1911 / 127 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 31 May 1911 18:00:01 GMT) scan diff

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187. Sitzung vom 30. Mai 1911, Vormittags 10 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Auf der Tagesordnung steht die Fortsetzung der dritten Beratung des Entwurfs einer Reichsversicherungsordnung.

Ueber den Anfang der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Delbrück: *)

Abg. Hoch (Soz.): Wir haben derartige Vorschriften bereits in der Gesetzgebung, in der Gewerbeordnung sowohl wie hier, in der Reichsversicherungsordnung.

Abg. Gothein (fortschr. Volksp.): In Hunderten von Fällen haben wir Bestimmungen in der Reichsgesetzgebung, durch die in die polizeiliche Hoheit der Einzelstaaten entschieden eingegriffen wird. Gewiß hat das Oberbergamt Breslau für Schlesien seine Schuldigkeit getan, aber die erwähnte Verordnung des Oberbergamts Dortmund ist nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt ist, denn ungefährliche Arbeiten gibt es im Bergbau überhaupt nicht.

Abg. Sachse (Soz.): Wenn unser Antrag zu weit geht, so stimmen Sie wenigstens für den polnischen Antrag. Es handelt sich nur um ein paar Mark Druckausgaben.

Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück:*)

Der Antrag der Sozialdemokraten wird gegen deren Stimmen abgelehnt, der Antrag Korfanty mit großer Mehrheit angenommen.

Nach § 896 der Beschlüsse zweiter Lesung ist der Unter⸗ nehmer Versicherten und deren Hinterbliebenen, wenn sie einen Anspruch auf Rente haben, nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Schadens, den ein ent⸗ schädigungspflichtiger Unfall verursacht hat, nur dann verpflichtet, wenn strafgerichtlich festgestellt worden ist, daß er den Unfall dehgich herbeigeführt hat. Die Kompromiß⸗ parteien haben einen Antrag Schultz und Genossen gestellt, den § 896 in der Kommissionsfassung wieder herzustellen, wonach diese Beschränkung der Perpil cht des Unternehmers auch dann eintreten soll, wenn der Versicherte und dessen Hinter⸗ bliebene keinen Anspruch auf Rente haben.

Abg. Stadthagen (Soz.) wendet sich gegen den letzteren Antrag. In der zweiten Lesung sei anerkannt, daß die Fassung der Kommission eine schamlose Vergewaltigung der Witwen wäre. Die Mehrheit habe zugegeben, daß die Ansprüche der Witwen besser zu schützen seien. Mutter⸗ und Vaterrechte gebe es nicht mehr, sobald der Unternehmer zahlen solle. Man erkläre einfach: Du hast einen Rechtsanspruch, aber weil Du das Unglück hast, Vater oder Mutter eines Arbeiters zu sein, so wird Dir der Anspruch entzogen.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Diese Ausführungen entfernen sich vollständig von den geschichtlichen Grundlagen des Unfall⸗ versicherungsgesetzes, das den Unternehmer entschädigungspflichtig machte auch für die Unfälle, die er nicht verschuldet hat. Dabei hat man gleichzeitig nicht verkannt, daß manche Unfälle vielleicht eine höhere Entschädigung verlangten. Aber da nunmehr alle Un⸗ fälle entschädigungspflichtig wurden, so hat man gerade im Interesse der Gesamtheit der Versicherten von diesen wenigen Fällen abgesehen. Der Beschluß der zweiten Lesung, der diese Regelung beseitigte, wurde dadurch herbeigeführt, daß der Abg. Dr. Frank ein Beispiel darlegte, in dem nach seiner Ansicht überhaupt keine Entschädigung gezahlt wurde, weil nach dem Unfall ein neues Ereignis eintrat, das erst für den Unfall die Hilfsbedürftigkeit der Hinterbliebenen ergab. Es ist aber empfehlenswert, den Beschluß rückgängig zu machen, denn s können dem Unternehmer nicht. Verpflichtungen auferlegt werden für spätere Ereignisse, die eine Rückwirkung auf einen vorher bereits eingetretenen Unfall haben. Ich bitte, an dem Beschluß der Kom⸗ mission festzuhalten.

Abg. Schmidt⸗Berlin (Soz.): Es handelt sich nicht um eine Belastung der Berufsgenossenschaften oder der Unternehmer, die einen Unfall nicht verschuldet haben. Es kommt hierbei wesentlich die Stellung der Ausländer in Betracht. Wir wollen nur die kleine Zahl von Fällen treffen, in denen dem Unternehmer ein Ver⸗ schulden nachgewiesen ist. Für letzteres darf nicht nur die strafrecht⸗ liche Verantwortung, sondern muß auch die zivilrechtliche Haftung vorgesehen werden.

Abg. Stadthagen (Sez.): Es handelt sich um Unfälle, wo Ent⸗ schädigung nicht gezahlt wird; das vergißt der Regierungs⸗ kommissar. Ist denn das so schwer zu verstehen? Weil keine Rente gezahlt wird, verlangen wir zivilrechtliche Haftung. Sonst wird eine Prämie für fahrlässige Unternehmer ausgesetzt.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Auch der Unternehmer maf geschützt werden, der regelmäßig seine Beiträge zur Unfallversicherung zahlt, auch in den Jahren, in denen Unfälle bei ihm nicht vorkommen. Es werden auch die unverschuldeten Unfälle entschädigt. Gegen diesen allgemeinen Gedanken kann man nicht mit Einzelfällen operieren. Die Fassung zweiter Lesung würde alle Fälle umfassen, in denen aus irgend einem Grunde ein Verletzter keine Entschädigung bekommt.

8 Abg. Dove (fortschr. Volksp.): Die Tragweite des Beschlusses zweiter Lesung wird sehr überschätzt. Man hat daraus Folgerungen die irrig sind, wenn auch sprachlich Zweifel auftauchen Der Kreis der zweifelhaften Fälle ist außerordentlich ein⸗ geengt. Wenn dies aber der Fall ist, so ist auch das Risiko des Unternehmers ein außerordentlich geringes, denn es kommt nur das Hinterbliebenenrecht in Betracht. Die Berufsgenossenschaften sind überhaupt nicht beteiligt. Eine Haftpflicht des Unternehmers be⸗ steht doch auch jetzt gegenüber dem Nichtversicherten. Es fragt sich, ob man die Hinterbliebenen, weil sie unter Umständen eine Rente bekommen, ausschließen soll von dem ihnen sonst zustehenden Rechte. Die Voraussetzungen für die Hinterbliebenenrente sind jetzt etwas entgegenkommender formuliert, aber es bleibt noch ein Rest von Un⸗ billigkeit, den wir durch Annahme des Antrages beseitigen können.

Abg. Molkenbuhr (Soz.) tritt ebenfalls den letzten Ausführungen des Direktors Caspar entgegen, ebenso in längeren, zuletzt vielfach von Schlußrufen aus der Mehrheit unterbrochenen Darlegungen Abg. Dr. Potthoff.

§ 896 wird in namentlicher Abstimmung entsprechend dem Antrag Schultz und Genossen mit 203 gegen 97 Stimmen nach der Kommissionsfassung angenommen; der Beschluß zweiter Lesung ist damit wieder beseitigt.

Zu § 964 (Inhalt der Satzungen der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften) liegt wiederum der in zweiter Lesung abgelehnte Antrag Doerksen (Rp.) vor, aus den Materien, über die die Satzung bestimmen muß, die Festsetzung des Maß⸗ stabes für die Umlegung der Beiträge zu entfernen.

Abg. Doerksen (Rp.) beschränkt sich bei der Geschäftslagedes Hauses auf die Erklärung, daß sein Antrag nichts weiter als eine gerechte Verteilung der Beiträge bezwecke und deshalb vor allem den An⸗ tragsmaßstab der Grundsteuer beseitigen wolle. Der Antrag empfehle sich selbst.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar bittet, nochmals den Antrag abzulehnen.

*) Die Reden des Staatssekretärs des Innern Dr. Delbrück können wegen teilweise verspäteten Eingangs der Stenogramme erst morgen im Wortlaut veröffentlicht werden. 8

Württembergischer Bundesbevollmächtigter, Ministerialrat Dr. von Köhler ersucht im Interesse der württembergischen Landbevölkerung ebenfalls um Ablehnung des Antrages. Der Maßstab der Grundsteuer habe sich in Württemberg, wo der mittlere und kleine Grundbesitz durchaus überwiege, vorzüglich bewährt. Die Umlage nach Arbeitstagen gebe in keiner Weise einen zuverlässigen Maßstab ab. Die Umlage nach dem Grundsteuerfuß sei sehr Ahasch und sehr billig. Hebe man die partikularrechtlichen Vorschriften Württembergs jetzt durch das Recsose auf, so bedeute das für die württembergische land⸗ wirt 5 rn ö eine sehr hohe Belastung. Die Veranlagung der Grundsteuer in Preußen mag ja vielleicht zu wünschen übrig lassen, weil sie schon vor 50 Jahren erfolgte; die württembergische Veranlagung sei aber erst 1887 beendet worden.

Abg. Dr. Heim (Zentr.): Die Regierungsvertreter sollten nicht 8n so lange Ausführungen die Debatte unnütz verlängern. Die Verhältnisse liegen in Bayern ebenso wie in Württemberg. Wer mit der Grundsteuer in Preußen nicht zufrieden ist, soll die Remedur in Preußen herbeiführen. 3

Abg. Doerksen (Rp.): Auch in Bayern und Württemberg ist die Grundsteuerveranlagung längst veraltet und kann keinen gerechten Meaßhheh⸗ mehr bilden. Ich bitte dringend, meinen Antrag an⸗ zunehmen.

In namentlicher Abstimmung wird der Antrag Doerksen mit 170 gegen 126 Stimmen abgelehnt; 3 Mitglieder ent⸗ halten sich der Abstimmung.

Zu § 967 hat das Haus auf Antrag der Kommission in zweiter Lesung folgenden Absatz hinzugefügt:

„Das Reichsversicherungsamt i scdoch nicht berechtigt, an Stelle der landwirtschaftlichen Genossenschaften Unfallverhütungs⸗ vorschriften zu erlassen und technische Aufsichtsbeamten anzustellen.“

Die Abgg. Ablaß und Genossen (fortschr. Volksp.) beantragen Streichung dieses Zusatzes und namentliche Abstimmung darüber.

Abg. Dr. Heckscher (fortschr. Volksp.): Diese Bestimmung ist wohl die absonderlichste aller Beschlußfassungen der zweiten Lesung. Also im Gegensatz zu den gewerblichen Berufsgenossenschaften soll hier die oberste Aufsichtsbehörde lahmgelegt werden. Die Herren von der Rechten haben die Pflicht, zu sagen, welches denn in aller Welt die ernsten und wichtigen Gründe sind, die sie bewogen haben, eine so auffallende und für das Reichsversicherungs⸗ amt und die verbündeten Regierungen verletzende Bestimmung auf⸗ zunehmen. Ich bin erstaunt, daß die Herren vom Reichsversicherungs⸗ amt nicht Mann für Mann hier eingerückt sind, um noch in letzter Stunde ihr Recht zu verteidigen und die eine Bestimmung zu be⸗ kämpfen, die mit ihrer Ehre unvereinbar ist. Der Kaiser hat 1890 im Kreise berufener Vertreter der Landwirtschaft mit beweglichen Worten auseinandergesetzt, daß für die Landwirtschaft Unfall⸗ verhütungsvorschriften notwendig sind. In den letzten Tagen hat der Abg. von Oldenburg von der Kaiserlichen Standarte gesprochen, um die man sich zusammenscharen müsse. Wie wäre es, wenn die Herren sich hier um die Kaiserliche Standarte scharten? Ich bitte die Herren, sich einmal mit Besonnenheit zu überlegen, wie sie eine Agitation im Lande führen wollen, wenn der schlichte Mann erkennt, wie hier die Sonderstellung der Agrarier gesetzlich festgelegt wird. Er muß die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er eine solche Bestimmung liest. Eine finanzielle Wirkung hat es doch nicht, wenn diese Bestimmung abgelehnt wird. Ich bitte Sie in letzter Stunde, schon aus Klugheit den Verdacht abzulenken, daß Sie ein Sonderrecht beanspruchen. Mit der namentlichen Abstimmung wollen wir unsere Gegner nicht vor dem Lande brandmarken, sondern ihnen Gelegenheit geben, in sich zu gehen.

Unmittelbar vor der Abstimmung zieht der Abg. Heckscher seinen Antrag auf namentliche Abstimmung zurück.

Der Antrag Ablaß wird gegen die entschiedene Linke, die Polen und das Gros der Nationalliberalen abgelehnt.

Es folgt das 4. Buch: „Invaliden⸗ und Hinterbliebenen⸗ versicherung“.

Auf eine Anfrage des Abg. Bassermann bestätigt der

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar, daß der Ver⸗ scserung pfücht auch die Besatzung der Luftschiffahrzeuge unter⸗ iegen soll.

Abg. Dr. Potthoff (fortschr. Volksp.) äußert seine Unzufrieden⸗ heit mit den Bestimmungen dieses Buchs über die Betriebs⸗ beamten, Werkmeister usw.

Abg. Giesberts (Zentr.) bedauert, daß es nicht gflungen ist, die Hausgewerbetreibenden unter die Bestimmungen dieses Buchs zu bringen und spricht die Hoffnung aus, daß das Heimarbeitergesetz in der Herbstsession zustande kommen wird.

Abg. Molkenbuhr (Soz.) weist darauf hin, daß das Zentrum ja selbst einen Antrag der Sozialdemokraten auf Einfügung der Hausgewerbe⸗ treibenden für die Zwangsversicherung abgelehnt hat, und bedauert, daß die Heraufsetzung der Einkommensgrenze nicht zu erreichen war.

Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück:*) 9

Abg. Becker⸗Arnsberg (Zentr.): Wir haben allerdings auch einen Antrag auf Einbeziehung der Heimarbeiter in der Kommission gestellt. Er ist aber abgelehnt worden, weil die Regierung dagegen ver⸗ sicherungstechnische Gründe angeführt hat.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Mit solchen Gründen kann man jede Verbesserung ablehnen. Jedenfalls hat das Zentrum in zweiter Lesung gegen unseren Antrag gestimmt.

Zum § 1240 befürwortet der Abg. Molkenbuhr einen An⸗ trag, die Invalidität des Versicherten anzunehmen, wenn seine Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken ist. In der zweiten Lesung war ein Drittel beschlossen worden. Der Antrag wird abgelehnt.

MNiach § 1242 wird die Altersrente vom 70. Lebensjahre ab gezahlt. 2 8.

Die Abg. Ablaß und Genossen beantragen dafür das 65. Lebensjahr zu setzen, eventuell folgende Bestimmung hinzu⸗ zufügen:

„Vom 1. Januar 1917 ab erhält Altersrente der Versicherte vom vollendeten 65. Lebensjahre an, auch wenn er nicht invalide ist.“

Von sozialdemokratischer Seite ist ebenfalls die Herab⸗ setzung der Altersgrenze auf das 65. Lebensjahr beantragt.

Abg. Busold (Soz.): Wir haben den Antrag wieder eingebracht, damit diejenigen, die in zweiter Lesung noch unschlüssig waren, Gelegenheit bekommen, diesen Fehler eventuell wieder gutzumachen. Die Ausführungen des p Becker⸗Arnsberg haben lediglich er⸗ kennen lassen, daß er für keine gute Sache kämpft, wenn er nach⸗ zuweisen suchte, daß die Herabsetzung auf das 65. Lebensjahr nicht so dringlich sei. Als der Abg. Becker sprach, hatte man weit mehr den Eindruck, daß er zur Rechten gehörte, so sehr rief er die Be⸗ friedigung dieser Herren mit seinen Darlegungen hervor; er hat sich mit seiner Rede, wenn man an ihre Wirkung auf die christ⸗ lichen Gewerkschaftler denkt, höchstens den Ruhm eines Streik⸗ brechers erworben. Die statistischen Angaben, die die Re⸗ gierung gegen unseren ns Feib führte, waren

Antrag i äußerst schwankend und widerspruchsvoll; kurz, Stichhaltiges hat überhaupt nicht vorgebracht werden können. Die Beitragserhöhung wird höchstens 10 oder 11 % betragen; von den Riesenerhöhungen, die der Direktor Caspar in der zweiten Lesung vorführte, von der Erhöhung auf 19 % war in der Kommission nirgends die Rede. Dieser klaffende Widerspruch muß uns noch aufgeklärt werden. Der Direktor Caspar berief sich auf den § 1222; aber siehe da, im amtlichen stenographischen Bericht ist diese Berufung auf § 1222 nicht mehr zu finden! Wenn der Abg. von Gamp den Di⸗ rektor mit dem Hinweis auf § 1223 zu Hilfe zu kommen suchte, so

mmt das auch nicht. Die Leute, die mit 65 Jahren in den Besitz

der Altersrente kommen, werden schon im eigenen Interesse weiterkleben.

Man klagt ja immer über den Ansturm auf die Invalidenrente

dieser Sturm, der darin, 5 vor dem 70. Jahre keine Altersrente at, weil die Leute sich schon vor diesem

ewährt wird, seine Ursache Termin arbeits⸗ und leistungsunfähig fühlen, wird abnehmen und auf hören, sobald die Altersrente den Fünfundsechzigjährigen gezahlt wird Aufhören wird dann auch die Notwendigkeit einer Rentenquetschungs

kommission, die im Lande herumreist und lediglich die Aufgabe hat, die Invalidenrentner vorzuladen und nachzusehen, ob ihnen die Rente

nicht entzogen werden kann. Die unheilvolle Tätigkeit dieser Kommissio spricht sich jetzt in den statistischen Ziffern aus; die Zahl der

empfänger ist in den letzten Jahren ständig zurückgegangen, zum

Vorteil für die Staatskassen, aber zum ungeheuren Schaden für die Versicherten. In einem Falle wurden 26 Rentenempfänger vorgelade und 19 davon die Rente entzogen! Wie kann man da den Mu haben, noch von einem Feeeann sozialen Reformwerk zu reden Es spielt dabei auch das Denunziantentum eine sehr häßliche Rolle. Je mehr die Rentenentziehung zur Regel wird, desto stärker wird die Zahl der Fälle anwachsen, wo die Altersrente für die Betroffener den einzigen Ausweg bildet. Es ist sogar der unglückliche Fall vor

gekommen, daß einem Manne, der die Veteranenbeihilfe nachsuchte, noch die Invalidenrente entzogen wurde, obwohl er nicht mehr wie 50 täglich verdienen konnte! Man scheint des Glaubens zu sein, daß jeder, der das 65. Lebens⸗

diese nicht gewährt, dafür aber auch

ommt. Es muß doch erst die Wartezeit erfüllt werden. Wi

wissen, daß heute Leute im 75. Lebensjahre noch keine Rente be⸗ ehen. Den Traum, daß die Arbeiter jemals „pensioniert“ werden, wie die Nationalliberalen es ausdrückten, haben wir nicht. Wenn ein

ziehen.

Arbeiter wirklich die Altersrente „Pensionierung“. Die

bekommt, so ist das kein

die Kraft des Menschen abnimmt, die Beihilfe Platz greifen muß,

so müßte man noch weiter als auf das 65. Lebensjahr zurückgehen. Die Herabsetzung auf das 65. Lebensjahr ist von den verschiedensten

arteien und auf zahlreichen Kongressen, auch solchen der christ ichen Arbeiter gefordert worden. Ich

der Kommission hat er erklärt, viel wichtiger als die Invalidenrente sei die Altersrente; die Arbeiter wollten wissen, ob Geld vorhanden ist und die Altersrente bezahlt werden kann. (Rufe aus dem Zentrum:

Schwindel!) Gewiß hat er das nach dem Kommissionsbericht aus⸗

geführt und hier im Plenum den entgegengesetzten Standpunkt ein genommen. Die Regierung hat vor 2 Jahren in der Denkschrif auch das 65. Jahr festgelegt, jetzt motiviert der Staatssekretär Delbrück

die Ablehnung mit der Rücksicht auf die Konsequenzen unerfüllbarer

weiterer Forderungen. Man bezeichnet Deutschland als das soziale Musterland; in dieser Sache gehen uns alle anderen Staaten voraus

Was bedeuten 9 Millionen gegenüber den erst im Frühjahr wieder bewilligten Millionen für Militärforderungen. Wir fordern nur den

zehnten Teil dieser Opferwilligkeit für die Arbeiter.

Vizepräsident Dr. Spahn: Sie haben hingewiesen auf den Ruf eines Streikbrechers, den der Abg. Becker sich erworben habe. Der

Ausdruck ist in diesem Zusammenhange gebraucht, verächtlich gemeint

und daher unzulässig. (Zurufe von den Sozialdemokraten: Und der

Zuruf Schwindel ⁷)

Abg. Dr. Potthoff (Fortschr. Volksp.): Wir halten mit aller Ent⸗

schiedenheit an unserer prinzipiellen Forderung, daß künftig die Alters⸗

rente mit Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren ist, fest. Unser Antrag ist in zweiter Lesung nur mit einer geringen Zufalls⸗

mehrheit abgelehnt. Wir hoffen dringend, daß die veränderte Zusammensetzung des Hauses heute zu seiner Annahme führt, und daß diejenigen, die mit der Begründung, es gebe wichtigere Verbesserungen als die Herabsetzung der Altersgrenze, auch für unseren Antrag

stimmen werden, nachdem sie sich überzeugt haben, daß auch diese wichtigeren Forderungen leider nicht haben durchgesetzt werden können. Es bedarf nur weniger Stimmen, um dem Antrag zur Mehrheit zu

verhelfen. Der kaufmännische Verein von 1858 in Hamburg, einer der maßvollsten Vertreter sozialpolitischer Forderungen, telegraphierte

nach der Abstimmung zweiter Lesung, daß seine Mitglieder die Ab⸗

lehnung der jahrelang versprochenen Herabsetzung nicht begriffen. Sie bitten, dafür einzutreten, daß die Herabsetzung wenigstens 1917 erfolgt, und nennen dafür einen neuen bisher nicht erwähnten Grund. Wenn

nämlich das Privatbeamtengesetz im Herbst zustande kommt und 1912

zugleich mit der Reichsversicherungsordnung in Kraft tritt, so werden

1917 die ersten Altersrenten mit dem 65. Jahre schon gezahlt

Dann kann man aber nicht anderen Versicherten sie erst mit dem 70. Lebensjahre zahlen. Die Hinausschiebung bis 1917 würde auch die finanziellen Bedenken beseitigen. Dann werden die 8 bis 9 Millionen, die der Staatssekretär heraus⸗ rechnet, die aber zu hoch gegriffen sind, bei seiner Gewandtheit

werden können.

sicherlich flüssig gemacht sein. Wir würden auch bereit sein,

zu § 1372 zu beantragen, daß die erste Neuprüfung der rechnungs⸗ mäßigen Unterlagen für die Beiträge schon 1917 eintreten soll, damit die Erhöhung um etwa 1 dann schon vorgenommen wird.

Die Mehrheit will ihre Ablehnung unserer Anträge mit der Ein⸗

fügung eines neuen Artikels 71 b in das Einführungsgesetz be⸗

mänteln. Dieser Artikel bietet sachlich in keiner Weise Ersatz. Wir stellen unseren Eventualantrag schon mit großen Bedenken, weil wir wissen, wie wenig gewissenhaft die Reichstagsmehrheit und die ver⸗

bündeten Regierungen in der Einhaltung festgelegter Versprechungen

88. Wie ich höre, beabsichtigen zudem die Herren der verbündeten Kegierungen eine Erklärung abzugeben, daß sie sich absolut nicht für Dann aber ist der Inhalt des Art. 71 b

die Zukunft verpflichtz.

eine leere Phrase. Er entspricht der Würde des Volkes nicht.

(Vizepräsident Dr. Spahn bittet, nicht zum Art. 71 b des Ein⸗ führungsgesetzes zu sprechen.) Ich habe seine Bedeutung mit wenigen Worten erschöpft, er soll das Volk nur darüber hinweg⸗

täuschen, daß hier jede Verbesserung des Gesetzes versagt wird.

Abg. Schirmer (Zentr.): Wir werden die Anträge ab⸗ lehnen, weil sie das Zustandekommen der ganzen Vorlage ge⸗ fährden können. (Fortdauernde Unruhe.) Sie treiben mit Ihren Anträgen ja doch nur Popularitätshascherei! Der Abg Busold

hätte seine Rede lieber auf dem Parteitage in Jena seinem Partei⸗ genossen Molkenbuhr gegenüber halten sollen. Unerhört ist es, wenn er einen Mann wie Becker, der sich auf gewerkschaftlichem Ge⸗

biete so große Verdienste erworben hat, mit einem Streikbrecher vergleicht. Das sind die ritterlichen Waffen der Sozialdemokraten, von denen neulich der Staatssekretär Delbrück gesprochen hat. (Leb⸗ hafte, fortgesetzte Unruhe.) Ich nenne das Brunnenvergiftung.

hafte Zustimmung im Zentrum, Widerspruch links.)

Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück: *)

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Nachdem seitens des Vertreters der verbündeten Regierungen eine so bündige Erklärung abgegeben worden

ist, dürfen wir wohl erwarten, daß die verbündeten Regierungen die-⸗ selbe Haltung einnehmen werden gegenüber Vorlagen über militärische Rüstungen, die wir in der nächsten Zeit erhalten werden. Der Abg. Schirmer fühlte sich so recht als Regierungsvertreter, er gab schon im voraus den verbündeten Regierungen recht, indem er sagte, wenn wir die Anträge annehmen, dann wird die Vorlage scheitern. Wie hätte er dagestanden, wenn diese Erklärung nicht gekommen wäre? Das Zentrum beweist wieder einmal, daß ihm die Gründe

ausgegangen sind.

Abg. Hoch (Soz.): Der Abg. Schirmer hat sichentrüstetüber den Ton, b in dem sich der Kollege Busold gegen den Abg. Becker ausgesprochen 8

hat. Er hat aber kein Wort zu den Ausführungen gesagt, die den

Kollegen Busold zu seinen scharfen Bemerkungen veranlaßt haben.

Der Kollege Busold hat nachgewiesen, daß der Abg. Becker als Arbeiter⸗

sekretär die wichtigsten Forderungen der Arbeiter mit unwahrhaftigen 2

Argumenten bekämpft hat, daß er sich einer unerhörten Dovppel⸗ üngigkeit schuldig gemacht hat. Der Abg. Schirmer sollte also vor sener eigenen Tür kehren und seinen Kollegen veranlassen, mit den Waffen der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit zu kämpfen.

Damit schließt die Diskussio

sahr erreicht, von seinem Geburtstage ab dann die Altersrente be⸗

Rente wird immer nur eine Beihilfe sein. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß in dem Maße, wie

1 G laubte meinen Augen und Ohren nicht zu trauen, als ich den Abg. Becker⸗Arnsberg hörte. In

Der Antrag auf Herabsetzung der Altersgrenze für die Altersrente auf das 65. Jahr wird in namentlicher Ab⸗ stimmung mit 170 gegen 119 Stimmen abgelehnt; 9 Mit⸗ glieder enthalten sich der Abstimmung. Auch der Eventual⸗ antrag Ablaß, die Altersrente mit dem vollendeten 65. Lebensjahre von 1917 ab zu gewähren, fällt in nament⸗ licher Abstimmung mit 166 gegen 120 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen.

Vizepräsident Dr. Spahn: Der Abg. Schirmer hat die Wendung gebraucht, daß die Bemerkung des Staatssekretärs vom Kampf der Sozialdemokraten mit ritterlichen Waffen den Herren den Mut ge⸗ geben habe, hier und draußen weiter in politischer Brunnenvergiftung zu machen. Einen derartigen Ausdruck Mitgliedern des Hauses gegenüber halte ich für unzulässig. Der Abg. Hoch hat aber dann mit Bezug auf ein bestimmtes Mitglied des Hauses, den Abg. Becker⸗Arnsberg, von einem Maß von Doppelzüngigkeit gesprochen, das einfach unerhört sei im parlamentarischen Leben, und er hat den Abg Schirmer aufgefordert, dafür zu sorgen, daß der Abg. Becker mit den Waffen der Wahrheit und ehrlich kämpfe. Darin liegt der Vorwurf des Kampfes mit unwahren und unehrlichen Waffen, und er richtet fich gegen ein bestimmtes Mitglied des Hauses; ich rufe den Abg. Hoch dafür nachträglich zur Ordnung.

Nach § 1243 erhält die dauernd invalide Witwe nach dem Tode ihres versicherten Mannes Witwenrente.

Abg. Stadthagen (Soz.) befürwortet die Streichung der Worte „dauernd invalide“. Die Mehrheit von 1902 habe allen Witwen die Witwenrente versprochen; ohne irgendwelche Gewissensbisse hätten 1e und Reichstagsmehrheit sich über dieses feierliche Ver⸗ sprechen hinweggesetzt. Jetzt würden die nicht invaliden Witwen einfach ohne Entschädigung expropriiert. Hoffentlich komme bald die Zeit, wo auch die Urheber dieses Gesetzes ohne Entschädigung erpropriiert werden.

Der Antrag wird abgelehnt, § 1243 bleibt unverändert.

Nach § 1277 beträgt der Anteil der Versicherungsanstalt bei Witwen⸗ und Witwerrenten 3⁄10, bei Waisenrenten für 1 Waise 3⁄29, für jede weitere Waise ¼ des Grundbetrags und der Steigerungssätze der Invalidenrenten, die der Ernährer zur Zeit seines Todes bezog oder bei Invalidität bezogen hätte.

Abg. Cuno (fortschr. Volksp.) knüpft an die Kritik an, die der Abg. Mugdan in zweiter Lesung bereits an dieser Bestimmung geübt hat, um auch seinerseits nachzuweisen, daß damit die Erwartung des Volkes in gröblichster Weise getäuscht worden sei, wenn man das Ein⸗ führungsgesetz, Art. 59, in Betracht ziehe, das event. erst nach 20, 30 Jahren und noch länger die kümmerliche Rente gewähre. Niemals sei ausgesprochen oder auch nur angedeutet worden, das hinsichtlich der Witwen vor und nach dem Inkrafttreten des Gesetzes ein Unterschied gemacht werden solle. (Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg erscheint am Bundesratstische.) Die fortschrittliche Volkspartei werde daher auch beantragen, die Gesamtabstimmung über die Reichs⸗ versicherungsordnung erst nach der Erledigung des Einführungsgesetzes vorzunehmen, um zuvor über die Tragweite des letzteren klar zu sehen. Sie haben ja schon nachgegeben, nehmen Sie auch den § 1277 an mit dem festen Vorsatz, daß es dabei bleiben soll.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Ich bitte, den An⸗ trag Cuno nicht anzunehmen. Es ist ganz selbstverständlich und be⸗ durfte keiner ausdruͤcklichen Bestimmung, daß die Bezüge, die hier in

Aussicht gestellt werden, erst nach einer gewissen Wartezeit gewährt

werden können. Hätt⸗ man es anders machen wollen, so hätte man auch die Beiträge anders berechnen müssen. Dieser ver⸗ sicherungstechnisch selbverständlichen Rede gegenüber enthält das Einführungsgesetz in Art. 59 ein wesentliches Entgegenkommen gegen die Versicherten mit der Vorschrift, daß einmal, ohne daß Beiträge zur Hinterbliebenenversicherung geleistet worden sind, die Hinterbliebenenversicherung, soweit sie sich aus dem Reichs⸗ zuschuß zusammensetzt, sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes gezahlt wird, ferner der Grundbetrag der Rente; nur Steigerungssätze werden nicht gleich bezahlt. Man wird anerkennen müssen, daß dies eine durchaus angemessene Regelung ist, die die Interessen der Versicherten berücksichtigt.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Aus der Aufmachung, die von der Re⸗ gierung beliebt ist, hat kein Mensch das als Absicht entnehmen können, was jetzt im Einführungsgesetz steht. Wenn jemand nach den Motiven seine Rente berechnete, so würde er entdecken, daß er sich arg getäuscht hat. Selbst kritisch veranlagte Menschen wie der Professor Francke in der „Sozialen Praxis“ haben ausgerechnet, daß 71 als Minimal⸗ rente in Aussicht stehen. Auch in der Vorlage des Einführungs⸗ gesetzes haben die verbündeten Regierungen es vermieden, Daten ein⸗ zusetzen. Wo die 110 bleiben, die den Witwen an rückzuerstattenden Bei⸗ trägen zustehen, darüber findet sich in den ganzen Motiven kein Wort. Es findet sich da eine merkwürdige Lücke. Aber es ist ja ein alter Kniff, es immer so darzustellen, als ob den Versicherten große Ge⸗ schenke gemacht werden. 9

Abg. Dr. Mugdan (fortschr. Volksp.): Jeder mußte annehmen, daß die Leistungen den Versicherten nach dem Januar 1912 zukommen würden. Nach versicherungstechnischen Grundsätzen sind unsere Arbeiterversicherungssätze nicht aufgebaut. Da wo sie es sind, geben sie wie bei den Bestimmungen über den Reservefonds der Berufs⸗ genossenschaften zu lebhaften Beschwerden Anlaß. Als man das In⸗ validenversicherungsgesetz schuf, hat man auch nicht gesagt, daß die Rente nicht ausbezahlt werden dürfe, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Bei der Unfallversicherung ist die Hilflosenrente auch nicht erst eingetreten, nachdem die Berufsgenossenschaften in der Lage waren,

Gelder dafür zu sammeln. Auch hier konnte daher die Bevölkerung

annehmen, daß die Rente sofort in Kraft tritt. Damit schließt die Debatte. Zu § 1335: der Beamten und Unterbeamten sowie ihrer Hinterbliebenen“

begründet der

Abg. Cuno (fortschr. Volksp.) einen Antrag, folgenden Zusatz zu machen: „Zu dem Ruhegehalt und den Hinterbliebenenbezügen der beamteten Vorstandsmitglieder hat der Gemeindeverband oder Bundes⸗ staat, für den die Versicherungsanstalt errichtet ist, dieser einen Beitrag

zu leisten, der dem Verhältnis der dem Gemeindeverband bezw. Bundes⸗

staat geleisteten Dienstzeit zu der Gesamtdienstzeit entspricht’. Der Antrag wird abgelehnt. 8

Bei § 1341 (eventuelle Genehmigung des Voranschlags

der Aufwendungen für Heilverfahren durch die Aufsichts⸗ behörde) setzt sich der

Abg. Becker⸗Arnsberg (Zentr.) mit dem Abg. Busold aus⸗ einander, der ihm ein doppelzüngiges Verhalten in der Kommission und im Plenum zum Vorwurf gemacht hatte. Er greift zu seiner 2 8 auf die einzelnen Stadien der Kommissionsverhandlungen

uruck. g Abg. Busold (Soz.): Der Vorredner hat mir zugegeben, daß ich seine Aeußerungen aus dem Zusammenhang gerissen hätte; damit ibt er zu, sie getan zu haben. Das Ausdemzusammenhangereißen aben wir vom Zentrum gelernt. Ich nehme kein Wort zurück.

Der Rest des 4. Buches wird ohne Debatte nach den Be⸗ schlüssen zweiter Lesung mit redaktionellen Abänderungsanträgen Schultz angenommen, ebenso das 5. Buch „Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichteten“, und das 6. Buch „Verfahren“.

Die definitive Gesamtabstimmung über die Reichsversiche⸗ rungsordnung wird auf Antrag Schultz und Genossen ebenfalls namentlich vorgenommen. Mit 232 gegen 58 Stimmen bei⸗ 15 Stimmen Enthaltung erteilt der Reichstag der Reichs⸗ versicherungsordnung im ganzen die Genehmigung.

„Die Versicherungsanstalt trägt die Bezüge

Die Verkündigung des Resultats wird von der Mehrheit mit demonstrativem Beifall, von den Sozialdemokraten mit Zischen aufgenommen.

Um 4 ½ Uhr geht das Haus über zur zweiten Beratung des Einführungsgesetzes zur Reichsversicherungs⸗ ordnung. Referent der XVI. Kommission ist der Abg. Dr. Dröscher (dkons.).

Die Art. 1—29 werden ohne Debatte nach dem Kom⸗ missionsbeschluß angenommen.

Nach Art. 30 unterstehen der Dienstordnung auch die bei ihrem Erlaß schon angestellten Kassenangestellten. Die mit diesen Angestellten vor dem 1. Juli 1910 ver⸗ einbarten Vertragsbestimmungen über Kündigung und Ent⸗ lassung bleiben C soweit sie nicht den Vor⸗ schriften der Reichsversicherungsordnung über Kündigung und Entlassung entgegenstehen und soweit die Bezüge der An⸗ gestellten, wenn sie vor dem 1. Januar 1908 vereinbart sind, nicht in auffälligem Mißverhältnis zu den Sätzen des Be⸗ soldungsplans stehen.

Die Sozialdemokraten wollen den Art. 30 streichen.

Abg. Graf Westarp (dkons.): Die Fassung dieses Artikels be⸗ deutet keinen Eingriff in die Rechte der Angestellten und gibt zu Be⸗ unruhigungen keinen Anlaß. Art. 32 sieht außerdem eine Frist von 2 Jahren vor, um denjenigen Angestellten, deren Fachkenntnisse und Leistungen für ihre Stellung offenbar nicht ausreichen, im Dienste der Kasse eine andere, ihren Leistungen und Fügsceshteß entsprechende Stelle zu sichern. Die Mehrheitsparteien haben außerdem zwei neue Art. 32 a und 32b beantragt, für die Zeit des Ueberganges sowohl die Angestellten wie auch die Kassen zu schützen.

Abg. Dr. Mugdan (fortschr. Volksp.) erklärt, daß seine Freunde die neuen Anträge in ihrer ganzen Tragweite in der kurzen Zeit seit ihrer Einbringung nicht haben übersehen können, und daß sie deshalb beantragen, die Sitzung auf 1 ½ Stunden auszusetzen.

Abg. Trimborn (Zentr.) schlägt vor, die Sitzung eine Stunde zu unterbrechen.

Vizepräsident Dr. Spahn erklärt sich gegen diesen Antrag, während der Abg. Schultz (Rp.) sich für die Unterbrechung ausspricht. Abg. Bebel (Soz.) beantragt, die Sitzung bis morgen zu ver⸗ agen.

Dieser Antrag wird abgelehnt, dagegen beschlossen, die Sitzung eine Stunde zu unterbrechen.

Schluß 5 Uhr.

Um 6 Uhr wird die Beratung wieder aufgenommen.

Abg. Dove (fortschr. Volksp.) erklärt zur Geschäftsordnung, daß seine politischen Freunde in dem Antrag die Tendenz sehen, etwaigen Verträgen entgegenzuwirken, die die Reichsversicherungsordnung um⸗ gehen. Um dies zu prüfen, müsse das Material vollständig vorliegen. Bis jetzt sei in der Kommission darüber nicht verhandelt worden. Es frage sich, ob die vorgeschlagene Formulierung glücklich sei; jedenfalls werde dadurch in private Verhältnisse eingegriffen. Er beantrage deshalb, das Einführungsgesetz an die Kommission zurückzuverweisen, um die Tragweite der Anträge zu prüfen.

Abg. Bebel (Soz.): Meine Parteifreunde sind zu dem Resultat ekommen, daß die Anträge eine wesentliche Verschlechterung der Vor⸗ age bedeuten. Um die Frage zu prüfen, sind wir bereit, den frei⸗ sinnigen Antrag zu unterstützen. Wir müssen aber erklären, daß die Art, wie dieser Antrag Schultz in letzter Stunde dem Hause unter⸗ breitet worden ist, eine Ueberrumpelung des Hauses ist. Das ist ein Mißbrauch der Majorität gegenüber der Minorität. Wir werden, wenn Sie darauf ““ die Anträge zu beraten, eine zweitägige Pause zwischen der 2. und 3. Beratung verlangen, wie es die Ge⸗ schäftsordnung vorsieht.

Abg. Bassermann (nl.): Der Antrag ist meiner Fraktion erst im Laufe des Abends bekannt geworden. Es wäre sachentsprechend, wenn in der Kommission erst darüber beraten werden würde. Ich schließe mich dem Antrage auf Zurückverweisung der Anträge an die Kommission an.

Abg. Schultz (Rp.): Ich erkläre noch einmal, daß wir von den Mehrheitsparteien eine Ueberrumpelung nicht beabsichtigt haben. (Lachen links.) Wenn Sie einer solchen Erklärung keinen Glauben schenken wollen, so ist das Ihre Sache, aber ich stelle vor dem Lande fest, daß wir das nicht beabsichtigt haben. Es war sehr schwer, in allen diesen Dingen das Positive zu finden; negative Arbeit ist unter Umständen leicht. Daß wir eine Ueberrumpelung nicht beabsichtigten, geht schon daraus hervor, daß wir den Antrag zur zweiten Lesung gestellt haben; man hätte auch anders verfahren können. Wir sind nun mit der Ueberweisung dieser Artikel an die Kommission ein⸗ verstanden und beweisen damit, daß wir keine Ueberrumpelung wollten.

Präsident Graf von Schwerin⸗Löwitz: Es gäbe auch noch den anderen Weg, daß die Antragsteller vorläufig ihre Anträge zurück⸗ 12 wir könnten dann im übrigen die Beratung dieser Vorlage ortsetzen.

Abg. Graf von Westarp (dkons.): Ich möchte diesen Weg nicht empfehlen. Da wir für die Zurückweisung dieser Artikel an die Kommission sind, so würden wir bei dem nächsten Artikel in der Beratung fortfahren können.

Abg. Cuno ffortsch. Volksp.) Es hat sich herausgestellt, daß die Beratung des Einführungsgesetzes in der Kommission überstürzt worden ist. Wenn wir diese Artikel an die Kommission zurückweisen, wird es zweckmäßig sein, auch auf die übrigen Paragraphen übergreifen zu können, und deshalb muß das ganze Gesetz an die Kommission zurück⸗ verwiesen werden.

Präsident Graf von Schwerin⸗Löwitz: Die Kommission kann so zeitig zusammentreten, daß wir jedenfalls morgen mittag im Plenum die Beratung fortsetzen können; dann wird sie morgen zu Ende geführt werden können.

Abg. Bebel (Soz.): Obgleich ich begreife, daß die Herren bald nach Hause kommen wollen, muß ich doch bemerken, daß, nachdem diese ganze Vorlage so überhastet ist, nun auch noch in letzter Stunde der Kommission ein solcher Drücker gegeben werden soll, daß sie schnell macht.

Abg. Graf von Westarp (dkons.): Es liegen zwei Anträge vor: den Artikel 30 an die Kommission zurückzuverweisen, und das ganze Gesetz zurückzuverweisen. Diesen zweiten Antrag bitte ich abzulehnen. Für die Artikel 1—29 ist das geschäftsordnungemäßig überhaupt nicht möglich, denn sie sind bereits angenommen, und die Anträge zu den anderen Artikeln sind schon am 27. Mai verteilt worden. Das Haus hatte also Gelegenheit, sich damit vertraut zu machen.

Abg. Dove (fortschr. Volksp.): Ich beantrage, den unerledigten Rest der Vorlage an die Kommission zu verweisen. Wir können nicht wissen, ob es nicht notwendig sein wird, auf andere Paragraphen wieder zurückzukommen.

Abg. Schultz (Rp.): Der Antrag zu Artikel 30 ist eine ganz isolierte Bestimmung und hängt mit allen anderen Bestimmungen des Gesetzes nicht zsammen. Wenn wir nicht Zeit verlieren wollen, haben wir nicht nötig, alles zurückzuverweisen. Ueber die anderen Be⸗ stimmungen müssen Sie ebenso informiert sein wie wir.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Daß auch die anderen Artikel nicht gründlich in der Kommission beraten sind, beweist der Umstand, daß sie in einer Fassung aus der Kommission herausgekommen sind, daß man, als man die Treppe herunterging, schon einsah, daß es so nicht bleiben kann. Aus der Sonderkommission hat man die Freisinnigen und uns ausgeschlossen. Daher kommt der Antrag, den Art. 59 wieder anders zu fassen. Ich weiß nicht, ob nicht bei einer nochmaligen Beratung wiederum eine andere Fassung herauskommen kann. Ich beantrage deshalb, das Ganze zurück⸗ zuverweisen.

Abg. Mugdan (fortschr. Volksp.): Nach der Geschäftsordnung kann in jedem Stadium der Beratung ein Gesetz an die Kommission zurück⸗ verwiesen werden. Sie werden alle der Kommission das Zeugnis aus⸗

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stellen, daß wir alle unbeschadet der politischen Stellung recht wacker zusammen gearbeitet haben, und man braucht nicht zu fürchten, daß Zeit vergeudet wird, um noch anderes in der Kommission zu be⸗ raten. Durch eine Kommissionssitzung werden wir nur Zeit ersparen. Ich bitte also, den. ganzen Rest des Gesetzes an die Kommission zu verweisen.

Der Antrag Dove auf Zurückverweisung des ganzen Restes mit den dazu gestellten Anträgen wird gegen die Stimmen der gesamten Linken mit Ausnahme eines Teils der National⸗ liberalen und der Polen abgelehnt; der Antrag des Abg. Grafen von Westarp, die Artikel 30 bis 32 c mit den dazu gestellten Anträgen zurückzuverweisen, wird angenommen.

Artikel 33 der Vorlage, wonach Vertragsverhältnisse, die beim Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung zwischen Kassen und Aerzten bestehen, spätestens 5 Jahre nach diesem Zeitpunkt endigen, ist von der Kommission abgelehnt worden.

Abg. Dr. Mugdan (fortschr. Volksp.): Die Einkommensgrenze für die Krankenversicherungspflicht ist gestern auf 2500 erhöht. Infolgedessen werden eine große Anzahl von Personen, namentlich Kaufleute, plötzlich versicherungspflichtige Mitglieder der Krankenkasse. Die Aerzte würden ohne weiteres gezwungen sein, diese neuen Mit⸗ glieder genau so zu behandeln wie die alten. Es werden sich eine Unmenge von Vertragsstreitigkeiten ergeben. Ich bitte daher, Artikel 33 an die Kommission zurückzuverweisen.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Wenn für die Mitglieder mit über 2000 Einkommen ein besonderer Vertrag veschtosen werden sollte, so würden eigenartige Mißverhältnisse entstehen. Vor allem würden die Kassen Mehrausgaben für diese Personen haben, ohne daß sie dafür Deckung fänden.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Die Kassen haben die einzelnen Verträge mit den Aerzten geschlossen auf Grund ihres jetzigen Mitgliederbestandes. Wenn neue Mitglieder hinzu⸗ treten, fallen sie unter diese Verträge nicht. Die Aerzte haben hiernach freie Hand, wie sie nach der neuen Sachlage ihr Vertrags⸗ verhältnis gestalten wollen, wozu auch reichlich Zeit vorhanden ist. Die Reichsversicherungsordnung greift da in keiner Weise ein.

Abg. Dr. Mugdan (fortschr. Volksp.): Es ist nicht so leicht, Verträge zu lösen. Die meisten sind dahin abgeschlossen, daß der Arzt die Behandlung für die Kasse übernimmt ohne Rücksicht auf die Mitgliederzahl. Durch Ihren gestrigen Beschluß zwingen Sie die Aerzte, etwa ½ Million Personen als Kassenpatienten mitzubehandeln. Gegen die dadurch neu entstehenden Streitigkeiten werden die bis⸗ herigen ein Kinderspiel sein. öAbg. Dr. Junck (nl.): Das, worüber sich Dr. Mugdan be⸗ schwert, hängt mit diesem Artikel gar nicht zusammen. Die Aerzte sind bezüglich derjenigen Mitglieder, die jetzt erst auf Grund der Reichsgesetzgebung krankenversicherungspflichtig werden, gar nicht an die bestehenden Verträge gebunden.

Abg. Molkenbuhr (Soz.): Ein erheblicher Teil derjenigen, die jetzt versicherungspflichtig gemacht werden, ist bereits versichert auf Grund der Versicherungsberechtigung. Die Aerzte können ein höheres Honorar nur verlangen, wenn die Kassen berechtigt sind, höhere Bei⸗ träge zu erheben. 8

Damit schließt die Diskussion.

Der Antrag auf Zurückverweisung an die Kommission wird zurückgezogen, Artikel 33 bleibt nach dem Kommissions⸗ beschluß gestrichen. 1“

Artikel 58 lautet in der Fassung der Kommission: 1“

„Binnen der ersten 10 Jahre nach dem 1. Januar 1912 werden

Hinterbliebenenbezüge auch beim Tode von Personen gewährt, welche

die Wartezeit nicht nach diesem Zeitpunkt erfüllt, aber wegen der

danach eingetretenen Invalidität Anspruch auf eine reichsgesetzliche

Invalidenrente erworben haben oder einen solchen Anspruch zur Zeit

ihres Todes für den Fall der Invalidität erworben haben würden.“

Art. 59 lautet in der Kommissionsfassung:

„Für die Hinterbliebenenrente, das Witwengeld und die Waisen⸗ aussteuer sind nur die Beiträge anzurechnen, die für die Zeit nach dem 1. Januar 1912 geleistet worden sind.“

Die Diskussion über Art. 58 und 59 wird verbunden.

Abg. Cuno (fortschr. Volksp.) beantragt die Streichung des nach seiner Auffassung überflüssigen Art. 58.

Die Abg. Schultz u. Gen. beantragen folgende abweichende Fassung der beiden Artikel:

Art. 58: „Bis zum 31. Dezember 1930 werden auf die Wartezeit für den Anspruch auf Hinterbliebenenbezüge auch die nach dem Invalidenversicherungsgesetz entrichteten Beiträge an⸗ gerechnet. Nach diesem Zeitpunkt kommen auf die Wartezeit nur die für die Zeit nach dem 1. Januar 1912 entrichteten Beiträge in Anrechnung.“ 8 1

Art. 59: „Für die Bemessung der Hinterbliebenenbezüge wird zur Berechnung des Grundbetrages der Invalidenrente die für die Zeit nach dem 1. Januar 1912 an 500 Beitragswochen fehlende

ahl aus den höchsten nach dem Invalidenversicherungsgesetz

entrichteten Beiträgen ergänzt. Reicht die Zahl dieser Beiträge hierzu nicht aus, so gilt für die fehlenden die Lohnklasse IJ. Für die Steigerungssätze sind nur die Beiträge anzurechnen, die für die Zeit nach dem 1. Januar 1912 geleistet worden sind.“

Abg. Molken buhr (Soz.) befürwortet die Streichung des Art. 59, der eine arge Verschlechterung darstelle.

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar bittet um Ab⸗ lehnung der Anträge, die von ganz irrigen Gesichtspunkten aus⸗ gingen. Für die Hinterbliebenenversicherung würden die Renten, trotzdem nichts gezahlt sei, sofort gewährt.

Abg. Cuno C(fortschr. Volksp.): Wir fragen mit dem Abg. Molkenbuhr: Ist das Deckungskapital noch vorhanden, um den Witwen und Waisen sofort eine auskömmlichere Rente zu gewähren? Es ist noch vorhanden, und es wäre also eine große Ungerechtigkeit, den Witwen etwas zu nehmen, um vielleicht an anderer Stelle etwas zu decken. Auch nach dem neuen Antrag, den uns die Mehrheit unterbreitet, wird diese Ungerechtig keit nicht aus der Welt geschafft. Durch diese Witwenrentenkürzung kommt auch das moralische Moment zu kurz: man liefert damit nur den Sozialdemokraten Wasser auf ihre Mühle. Für den Fall der Ablehnung der Streichung des Art. 59 beantragen wir, den letzten Satz des Art. 59 nach dem Antrage Schultz folgende Fassung zu geben: „Für die Steigerungssätze werden die Beiträge, die für die Leit vor dem 1. Januar 1912 geleistet worden sind, nur dann an⸗ gerechnet, wenn nach dem 1. Januar 1912 mindestens 200 Beiträge geleistet sind“. 8

Direktor im Reichsamt des Innern Caspar: Die regel⸗ mäßige Dauer der Uebergangszeit wird nicht 40 oder 50, sondern nur 10 Jahre dauern; dann sind die vorgeschriebenen 500 Beitrags⸗ wochen erfüllt. Ganz ausnahmsweise wird sie bis zu 25 Jahren dauern. Ich bitte, auch den Eventualantrag Ablaß abzulehnen.

Abg. Molkenbuhr (Soz): Die Rechnung des Direktors Caspar stimmt doch nicht. Es wird das Jahr 1962 herangekommen sein, bis hier ein wirklicher Beharrungszustand eingetreten ist.

Abg. Dr. Potthoff (fortschr. Volksp.): Die Unterlagen, die die Regierung für ihre Berechnungen und Vorschläge gibt, sind tatsächlich durchaus falsch. Selbst wenn die Uebergangszeit nur 25 Jahre ausmachte, würde sie noch viel zu lang sein; aber diese Annahme ist falsch, denn bis 1950 oder 1960 bleibt eine Differenz zwischen der tatsächlich erworbenen und der nach der Reichsversicherungsordnung zuständigen Rente. Die Uebergangszeit wird mindestens 40 bis 50 Jahre betragen. Die Hinterbliebenen bekommen überhaupt nur die Hälfte von dem, was ihnen 1902 gesetzlich feierlich versprochen ist; für die nächsten Jahre nach dem Inkrafttreten der Reichsversicherunags⸗ ordnung ist die Summe dessen, was man den Witwen nimmt, größer als die Gesamtsumme dessen, was man ihnen gibt. So etwas können wir gar nicht beschließen; die Witwen können doch nicht dafür, daß die erwarteten 300 Millionen aus dem Zolltarif nicht eingelaufen oder durch andere Kanäle verschwunden sind.

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