S§ 593 wird nach Ablehnung eines vom Abg. Hoch (Soz.) begründeten Amendements ebenfalls in der Kommissionsfassung angenommen.
§ 607 lautet nach den Kommissionsbeschlüssen:
„„Hinterläßt der Verstorbene eine Witwe oder Kinder, so beträgt die Rente ³ des Jahresarbeitsverdienstes für die Witwe bis zu ihrem Tode oder ihrer Wiederverheiratung, für jedes Kind bis zum vollendeten 15. Lebensjahre, für ein uneheliches Kind jedoch nur, soweit der Verstorbene ihm nach gesetzlicher Pflicht Unterhalt gewährt hat.“
Verbunden in der Diskussion wird hiermit § 608 (Abfindung von ⅞6 an die Witwe im Falle der Wieder⸗ verheiratung).
§ 614:
„Die Renten der Hinterbliebenen dürfen zusammen ⅞ des Jahresarbeitsverdienstes nicht übersteigen, sonst werden sie gekürzt, und zwar bei Ehegatten und Kindern gleichmäßig; Verwandte der aufsteigenden Linie haben nur Anspruch, soweit Ehegatten und Kinder, Enkel nur, soweit die Vorgenannten den Höchstbetrag nicht erschöpfen. Beim Ausscheiden eines Hinterbliebenen erhöhen sich die Renten der übrigen bis zum zulässigen Höchstbetrage.“”
Abg. Kunert (Soz.): Wir beantragen, die Witwenrente auf
z des Jahresarbeitsverdienstes, die der Kinder auf je ³ festzusetzen nit der Maßgabe, daß nach § 614 die Hinterbliebenenrente ins⸗ gesamt nicht den vollen Betrag des Jahresarbeitsverdienstes über⸗ steigen darf. Eine Witwenrente von ⅛ des Jahresarbeitsverdienstes reicht nicht entfernt an das Existenzminimum heran, namentlich nicht bei Landarbeiterinnen. Ebenso ist mit einer Kinderrente von ⅛ des Jahresarbeitsverdienstes nicht eine wirkliche Erziehungsfürsorge, sondern die Karikatur einer solchen zu schaffen. Auch die Abfindung für die sich wiederverheiratende Witwe muß auf den vollen Betrag erhöht werden.
Die Anträge Albrecht werden abgelehnt.
§ 614a (von der Kommission eingeschaltet): 8
„Die Hinterbliebenen eines Ausländers, die sich zur Zeit des Un⸗ falls nicht gewöhnlich im Auslande aufhielten, haben keinen An⸗ spruch auf die Rente.
Der Bundesrat kann dies für ausländische Grenzgebiete oder für Angehörige solcher auswärtiger Staaten ausschließen, deren Gesetzgebung eine entsprechende Fürsorge für die Hinterbliebenen durch Betriebsunfall getöteter Deutschen gewährleistet.
8 Bd Schutzgebiete gelten im Sinne des Absatz 1 als Inland.“
Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.) befürwortet die Streichung dieses Paragraphen, der eine große Härte gegen die Ausländer enthalte, eventuell die Abfindung durch eine einmalige Zahlung des dreifachen Betrages der Jahresrenie. Selbst die Regierungsvorlage habe in bezug auf die Behandlung der Ausländer nicht so weit gehen wollen, wie es die Kommission getan habe. Würde der Antrag seiner Freunde abgelehnt, so würde dies ein Anreiz für die Landwirtschaft und den Bergbau in Deutschland sein, ausländische Arbeiter in hohem Maße heranzuziehen.
Abg. Dr. Neumann⸗Hofer ffortschr. Volksp.): Die Hinter⸗ bliebenen von Ausländern sollen nur dann keine Rente erhalten, wenn es sich um unklare Verhältnisse handelt. Es werden auch dies nur Ausnahmen sein.
Abg. Korfanty (Pole): Dies muß ich entschieden bestreiten. In der Regel werden die Leute um ihre Ansprüche kommen. Wenn die Industrie männliche Arbeiter importiert, so hat sie auch die ver⸗ dammte Pflicht und Schuldigkeit, für sie und ihre Hinterbliebenen voll einzutreten, wenn es sich um Unfälle handelt. Aus russisch Polen allein sind 1910 239 879 Arbeiter eingeführt worden, dort gibt es keine Unfallversicherung, die Leistungen sind also dort nicht gleichwertig. Aehnlich ist es in Galizien; die Regierung wird es niemals gestatten, daß sich die Leute in Deutschland mit ihren Familien an⸗ siedeln. Wenn nach den Berichten der Fabrikinspektoren die Zahl der Unfälle durch ausländische Arbeiter vermehrt wird, so erhöht sich diese Gefahr noch durch den Beschluß der Kommission, aa dadurch noch mehr ausländische Arbeiter ins Land gezogen werden. 8 Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.): Die Zwangsunfallversicherung be⸗ steht in einer ganzen Reihe ausländischer Staaten, auch besteht dort eine ausgedehnte Haftpflicht, wogegen sich die Unternehmer bei großen Privat⸗ versicherungen versichern. Aus der Haftpflicht haben im Auslande die Ausländer denselben Vorteil wie die Inländer. Bei uns sollen die Ausländer schlechter gestellt sein, weil die Berufsgenossenschaften sich gegen eine größere Belastung der Unternehmer sträuben. Wir müssen die Ausländer schützen, um so mehr, weil sie häufig in gewissenloser Weise herangelockt werden.
§ 614a wird unverändert aufrechterhalten.
§ 622 der Kommissionsbeschlüsse lautet:
„Haben Krankenkassen, knappschaftliche Krankenkassen, Ersatz⸗ kassen oder Träger der Unfallversicherung einen Verletzten in einer Anstalt mit gensigenden Heileinrichtungen untergebracht, so darf er während des Heilverfahrens ohne seine Zustimmung in keine andere Anstalt gebracht werden. Das Versicherungsamt des Aufenthalts⸗ ortes kann die Zustimmung ersetzen.“
Abg. Busold (Soz.): Der letzte Satz bedeutet einen schweren
Eingriff in die Willensfreiheit des Verletzten und ist für uns unan⸗ nehmbar. Wir beantragen, ihn zu streichen. v1“
Der Antrag wird abgelehnt. i
Ju § 628 „Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente kann nur für die Zeit nach Anmeldnng des Anspruchs ver⸗ langt werden“ wollen die Sozialdemokraten die Frist auf „eine längstens sechs Monate nach Anmeldung des Anspruchs zurück⸗ liegende Zeit“ ausdehnen.
Abg. Kuntz⸗ (Soz.) macht für den Antrag geltend, daß die Fassung des § 628 eine unberechtigte Härte für die Betroffenen ent⸗
halte. 8. 18 628 bleibt unverändert.
“
8 8 § 635 lautet: 8 8 3
„Ueberzeugt sich die Genossenschaft bei erneuter ng, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden ist, so kann sie diese neu feststellen.“
Abg. Hoch (Soz.) befürwortet, diese Befugnis der Genossenschaft nach einem Antrage Albrecht in eine Verpflichtung zu verwandeln. Falsche Zeugenaussagen, unrichtige Gutachten könnten den Irrtum hervorgerufen haben; man dürfe den Verunglückten nicht darunter leiden lassen, daß man ihn lediglich auf das Belieben der Genossen⸗ schaft verweise. Wiederholte Mahnungen des Reichsversicherungsamts sn re. Seffegervssenschaften hätten in dieser Beziehung nichts ge⸗ ruchtet.
Der Antrag wird abgelehnt.
Es folgt der dritte Abschnitt „Träger der Versicherung“ 8§8 638 661; I. „Berufsgenossenschaften und andere Träger der Versicherung“.
§ 638 lautet:
„Die Berufsgenossenschaften als Träger der Versicherung um⸗ fassen die Unternehmer der versicherten Betriebe.“
Abg. Molken buhr (Soz.) will hinzufügen: „Einschließlich der Be⸗ triebe des Reichs, der Bundesstaaten, der Gemeinden und der Gemeinde⸗ verbände“. Diese Betriebe umfaßten bereits 1 600 000 Arbeiter, während bei den Berufsgenossenschaften 9 Millionen versichert seien. Ohne die Einbeziehung dieser Betriebe sei eine zweckmäßige Organi⸗ sation der Unfallversicherung gar nicht möglich. Die einzelnen Be⸗ triebe müßten den Berufsgenossenschaften beigesellt werden, zu denen sie ihrer inneren Natur nach gehören. Es müsse jede Zer⸗ splitterung vermieden werden.“
§ 640 besagt in seinem Eingang „Das Reich oder der Bundesstaat ist Träger der Versicherung, wenn der Betrieb für seine Rechnung geht, bei den Baggerei⸗, Binnenschiffahrts⸗, Flößerei⸗, Prahm⸗ und Fährbetrieben, es sei denn, daß die Betriebe den für sie errichteten Genossenschaften angehören“ und regelt den nachträglichen Beitritt, den Austritt und Wieder⸗ eintritt dieser Betriebe zur Genossenschaft.
Abg. Bassermann (nl.): Die Umlagen der Binnenschiffahrts⸗ berufsgenossenschaft sind ständig gewachsen, und sie sind doppelt lästig für die kleinen und mittleren Betriebe. Die Schiffer am Rhein befinden sich in einer argen Notlage. Wenn weiterhin die Schlepp⸗ betriebe, die für die preußischen Kanäle in Frage kommen, von der Versicherung ausgeschlossen werden, dann ist mit der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zu rechnen, daß das Anwachsen der Um⸗ lagen immer weiter gehen wird. Die Lage der Partikulierschiffer am Rhein ist so ungünstig, daß von der preußischen Regierung Hilfs⸗ aktionen eingeleitet sind, um diese Schiffer dadurch zu alimentieren, daß ihnen von den staatlichen Bergwerksdirektionen und von Großunternehmern Güter für den Transport zur Verfügung gestellt werden sollen. Das ist ein schwieriges Unternehmen, weil es voraussetzt, daß man diese Tausende von Partikulierschiffern unter einen Hut bringt, vor allem auch, weil nicht gleichlaufende Interessen vorliegen. Immerhin sind diese Bestrebungen sehr dankens⸗ wert und haben einen gewissen Erfolg aufzuweisen. Wenn wir nun bei dem Wachsen der Kanalbauten die staatlichen Betriebe heraus⸗ nehmen, so wird die Tragfähigkeit der ganzen Binnenschiffahrts⸗ berufsgenossenschaft in Frage gestellt. Aus allgemein volkswirtschaft⸗ lichen Erwägungen und angesichts der ungünstigen Lage der Partikulierschiffer wäre es erforderlich, die staatlichen Betriebe in der Berufsgenossenschaft zu lassen. Infolgedessen beantrage ich, den § 640 überhaupt zu streichen.
Abg. Hue (Soz.): Wir im großen und ganzen nur sich hier einmal wieder, wie wenig der Staat in der Lage ist, die kleinen und mittleren Existenzen zu schützen. Tatsache ist, daß die Partikulierschiffer wochenlang keine Fracht haben. Der Kriegsminister hat leider auch keine Anstrengungen gemacht, ihnen durch Ueberweisung von Frachten in ihrer Not zu helfen. Der preußische Fiskus hat erst neulich wieder unter Umgehung der Partikulierschiffer Verträge über Transporte abgeschlossen. Wir werden dem Antrage Bassermann entsprechen.
Für die Aufrechterhaltung des § 640 entgegen dem Antrage Bassermann stimmt mit der Rechten und dem Zentrum auch ein Teil der Nationalliberlalen unter Führung des Abg. Dr. Semler.
Der Rest des Abschnitts bleibt unverändert.
Der vierte Abschnitt „Verfassung“ umfaßt die §§ 662 bis 721.
§ 698 lautet:
„Der Vorstand verwaltet die Genossenschaft, soweit Gesetz oder Satzung nichts anderes bestimmen.“
Abg. Stücklen (Soz.) beantragt, daß der Vorstand bestehen soll zu zwei Dritteln aus Vertretern der Arbeitgeber, zu einem Drittel aus Vertretern der Versicherten. Das Verlangen der Arbeiter, an der Verwaltung der Berufsgenossenschaften beteiligt zu sein, ist durchaus berechtigt. Sie haben ein großes Interesse daran, bei der Rentenfestsetzung, der Prüfung des Unfalls usw. mitzureden. Freilich haben sich die Arbeitgeber wuͤtend dagegen gewehrt. Die Summen, die wirklich aufgebracht werden, sind winzig klein gegenüber der Un⸗ summe von Not und Elend, die durch den Unfall eines Familien⸗ vaters aus dem Arbeiterstande entstehen. Der Abg. Schmidt⸗ Altenburg, ein Mitglied der freikonservativen Partei, hat er⸗ klärt, man solle nicht immer klagen über die großen Lasten der Sozialgesetzgebung; sie seien wirklich ganz minimal. Der größte Teil der Mittel entfällt ohnehin auf die Verwaltungs⸗ kosten. Es scheint, daß versteckte Ehrengaben und Ehren⸗ besoldungen in diesen Verwaltungsausgaben enthalten sind. Eine ganze Anzahl von Berufsgenossenschaften hat es darauf abgesehen, durch eine möglichst ausgedehnte Rentenquetscherei die Veiträge der Unternehmer herunterzudrücken. Nahezu 50 % der Berufungen werden als berechtigt anerkannt, auch dies beweist, wie berechtigt das Interesse der Arbeiter an der Beteiligung bei der Verwaltung ist. Die Suüdbeutsche Berufsgenossenschaft bot einem Verletzten eine Ab⸗ findung an mit der Drohung, wenn er diese nicht annehme, werde er gar nichts bekommen, wenn erst die neue Reichsversicherungs⸗ ordnung zustande gekommen sei. Das ist doch unerhört. Auch andere Berufsgenossenschaften zeigen wenig Noblesse. Die Rente wird oft nach einem bestimmten Schema festgestellt, ohne die Lage des einzelnen Falles näher zu untersuchen. Für den Verlust eines Beines, eines Armes oder Auges wird ein fester Tarif aufgestellt. Die Berufsgenossenschaften finden dabei eine sehr willige Stütze in den Vertrauensärzten. Einem Arbeitersekretariat hat ein Privatarzt mitgeteilt, daß er wegen der Unannehmlichkeiten, die ihm bereitet würden, kein weiteres Gutachten ausstellen könne. Diese Unannehm⸗ lichkeiten können ihm doch nur durch die Unternehmer gemacht worden sein. Rentenquetschen sind auch die Heilstätten. Der Verletzte muß jahrelang mit der Berufsgenossenschaft kämpfen, um zu seinem Rechte zu kommen. Die Unternehmer versuchen alles, um aus den Kreisen der Unternehmer nur solche in die Schiedsgerichte zu bringen, die ihnen genehm sind, die sich als nicht allzu arbeiterfreundlich erwiesen haben. Die Berufsgenossenschaften haben auch die Aufgabe, die Ausführung der Unfallverhütungsborscheften zu überwachen. Die Vertreter lassen sich aber so gut wie gar nicht in den Fabriken sehen, worüber sich die Fabrikinspektoren wiederholt beklagt haben. Die Unternehmer wollen keine Kontrolle haben, sie wollen „Herren im eigenen Hause“ sein. Wir verlangen, daß die Arbeiter bei der Kon⸗ trolle mitwirken dürfen; dann werden auch die Unfallverhütungs⸗ vorschriften besser sein. Wenn man aber sieht, wie die Regierung vor den Unternehmern und Scharfmachern mutig zurückweicht, dann darf man auf die Erfüllung dieser Wünsche nicht rechnen.
Der Antrag Albrecht wird abgelehnt. §§ 718— 721 handeln von der „Vermögensverwaltung“.
Die Sozialdemokraten wollen einen § 720 b einschalten:
,,-Die Mittel der Berufsgenossenschaften dürfen nicht zur Unter⸗ stützung solcher Verhände verwendet werden, die die Arbeiter⸗ oder die Arbeiterorganisationen bekämpfen.“
Abg. Molkenbuhr (Soz.): Unser Antrag hat den Zweck, dem politischen Mißbrauch, der mit den Berufsgenossenschaften getrieben wird, entgegenzutreten. Die Regierung sieht hier allerdings keinen politischen Mißbrauch, sondern nur darin, daß ein Arbeiter, der im Vorstande einer Ortskrankenkasse sitzt, von seinem politischen Rechte Gebrauch macht. Eine Anzahl von Berufsgenossenschaften sind Mitglieder des Zentralverbandes deutscher Industrieller und zahlt an ihn Beiträge; das kann doch der Regierung nicht unbekannt sein. Mit welchem Recht duldet sie es, daß Gelder für diesen Ver⸗ band gezahlt werden? Der Verband treibt großkapitalistische Schuß⸗ zollpolitik und bekämpft alle sozialpolitischen Reformen. So lange ich Reichstagsabgeordneter bin, habe ich kein sozialpolitisches Gesetz . das er nicht bekämpft hätte. Dasselbe gilt auch von dem vorliegenden Gesetz. Immer hieß es, bei Annahme dieses Gesetzes würde die ganze deutsche Industrie zusammenstürzen.
Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.): Der Zentralverband deutscher Industrieller hat im vorigen Jahre einen Wahlfonds gegründet, um die Wahlen zu beeinflussen, und jetzt hören wir, daß dieser Fonds aus den Kassen der Berufsgenossenschaften gespeist wird. Was sagt der Abg. Heinze dazu, der unseren Kassen unbegründete Vorwürfe gemacht hat? Ueber diese politische kapitalistische Korruption entrüsten sich weder die Regierung noch die bürgerlichen Parteien. Wo es sich aber um die Bekämpfung der Sozialdemokraten handelt, ist ihnen jedes Mittel
recht. J 88 ob sie es fertig bringen, unseren Antrag zu
können diese Ausführungen unterschreiben. Es zeigt
Abg. Dr. Mugdan ffortschr. Volksp.): Sollten die von dem Abg. Schmidt⸗Berlin angeführten Mitteilungen richtig sein, so wär das ein Unfug, der von allen Seiten gebrandmarkt werden müßte⸗ Ich erwarte, daß die Regierung zwischen der zweiten und dritten Lesung uns Auskunft “ gibt.
Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.): Unser Material steht über allem Zweifel. Die Regierung müßte wissen, daß direkt durch die Berufs⸗ die Gruͤndung von Unternehmerverbänden unterstützt worden ist. 8
Abg. Dr. Semler inl.): Es kann nicht die Aufgabe einer Berufs⸗ genossenschaft sein, einer politischen Organisation irgendwelche Mittel zu geben. Darüber sind wir im ganzen Hause einig. Es ist aber Aufgabe des Reichsversicherungsamts, darüber zu wachen, daß das nicht geschieht. Die Berufsgenossenschaften sollen über den Parteien und nach den gemachten Erfahrungen stehen sie tatsächlich darüber. b 2
Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Die gese lichen Vorschriften lassen über die Verwendung der Mittel der genossenschaften keinen Zweifel. Entstehen Zweifel über die Ver⸗ wendung, so ist es Aufgabe des Reichsversicherungsamtes, einzuschreiten.
Der beantragte § 720b wird abgelehnt.
§ 722 — 725 betreffen die Aufsicht. § 722 weist die Aufsicht über die Berufsgenossenschaften dem Reichsversicherungs⸗ amt zu. Die Sozialdemokraten wollen einen § 722a einfügen:
„Dem Reichsversicherungsamt haben die Berufsgenossense haften auf Verlangen Auskunft über die Durchführung der Unfall⸗ versicherung und Unfallverhütung zu geben und die dazu not⸗ wendigen Erhebungen zu veranstalten.“
Abg. Severing (Soz.) befürwortet diese Einfügung. Besonders über die auf dem Gebiete der Unfallperhütung getroffenen Maßnahmen müsse Auskunft gegeben werden, auch zu dem Zwecke, um zu erfahren, ob die Gelder der Berufsgenossenschaft tatsächlich bestimmungsgemäß verwendet werden.
Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Nach meiner Ansicht ist das Reichsversicherungsamt als Aufsichtsinstanz in der Lage, diese Auskünfte zu verlangen, und der Antrag also überflüssig.
Abg. Severing (Soꝛz.) zieht hierauf den Antrag Albrecht zurück.
Der sechste Abschnitt (§§ 726 — 747) handelt von der Aus⸗ zahlung der Entschädigungen und der Aufbringung der Mittel. §§ 740.—747 a (Ansammlung von Reservefonds) werden in der Diskussion verbunden. § 747 a ist Zusatz der Kommission:
Der Bundesrat hat im Jahre 1921 dem Reichstag die gesetz⸗ lichen Vorschriften über Rücklagen zur erneuten Beschlußfassung vorzulegen. Ein Kompromißantrag Schultz und Genossen will statt „im Jahre 1921“ sagen „1913“.
Abg. Irl (Zentr.) kommt auf die großen Bedenken zurück, die die schließlich von der Kommission angenommenen Regierungs⸗ vorschläge über die Bildung der Rücklagen wachgerufen hätten, ver⸗ bleibt dabei, daß die Belastung der Industrie und der Landwirtschaft dadurch sehr leicht eine übermäßige werden könne, empfiehlt den Kompromißantrag, der die Revision schon für 1913 vorsehe, und wünscht abermalige Prüfung der Grundlagen der Regierungs⸗ vorschläge durch Sachverständige, die auch aus den Kreisen der Berufs⸗ genossenschaften zu entnehmen seien.
Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Die Reichsleitung ist für jede rechnerische Prüfung der Grund⸗ lagen der Bestimmungen für die Rücklagen zugänglich. Wir haben die Grundlagen durch Sachverständige prüfen lassen und sind dadurch in dem Vertrauen auf die Richtigkeit unserer Grundlagen nur bestärkt worden. Selbstverständlich konnen die ver⸗ bündeten Regierungen keine Veranlassung haben, eine übermäßige Belastung der Industrie und der Landwirtschaft zu begünstigen. Wenn der Wunsch ausgesprochen worden ist, daß Sachverständige vernommen werden möchten, auch aus den Kreisen der Berufsgenossen⸗ schaften, so kann ich zusagen, daß eine Kommissigg, zu der auch solche Sachverständige gehören, berufen werden wird. Der Termin bis 1913 ist aber zu eng, zumal sehr weitgehende und kostspielige Erhebungen zu veranstalten sind. Ueberzeugen sich die Sach⸗ verständigen von der Richtigkeit der Grundlagen, so wird eine Dent⸗ schrift genügen.
Abg. Dr. Görcke (nl.): Wir wollen unbedingt objektiv urteilen. Das ist in diesem Stadium gar nicht möglich, denn die Grundlagen, die uns jetzt zu Gebote stehen, sind außerordentlich schwankend. Wir haben 1909 einen Antrag gestellt, es möchten die Berufsgenossen⸗ schaften hinsichtlich der Ansammlung der Reservefonds entlastet werden. In der Begründung zur Vorlage ist gesagt, der Vorschlag der Regierung käme dieser damals angenommenen Resolution ent⸗ gegen. Das können wir jedoch nicht anerkennen. Die Straßen⸗ und Kleinbahn⸗Berufsgenossenschaft zahlt jetzt 956 000 Mark in den Reservefonds, würde später demgegenüber 4,6 Millionen zu zahlen haben. Aehnlich ist es mit anderen Berufsgenossenschaften, eine Erleichterung tritt jeden⸗ falls nicht ein. Deshalb wollen wir eine neue Prüfung vor⸗ nehmen, und wenn wir die Regierungsvorlage jetzt für zwei Jahre acceptieren, so geschieht es deshalb, weil wir die zu erwartende ebe nicht länger bestehen lassen wollen, als unbedingt nötig.
Abg. Dr. Doormann ffortschr. Volksp.): Eine neue Beschluß⸗
fassung über eine der wichtigsten Bestimmungen wird 1913 noch nicht möglich sein, das Umlageverfahren ist unheilvoll, was gegenwärtig als Reservefonds bezeichnet wird, ist überhaupt kein Reservefonds. Es sind vollkommen unzureichende Rücklagen, die sich versicherungs⸗ technisch gar nicht halten lassen. Wir erinnern an die Verhältnisse, die in Oesterreich bestehen. Die Zukunft wird ihre eigenen Lasten zu tragen haben, wir bitten wenigstens das Jahr 1916 ci zusetzen. Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.): Es handelt sich hier um den großen Gegensatz zwischen der Auffassung des Reichsamts des Innern und der der Berufsgenossenschaften. Wir können uns für das reine Umlage⸗ verfahren, wie es die Berufsgenossenschaften am liebsten durchführen möchten, nicht begeistern. Es führt zu der Neigung, die Versicherungs⸗ lasten herabzusetzen, die Renten zu kürzen und die Ausführung der Unfallversicherung zu beengen. Die Berufsgenossenschaften sind zwar vom reinen Umlageverfahren zu einer zwischen diesem und dem Kapitaldeckungsverfahren übergegangen. Vor⸗ zuziehen wäre das reine Kapitaldeckungsverfahren. Daß der Industrie Millionen von Kapital entzogen würden, die als totes Kapital für werbende Anlagen nicht mehr in Betracht kämen, ist unzutreffend, denn bei der Anlage von Reservefonds in Staats⸗ und Kommunal⸗ anleihen werden diese Kapitalien der Industrie indirekt wieder zu⸗ geführt. Die Unternehmer in den Berufsgenossenschaften hoffen nur, daß sie durch eine Nachprüfung im Jahre 1913 Vorteile für sich er⸗ reichen. Wir bitten daher um Ablehnung des Antrag.
Der Antrag Schultz wird angenommen.
Im übrigen werden die Bestimmungen über die Ri⸗
der Rest des 6. Abschnittes, desgleichen der 7. Abschnitt „Zweiganstalten“ und der 8. Abschnitt „Weitere Einrichtungen (8§ 842 — 846).
Der 9. Ahschnitt (8§ 847—889) betrifft die Unfaln⸗
verhütung und Ueberwachung“. . § 847, von der Kommission unverändert angenommen, autet:
„Die Berufsgenossenschaften sind verpflichtet, die erforder⸗ lichen Vorschriften zu erlassen über 1) die Einrichtungen und Anordnungen, welche die Mitglieder zur Verhütung von Unfällen in ihren Betrieben zu treffen haben, 2) das Verhalten, das die Ver⸗ sicherten zur Verhütung von Unfällen in den Betrieben zu beobachten haben. Unfallverhütungsvorschriften können auch für einzelne Be⸗ zirke, Gewerbszweige und Betriebsarten erlassen werden. In den Vorschriften ist zu bestimmen, wie sie dem Versicherten bekannt zu machen sind.“
“
Zwischenstufe
agen in der Kommissionsfassung angenommen, ebenso ohne Debatte
Abg⸗Korfanty (Pole) begründet einen Antrag der Polen auf Hinzu⸗ 1] folgender Bestimmung: „Wenn in einem Betriebe mindestens fiiguc, iter nichtdeutscher Muttersprache beschäftigt sind, so sind ihnen Unfalbverhüͤtungsvorschriften in ihrer Muttersprache bekannt zu machan, Leber (Soz.) begründet einen Antrag Albrecht, hinter 1 Jlichtet“ einzuschalten: „durch den Unfallverhütungsausschuß“, „verpn letzten Satz, wie folgt, zu fassen: „Ein Abdruck der für den und den Betrieb oder Betriebsteil geltenden Unfallverhütungs⸗ einenreien muß jedem Arbeiter auf Verlangen ausgehändigt vofthe⸗ An der Betriebsstätte muß ein Abdruck der Vorschriften den werdenerten in zweckmäßiger Weise zugänglich gemacht werden.“ Versulnfallverhütungsausschuß sei im Interesse der Arbeiter Ein und erforderlich. Der Redner begründet gleichzeitig einen Antrag zu dringe wonach die Vertreter der Versicherten nicht von den Beisitzern 8,0Sberversicherungsämter, sondern in geheimer, gleicher, direkter 1 bl nach dem Verhältniswahlverfahren von den Versicherten ge⸗ Welt werden, die in den zur Berufsgenossenschaft gehörigen Be⸗ mehen oder Betriebsteilen beschäftigt sind, und befürwortet die trrreichung der von der Kommission unverändert angenommenen 861 und 865, welche dem Reichsversicherungsamt eine Einwirkung zo; die Aenderung der Beschlüsse des Vorstandes und der Vertreter vf Versicherten über Unfallverhütung vorbehalten. der Abg. Gothein (fortschr. Volksp.) ist grundsätzlich für den Antrag un Polen, findet aber seine Fassung wenig glücklich. Nach dem gurtlaute des Antrages müßten unter Umständen die Aushänge in verschiddenen Sprachen erfolgen. Ich würde vorschlagen, zu fimmen, daß, wenn 25 Arbeiter in einem Betriebe beschäftigt sind, en sich derselben fremden Muttersprache bedienen, der Aushang in deren Sprache erfolgen muß. 3 . 1 Direktor im Reichsamt des. Innern Caspar: Die Berufs⸗ nenossenschaften haben jetzt schon in einer großen Zahl von Fällen, wo ein Bedürfnis vorlag, solche fremdsprachlichen Aushänge ange⸗ ordnet Der Antrag der Polen aber kann doch zu weit führen. Det lette Absatz des § 847 genügt. Die Anträge der Sozial⸗ demoktaten bitte ich ebenfalls abzulehnen. 3 3 Abg. S achse (Soz.): In Amerika genügen schon 20 einer fremden Sprache sich bedienende Arbeiter zu solchen fremdsprachlichen Aus⸗ hinnme Semler e(nl.): Der Antrag der Polen ist in der vorliegenden Forn undurchführbar, da er ein ganz starres Prinzip aufstellt. Einm zweckmäßigen Antrag würden wir keinen Widerstand entgegen sezen: bielleicht findet man bis zur dritten Lesung eine bessere Fassung.
Abg. Korfanty (Pole): Unser Antrag hat gar keine politische Tandenz sondern will nur einem praktischen Bedürfnis entsprechen, das auch von Gewerbeinspektoren anerkannt ist. Der Abg. Gothein hat bereits einen Verbesserungsantrag eingebracht; wir ziehen den unsrigen zu seinen Gunsten zurück.
Abg. Giesberts (Zentr.): Wir werden dem Antrag Gothein zustimmen, der ganz in der Richtung unserer Bestrebungen liegt.
Der Antrag Gothein wird gegen die Stimmen der Parteien der Rechten angenommen, die übrigen Anträge ab⸗ gelehnt.
Zzu § 855 begründet der
Arg. Sachse (Soz.) nochmals den Antrag Albrecht auf Ein⸗ führung der direkten Wahl der Kertreter der Versicherten für die Beratung und den Beschluß über die Unfallverhütungsvorschriften.
der Antrag wird abgelehnt; auch die §§ 864 und 865 werden aufrecht erhalten.
in die Vorschriften über die „Ueberwachung“ wollen die Sandemokraten zwei neue §§ 8732a und 873 b einschalten:
Mindestens müssen die Genossenschaften so viele technische Aufschtsbeamte anstellen, daß jede in der Genossenschaft ver⸗ schene Betriebsstätte alljährlich einmal besichtigt wird“.
„Non den technischen Aufsichtsbeamten muß mindestens 1 in dem Gewetbezweige, dem die versicherten Betriebe angehören, als Archeiter beschäftigt gewesen sein.“
Alg. Emmel (Soz.) tritt für diese Anträge ein. Jetzt dauere Lin manchen Berufsgenossenschaften 4, 5, ja 7, 8 und noch mehr Fabre, bis jeder Betrieb einmal revidiert sei, so z. B. bei der sächsisch⸗ täringichen und bei der nordwestlichen Eisen⸗ und Stahlberufs⸗
senschaft; bei der Müllereiberufsgenossenschaft würden sogar
Jahre vergehen, bis jeder Betrieb eine Revision erfahren habe.
wahres Muster bieten auf der anderen Seite einige Bau⸗
ffgenossenschaften. Allerdings sei gerade bei diesen auch die
der verhängten Strafen sehr hoch. Eine durchgehende regel⸗ näßige ährliche Revision jedes Betriebes sei unumgänglich, um die gahl der Unfälle zu vermindern. Um aber den Erfolg der Re⸗ disionen zu verbürgen, müsse auch der neu beantragte § 873 b an⸗ genommen werden.
Die Anträge werden abgelehnt.
Der zehnte Abschnitt, §§ 890 —895, betrifft die „Betriebe ind Tätigkeiten für Rechnung öffentlicher Verbände“. Nach § 892 sollen für die Reichs⸗, Staats⸗, Gemeindeverbands⸗ und Gemeindebetriebe, sofern sie Versicherungsträger sind, u. a. nicht gelten die Vorschriften über die Aufsicht und einen Teil der Vorschriften über die Unfallverhütung und Ueberwachung.
1 Abg. Molkenbuhr (Soz.) will diese Vorschriften auchden genannten Betrieben gegenüber in Geltung setzen. Fehle die Aufsicht des Reichs⸗ versicerungsamts, so sei in diesen Betrieben z. B. gegen die über⸗ mäßige Ausdehnung der Arbeitszeit gar keine Kautel gegeben. Die Unfallbverhütungsvorschriften müßten doch auch in diesen Betrieben
mindestens die gleichen sein, wie sie für jeden Privatbetrieb gelten.
§ 892 bleibt unverändert; ebenso gelangen die Kom⸗
I missionsbeschlüsse bis § 895 inkl. zur Annahme.
der elfte Abschnitt, §§ 896—905, betrifft die Haftung von Unternehmern und Angestellten. § 896 besagt: „Der Unternehmer ist Versicherten und deren Hinterbliebenen, wenn sie keinen Anspruch auf Rente haben, nach anderen sesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Schadens, den ein Unfall det in §§ 566, 568 bezeichneten Art (Betriebsunfälle und solche, ihnen gleichgestellt sind) verursacht hat, nur dann verpflichtet, in strafgerichtlich festgestellt worden ist, daß er den Unfall vor⸗ ich herbeigeführt hat.“ die Sozialdemokraten wollen den Eingang so fassen: Der Unternehmer ist Versicherten und deren Hinterbliebenen, 3 49 sie einen Anspruch auf Rente haben zꝛc.“ dog. Dr. Frank⸗Mannheim (Soz.): Unser Antrag ist für den u gestellt, daß der verletzte Arbeiter keine Rente bekommt. Ohne nirde armen, schwer geschädigten Leuten die Möglichkeit genommen dz ihre wohlerworbenen Ansprüche durchzusetzen. Nehmen Sie val, daß ein Arbeiter durch die grobe Fahrlässigkeit des Unter⸗ is unter Hinterlassung alter Eltern tödlich verunglückt. trag der Eltern auf Hinterbliebenenrente wird nach Lage der ie cung abgelehnt, weil das hauptsächlichste Einkommen der Einicht aus dem Verdienste des getöteten Sohnes herrührte. volsth nach Fertctn Wochen auch der Vater, so bleibt eine genojäi erwerbslose, hilflose Witwe zurüͤck, die der Berufs⸗ dan achaft gegenüber keinen Anspruch auf Rente hat, selbst Fäfnne n wenn der Unternehmer wegen Herbeiführung einer fahr⸗ Anscna'tung zwei Jahre eingesperrt wird. Ueberall, dort, wo ein venn Nauf Rente nicht besteht, wäre es ein schreiendes Unrecht, gnan die Hinterbliebenen von Arbeitern hindern wollte, beim hr Recht zu suchen. „Dove (fortschr. Volksp.): Ich möchte den Antrag unter⸗ . denn die vollständig korrekten Ausführungen des Kollegen führen zu dem Resultat, daß hier nur ein Versehen des Gesetz vorliegen kann. Wenn § 896 aufrecht erhalten bleibt, ist Versicherte schlechter gestellt als der nicht Versicherte. jemand eine Rente auf Grund der Versicherungs⸗
8 8g
gesetzgebung bezieht, so ist damit der zivilrechtliche Anspruch be⸗ glichen. Im anderen Falle aber muß der Versicherte gegen den⸗ jenigen, der durch Fahrlässigkeit seinen Unfall herbeigeführt hat, den Anspruch auf Entschädigung haben. Als gutgläubiger Mensch kann ich nur annehmen, daß man die Bestimmungen, wie sie jetzt ver⸗ schachtelt sind, nicht übersehen hat. Die finanzielle Tragweite wird bei der Seltenheit der Fälle gering sein, um so größer aber das Ge⸗ fühl einer bitter ungerechten Behandlung, wenn ein solcher Fall ein⸗ mal eintritt.
Abg. Dr. Semler (nl.): Für den Augenblick kann ich die Trag⸗ weite nicht übersehen. Wir wissen insbesondere nicht, was die Sache schließlich kosten kann. (Lachen links.) Ist Ihnen das gleichgültig? Wir wollen aber die Sache gern noch einmal in Erwägung nehmen und hoffen, bis zur dritten Lesung einen Weg zu finden, den Wünschen des Antrags gerecht zu werden.
Abg. Dr. Frank (Soz.): Unser Antrag mutet keineswegs den Berufsgenossenschaften Ausgaben zu, wir wollen nur nicht, daß der Verunglückte seinen Anspruch verliert, selbst wenn der Schuldige durch Urteil festgestellt ist. Es kommt auf das Zentrum an, ob die Ar⸗ beiter in diesem Punkte zu ihrem Rechte kommen oder nicht.
Abg. Trimborn (Zentr.): Die tatsächlichen Angaben Dr. Franks sind richtig; wir werden daher bis zur dritten Lesung die Frage prüfen, da wir uns erst über die volle Tragweite klar werden müssen.
Abg. Dove (fortschr. Volksp.): Wenn der Mehrheit der Antrag grundsätzlich als berechtigt erscheint, so kann sie ihm ja heute zu⸗
stimmen und ihn nach der Prüfung in der dritten Lesung event. ab⸗
lehnen. Bei dritten Lesungen geht es häufig sehr im Galopp. Ich habe mich getäuscht, als ich sagte, die finanzielle Tragweite sei gering, ich gebe Dr. Frank zu, sie ist gar nicht vorhanden. Entschließen Sie sich zugunsten des Antrages, wenn es Ihnen auch schwer wird.
Abg. Dr. Semler (nl.) Wir haben schon wiederholt versucht, den Wünschen der Sozialdemokraten entgegenzukommen. Der Abg. Dove erschwert uns aber den Entschluß der Prüfung, wenn die Antwort so⸗ fort erfolgen soll, deshalb wollen wir noch erwägen, und wenn es irgend geht, entgegenkommen.
Der Antrag wird mit den Stimmen der Linken, der Polen und eines Teils des Zentrums angenommen.
Der 12. und letzte Abschnitt des ersten Teils Strafvorschriften (§§ 906 912).
Zu § 911, wonach der Unternehmer die ihm auf Grund dieses Gesetzes obliegenden Pflichten Betriebsleitern und, soweit es sich nicht um Einrichtungen auf Grund von Unfallverhütungs⸗ vorschriften handelt, auch Aufsichtspersonen oder anderen An⸗ gestellten seines Betriebes übertragen darf, befürwortet der Abg. Lehmann⸗Wiesbaden einen Antrag, wonach die Uebertragung nur auf Betriebsleiter und nur insoweit zulässig sein soll, als es sich nicht um Einrichtungen auf Grund von Unfall⸗ verhütungsvorschriften handelt.
Der Antrag wird abgelehnt, § 911 genommen, ebenso § 912.
Hierauf wird gegen 7 ½¼ Uhr die ung Donnerstag, 1 Uhr, vertagt. L 8 8
betrifft die
unverändert an⸗
1I“
66
78. Sitzung vom 17. Mai 1911, Mittags 12 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.) Auf der Tagesordnung steht die zweite Beratung des
Gesetzentwurfs, betreffend die Feuerbestattung. 8 Die 15. Kommission hat die Vorlage, nachdem sie einige
erschwerende Bestimmungen eingefügt hatte, bei der Gesamt⸗
abstimmung im ganzen mit 7 gegen 7 Stimmen abgelehnt.
§1, der auch bei der Einzelabstimmung in der Kommission mit Stimmengleichheit abgelehnt worden ist, lautet in der Fassung der Regierungsvorlage:
„Die Feuerbestattung darf nur in landespolizeilich genehmigten Anlagen erfolgen.“
Der erste Teil der Verhandlungen des Hauses hierüber ist bereits in der gestrigen Nummer d. Bl. auszugsweise wieder gegeben worden.
Abg. Müller⸗Koblenz (Zentr.): Man wendet sich gegen unsere Bekämpfung des Wortes „Feuerbestattung“. Aber Feuerbestattung trifft nicht das Richtige. Man könnte höchstens von einer Leichen⸗ verbrennung und einer Bestattung der Asche reden. Gerade die⸗ jenigen, die ein begeistertes Lob der Flammen gesungen haben, haben sich nicht gescheut, von einer Leichenverbrennung zu reden. Man hat die Schönheit des Verbranntwerdens in Poesie und Prosa geschildert. Man hat die Feuerverbrennung als Kulturträger gefeiert. Ein schönes Wort: Kulturträger, obwohl es etwas von dem guten Klang verloren hat durch die letzte Wahlrechtsvorlage. Als Kronzeugen für die Feuerbestattung werden in trautem Verein Müller⸗Meiningen, August Bebel und Exzellenz Haeckel angeführt. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) Ja, Haeckel heißt er, aber Exzellenz ist er. Wir bleiben bei der Stellung, die wir von Anfang an eingenommen haben. Die Erdbestattung ist eine geheiligte christliche Sitte der Kirche. Durch die Leichenverbrennung wird das Empfinden des christlichen Volkes schwer verletzt und werden nur Freimaurerlogen, Freidenkertum und die Sozialdemokratie gefördert. Ein Professor Ostwald hat die Aschenaufbewahrung selbst als einen Ueberrestides Fetischismus bezeichnet. Den Einwand, daß der Erde durch die Leichenverbrennung Stickstoff entzogen werde, widerlegt er damit, daß es jetzt gelungen sei, die Bindung des freien Stickstoffs zu erreichen. Wir halten an der alten christlichen Sitte des Begrabens fesr. (Zuruf von links: Sie können sich ja möglichst bald begraben lassen! — Lebhafte „Pfui!“⸗Rufe im Zentrum und große Unruhe.)
Präsident von Kröcher: Dieser Zwischenruf, daß sich ein Mit⸗ glied des Hauses möglichst bald begraben lassen soll, war durchaus ungehörig. Ich bitte, solche ungehörigen Zwischenrufe zu unterlassen.
Abg. Müller (fortfahrend): Die Feuerbestattung ist von Anfang an in ihrer Tendenz dem Christentum feindlich gewesen. Bei⸗ der Gründung eines Krematoriums in Nürnberg waren die Hauptzahl derjenigen, die dafür eingetreten sind, Sozial⸗ demokraten. So eng hängt die Feuerbestattung mit der Sozial demokratie zusammen. Gegen die enge Umarmung des inter⸗ nationalen Freidenkerbundes haben sich die Feuerbestattungs⸗ vereine nicht im geringsten gewehrt. Die kriminalistischen Bedenken sind keineswegs aus dem Wege geräumt. Diese Vorlage zeigt, ebenso wie das Pflichtfortbildungsschulgesetz, daß die Regierung immer versagt, wenn es sich darum handelt, den christlichen Geist zu⸗ stärken. Man sagt, die Feuerbestattung habe nichts mit christlichen oder anti⸗ christlichen Tendenzen zu tun, es handle sich nur um Zweckmäßig⸗ keitsfragen; aber gerade durch dieses Argument wird das Moment der Toleranz ausgeschaltet. Wenn es sich nur um Zweckmäßigkeitsfragen handelt, dann kann man damit die Unterdrückung jeder Erdbestattung möglicherweise rechtfertigen. Aber wir wollen, daß im christlichen Staat auch die alte christliche Bestattungsweise weiter aufrecht erhalten wird. Wie nicht jeder bauen darf, wie er will, wie sich nicht jemand in Spiritus setzen lassen darf, so wollen wir eine Vorschrift, daß in der Bestattungsform die alte christliche Sitte beibehalten wird. In diesem Gesetz handelt es sich auch um einen Akt der Intoleranz der Minderheit gegen die Mehrheit. Die Krematorien müßten sonst nur von denen bezahlt werden, die den Spaß davon haben; jetzt werden auch die Gegner bei der Er⸗ richtung von städtischen Krematorien zu den Kosten herangezogen. Wenn Sie sagen, Sie wollen keinen Zwang ausüben, dann müssen Sie diesen Standpunkt in allem durchführen.
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Tendenzen auf Schwäch
Minister des Innern von Dallwitz:
Meine Herren! Der Herr Vorredner hat seine über Ausdruck gegeben, daß Ihnen von der Königlichen Staats⸗ regierung lediglich aus einem weitgehenden Entgegenkommen gegenüber vereinzelten Wünschen liberaler Kreise die heute zur Beratung 8 stehende Gesetzesvorlage vorgelegt worden sei. Der Herr Vorredner ist hierbei von durchaus unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen, (na, na! im Zentrum), die ich bestimmt zurückweisen muß.
Er nimmt an, daß in den letzten Jahren eine Veränderung der Verhältnisse, welche die Stellungnahme zur Frage der Feuerbestattung bedingen, in keiner Weise stattgefunden habe. Das ist nicht richtig; denn es liegt seit dem Jahre 1907 zunächst das mehrfach besprochene Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts vor, welches in ganz unan⸗ fechtbarer Weise ausdrücklich den bestehenden Rechtszustand dahin er⸗ läutert hat, daß ein Verbot der Leichenverbrennung in Preußen nicht existiere und daß die Leichenverbrennung im einzelnen Falle nur aus polizeilichen Gründen durch polizeiliche Maßnahmen gehindert werden könne, daß aber ein verfassungsmäßiges oder gesetzliches Bedenken an sich der Vornahme der Leichenverbrennung nirgends entgegenstehe. Es liegen ferner übereinstimmende Beschlüsse dieses hohen Hauses und auch des Herrenhauses (Lachen und Zurufe im Zentrum: Zufalls⸗ mehrheit!) vor, welche im vorigen Jahre gefaßt worden sind, und die zwar keineswegs allein für die Königliche Staatsregierung bestimmend gewesen sind, eine solche Vorlage in diesem Jahre einzubringen, die aber doch für die Regierung zweifellos ein Anlaß sein mußten, der Frage erneut nachzugehen, ob die früher geltend gemachten Bedenken überall noch aufrecht erhalten werden können, oder ob nicht doch neue Gesichtspunkte, die sich im Laufe der Jahre herausgestellt haben, ge⸗ geben sind, die es zweckmäßig erscheinen lassen, nunmehr eine gesetz⸗ liche Regelung herbeizuführen, gegen welche auch regierungsseitig früher Bedenken geltend gemacht worden sind.
Meine Herren, zu diesen Gesichtspunkten gehört der Umstand, daß ein wesentlicher Teil der kriminalistischen Bedenken abgeschwächt oder fortgefallen ist (Oh, oh! im Zentrum, sehr richtig! links), und ferner die Tatsache, daß es sich als möglich erwiesen hat, die kriminalistischen Bedenken, die noch übrig geblieben sind, bis auf ein Minimum durch geeignete Kautelen, wie sie in der Vorlage enthalten sind, auszuschalten und wegzuräumen.
Es liegt sodann aber ferner noch ein Novum vor, und das ist einer der Gründe, die hauptsächlich für die Regierung ausschlaggebend ge⸗ wesen sind, wenn sie in diesem Jahre die Vorlage gebracht hat, nämlich die Tatsache, daß die Zahl der Krematorien, die an den preußischen Grenzen infolge der Gesetzgebung der anderen deutschen Staaten errichtet worden sind, sich in den letzten 4, 5 Jahren ganz außerordentlich vermehrt hat. (Sehr richtig! links.) Das ist eine Tatsache, welche die Königlich preußische Staatsregierung berück⸗ sichtigen mußte, weil hieraus wichtige Konsequenzen für ihre Stellung⸗ nahme zur Feuerbestattung sich ergeben, nämlich die Möglichkeit, daß jetzt schon jeder Preuße, der die nötigen Mittel dazu besitzt, seine Leiche in einem der an der Grenze belegenen Krematorien verbrennen lassen kann, daß auch von dieser Möglichkeit in weitem Umfange Ge⸗ brauch gemacht wird, daß aber irgendwelche Kautelen dabei nicht an⸗ gewandt werden können (sehr richtig! links), um Verbrechen zu ver⸗ hüten und ihnen vorzubeugen, daß also in dieser Beziehung krimi⸗ nalistische Bedenken bestehen, wie sie gerade von den Gegnern der Feuerbestattung zur Bekämpfung der Vorlage geltend gemacht werden.
Dieser tatsächlichen Entwicklung in Verbindung mit der ver⸗ änderten Stellungnahme der beiden Häuser des Landtages, in Ver⸗ bindung mit der Klärung, die die Entscheidung des Oberverwaltungs⸗ gerichts über die Rechtslage gebracht hat, hat die Königliche Staats⸗ regierung Rechnung tragen zu müssen geglaubt, indem sie Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, welcher meines Dafürhaltens jedenfalls die früher geltend gemachten kriminalistischen Bedenken ausgeschaltet und ausgeräumt hat. Darüber will ich mich aber jetzt nicht weiter äußern.
Dagegen möchte ich ausdrücklich hervorheben, daß die Königliche Staatsregierung trotz der veränderten Verhältnisse nicht daran gedacht haben würde, Ihnen diese Vorlage zu unterbreiten, wenn sie der An⸗ sicht wäre, daß dadurch irgendwie eine Schwächung der religiösen An⸗ schauungen (na, na! im Zentrum) in unserem Volke herbeigeführt werden könnte oder daß berechtigte Empfindungen weiter christlicher Volkskreise durch diese Vorlage und ihre Konsequenzen beeinträchtigt und verletzt werden könnten. Das ist aber nicht der Fall, denn die Vorlage geht von dem Gesichtspunkte aus, meine Herren, daß unter vollster Wahrung und Aufrechterhal⸗ tung der ehrwürdigen altchristlichen Sitte der Erdbestattung lediglich Andersdenkenden, also solchen Personen, die entweder keiner der christlichen Religionsgesellschaften angehören oder die aus sonstigen Gründen für ihre Person an dieser alten christlichen Sitte nicht fest⸗ halten wollen, die Möglichkeit gegeben werden soll, für ihre Person eine andere Art der Bestattung zu wählen. Die auch meines Dafür⸗ haltens unbedingt gebotene Berücksichtigung der alten christlichen Volkssitte der Erdbestattung kann doch nur dazu führen, daß durch eine Regelung, wie sie hier vorgeschlagen wird, unbedingt ausgeschlossen werden muß, daß jemand, der für seine Person an der althergebrachten christlichen Sitte festhalten will, der den Wunsch und den Willen hat, in der von den Vätern überkommenen Weise zur Erde bestattet zu werden, in diesem Vorhaben irgendwie beeinträchtigt wird, daß mithin der großen Mehrheit unseres Volkes nach wie vor die Garantie gegeben sein muß, daß ihren Wünschen und ihrem Willen in dieser Beziehung in keiner Weise zu nahe getreten werden darf. Die hierzu erforderlichen Kautelen sind in dem Gesetz enthalten. Denn das Gesetz sieht lediglich die fakultative Feuerbestattung vor, und zwar nur für die Fälle, in denen der Verstorbene ausdrücklich seinen ernsten Willen, in anderer Weise bestattet zu werden, noch zu Lebzeiten zum Ausdruck gebracht hat. Daß darin eine Verletzung der An⸗ schauungen derjenigen, die an der alten christlichen Sitte festhalten, enthalten sein kann, vermag ich in keiner Weise zuzugeben. (Sehr richtig! links.) Es ist lediglich ein Gebot der Billigreit gegenüber Andersdenkenden, wenn man ihnen gegenüber nicht einen Zwang zur Erdbestattung dann aufrecht erhält, wenn sie durch ihre Ueberzeugung, durch sonstige triftige Gründe ernsthaft zu dem Entschluß gedrängt worden sind, für ihre Person den Modus der Feuerbestattung zu wählen.
Ich kann mithin nochmals betonen, daß es der Königlichen Staatsregierung fern gelegen hat, irgend welchen Wünschen und ung der christlichen Anschauungen in unseren 8 1 1X““ 8
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