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Er würde doch schwerlich als Geschäftsmann anders verfahren. Wir
b s 69 7 s. 9 23 9 9 1 8 5 sozialen Fragen absolut kein Verlaß ist. Die Mehrbelastung wäre
kräfte ausnützt und die b g ringer wird. Die versicherten Arbeiternehmer sind auch gern bereit,
Verhandlungen über die Finanzreform hat niemand an die Herabsetzung der Altersgrenze auf das 65. Jahr gedacht. Die Forcierung dieses Gedankens ist erst neueren Datums. Wer loyale und praktische Politik treiben und die Versicherungsordnung nicht zu Fall bringen will, muß den Weg betreten, den die Kommission gewählt hat. Die Textilindustrie könnte ja vielleicht jenen Schritt machen, aber der größte Teil der übrigen Industrie nicht. Die Verwunderung darüber, daß der Staatssekretär die in Betracht kommenden Beträge kapitalisiert hat, ist bei dem Abg. Stresemann durchaus unangebracht.
können für die Verabschiedung des Gesetzes doch nur die Einnahmen nehmen, die uns zu Gebote stehen. Ob der Abg. Stresemann nach Pfingsten eine neue Steuer vorschlagen will, muß ich ihm überlassen. Mit dem Herzen bin ich auch für die Herabsetzung der Altersgrenze, aber mit dem Herzen allein bih s feisese iehe machen, und des verden wir für die Kommissionsbeschlüsse stimmen.
r da eee potthoff (fortschr. Volksp.): Dem Abg. Becker bemerke ich, daß ich seine Einladung, mit den christlichen Arbeitern über diese Frage zu konferieren, gern annehme. Das Unannehmbar der Regierung dürfen wir nicht als tragisch nehmen, weil die Industrie sich gegen die Herabsetzung der Altersgrenze erklärt hat, sondern weil die Regierung des Umfalls des Zentrums sicher ist,. und zweil anderer⸗ feits auf einen Arbeitervertreter vom Schlage des Abg. Becker in
unter keinen Umständen so hoch, wie die Regierung ausgerechnet
Die Bedeutung der Herabsetzung wird außerordentlich rasch sinken, weil die Industrie in immer stärkerem Maße die Arbeits⸗ Zahl der Arbeiter von 65 Jahren immer ge⸗
die kleine Erhöhung der Beiträge in den Kauf zu nehmen, auch die Arbeitgeber haben keine Ursache, sich gegen die Erhöhung zu⸗ sträuben, weil sie bei der Krankenversicherung 56 Millionen jährlich sparen. Wenn sie jetzt 10 Millionen für die Altersversicherung beitragen, so ist dies wahrlich nicht viel. Das Reich würde wenig oder gar nicht belastet werden, da es als Arbeitgeber durch die Drittelung der Krankenbeiträge einen großen Vorteil hat, so daß der Zuschuß wieder ausgeglichen werden würde. Gewiß ist die Herabsetzung der Altersgrenze nicht das wichtigste; ich halte die Verbesserung der Invalidenrente für wichtiger. Aber entsprechende Anträge sind ja von Ihnen abgelehnt worden. Gerade das Zentrum ist Schuld daran, daß diese Anträge nicht an⸗ genommen worden sind. Werden Sie unsere weiteren Anträge annehmen; Wenn dies der Fall ist, so könnten wir auf die Herabsetzung der Alters⸗ grenze verzichten. Aber weil Sie alles abgelehnt haben, was wir zur Verbesserung der Invalidenversicherung vorgeschlagen haben, deshalb ziehen wir uns auf diesen bescheidenen Antrag zurüͤck. Zwischen dem, was wir heute hier gesagt haben und was von uns in der Kommission gesagt worden ist, besteht kein Widerspruch. Der Abg. Becker hat falsch zitiert und uns in den Mund gelegt, was in bezug auf die Reichseinkommen⸗ steuer die Meinung der Sozialdemokraten war. In der ersten Lesung war die Reichsversicherungsordnung in vielen Punkten in unserem Sinne geordnet, damals konnten wir nicht wünschen, daß die Vorlage scheiterte. Aber in der zweiten und in der Ausgleichslesung kam der berühmte Umfall des Zentrums und dies und die Konservativen strichen alle die schönen Vorschriften. Was ist denn übrig geblieben? Wegen der Verschlechterung der übrigen Teile der Versicherungsordnung können wir auf diesen unseren Antrag nicht verzichten. Das Unannehmbar der Regierung beruht auf einem Irrtum. Die finanziellen Erwägungen, auf denen es beruhte, sind falsch, ebenso wie die politischen Erwägungen. Hoher Bundesrat, Du bist ja auch schon so oft umgefallen! Ich erinnere nur an die. Heizerzulagen. 1 Der Reichstag hat sich schließlich zu unserer Ansicht bekehrt, und der Bundesrat hat ruhig sein Unannehmbar wieder in die. Tasche gesteckt. An der Frage der Altersgrenze darf er die Vorlage nicht scheitern lassen; tut er es doch, so trifft ihn allein die Verantwortung. Ich muß ziemlich entschieden gegen die absolut wahrheitswidrige Denunziation des Abg. Becker Widerspruch erheben. (Präsident Graf von Schwerin⸗Löwitz: Ich muß diesen Ausdruck ent⸗ ieden rügen! Eüe 1 Direkior hn Reschsamt des Innern Caspar: Die Bedeutung der Altersrente ist tatsächlich, wie sich statistisch ergeben hat, zutück⸗ getreten. Die Zahl der Altersrentner beträgt seit 6 Jahren konstant 6000. Die von dem Abg. Potthoff angestellten Berechnungen können die Darlegungen der Regierung nicht erschüttern. 8 Abg. Bruhn (D. Rfp.): Wir müssen die Versprechungen halten, die wir dem Volte gegeben haben, weisen es aber zurüuck, daß wir damit die Vorlage gefährden wollen. Wir werden deshalb für die Herabsetzung stimmen und lassen uns nicht einschüchtern. Abg. Gothein (fortschr. Volksp.): Die Berechnungen, die die Abgg. Molkenbuhr und Potthoff aufgestellt haben, sind von der Re⸗ gierung nicht widerlegt worden. In künstlicher Weise ist das Kapital⸗ deckungsverfahren hier ins Feld geführt worden. Wie will denn der Abg. von Gamp für das Reich eine Bilanz aufstellen? Sie müssen dann doch auch die Einnahmen kapitalisieren. Die Belastung durch die Landesverteidigung beträgt 48 000 Millionen, Herr Schatzsekretär! Das zeigt, wie verschwindend klein die Ausgabe ist, die das Reich für soziale Zwecke macht. England wendet ganz andere Summen auf, es hat aber auch eine unendlich vernünftigere Finanzpolitik als das Deutsche Reich. Die lex Trimborn hat bekanntlich nicht entfernt gebracht, was sie für die Wittwen⸗ und Waisenversorgung bringen sollte; es sind nur 47 Millionen aufgekommen und im vorletzten und letzten Jahre überhaupt nichts. Der Abg. Trimborn hat sich seines Kindes von damals so wenig angenommen, daß er sich bei dieser ganzen Debatte nicht einmal gemeldet hat! Der Abg. Herold war dame ls der schlauere; er meinte, diese erhöhten Zölle erfuͤllten ihren Zweck am besten, wenn sie gar nichts einbrächten, und der Abg. Herold hat recht behalten und nicht der Abg. Trimborn. Die Dupierten sind die Millionen von Arbeitern, die hinter dem Abg. Becker stehen. Sorgen Sie doch dafür, daß unser Antrag bezüglich der Einfuhr⸗ scheine durchgeführt wird, dann haben Sie jährlich 40 Millionen mehr in der Reichskasse, aber davon will die Mehrheit nichts wissen. Unsere Forderung ist eine Forderung des Anstandes, billigen wir doch jedem Beamten das Recht zu, sich mit 65 Jahren pensionieren zu lassen. Die Rechnung des Staatssekretärs und des Direktors Caspar ist falsch, die meisten Altersrentner haben wir in der Landwirtschaft und da arbeiten sie fast alle noch mit. Der Abg. Becker kommt mit der Dividendensteuer. Was ist denn das für eine Forderung? Sie wollen einer Witwe, die vielleicht 500 ℳ Rente hat, eine Steuer ab⸗ nehmen, aber den großen Landwirt mit Millionen Einkommen steuerfrei lassen? Das ist eine rein demagogische Forderung. Machen wir doch ein⸗ mal eine Reichseinkommensteuer! Wir sind gern bereit, an der Reichs⸗ versicherung mitzuwirken; aber jede Verschlechterung, jeden Bruch eines Versprechens können und wollen wir nicht mitmachen. Dem Mutigen gehört die Welt, auch dem Bundesrat gegenüber! Abg. Dr. Arning (nl.): Ich muß von meinem Standpunkt als Arzt aus für die Altersgrenze von 65. Jahren eintreten. Daran darf mich auch das Unannehmbar der Regierung nicht hindern. 8 Abg. Dr. Südekum (Soz.): Ich kann mir vorstellen, daß die Verlegenheit der Zentrumspartei nicht klein ist, und daß sie das Vorgehen der Liberalen mit recht gemischten Gefühlen be⸗ trachtet. Denn es war ein Nationalliberaler, der in der Kommission, um das Kompromiß zustande zu bringen, vom Zentrum den Schwur verlangte, daß es in keinem E. über die Vorlage hinaus⸗ gehen solle. Der Abg. Becker, der sich als Vertreter von 1 200 000 christlichen Arbeitern einführt, stutzt seine Stellungnahme auf das Unannehmbar der Regierung. Diese wieder wird begründet mit einem Hinweis auf die Unerschwinglichkeit der Lasten. Diese Begründung bat der Abg. Molkenbuhr schlagend zurückgewiesen. Glaubt einer im Zentrum, daß die Regierung wirklich das Gesetz an der Herabsetzung der Altersgrenze scheitern lassen wird⸗ (Rufe im Zentrum: Ja!) Sie denkt gar nicht daran, weil sie die Verantwortung vor dem Lande dafür nicht übernehmen kann. Es ist einfach ein politischer Bluff! Welche Stürme der Heuterkeit sind hier im Hause ausgelost worden, als die Regierung erklärte: Wir bleiben
Sie den Reichstag auflösen! Ueber das gute Herz der Industriellen, die hinter dem Abg. Stresemann stehen, haben auch wir unsere eigenen Gedanken, aber das ist uns gleichgültig, denn wir stimmen nicht über Motive, sondern über einen Antrag ab. Ein Initiativantrag der Reichspartei liegt vor uns, der u. a. die Herabsetzung auf das 65. Lebensjahr verlangt, aber noch eine Reihe anderer Vorschläge macht. Keinen einzigen von diesen hat die Reichspartei in der Kommission aufgenommen oder vertreten! Aus welchen Motiven mag also wohl dieser Antrag hervorgegangen sein? Die Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit des Arbeiters nimmt mit dem 65. Jahre, wie Dr. Arning hier soeben treffend ausgeführt hat, rapide ab; die Belastung verschiebt sich nur, denn tritt nicht die Altersrente ein, so muß die Verwandtschaft oder die Armenpflege sich des Alternden annehmen. Hier will das Zentrum nun seine Hilfe versagen. Der Abg. Becker brauchte ein Bild aus der Jagd. Er sprach von den Hasen, die man fangen wolle. Wenn ich auch ein Bild aus dem Jagdleben brauchen darf, so muß ich sagen, er hat einen Bock geschossen. Es gibt keinen katholischen, keinen konfessionell organisierten Arbeiter, der es für möglich und wahr hält, daß die verbündeten Regiernngen das Gesetz an dieser Frage scheitern lassen. Der Abg. Becker erinnert mich an jenen Helden, der sagte: Ich fliehe, um noch öfter zu kämpfen; er aber floh, um öfter noch zu fliehen. Abg. Stresemann (nl.): Wenn dem Abg. Becker über meine Stellungnahme nichts bekannt wird, so kann ich dafür nicht. Ich kann nur versichern, daß ich erst vor kurzem in einer Versammlung den Herren von der Industrie geraten habe, der Reichsversicherungs⸗ ordnung in der Gestalt, wie sie Gesetz werden soll, zuzustimmen. Ich habe mich nicht gescheut, in den Reihen der Industrie für solche sozialpolitischen Fortschritte mich einzusetzen, die ich für vertrethar halte, sowohl für die Herabsetzung der Altersgrenze wie für die Ver⸗ sicherung der Privatbeamten. Wir sind Mandatare des deutschen Volkes. Deshalb sollte man es auch unterlassen, auf die Berufestellung eines Ab. geordneten Bezug zu nehmen und ihn in Widersprüche zu bringen, die tatsächlich nicht existieren. Wenn der Abg. Becker meinte, durch meine Einwirkung auf die Industriellen könnte erreicht werden, daß die verbündeten Regierungen zustimmten, so ist das schmeichelhaft für mich, aber nicht für die verbündeten Regierungen. Frei⸗ herr von Gamp hat mich mißverstanden. Ich habe darauf hingewiesen, daß von den Vertretern der Industrie die Forderung der Herabsetzung der Altersgrenze als eine solche angesehen würde, der man zustimmen und für die man auch die Lasten aufbringen könnte. Wenn Freiherr von Gamp weiter meinte, ein großer Teil müsse Opfer auf sich nehmen, um einem kleinen Teile Vergünstigungen zu ge⸗ währen, so ist dies das Prinzip jeder Versicherung. Die unsinnige Thesaurierung bei den Berufsgenossenschaften sollten wir bis zur dritten Lesung noch einer Revision unterziehen, um nicht soviel werbendes Kapital aus der Volkswirtschaft heraus⸗ zunehmen. Im übrigen stehen meine sämtlichen Freunde auf dem Standpunkt, daß wir die Reichsversicherungsordnung durch⸗ bringen wollen, weil wir sie als einen großen sozialen Fortschritt an⸗ sehen und es aufs tiefste bedauern würden, wenn dieser Reichstag auseinanderginge, ohne sie zustande gebracht zu haben. Dagegen ver⸗ trauen wir aber auch der Unterstützung der verbündeten Regierungen. Die Forderung der Altersherabsetzung ist unsere einzige Forderung, und an dieser dürfen die verbündeten Regierungen das Gesetz nicht scheitern lassen.
Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Delbrück:
Meine Herren! Durch eine Reihe von Ausführungen, die wir soeben gehört haben, ging die Auffassung hindurch, daß die von mir vorhin abgegebene Erklärung über die Stellungnahme der verbündeten Regierungen zu dem jetzt zur Diskussion stehenden Antrag auf falschen Voraussetzungen bezw. auf einer falschen Berechnung beruhe. Ich kann das nicht anerkennen, ich muß die grundsätzliche Richtigkeit der Ausführungen, die ich vorhin gemacht habe, aufrechterhalten. Die Sache ist nicht erledigt mit den 20 Millionen Mark Belastung der Vesicherungsträger; es muß zweifellos auch gerechnet werden mit einem erheblichen Ausfall an Beiträgen durch die frühere Invalidi⸗ sierung der Arbeiter, weil man damit rechnen muß, daß der weitaus größte Teil dieser früher invalidisierten Arbeiter Beiträge nicht mehr zahlt. Ob das weitere 25 oder 20 Millionen sind, das mag zweifel⸗ haft sein; die Tatsache wird bestehen bleiben, daß die Beiträge sich auf Grund der Rückdatierung sehr beträchtlich verringern.
Wenn nun gesagt wird, es handle sich hier nur um eine Verschiebung der Lasten, so ist das ja richtig; aber diese Verschiebung der Lasten auf einen geringeren Kreis von Beitragspflichtigen bedeutet für die übrig bleibenden Beitragspflichtigen eine Erhöhung der Leistungen gegenüber dem jetzigen Zustande. Insofern muß ich meine Aus⸗ führungen aufrechterhalten.
Wenn im übrigen gesagt worden ist, die von mir vorhin ab⸗ gegebene Erklärung sei ein Bluff, so muß ich dem gegenüber geltend machen: es ist eine aus wohlerwogenen Erwägungen abgegebene Er⸗ klärung — eine Erklärung, die nicht diktiert ist durch Kleinlichkeit, sondern durch die Erwägung, daß auch auf dem Gebiete der Sozial⸗ politik in dem, was gegeben wird, ein gewisses Maß gehalten werden muß in Rücksicht auf unsere finanzielle Leistungsfähigkeit. (Abg. Dr. Südekum: Das ist die Kompottschüsseltheorie!) — Ich habe nie von einer Kompottschüsseltheorie gesprochen, Herr Dr. Südekum; ich habe sie hier auch nicht zu verteidigen!
Die Erklärung der verbündeten Regierungen ist, abgesehen von den zahlreichen vorher von mir aufgeführten Gründen, ferner diktiert durch die Auffassung, daß wir im jetzigen Stadium der Verhandlungen nicht nachgeben können, ohne uns weiteren unerfüllbaren Forderungen auszusetzen. (Widerspruch bei den Nationalliberalen. — Rufe links: Aha!) 8 8*
Aus diesen beiden Gründen ist es den verbündeten Regierungen unmöglich, in irgendwelche Veränderungen in bezug auf das Maß der Leistungen zu willigen.
Abg. Giesberts (Zentr.): Wenn nur die Furcht, daß ein Nachgeben in diesem Punkte weitere Forderungen zur Nachgiebigkeit im Gefolge hat, ausschlaggebend für die ablehnende Stellung der Regierung ist, so möchte ich einen solchen Standpunkt nicht verteidigen und ver⸗ treten. Wenn die Regierung schon keine triftigeren Gründe hat, dann mag sie ruhig nachgeben. In dem Punkte der Altersgrenze sind wir Arbeitervertreter vollkommen einig, weil wir die Forderung ihrer Herabsetzung nicht für die dringlichste halten. Wenn wirklich noch 20, 30 oder 40 Millionen für die Arbeiter herauszubekommen wären, so würde die Herabsetzung der Altersgrenze der letzte Punkt sein, an dem ich begönne. Dies beruht auf unserer Kenntnis der Schwierigkeiten und der Lücken in unserer Gesetz⸗
gebung. Vor allem wunden wir dann eine andere Festsetzung der Erwerbegrenze befürworten. Wir wollen aber das Gesetz machen im Rahmen der Möglichkeit. Wäre uns das Maß der Bereitwilligkeit bei der Industrie, großere Opfer zu bringen, in der Kommission bekannt ge⸗ wesen, so hätten wir wahrscheinlich weitergehende Beschlüsse gefaßt (Zuruf von den Sozialdemokraten). Sie werden doch nicht glauben, daß ein Gesetz, das während eines ganzen Jahres in der Kommission beraten ist, mit ve jetzt hier im Handumdrehen geändert werden kann. Im übrigen wollen wir das Schicksal abwarten. Es wird ja der Kampf zwischen liberalen Parteien und Regierung beginnen, wir wollen sehen, wer nachgibt. Jedenfalls darf das Werk durch diese Frage nicht gefährdet werden. Meine
Abg. Südekum, den Reichstäg aufzulösen, war der Wunsch der Vrihe der Gedankens. Wir gehen auf der Basis weiter, mit den Faftona zu rechnen, die sich in der Kommission als möglich erwiesen haben.
Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Delbrüct Meine Herren! Ich hahe mich zum Wort gemeldet, um einmal der Auffassung entgegenzutreten, daß die von mir im Namen der ver bündeten Regierungen abgegebene Erklärung auf unrichtigen Voraus⸗ setzungen beruhe, und um zweitens der Auffassung gegenüber, daß es den verbündeten Regierungen mit dieser Erklärung nicht Ernst sei, ausdrücklich zu versichern, daß die von mir vorhin verlesene Erklärung im vollen Ernst zu nehmen ist. Ich habe im übrigen in den Aus⸗ führungen, die ich im Anfang der Sitzung zu machen die Ehre hatte, die Summe der Gründe aufgeführt, welche die verbündeten Regierungen zu ihrer Stellungnahme veranlaßt haben. Wenn ich dieser Summe der Gründe noch einen weiteren Grund in meinen letzten Ausführungen hinzugefügt habe, so kann aus einer Kumulierung der Gründe doch un⸗ möglich gefolgert werden, daß die Erklärung, die ich abgegeben habe, nicht im vollen Ernste gemeint war und durch meine zweite Ausführung abgeschwächt worden sei.
Abg. Dr. Mugdansfortschr. Volksp.): Der Staatssekretär hat uns Zahlen vorgetragen, die ich ohne weiteres nicht als beweiskräftig aner kennen kann. Es müßte uns mitgeteilt werden, auf welchem Wege se gewonnen sind; die bloßen Zahlen genügen nicht. Das Zentrum ha in dieser Frage eine sonderbare Stellung eingenommen; in der erf Lesung der Kommission hat es mit der Linken gestimmt und ist später umgefallen. “ Damit schließt die Diskussion. 8 Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. Südekr wird zur Abstimmung geschritten. Sie ist über die Antr. Ablaß und Albrecht eine namentliche und ergibt deren⸗ lehnung mit 160 gegen 146 Stimmen bei 4 Stimmenthaltung
§ 1242 bleibt unverändert.
Darauf wird um 6 3 ¾ Uhr die weitere Beratung auf Sonnabend 11 Uhr vertagt.
Haus der Abgeordneten. 80. Sitzung vom 19. Mai 1911, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)
Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen gummer d. Bl. berichtet worden. Das Haus setzt zunächst die dritte Beratung des Gesetz⸗
entwurfs, betreffend die Feuerbestattung, fort. 8 Von den Abgg. Müller⸗Koblenz (Zentr.) und Genossen liegen Abänderungs anträge zu den §§ 2 und 3 vor. 8§ 2 bestimmt, daß die Genehmigung zu Feuerbestattungsanlagen nur Gemeinden und Gemeindeverbänden oder solchen anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts, denen die Sorge für die Beschaffung der öffentlichen Begräbnisplätze obliegt, erteilt werden darf, sofern die Zustimmung der Aufsichtsbehörde vor liegt. Der Antrag des Zentrums will dafür folgende Fassung setzen: „Die Genehmigung darf nur Privatpersonen und privaten Vereinigungen erteilt werden.“ c. 8* Im § 3 will der Zentrumsantrag die Bestimmung, deß die Genehmigung u. a. dann zu versagen ist, „wenn nicht dafür gesorgt ist, daß neben der Feuerbestattung auch die Beerdigmg Verstorbener dauernd in bisheriger Weise stattfinden kann’, durch folgende Fassung ersetzen: „wenn das Unternehmen nict die Gewähr bietet, daß es dauernd und in würdiger Wese geführt wird“. In der allgemeinen Besprechung erklärt in Erwiderung auf Ausführungen des Abg. Müller⸗Koblenz (Zentr.) der
Minister des Innern von Dallwitz: 16 Meine Herren! Auch ich halte es weder für angenessen, noch für notwendig, noch einmal in die allgemeine Erörterung der prinzipiellen Frage einzutreten; ich würde doch lediglich das wiederholen können, was ich gestern und noch ausführlicher bei der ersten Lesung schen ausgeführt habe. Wenn aber der Herr Abg. Müller⸗Koblenz da Staatsregierung vorgehalten hat, daß ihr die Verantwortung für das Gesetz und seine Folgen zufallen werde, so habe ich zu er⸗ klären, daß sich die Staatsregierung dieser ihrer Verantwortung wohl bewußt ist, und daß sie bereit ist, sie zu übernehmen, weil sie der Ansicht ist, daß durch dieses Gesetz die altehrwürdige christliche Sitte nicht nur nicht gefährdet, sondern aufrecht erhalten und gesichert wird⸗ Meine Herren, was nun die Anträge, die seitens der Herren der Zentrumsfraktion gestellt sind, anlangt, so kann ich erklären, daß fie für die Staatsregierung nicht annehmbar sind. Der Herr Abg. Mülle⸗ Koblenz hat sie damit begründet, daß durch ihre Annahme der Streit über die Frage der Feuerbestattung aus den Gemeinden entfernt e⸗ doch in ihnen abgeschwächt werden würde. Diese Konsequenz witd meines Dafürhaltens nicht eintreten. Ebensowenig wie hier die geger⸗ sätzlichen Auffassungen über die Folgen des Gesetzes sich haben ausgleiche lassen, ebensowenig wird es in den einzelnen Gemteinden der Fall ser wo solche Gegensätze bei voller Schärfe bestehen. Es ist das 2 überall der Fall; aber wo sie bestehen, wird iramer eine gewisse Me stimmung entstehen, wenn ein Krematorium errichtet werden sol, gleichviel ob das seitens der Gemeinde oder von Privatvereinen 82 schieht. Das Bedenken aber, das Andersdenkende durch die Errsfen solcher Anlagen mit finanziellen Opfern belastet werden würden, hinfällig: denn Sie finden in § 4 des Gesetzes die Bestimmmee n⸗ die Gebrauchsordnung den Gebührentarif für die Benutzung der⸗ 8 richtung enthalten muß. Nach den allgemeinen Grundsätzen, die 8 den Ausführungsanweisungen zum Kommunalabgabengesetz näher 5 läutert sind, sollen die Gebühren in derartigen Fällen dazu lg-m. und derart bemessen sein, daß die Kosten der Anlage und die Kos des Betriebes und Unterhaltung gedeckt werden. 1 8 Aber, meine Herren, was dea Antrag für die Königliche wxxrus regierung nicht annehmbar macht, das ist die Tatsache, daß die xer Grundlage des Gesetzes verschoben und geradezu in ihr Gegen 2. verkehrt werden würde. Der Gesetzentwurf beruht in allen 5 Teilen auf der Voraussetzung, daß an den uffentlichk⸗rechtlichen 2 stimmungen über das Bestattungswesen durch den Entwurf nich 8 8 ändert werden soll, und daß es sich lediglich um eine -varna, Se. fakultativen Feuerbestattung in die bestehende Regelung vgareehwes Die Königliche Staatsregierung hat diese Basis für den Lüa=we vorgeschlagen, weil sie die einzige Grundlage ist, welche eine Ba ma. dafür bietet, daß die Bestimm üngen des Gesetzes ordnungsmäßig
auf unserem Standpunkt stehen und unmittelbar darauf um⸗ sel Wenn Sie Ihren Standpunkt festhalten, müssen
politischen Freunde igstens lehnen dies ab. Bei dem Rat des ök““
5 dem Gesetze entsprechend gehandhabt werden, und daß das Unte
nehmen dauernd in würdiger Weise geleitet wird. Eine derartige Garantie läßt sich bei privaten Vereinen, wie das schon der Herr Vorredner, Herr von Goßler, aus den Motiven vorgetragen hat, nicht erreichen. Es ist mithin gerade im Interesse der Aufrechterhaltung der Würde und der Ordnungsmäßigkeit bei der Handhabung der Feuerbestattung notwendig, daß diese in die Hand der öffentlich⸗rechtlichen Körperschaften, denen das Bestattungswesen auch sonst übertragen ist, gelegt wird, und zwar in die Hand von öffentlich⸗rechtlichen Körperschaften, auf welche die Staatsregierung eine Einwirkung nach dieser Richtung hin kraft ihres Aufsichtsrechts ausüben kann. Diese Garantie würde bei Privatvereinen entweder fortfallen oder doch nur in derart abgeschwächtem Maße bestehen, daß aus diesem Grunde die Annahme der Anträge durchaus zweckwidrig sein würde. (Bravo!)
Abg. Dr. Schro ck (frkons.): Der Minister hat uns zugesagt, daß er Kautelen gegen die Verbrennung von Leichen außerhalb Preußens schaffen wird. Die vom Redner wieder vorgebrachten kriminalistischen Bedenken fallen also fort. Mit den Zentrumsanträgen können wir uns nicht einverstanden erklären. Es geht auf keinen Fall, das Feuer⸗ bestattungswesen den privaten Vereinen zu überlassen.
Abg. Dr. Flesch (fortschr. Volksp.): Wir lehnen entschieden die Anträge des Zentrums ab; mit ihnen würde uns das Gesetz, das schon genug Verschlechterungen erfahren hat, unannehmbar sein.
Abg. Grafvon Wartensleben⸗Rogäsen (kons.) erklärt für den Teil seiner Freunde, der bei der zweiten Beratung gegen die Vor⸗ lage gestimmt hat, die Zustimmung zu den Zentrumsanträgen.
Damit schließt die allgemeine Besprechung.
Ueber den Antrag Müller⸗Koblenz (Zentr.) zu § 2 findet duf Antrag des Abg. Dr. Porsch namentliche Ab stim mung statt.
Es werden 324 Stimmen abgegeben; davon stimmen mit %157, mit nein 167. Der Antrag ist also abgelehnt. § 2 zird darauf in der Fassung der zweiten Lesung angenommen.
Durch die Ablehnung des Antrags Müller zu § 2 ist der eingangs mitgeteilte Zentrumsantrag zu § 3 hinfällig.
Präsident von Kröcher teilt mit, daß ein neuer Zentrums⸗ antrag eingelaufen sei, nach dem die Genehmigung dann versagt werden soll, wenn die Errichtung des Krematoriums nicht mit mehr als der Vertreter der betreffenden Körperschaft beschlossen worden ist. Abg. Dr. Bell⸗Essen (Zentr.) (mit großem Lärm von der linken Seite des Hauses empfangen): Ich danke Ihnen für die Zustimmung. Zuruf links: Wir lachen Sie ja doch aus. — Abg. Hoffmann (Soz.) Zu spät, du rettest den Freund nicht mehr!) Ich hoffe, daß Sie für den Antrag stimmen. Unser Antrag zu § 2 ist nur mit verschwindender Mehrheit abgelehnt worden, wir be⸗ antragen, daß für eine so tief einschneidende Maßnahme mehr als ein einfacher Mehrheitsbeschluß vorliegen muß. Wir dürfen nicht dulden, daß ein verschwindender Prozentsatz der Bevölkerung die Mehrheit majorisjert.
Abg. Hoffmann (Soz.): Ich möchte den Vorredner nur bitten, diese Maßregel auch auf Zuwendungen für Kirchenbauten, für Geist⸗ liche usw. auszudehnen.
Abg. Freiherr von Richthofen (kons.): Ich schließe mich dem An⸗ trage Bell an. Wenn immer betont worden ist, daß ein Krematorium nur dann errichtet werden soll, wenn wirklich ein Bedürfnis vorliegt, so muß die öffentliche Stimmung so von der Notwendigkeit überzeugt sein, daß mehr als die Mehrheit der betr. Körperschaft dafür stimmt. Die Herren, die gesagt haben, die Erdbestattung solle die Regel sein und nur bei ganz dringendem Bedürfnis solle cin Krematorium durch die Gemeinde errichtet werden, müssen für den Antrag stimmen.
Minister des Innern von Dallwitz:
Meine Herren! Ich bitte, den Antrag abzulehnen. (Widerspruch im Zentrum und rechts; lebhafter Beifall links.) Es entstände eine unangemessene Beschränkung der Selbstverwaltung für einen besonderen Zweck, der doch durch das Gesetz gestattet und ermöglicht werden soll. Ich glaube, man ist doch in der Lage, den Gemeindevertretungen der größeren Städte — denn um be kann es sich bei den Kosten für eine derartige Anlage nur handeln — zu überlassen, daß sie selber darüber bestimmen, ob ein Bedürfnis in ihrem Bezirk obwaltet oder nicht. Eine weitere Garantie gegen mißbräuchliche Ausnutzung des Gesetzes zum leichtfertigen Beschluß gibt doch auch die Aufsichts⸗ befugnis der Staatsbehörde den Gemeinden gegenüber, sodaß eine weitere singuläre Erschwerung für derartige Beschlüsse meines Dafür haltens nicht angebracht sein würde. (Bravo! links.)
Abg. Dr. Friedberg (nl.): Es wäre ungerecht, wenn man bei
allen wichtigen Bedürfnisfragen eine derartige Majorität verlangt. Es ist eine Brüskierung desjenigen Teiles der Bevölkerung, der auf solche Anlagen Wert legt. Der Antrag ist eine Vergewaltigung. Den wahren Sinn der Toleranz haben Sie (zum Zentrum) nicht erkannt. Der erste Grundsatz der Toleranz besteht darin: Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu. Wir können in diesen Anträgen des Zentrums bei der dritten Lesung nur einen ganz außerordentlichen Vorgang sehen. Derartige Anträge werden sonst bei der zweiten Lesung gestellt. Diese Anträge haben lediglich den Zweck, die Majorität zu erschüttern. (Zuruf im Zentrum: Natürlich!) Wenn man gegen Sie so vorgehen würde, so würden Sie die ersten sein, die sich darüber entrüsten. Abg. Freiherr von Richthofen (kons.): Mit Toleranz hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn ein Kreistag für einen Chausseebäu eine Anleihe aufnehmen will, so ist auch Zweidrittelmehrheit notwendig. Wenn es mit der Bedürfnisfrage für ein Krematorium so schwach bestellt ist, daß es den Anhängern desselben nicht einmal gelingt, eine Mehrheit von zwei Dritteln zu erhalten, so ist es um ihre Sache schlecht bestellt. (Nufe links: Verlangen Sie doch Einstimmigkeit!) Die Ausführungen des Abg. Friedberg stimmen kaum mit den gestrigen Ausführungen des Abg. Hackenberg üͤberein. Es handelt sich lediglich um die Frage, ob ein Bedürfnis vorhanden ist. Ist dies der Fall, so wird sich auch eine Zweidrittelmehrheit finden. (Ruf links: Einstimmigkeit!)
Abg. Dr. Bell⸗Essen (Zentr.): Als Herr Friedberg von Toleranz sprach, erinnerte ich mich des Sprichworts aus der Kulturkampfzeit: Als der Fuchs die Fasten predigte, schloß der Bauer den Hühnerstall.
zes mit Toleranz zu tun hat, verstehe ich nicht. Toleranz kommt
rin dem Sinne in Betracht, daß die Anhänger der uralten Sitte
r Erdbestattung sich gegen die Intoleranz einer liberalen Ge⸗
indeverwaltung wehren müssen. (Ruf links: Nicht wahr!) In einer oßen Zahl von Gemeinden ist dank des plutokratischen Wahlsystems
Kufe links: Das Sie schützen! Das ist Ihr System!) eine liberale
ehrheit vorhanden,, obgleich der überwiegende Teil der
öblkerung auf dem christlich gläubigen Standpunkt steht. bir wollen in letzter Stunde dafür sorgen, daß nicht verschwindend kleine Teil der Anhänger der Feuerbestattung ⅞ Gemeindeverwaltung als Vorspann benutzt, um für seine
Neen Propaganda zu machen. Es liegt kein Anlaß vor, daß die nenigen Anhänger der Feuerbestattung die Gemeinde vorschieben. Rufe: Vorschieben! Abg. Cassel (fortschr. Volksp.): Sie müssen lech die Mehrheit haben!) Allerdings kann die Regierung durch Are Aufsicht die Interessen der Gemeinde wahrnehmen, aber diese Aufsicht können wir in dem vorliegenden Falle bei der Haltung der segierung nur als rein formal bezeichnen.
Abg. Hoffmann (Soz.): Ich bitte die Worte des Vorredners zum vorliegenden Fall“ im Gedächtnis zu behalten. Die Aus übrungen beweisen, wie recht ich gestern hatte, als ich vorschlug, Sie möchten nur den einen Paragraphen beschließen: die
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nehmigung der Ortsbehörde ist stets zu versagen. Ihre An⸗ träge sollen nur im letzten Augenblick das Gesetz zu Fall bringen. Wenn das abgelehnt wird, verlangen Sie vielteicht neun Zehntel. (Ruf im Zentrum: Zehn Zehntel!) oder auch schließ⸗ lich Einstimmigkeit. Aendern Sie doch einfach das Wahlrecht, Ihre Partei hat ja die große Macht. Sie wollen das Gesetz über⸗ haupt illusorisch machen. Diese Gesetzgeberei wird nach außen hin Gaudium erregen, kennzeichnet aber die Mehrheit, namentlich das Zentrum. 18 1 Abg. Dr. Bell⸗Essen (Zentr.) erklärt zur Geschäftsordnung, daß er, um entgegenzukommen, statt der Dreiviertelmehrheit nur Zweidrittelmehrheit in seinem Antrag sagen will. Abg. von Goßler (kons.): Toleranz oder Intoleranz, das will ich nicht weiterspinnen. Es scheint mir konsequent zu sein, wenn ich den Antrag ablehne; ich glaube, das wird auch eine ganze Anzahl meiner Freunde tun. Die Aufsichtsbehörde kann ja die Genehmigung zurückziehen, wenn eine so geringe Majorität für die Errichtung eines Krematoriums zustande gekommen ist, daß eine Beunruhigung auf der anderen Seite erregt wird. Ahg. Dr. Friedberg (nl.); Der Abg. Müller hat sich gestern zu der Behauptung verstiegen, intolerant seien diejenigen, die die Feuerbestattung wünschen, weil sie die Gefühle der anderen verletzten. Wo ist da die Logik des Fuchses zu suchen? Es handelt sich hier nur um staatsrechtliche Dinge. Mit den anderen Aufgaben der Kommunalverwaltungen kann man keinen Vergleich ziehen. Hier soll nur die Errichtung von Krematorien erschwert werden, das ist ein ungerechter Eingriff in die Selbstverwaltung. Der Abg. Bell ist in keiner Weise berechtigt, Liberalismus und Kirchlichgläubige in Gegensatz zu bringen. Namens meiner Freunde weise ich diese Unter⸗ scheidung zurück. Minister des Innern von Dallwitz: Mieene Herren! Ich habe aus dem Gange der Diskussion ent⸗ nommen, daß diesem Antrage auch der Gedanke zugrunde liegt, daß vermieden werden soll, die Mehrheit der Bewohner einer Gemeinde mit Kosten zu belasten zugunsten einer kleinen, verschwindenden Minderheit. Meine Herren, diese Besürchtung ist überhaupt nicht zutreffend. Wir haben im § 4 des Kommunalabgabengesetzes folgende Bestimmung über die Gebühren, die auch hierbei, bei diesen Anlagen Anwendung zu finden hat: Die Gebührensätze sind in der Regel so zu bemessen, daß die Verwaltungs⸗ und Unterhaltungskosten der Veranstaltung ein⸗ schließlich der Ausgaben für die Verzinsung und Tilgung des auf⸗ gewendeten Kapitals gedeckt werden. Meine Herren, diese Bestimmung ist doch weiter erläutert und ausgeführt unter Art. 5 der Anweisung zur Ausführung des Kom⸗ munalabgabengesetzes. Wenn Sie nun ferner noch den hiernach an sich meines Erachtens nicht notwendigen Antrag Nr. 469, gegen den ich aber Einspruch nicht erheben würde, annehmen: 6 „Die Gebühren sind so zu bemessen, daß sie die Kosten der Einrichtung und Erhaltung der Anlage decken“, ein Antrag, der von den Herren Freiherr von Richthofen und von Reitzenstein gestellt ist, so glaube ich, daß in der Tat eine ganz aus⸗ reichende Garantie dagegen gegeben ist, daß zugunsten einer Minder⸗ heit der Bevölkerung durch eine andersdenkende Mehrheit der Stadt⸗ verordnetenversammlungen den Gemeinden Kosten erwachsen, zu denen auch solche Personen beitragen müßten, die an der Errichtung eines Krematoriums kein Interesse haben. (Lebhaftes Bravo! links.)
Abg. Waldstein (fortschr. Volksp.): Auch meine Freunde lehnen den Antrag ab. Der Antrag paßt auch nicht in alle Städteverfassungen in Preußen. Wie ist es denn in den Gebieten, wo eine getrennte Abstimmung von Magistrat und Stadtverordneten nicht statt⸗ findet, wie in Schleswia⸗Holstein. Niemandem soll die Feuerbestattung aufgedrängt werden. Mit Kreischausseen ist es etwas ganz anderes, da durch diese einzelnen Kreisteilen besondere vermögensrechtliche Vor⸗ teile zugeführt werden. Deshalb muß eine genügende Mehrheit dafür sein. Hier handelt es sich nicht um Vermögensvorteile, sondern nur darum, daß die Angehörigen ihre Toten bestatten können, wie sie wünschen.
Abg. Herold (Zentr.): Die qualifizierte Majorität ist nichts neues, sie besteht in der Kreisordnung schon lange, um eine Ueberlastung zu vermeiden; sie ist für alle Ausgaben notwendig, für die keine Ver pflichtung des Kreises besteht. Hier handelt es sich auch um eine vermögensrechtliche Angelegenheit, nämlich die Kosten.
Abg. Dr. Bell⸗Essen (Zentr.) (mit großem Lärm von der Linken empfangen): Der Abg. Friedberg hat mich mißverstanden; es ist mir nicht in den Sinn gekommen, die Liberalen in Gegensatz zu Gläubigen im religiösen Sinne zu stellen. (Ruf links: Sie haben es aber getan!) Ich sprach von Beschlüssen einer liberalen Mehrheit gegen die gläubige Bevölkerung. (Rufe: Das ist dasselbe!) Nein, das ist nicht dasselbe. Eine liberale Mehrheit kann, selbst wenn darunter sehr gläubige Mitglieder sind, einen Beschluß fassen, der den An⸗ schauungen der gläubigen Bevölkerung nicht entspricht. Das wollen wir verhindern.
Abg. Freiherr von Richthofen (kons.): Der Abg. Wald⸗ stein meinte, auf Kreistagen sei Zweidrittelmehrheit notwendig für solche Anlagen, die einem Kreisteile Vermögensvorteile brächten. Davon steht in der Kreisordnung kein Wort, sondern nur davon, daß überhaupt für neue Ausgaben diese Mehrheit notwenig ist, z. B. für ein Krankenhaus. Ein Krankenhaus wird wohl auch von den Freunden der Feuerbestattung für ebenso nützlich angesehen werden wie ein Krematorium. Hier handelt es sich nicht um Toleranz oder Intoleranz, um Glauben oder Liberalismus, sondern darum, ob Kosten für etwas entstehen sollen, das von einem großen Teil in der Kommune nicht als notwendig angesehen wird. Wir müssen eine Bestimmung treffen, daß nicht ohne Bedürfnis vor⸗ gegangen wird.
Die Abstimmung über den Zentrumsantrag bleibt bei Probe und Gegenprobe zweifelhaft; die Auszählung ergibt die Annahme des Antrages mit 169 gegen 143 Stimmen. Dafür stimmen das Zentrum, die Polen und der größte Teil der Konservativen. .
Präsident von Kröcher bemerkt, daß über den Antrag geschäfts⸗ ordnungsmäßig am Sonnabend noch einmal abgestimmt werden müsse, weil er nicht gedruckt vorgelegen habe, und daß deshalb auch über den
ganzen § 3 noch nicht abgestimmt werden könne.
Nach § 4 muß für die Feuerbestattungsanlage eine Ge⸗ brauchsordnung und ein Gebührentarif festgestellt werden.
Die Abgg. Freiherr von Richthofen (kons.) und Freiherr von Reitzenstein⸗Niederweistritz (kons.) beantragen fol genden Zusatz:
„Die Gebühren sind so zu bemessen, daß sie die Kosten der Einrichtung einschließlich Verzinsung und Tilgung, der Erhaltung und Verwaltung der Anlage decken.“
Abg. Freiherr von Richthofen (kons.) bittet dringend, diesen Antrag anzunehmen, gegen den Bedenken vom Standpunkte des Kommunalabgabengesetzes in dieser Form nicht mehr vorliegen könnten. Abg. von Goßler (kons.) erklärt, daß auch der kleinere Teil⸗ der Konservativen für den Antrag stimmen wird.
Der Antrag wird gegen die Stimmen des größeren Teils der Nationalliberalen, der Volkspartei und der Sozialdemo kraten angenommen, ebenso § 4 im ganzen.
Die übrigen Paragraphen werden nach den Beschlüssen
do; 4 1 Leichenverbrennung ist in Preußen gestattet, aber die Ge⸗ 8 11““
Die Abstimmung über das Gesetz im ganzen muß wegen der ausstehenden Abstimmung über § 3 mit dem dazu vor⸗ liegenden Antrage bis Sonnabend vertagt werden. 8
Abg. Graf Praschma (Zentr.): Nach der Geschäftsordnung wird nur die Abstimmung in einer neuen Sitzung gefordert. Diese zweite
Sitzung könnte doch noch heute nachmittag angesetzt werden.
Präsident von Kröcher: Für diese neue Sitzung muß auch eine neue Tagesordnung vorhanden sein, die gedruckt vorliegen muß. Die Zusammenstellung der Beschlüsse und der Druck würden sich heute nicht mehr ermöglichen lassen. 8
Abg. Dr. Krause (nl.): Ich möchte zur Erwägung geben, ob nicht auf diese Anwendung der Geschäftsordnungsbestimmung verzichtet werden kann, und daß wir die Abstimmung, so wie sie gefallen ist, hinnehmen. 8
Präsident von Kröcher: Ich muß doch bezweifeln, ob das durch⸗ zuführen ist. Es könnte ja nachher einer der Herren protestieren, der aus irgendwelchem Grunde heute nicht anwesend sein kann und viel⸗ leicht morgen da ist.
Abg. Dr. Krause inl.): Wenn hier alle Parteien zustimmen, so wird schon kein einzelnes Mitglied einer Partet Widerspruch erheben. Ich stelle diesen Antrag, weil es die Interessen des Hauses nur fördern würde.
Präsident von Kröcher: Ich glaube doch widersprechen zu müssen. Es liegt also ein Widerspruch vor.
Darauf wird die am Donnerstag abgebrochene Beratung der Denkschrift für 1910 über die Ausführung der Ansiedlungsgesetze für Westpreußen und Posen fort⸗ gesetzt.
Abg. Dr. Pachnicke (Fortschr. Volksp.): Selbst Herr von Heyde⸗ brand vermißte in der Ministerrede den warmen Ton, den er gewünscht hätte. Herr von Zedlitz kündete eine Revision seines Standpunkts zur Regierung, also einen Abmarsch in das Lager der Opposition an. Erfolg verbindet, Mißerfolg zersplittert, und hier liegt ein Mißerfolg vor. Es ist alles eingetreten, was meine Partei voraussagte. Gegen⸗ sätze, die man versöhnen wollte, sind verschärft; die Polen haben mit dem Gelde der Ansiedlungskommission, also mit unserem Gelde ihr Genossenschaftswesen gestärkt. Wir machen hier zum dritten Male in 40 Jahren ein Ausnahmegesetz. Der Kulturkampf hat versagt, das Sozialistengesetz hat versagt, jetzt stehen wir vor dem Versagen der Ausnahmegesetze gegen die Polen. Der Minister hat wie ein Diplomat gesprochen; auf jeden Fall geht aber aus seiner Rede hervor, daß das Enteignungsgesetz in diesem Jahre nicht angewendet wird. Herr von Heydebrand hat zwar scharfe Worte gesprochen, aber es geht aus seiner Rede nicht hervor, ob er für oder gegen die Anwendung des Enteignungsgesetzes ist. Das Delphische Orakel war gestern nach Berlin verlegt. Wir machen der Regierung aus der Aenderung ihres Standpunktes keinen Vorwurf. Wir können nicht zur An⸗ wendung eines Gesetzes drängen, gegen welches wir gestimmt haben, welches wir für schädlich halten. Selbst in der Beschränkung, der alle drei Kompromißparteien damals zugestimmt hatten, bedeutete der Eingriff in das Privateigentum aus politischen Gründen — ja, manche meinen sogar, einen Verstoß gegen die Verfassung. Ein ganz anderes Resultat hätte das Gesetz ergeben, wenn man es nicht auf die Nationalität zugespitzt, sondern auf die ganze Monarchie aus⸗ gedehnt hätte. Dann hätten sich die Polen nicht beklagen können. Daß wir nicht von dem Standpunkt einer allgemeinen inneren Kolonisation ausgegangen sind, war der Kardinalsehler. Aber warum hat man bei der jetzigen Polenpolitik nicht auch den fürstlichen Besitz aufgeteilt? Einzig der Herzog von Sachsen⸗Coburg⸗Gotha hat seinen Besitz verkauft. Aber wäre es nicht möglich, mit einem Appell an das nationale Bewußtsein auch dieser Kreise heranzutreten? Gewiß ist das deutscher Boden; aber es kommt nicht auf den Boden, sondern auf die Menschen an. Hundert deutsche Bauern sind für die Ost⸗ marken viel wichtiger als ein einziger Großgrundbesitzer. Warum ist man nicht an die Aufteilung der Staatsdomänen herangegangen? Warum läßt man so große Restgüter bestehen? Man sagt, es ist nötig, weil die Vertretung in den Kreistagen daran geknüpft ist. Dann ändere man doch die Vertretung für die Kreise. Man ändert doch sonst so gern die Gesetze in reaktionärem Sinne. Man behauptet, die kleinen Bauern müßten Führer haben. Unterschätzen Sie doch nicht so das Kleinbauerntum. Die vom Osten ausgegangene Bauern⸗ bewegung hat Ihnen doch gezeigt, daß das Bauerntum weiß, was es will. Der Ostmarkenverein mag sich im einzelnen Verdienste er⸗ worben haben, aber in der Enteignungsfrage ist er zu weit gegangen. Ueber das Parzellierungsgesetz will ich mich heute nicht äußern; wir müssen erst einmal abwarten, wie es aussehen wird. Zum Schluß noch ein Wort an die Herren der “ Fraktion. Die Stärkung des Deutschtums, wie wir sie meinen, bedeutet keine Unterdrückung des Polentums. Die Polen können mit den Angehörigen des gleichen Staates in Frieden leben, wenn sie es wollen. (Zuruf von den Polen: Wollen wir ja auch!) Die Polen dürfen sich aber dann nicht als Volk im Volke fühlen. Sie muͤssen sich abfinden mit den Tat⸗ sachen, die die Geschichte geschaffen hat. (Zuruf bei den Polen: Wollen wir ja auch!) Sie müssen sich der Pflicht bewußt sein, die aus der Zugehörigkeit zum deutschen Vaterlande für sie erwächst. Abg. von Trampcezynski (Pole): Unseren nationalen Charakter können wir Polen nicht abstreifen; wir können nicht anerkennen, daß der polnischen Nationalität eine Minderwertigkeit gegenüber der deutschen zugesprochen wird. Wenn wir unseren Charakter als Nationalität geltend machen, so ist das selbstverständlich. Wenn wir uns unsere besondere Einrichtungen geschaffen haben, so geschah das, um unsere Nationalität zu erhalten, weil uns der preußische Staat stiefmütterlich behandelt hat. Jeder Volksstamm hat das unverbrüch⸗ liche Recht zur Wahrung seiner Nationalität. Das ist auch in der preußischen Verfassung und in der preußischen Gesetzessammlung ausdrücklich anerkannt. Alle Preußen sind gleichberechtigt. Preußen ist kein Nationalstaat, sondern nur ein Staat mit nationaler Mehrheit. Die preußische Polenpolitik gibt vor, das Staatswohl zu wahren, nimmt aber nur das Interesse der deutschen Nationalität wahr. Die jetzige Polenpolitik mit dem Enteignungs⸗ gesetz widerspricht dem Rechtsgefühl. Dieses Gesetz ist ein Ver⸗ brechen gegen das Eigentum, eine Versündigung gegen das siebente Gebot. Es ist direkt rechtswidrig. Die preußische Gesetzgebungs⸗ maschine ist nicht souverän, sie ist gebunden durch die Reichs⸗ gesetzgebung. Wenn die Enteignung angewendet wird, wird der Appell an das Reichsrecht erfolgen. Es wird ferner die Freizügigkeit dadurch gebrochen. Der nationalliberale Abg. Glatzel ist gestern für das Enteignungsgesetz eingetreten, sein Fraktionsgenosse Dr. Friedberg hat dagegen heute den schönen Grundsatz auf⸗ gestellt: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu. Gegenüber den Polen will man von diesem Grundsatz der Gerechtigkeit eben nichts wissen. Den Konservativen möchte ich doch raten, einmal in die Faust⸗Vorstellung zu gehen und sich den zweiten Teil anzusehen, wie da Mephisto, nämlich der Abg. Glatzel, dem konservativen Faust anrät, Philemon und Baucis ihr Eigentum zu nehmen. Die private Statistik eines Professors an der Posener Akademie über die Verteilung des deutschen und polnischen Grund⸗ besitzes ist völlig unzutreffend; es sind darin z. B. Deutsche als Polen angeführt worden, und es ist zwar angegeben, welche Grund⸗ stücke von Deutschen an Polen verkauft sind, aber nicht, welche von Polen an Deutsche verkauft sind. Im Ostmarkenverein haben nicht nur die männlichen Mitglieder, sondern sogar auch die Frauen die Enteignung verlangt. Seit den Petroleusen von 1871 in Paris ist ein ähnlicher Vorfall noch nicht vorgekommen. Der Ostmarken⸗ oder Hakatistenverein hat etwas Verächtliches; er will die Nationalitäten gegeneinander verhetzen, er verlangt z. B. von seinen Mitgliedern, daß sie alle Ausschreitungen der polnischen Presse der Staatsanwaltschaft denunzieren. Die Regierung hat den Verein zum Mitregieren zugelassen, jetzt ist sie seiner überdrussig; es ist erklärlich, daß sich der Verein dagegen wehrt. Es gibt in den Vereinen eine Menge sozialer Nullen, die in das Nichts zurückzusimken fürchten, wenn der Verein nicht mehr existiert. Immer wieder wir der Vorwurf des Mangels an Patriotismus erhoben; wie die öffent⸗
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der zweiten Lesung unverändert angenommen. 0
liche Meinung aber gefalscht wird, sieht man aus den Darstellungen