der Entschließung bestimmt, daß durch Kreisausschußbeschluß der Besuchszwang nur dann eingeführt werden kann, wenn ein Antrag des Gutsvorstehers vorliegt.

EFntsprechend der in dem Gesetz für die Provinz Schlesien vor⸗ gesehenen Erweiterung, wonach die Festsetzung und Bekanntgahe des Stundenplanes durch den Gemeindevorstand ausdrücklich vorgeschrieben

die Schülerzahl 504

wird, enthält auch dieser Gesetzentwurf einen gleichlautenden Zusatz.

Diese Ergänzung wird durch wiederholte Entscheidungen des Kammer⸗ gerichts begründet, wonach die Vorschrift im § 120 Abs. 3 der Gewerbe⸗ ordnung, auf Grund welcher die zur Durchführung der statutarischen Fort⸗ bildungsschulpflicht erforderlichen Bestimmungen ebenfalls nur im Wege statutarischer Festsetzungen getroffen werden können, sich auch auf die Stundenpläne bezieht und eine strafbare Schulversäumnis nicht vorliegt, wenn der Stundenplan auf anderem Wege etwa lediglich durch Bekanntgabe der Gemeindebehörde festgesetzt ist (vergl. die Ent⸗ scheidung vom 7. Januar 1904; von Rohrscheidt, Gewerbearchiv, Band 3 Seite 480). Die praktischen Unzuträglichkeiten, die sich aus dieser Auffassung ergeben (Umständlichkeit jeder Aenderung des Stundenplanes, Unmöglichkeit der raschen Verlegung einer Unterrichts⸗ stunde aus vorübergehender Veranlassung usw.), haben Anlaß dazu gegeben, durch eine dem Reichstage zurzeit vorliegende Novelle der Gewerbeordnung in den § 120 einen Zusatz einzufügen, wodurch der Gemeindebehörde die Befugnis zur Festsetzung des Stundenplanes bei⸗ gelegt wird, der im übrigen ortsüblich bekannt zu machen ist. Da die Erwägungen des Kammergerichts unzweifelhaft auch auf den vor⸗ liegenden Gesetzentwurf zutreffen, so empfiehlt es sich zur Vermeidung der geschilderten Schwierigkeiten den im Entwurf vorgesehenen Zusatz zu machen. Die Befugnis der Gemeindevorstände hinsichtlich Fest⸗ setzung der Stundenpläne erstreckt sich indessen, wie ausdrücklich be⸗ merkt wird, lediglich auf die Bestimmung der Unterrichtszeit. Die Entscheidung über die Lehr⸗ und Stoffverteilungspläne für die einzelnen Unterrichtsstunden muß nach wie vor der Schulleitung und Schulaufsicht vorbehalten bleiben. Schließlich erscheint es angezeigt, an dieser Stelle noch auf eine andere Frage einzugehen, nämlich den Fortbildungsschulunterricht an Sonntagen, dessen Zulassung von den Vertretungen der westlichen Provinzen dringend befürwortet worden ist. Während die Staats⸗ regierung ursprünglich (vergl. Regierungsvorlage zum Gesetz vom 8. August 1904) auf dem Standpunkte stand, daß der Sonntags⸗ unterricht unter gewissen, die Beeinträchtigung des kirchlichen Lebens ausschließenden Beschränkungen zuzulassen sei, haben beide Häuser des Landtags durch ihre Abstimmung über die Gesetzentwürfe für die Provinzen Hessen⸗Nassau, Hannover und Schlesien in den Jahren 1904, 1909 und 1910 zu wiederholten Malen die gegenteilige Ansicht mit großer Entschiedenheit bekundet. Dieser Willensäußerung konnte die Staatsregierung um so unbedenklicher zu⸗ stimmen, als nicht zu leugnen ist, daß den Vorteilen des Sonntags⸗ unterrichts eine Reihe gewichtiger Nachteile gegenüberstehen, von denen die Belastung der ohnehin an Sonntagen bereits sehr in An⸗ spruch genommenen Lehrkräfte besondere Beachtung verdient. 8 Angesichts dieser Sachlage wurde davon abgesehen, den aus der Rheinprovinz und Westfalen geäußerten Wünschen nach Zulassung des

Sonntagsunterrichts in dieser Vorlage zu entsprechen. 38

(Aus den im Reichsamt des Innern zusam engestellten „Nachrichten für Handel und Industrie“.)

Der Handel mit persischen Teppichen.

Persien, das gelobte Land der Teppichkunst, bietet immer noch, was Quantität, Mannigfaltigkeit des Produkts und Güte der Qualität anbelanat, dem Teppichhandel die reichste Nahrung. Wenn aguch Kleinasien und Indien durch ältere oder neuere Nachahmung persischer Technik inzwischen Produkte auf den Markt geworfen haben, die zahlenmäßig bereits einen wesentlichen Teil der vielfachen Be⸗ dürfnisse befriedigen, so sind diese Erzeugnisse doch überraschend schnell auf das Niveau scharf kalkulierter europäischer Industrie⸗ produkte herabgedrückt worden und lassen dem Händler nur mini⸗ malen Gewinn. Die Produktion der halborientalischen Teppiche ist überdies künstlich basiert. Trotz der vor einigen Jahren eingeführten persischen Dessins und trotz der noch unverfälschen Fendarßet ver⸗ blaßt der originelle Charakter dieser Teppiche immer mehr und mehr, obwohl gleichzeitig eine geniale Anpassung an den Geschmack des europäischen Massenpublikums erzielt wurde. Das persische Produkt bih dagegen dem Teppichhändler immer noch das mannigfaltigste Material⸗ Der originale Charakter dieser Ware und das in der Tat unübertreffliche dafür verwandte Wollmaterial behaupten dem persischen Teppich unbestritten immer noch den ersten Rang. Konstantinopel bildet seit Jahrzehnten die Weltmesse des Teppich⸗ handels. Trotz der durch drei⸗ bis viermaligen Zwischenhandel verteuerten Stambuler Preise bot bis zu einem gewissen Zeitpunkt die große Uebersicht und Auswahl auf dem Konstantinopler Markt den Teppichhändlern bedeutende Vorteile. Dazu kam noch die überaus schwierige Kommunikation mit den Teppiche produzierenden Binnenländern des Ortents, sodaß den Käufern auch wirklich keine andere Wahl blieb, als in Stambul ihren Bedarf zu decken. Diese Verhältnisse haben sich inzwischen in vieler Beziehung geändert, Stambul ist zwar noch der bedeutendste, aber nicht mehr der einzige Teppichmarkt. Von den Großhändlern werden Anstalten getroffen, den Bedarf nicht mehr gusschließlich in Stambul zu decken. Teilweise werden sie dazu schon direkt gezwungen. Unter dem Druck anderweitiger billiger Angebote ist auch ein Teil der Perserware in Qualität und Ausführung immer mehr heruntergegangen. Gleich⸗ zeitig hat sich aber in Europa und Amerika der Geschmack des besseren Publikums verfeinert, und die Beurteilung echter Perserware ist. eine weit strengere wie früher. Somit ist der Bedarf der besseren Spezialgeschäfte auf die gute neue und die echte ältere Perserware beschränkt. Außerdem muß auch bei der Auswahl der Dessins jeweils den besonderen Kundenkreisen Rechnung getragen werden. Dieses Bedürfnis, die Ware zu sortieren, verträgt sich aber nicht mit den Tendenzen des Teppschgroßhandels in Stambul. Dort wird das Bestreben nach Massenumsätzen täglich mehr betont. In raffinierter Weise werden geschlossene Partien zusammengestellt, deren jede möglichst einen einheitlichen Ausschnitt aus der Masse des Angebots bilden soll, derart, daß gut und schlecht, feine und barbarische Dessins, passende und unpassende Masse durcheinander⸗ gewürfelt werden, sodaß für den europäischen Einkäufer in den aller⸗ meisten Fällen neben wenigen für ihn passenden Stücken das Drei⸗ und Vierfache an schwer⸗ und unverkäuflicher Ware sich in einer solchen Partie vereinigt findet. Eine Auswahl wird fast nie mehr gestattet, oder es werden in einem solchen Falle so horrende Preise verlangt, daß der Käufer von selbst von diesem Wunsche Abstand nimmt. Er ist also gezwungen, sich mit einer Ware zu belasten, die nur ju einem Teil seinem Bedarf entspricht, und wenn heute das Publikum schon so vielfach über zweifelhaftes Angebot im Tevppich⸗ handel Klage führt, so sind daran fast ausschließlich die un⸗ günstigen Stambuler Einkaufsverhältnisse schuld. ie Stambuler Händler haben allerdings ein Interesse daran, die durch die Tatsache widerlegte Anschauung zu erhalten, daß nirgends als in Konstantinopel ein rationeller Teppicheinkauf möglich sei. Dies ist jedoch von Tag zu Tag weniger der Fall. Besonders die praktischen Amerikaner haben schon seit geraumer Zeit Mittel und Wege gefunden, den wert⸗ vollsten Teil ihres Bedarfs unter Umgehung von Konstantinopel in den Ursprungsländern selbst einzukaufen. Auch in Persien haben sie Agenturen errichtet, oder sie lassen sich durch Armenier und Syrer ihren Einkauf besorgen und werden in letzterem Falle oft genug sehr unreell bedient, wodurch aber trotzdem die Vorteile einer ihren Zwecken entsprechenden Auswahl für sie nicht aufgehoben werden. Durch den Ausbau der transkaukasischen Bahn ist das nördliche Persien mit seiner Hauptstadt Täbris einer modernen Kommunikation außerordentlich nahe gebracht worden. Täbris war schon von jeher der Hauptstapelplatz des Teppichhandels in Persien. Mit ganz geringen Ausnahmen werden hier alle Teppichprovenienzen gestapelt. Der Konstantinopler Markt ergänzt seinen Bestand an Perserware zu 80 % von den Vorräten, die in Täbris gesammelt werden. Der Täbriser Basar ist die Hauptquelle des Konstantinopler Marktes und gleichzeitig der Sitz einer eigenen Tepy ichindustrie. Aus dem Innern Persiens treffen hier täglich große Teppichkarawanen ein und werden zum Kauf ausgeboten. Hier gilt für die aller⸗ meisten Teppichsorten noch das Prinzip der unbeschränkten Aus⸗ wahl. Das Geschäft ist noch nicht in wenigen Händen kon zentriert, sondern Hunderte kleiner Firmen befassen sich als Neben beschäftigung mit dem Ankauf von Teppichen oder nehmen solche als Gegenwert für andere Handelsware in Tausch. Hier wird der einzelne Teppich noch nicht nach europäischen Gesichtspunkten taxiert, und die Wertunterschiede bei ähnlichen Stücken treten noch fast gar nicht hervor. Damit ist die Möglichkeit geboten, bei Ankäufen jeden Geschmack und Bedarf ungehindert von der Spekulation der Händler zu befriedigen. Außerdem ist die Ware noch nicht durch hohe Verzinsung und Lager⸗ spesen verteuert. Die Täbriser Händler sind überdies daran gewöhnt, durch den persischen Aufkäufer für den Konstantinopler Markt im Preise bis auf das äußerste gedrückt zu werden, und eine am Platz bekannte und gut eingeführte Firma, die über tüchtige Makler verfügt, hat nicht zu fürchten, daß ihr bei größeren Aufkäufen höhere Preise ab⸗ verlangt werden. Neulinge wird man allerdings ebenso wie in Konstantinopel versuchen, auf jede Art und Weise zu übervorteilen. Die Frachtverhältnisse ab Täbris sind als sehr günstige zu be⸗ zeichnen. Bis zur russischen Grenze wird die Ware auf der etwa 150 km langen Chaussee Täbrls Djulfa per Lastautomobil be⸗ fördert und dann zum Weitertransport der russisch⸗transkaukasischen Bahn übergeben, die in Batum Anschluß an die Mittel⸗ und Schwarz⸗Meer⸗Schiffahrtslinien findet. In besonders eiligen Fällen kann man die Sendungen natürlich auch auf dem Landwege per Bahn durch Rußland besördern. Fracht, Spesen und Assekuranz ab Täbris bis z. B. Transitlager Hamburg sind die gleichen wie diejenigen bis zum Konstantinopler Zollager, während eine eventuelle Lagerung im Transit sich in Hamburg oder Berlin weit billiger stellt wie in Konstantinopel. Es steht außer Zweifel, daß eine große Anzahl der besten deutschen Teppichspezialgeschäfte sich den direkten Teppich⸗ einkauf in Persien zunutze machen würden, wenn ihnen durch eine mit den Landes⸗ und Brancheverhältnissen vertraute ehrliche deutsche Kommissionsfirma in Persien die Wege geebnet würden. Der Zeit⸗ punkt für eine solche Anregung ist überaus günstig. Kaukasische Teppichware wird heute schon in großen Mengen direkt ab Tiflis von den tatkräftigsten europäischen Firmen eingehandelt. Zwischen Tiflis und Täbris liegt heute nur noch eine Entfernung von 36 Stunden, es ist also der nächstliegende Gedanke, auch die un⸗ endlich mannigfaltigen persischen Teppichprovenienzen in Täbris direkt einzukaufen.

Ein durch die natürlichen Verhältnisse bedingtes zeitgemäßes, sicheres und fast unbegrenzt entwicklungsfähiges Geschäft läßt sich auf dieser Basis aufbauen. Im Zusammenhang damit ist die Möglichkeit gegeben, auch die große nordpersische Teppichproduktion in gewünschter Weise zu beeinflussen und auch hierdurch den europäischen Abnehmern einen großen Vorteil zu bieten. 8 3 85