1911 / 150 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 28 Jun 1911 18:00:01 GMT) scan diff

iäe.. Landtag. .Sitzung vom 27. Juni 1911, Nachmittags 1 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sitzung, in der zunächst der Ent⸗ wurf eines Ausführungsgesetzes zum Reichs⸗

zuwachssteuergesetz vom 14. Februar 1911 beraten wird, st in der gestrigen Nummer des Blattes berichtet worden.

Finanzminister Dr. Lentze:

Meine Herren! Die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert ist eine Kommunalsteuer; sie wird nicht vom Staate erhoben, sondern von den Kommunen, und zwar wird sie von diesen an Stelle der staatlichen Grund⸗ und Gebäudesteuer durch Ortsstatut auf Grund des Kommunalabgabengesetzes eingeführt. Sie hat in den Kommunen bisher großen Anklang gefunden, aber nicht etwa deshalb, weil sie besonders ergiebig ist, sondern deshalb, weil man glaubt, damit eine vollkommenere Einschätzung herbeigeführt zu haben, als sie bisher möglich war. Bekanntlich wird nach dem staatlichen Steuergesetz die Grundsteuer nach dem Betrage erhoben, welcher 1850 festgesetzt worden ist, die Gebäudesteuer nach dem Ertrage der einzelnen Ge⸗ bäude. Nun hat sich aber doch im Lauf der Zeit ergeben, daß die reine Ertragssteuer in vieler Hinsicht nicht zutrifft, daß ich will einmal bei der Gebäudesteuer bleiben gerade diejenigen Häuser, welche von kleinen Leuten bewohnt werden, und welche da⸗ durch eine hohe Miete bringen, in der Gebäudesteuer zu hoch getroffen werden, wenn sie nach dem Ertrage besteuert werden. Die Häuser, welche von kleinen Leuten bewohnt werden, bringen ja eigentümlicher⸗ weise einen sehr viel höheren Ertrag als diejenigen Häufer, welche von wohlhabenden Leuten bewohnt werden. Die starke Abnutzung der Gebäude und außerdem das Risiko, das der Vermieter beim Vermieten der einzelnen Wohnungen läuft, hat dazu geführt, daß die Mieten in den kleinen Wohnungen erheblich höher sind als im Durchschnitt bei den anderen Häusern. Wenn man nun vier Prozent von dem Ertrage eines solchen Hauses als Gebäudesteuer festsetzt, so ergibt sich, daß gerade aus den Häusern, die von kleinen Leuten bewohnt werden, er⸗ heblich höhere Steuern herausgezogen werden als aus den besseren Wohnungen. Auf der anderen Seite ist es aber doch gerade bei den Gebäuden erwünscht, daß die teueren Wohnungen auch in bezug auf die Steuer erheblich mit herangezogen werden, und des⸗ halb war die Grundsteuer nach dem gemeinen Werte gerade ge⸗ eignet, um da einen Ausgleich eintreten zu lassen. Wenn man bei einer Wohnung, welche für ein größeres Baukapital bergestellt worden ist, den Mietwert als solchen tarxiert,

so ist der Mietwert immer gering; denn es gibt nicht viele Leute i einer Stadt, welche sich eine Wohnung zu einem solchen Mietwerte mieten können. Dagegen ist der gemeine Wert des Grundstücks immerhin sehr genau zu taxieren, und infolgedessen werden solche Häuser gerade die besseren Häuser nach dem gemeinen Wert höher zur Steuer herangezogen werden. Bei den Grundstücken liegen, wenigstens in städtischen Gebieten, die Verhältnisse ganz ähnlich, denn eine Reihe von Grundstücken sind in die Hände von Leuten geraten, welche sie zu Bauspekulationszwecken ausnutzen wollen, und wenn da die Steuer so außerordentlich gering ist, wie sie das nach dem Grund⸗ steuergesetz aus den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist, so wird ein großes Kapital eigentlich gar nicht zur Grundsteuer ver⸗ anlagt. Die Grundsteuer ist im Verhältnis zum Werte der Grundstücke gerade in der Nähe der Städte so außerordentlich gering, daß eine beträchtliche Summe überhaupt nicht herauskommen kann. Nun will ich dem Herrn Vorredner darin durchaus recht geben, daß die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert gefährlich wirken könnte, wenn nicht zugleich eine Höchstgrenze festgesetzt würde. In dem Kommunalabgabengesetz ist aber ausdrücklich bestimmt, daß die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert in einer Gemeinde nicht mehr einbringen darf als die Grund⸗ und Gebäudesteuern, wie sie vom Staate veranlagt worden sind. Es muß immer erst der staatliche Steuerertrag zugrunde gelegt werden, und dann erst wird die Grund⸗ steuer nach dem gemeinen Wert umgelegt; dadurch wird erreicht, daß die Endsummen dieselben sind, es ist nur die Art der Verteilung, die Unterverteilung auf die einzelnen Steuerpflichtigen, eine andere. Ich kann infolgedessen dem Herrn Vorredner auch nicht ganz beipflichten, wenn er sagt, daß die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert gerade für den Grundbesitz gefährlich und verderblich wirken kann. Es mag ja sein, daß, wenn der Grundbesitz in die Hände von Spekulanten gerät, die ihn dann sehr lange festhalten, und vor allen Dingen in die Hände von Spekulanten, die sehr kapital⸗ kräftig sind, daß dadurch gerade das Gegenteil von dem erreicht wird, was man durch die Steuer hat erreichen wollen, nämlich die Grundstücke an den Markt zu bringen. Ich glaube auch, daß man nicht sagen kann, daß durch die Grundsteuer nach dem ge⸗ meinen Wert die Grundstücke nun alle ohne weiteres an den Markt gebracht werden. Kapitalkräftige Leute sind sehr wohl in der Lage, trotz der Steuer die Grundstücke in ihrer Hand zu behalten und ab⸗ zuwarten, bis sie daran kommen; sie sind vor allen Dingen auch in der Lage, die Grundstücke derjenigen zu erwerben, denen die Grund⸗ steuer nach dem gemeinen Wert zu hoch ist und die infolgedessen ver⸗ äußern müssen. Daß also eine zweischneidige Wirkung der Grund⸗ steuer nach dem gemeinen Werte eintreten kann, will ich nicht in Abrede stellen. Auf der andern Seite aber liegt darin, daß die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert in ihrem Endeffekt nicht höher veranlagt werden kann, als die staatlichen Grund⸗ und Gebäudesteuern, ein ganz wesentliches Korrektiv dagegen, und infolgedessen glaube ich nicht, daß man die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert wieder abschaffen wird. Sie hat auch sehr wesentliche Vorzüge. Die Vorzüge bei der Gebäudesteuer sind unverkennbar, denn es ist doch widersinnig, daß die Gebäude der kleinen Leute erheblich höher zur Gebäudesteuer herangezogen werden als große und teure Häuser. Das kann man sowohl vom sozialpolitischen, ols auch vom allgemeinen Standpunkte aus nicht verantworten; für die Ge⸗ bäudesteuer würde man also von der Grundsteuer nach dem gemeinen Wert nicht abgehen können. Bei der gewöhnlichen Grundsteuer sprechen sowohl Momente für wie auch Momente gegen die Be⸗ steuerung nach dem gemeinen Wert; aber die Momente, die dafür sprechen, fallen schwerer ins Gewicht. Ich kann deshalb ich spreche in diesem Falle nur für meine Person doch nicht in Aussicht stellen, daß die Grundsteuer nach dem gemeinen Wert so bald gesetzlich ab⸗

Fürst zu Salm⸗Horstmar: Nach dem mir vorliegenden Ma⸗ teria

doch darauf zurückzuführen, daß die Steuer sehr ergiebig ist. Die Stadt Königsberg hat eine Vorsteuer eingeführt, die durchaus ungesetzlich ist. Meine Ausführungen gingen nicht sowohl gegen die Gebäude⸗ steuer als gegen die Steuer auf den unbebauten Besitz. Wohin soll es kommen, wenn die Mobilisierung des Grundbesitzes sich immer weiter ausbreitet? Dann ist der Zukunftsstaat fertig. Darüber, daß der Wert der Grundstücke leicht zu schätzen ist, wie der Minister meinte, gehen die Meinungen doch sehr auseinander. Mit welchem Recht will man dem Spekulanten, der doch einmal diesen Beruf hat, sein Eigen⸗ tum wegnehmen? Ich werde jede Gelegenheit benutzen, um gegen die Grundwertsteuer zu kämpfen.

des Fürsten Salm Stellung nehmen. Die Steuer nach dem gemeinen Werk ist eine gerechtere und objektivere Veranlagung, als nach dem Ertrage. Daß die Wertsteuer auf eine Enteignung, hinausgeht, kann ich nicht zugeben. Jede neue Steuer wirkt schließlich auch wie eine Enteignung. Die Königsberger Vorsteuer ist zurückzuführen auf den Wegfall der Rayonbeschränkung, die es nahelegte, die Grundstücke höher heranzuziehen. Ich kann mich im übrigen den Ausführungen des Ministers anschließen. 2

von den Rechtsmitteln handelt, schwere Bedenken über die schwere Belastung, die dem Kreisausschuß hierbei zugemutet wird.

handelt, befürwortet

Grundsteuer nach dem gemeinen Wert auf den den Gemeinden zu⸗ stehenden Teil der Reichswertzuwachssteuer angerechnet werden soll. Er will damit eine Doppelbesteuerung vermeiden.

zu Salm abzulehnen. Die beiden Steuerarten, welche Herr Fürst zu Salm miteinander vereinigen will, haben eigentlich mehr den Namen miteinander gemeinsam, als eine innere Verwandtschaft. Die Reichswertzuwachssteuer soll einen Teil des Erlöses des Grundstücks den Gemeinden und dem Reiche zuführen, während die Grundsteuer nach dem gemeinen Werte nur eine anders modifizierte Art der Grundbesteuerung im allgemeinen ist. Bis dahin hatten wir in Preußen schon die Grundbesteuerung, und nur in etwas anderer Form wird sie nach dem gemeinen Wert umgelegt. Nun würde es in keiner Weise billig sein, daß diese Grundsteuer nach dem gemeinen Wert auf die einmalige Steuer, welche fällig wird, wenn jemand sein Grundstück mit erheblichem Gewinn verkauft, angerechnet werden soll. Infolgedessen würde dies in den Rahmen des Gesetzes nicht hineinpassen. Ich bitte Sie deshalb, den Antrag des Herrn Fürsten Salm ab⸗ zulehnen.

§ 3 unverändert angenommen.

nach den Vorschriften des Reichsgesetzes den Gemeinden und Gemeindeverbänden verbleibt, die kreisangehörige Gemeinde, sofern sie nicht mehr als 15 000 Einwohner hat, %, sofern sie mehr als 15 000 Einwohner hat, ¾&, den Rest des Anteils der Kreis erhalten. Die Kreise haben den auf sie entfallenden Steueranteil für ihre eigenen Aufgaben und zum Teil, jedoch höchstens bis zur Hälfte, auch für diejenigen einzelner Ge⸗ meinden und Gutsbezirke zu verwenden.

genommen, ebenso § 5, der die Uebergangsbedingungen enthält, und der Rest des Gesetzes und das Gesetz im ganzen.

auf Antrag Albers (Zentr.) im Abgeordnetenhause an⸗ genommenen Gesetzentwurf zur Abänderung des Ge⸗ setzes über die Einführung der Provinzialordnung von 1875 in der Provinz Westfalen, wonach hinfort für

60 000 bis 120 000 Einwohnern 2, bei mehr als 120 000 Ein⸗

wohnern 3 und für jede weitere volle Zahl von 100 000 Ein⸗ wohnern 1 Abgeordneter mehr gewählt werden soll.

des Entwurfes an die Kommission. Für die vorgeschlagene

geschafft werden wird.

8

[an die Staatsreglerung abgelehnt ist.

ist die Einführung der Grundwertsteuer nach dem gemeinen Wert

Herr Dr. Oehlers⸗Düsseldorf: Ich muß gegen die Ausführungen

8

Damit schließt die Generaldiskussion. In der Spezialdiskussion äußert Herr von Buch zu § 2, der

Zu § 3, der von der Verteilung der Zuwachssteuer

Fürst zu Salm⸗Horstmar einen Antrag, wonach die gezahlte

Finanzminister Dr. Lentze: Meine Herren! Ich möchte Sie bitten, den Antrag des Fürsten

Der Antrag des Fürsten zu Salm wird abgelehnt und

Nach § 4 soll von dem Anteil an der Zuwachssteuer, der

Der Paragraph wird ohne Debatte unverändert an⸗

Die Kommunalkommission hat ferner beraten über den

jeden Kreis unter 60 000 Einwohnern 1 Abgeordneter, bei über

Die Kommission empfiehlt die Annahme des Gesetzentwurfs. Herr Dr. Oehler⸗Düsseldorf beantragt die Zurückverweisung

Neuerung seien die Gründe der Antragsteller nicht bekannt ge⸗ geworden; auch die Regierung habe eine abwartende Stellung ein⸗ genommen. Wegen der nicht übersehbaren Konsequenzen des Be⸗ schlusses für andere Provinzen, wie die Rheinprovinz, Schlesien usw., und bei der Mangelhaftigkeit des Materials sei es geboten, die Sache nicht zu übereilen und die Regelung auf später zu verschieben.

Referent Fürst zu Salm⸗Horstmar verweist darauf, daß das Abgeordnetenhaus schon im vorigen Jahre denselben Antrag, und damals sehr einfach, verhandelt habe. Auch damals sei er ans Herren⸗ haus gelangt, hier aber, da keine Kommissionsberatung statt⸗ gefunden habe, auf Antrag des Dr. Lentze, des jetzigen Finanz⸗ ministers, abgelehnt worden. Diesmal liege die Sache anders; es habe eine gründliche Kommissionsberatung stattgefunden.

Der Antrag Oehlers wird abgelehnt.

Der Referent geht nunmehr auf den materiellen Inhalt des Entwurfs, der einer Anregung des westfälischen Provinziallandtags entspringt, näher ein. Die Tendenz des Antrages sei die Erreichung einer gewissen Kontingentierung der Abgeordneten, um ihre Zahl nicht ins Ungemessene wachsen zu lassen, und der Notwendigkeit des kostspieligen Neubaues eines Ständehauses überhoben zu sein. Die hier und da ausgesprochene Besorgnis, daß der Antrag eine Ungerechtigkeit gegen die großen Städte sei, und das Uebergewicht des platten Landes, des agrarischen Teiles der Bevölkerung in per- petuum konservieren wolle, widerlege sich schon dadurch, daß der Provinziallandtag mit allen gegen 6 Stimmen den Antrag angenommen habe, worunter sich auch die Vertreter von Dortmund befanden. Neuerdings sei auch vom Oberbürgermeister von Gelsenkirchen eine Petition gegen den Antrag beim anderen Hause eingegangen, welche auch die Unterschriften von solchen trage, die im Provinziallandtage für den Antrag gestimmt hätten; es lasse sich aus diesem Um⸗ stande aber kein ausreichender Grund gegen die Annahme des Ent⸗ wurfs herleiten. Dem Herrenhause sei diese Petition nicht zugänglich gemacht worden.

Der Gesetzentwurf wird angenommen.

An dritter Stelle der Tagesordnung steht die Beratung über den eventuell von dem Abgeordnetenhause zurückzuerwartenden Gesetzentwurf wegen Abänderung der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz auf Grund eines Berichts der Kommunalkommission. Da die Vorlage noch nicht eingelaufen ist, entfällt die Beratung dieses Gegenstandes. 5. b

Es folgen Kommissionsberichte und Petitionen. Die Petition der Wärter des Königlichen Landgestüts in Waren⸗ dorf um etatsmäßige pensionsberechtigte Anstellung der Gestütswärter wird durch Uebergang zur Tagesordnung erledigt, nachdem ein Antrag des Grafen von Schmiesing auf Ueberweisung zur Berücksichtigung

Die Petition des Bürgermeisters zu Stolberg (Rheinland) um Abhaltung des Musterungs⸗ und Aushebungsgeschafts für die Stadt Stolberg und Umgebung in Stolberg wird der Staatsregierung zur

Erwägung überwiesen. 3 Ueber die Petition des Admirals z. D. von Knorr zu Berlin und

der übrigen preußischen Mitglieder des Vertreterausschusses des anti⸗ ultramontanen Reichsverbandes um Aufhebung der diplomatischen Vertretung Preußens bei dem Päpstlichen Stuhl berichtet namens der Petitionskommission Herr von Putttamer. Die Petenten haben aus⸗ geführt, daß nach Aufhebung des Kirchenstaates der Papst nur noch als Vertreter der katholischen Christenheit in Betracht komme. Zahl⸗ reiche Staaten hätten überhaupt keine diplomatische Vertretung bei der päpstlichen Kurie, und dies habe zu Unzuträglichkeiten nicht geführt. Eine solche Vertrelung legitimiere einen unberechtigten politischen Einfluß des Papstes. Es set auch eine Anomalie, daß es in Preußen keine päpstliche Nuntiatur gebe. In der Kommission ist auf die Ver⸗ handlungen des Abgeordnetenhauses vom März zurückgegriffen und auf die Haltung des Reichskanzlers zu dieser Frage hingewiesen worden. Das Abgeordnetenhaus hat sich den Argumenten des Reichskanzlers angeschlossen und die Kosten für die preußischen Gesandten bei der Kurie bewilligt; dasselbe hat das Herrenhaus getan. In der Kom⸗ mission des Herrenhauses wurde von einer Seite beantragt, die Petition der Staatsregierung als Material zur weiteren Prüfung zu überweisen, während die Mehrheit Uebergang zur Tagesordnung empfohlen hat. Ich empfehle Ihnen diesen Beschluß zur Annahme. Eine Debatte ehs sich nicht; der Antrag der Kommission wird um Beschluß erhoben. 1 nebsa die Petition der Handelskammer zu Altong um Berück⸗ sichtigung ihrer Vorschläge zur Verwaltungsreform wird mit Rück⸗ sicht darauf, daß die Angelegenbeit noch nicht spruchreif ist, zur Tages⸗ ordnung übergegangen. Die Petition der Frau Justizrat Bennewitz zu Halle und Louise Wenzel zu Cöln, namens des „Rechtsschutz verbandes für Frauen“ um gesetzliche Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Dienstboten, und die Petition des Bromberger Bürgervereins um kostenlose Ueberlassung der Bromberger Schleusenpromenade an die Stadt zur Pflege und Unterhaltung werden der Staats⸗ regierung als Material überwiesen; die Petition des Bürgervereins Rixdorf⸗Nord um Beseitigung der Wahlrechtsbeeinträchtigung, die den Beamten usw. aus ihrem Kommunalsteuerprivileg entsteht, wird durch Uebergang zur Tagesordnung erledigt und die Petition des Magistrats und des Stadtverordnetenvorstehers zu Rybnik um Ausbau des König⸗ lichen Progymnasiums daselbst zum Vollgymnasium mit Rücksicht darauf, daß nach Mitteilung der Staatsregierung die Angelegenbeit im Sinne der Petenten ihre Erledigung finden wird, für erledigt erklärt.

Damit ist die Tagesordnung erledigt.

Schluß 4 Uhr. Nächste Sitzung Mittwoch 1 Uhr. (Kleinere

Vorlagen und Petitionen.) 1““ . 5

Haus der Abgeordneten. 96. Sitzung vom 27. Juni 1911, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.) 3

Genossen, betreffend Verhütung der Ueberschwemmungen am Oppaflusse, und des schleunigen Antrags, der Abgg. Engelsmann, D. Hackenberg und Genossen, betreffkend Gewährung staatlicher Unterstützung an die durch Hagelwetter im Weinbaugebiete der Nahe geschädigten Bewohner, setzt das Haus die Be⸗ ratung des vom Herrenhause in abgeänderter Fassung zurück⸗ gelangten Entwurfs eines Zweckverbandsgesetzes für Groß⸗Berlin fort. 8

Ueber den Anfang der Verhandlungen ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Zu § 4 referiert der Berichterstatter

Abg. Dr. von Kries (kons.) ausführlich über die dazu vom Herrenhause beschlossenen Aenderungen. Speziell verbreitet er sich über die Tragweite des Herrenhausbeschlusses, wodurch in der Be⸗ stimmung, daß der Verband berechtigt ist, den Kreisen und Gemeinden gehörende Bahnen gegen „angemessene“ Entschädigung zu erwerben, das Wort „angemessene“ gestrichen ist.

Nach einer kurzen Bemerkung des Abgeordneten Cassel (fortschr. Volksp.), der dieser Abänderung eine besondere Be⸗ deutung nicht beimessen kann, wird § 4 nach dem Beschlusse des Herrenhauses angenommen, ebenso nach unerheblicher weiterer Debatte der Rest des Gesetzes und schließlich das Gesetz im ganzen gegen die Stimmen der Polen, Sozialdemokraten und der Fortschrittlichen Volkspartei. Die Resolution Aronsohn auf baldmöglichste Vorlegung eines allgemeinen Wohnungs⸗ gesetzes wird abgelehnt, die Resolution von Brandenstein auf baldtunlichste Vorlegung eines Gesetzes wegen Verbesserung der Wohnungsverhältnisse in den Großstädten und Industriezentren angenommen.

Es folgt die Beratung des vom Herrenhause in ab⸗ geänderter Fassung zurückgelangten Entwurfs eines all⸗ gemeinen Zweckverbandsgesetzes.

Die Kommission beantragt die unveränderte Annahme nach den Beschlüssen des Herrenhauses.

Nach § 2 ist, wenn die Beteiligten mit der Bildung eines Zweckverbandes nicht einverstanden sind, dessen Bildung nur zur Erfüllung von solchen kommunalen Aufgaben, die allen Beteiligten gesetzlich obliegen und nur dann zulässig, wenn die Bildung des Zweckverbandes im öffentlichen Interesse not⸗ wendig ist. Auf Antrag von mindestens einem Drittel der Be⸗ teiligten oder auf Antrag der Kommunalaufsichtsbehörde kann der Oberpräsident die Beschlußfassung des Kreisausschusses über die Ergänzung der mangelnden Zustimmung herbeiführen. Gegen den Beschluß ist die Beschwerde an den Bezirks⸗ ausschuß und Provinzialrat sowie die Klage beim Ober⸗ verwaltungsgericht zulässig; die Klage kann jedoch nur darauf gestützt werden, daß die betreffenden Kommunal⸗ aufgaben den Beteiligten nicht gesetzlich obliegen. Das Herren⸗ aus hat die Bestimmung hinzugefügt, daß die Bildung des Zweckverbandes unterbleibt, wenn ein Beteiligter die kommunalen Aufgaben selbst übernimmt und den übrigen Beteiligten die Mitbenutzung einer kommunalen Anstalt gegen Entschädigung einräumt. 8

Die Abgg. Cassel (fortschr. Volksp.) und Genossen beantragen, den § 2 ganz zu streichen und für den Fall der Ablehnung dieses Antrags statt „einem Drittel“ zu sagen: „der Mehrheit“ sowie die Worte „oder auf Antrag der Kommunal⸗ aufsichtsbehörde“ zu streichen; ferner an Stelle des Zusatzes des Herrenhauses eine Bestimmung einzufügen, daß, wenn einer der Beteiligten ein Kreis ist, die Bildung des Zweckver⸗ bandes durch Gesetz zu erfolgen hat. 3

§ 7 trifft Bestimmungen über die Regelung der Verhält⸗ nisse zwischen den Beteiligten bei der Bildung des Zweck⸗ verbandes. Einzelne Beteiligte können zu Porausleistungen verpflichtet werden, wenn die übrigen schon vorher für gewisse

Verbandszwecke Vorsorge getroffen oder einen 5

1I“ *

Vorteil von der Verbindung haben.

1 89

zu streichen oder eventuell statt „der Hälfte“ zu sagen: „zwei

einzelne Gegenstände kann durch einen in geheimer Sitzung zu

Nach Erledigung der Interpellation der Abgg. Bitta und

tretung durch den Bürgermeister oder Amtmann geschehen könne.

ger eren

Die Abg. Cassel Gen. be 1 b g el u. . beantra 5 8 agen⸗ „mössen. gen, statt „können Zu § 12 (Verteilung der Ab ie ei g der Abgeordneten auf die einzelnen Pedt sdhi er⸗ beantragen dieselben Abgeordneten, die Be⸗ stimmung „in Zweckverbänden mit mehr als drei Verbands⸗

gliedern soll die Abgeordnetenzahl eines Verbandsglieds der

Regel nach hinter der Hälfte der Gesamtzahl zurückbleiben“

5

n § 23, wonach der Verbandsausschuß über die Oeffent⸗

lichkei; seiner Verhandlungen beschließt, . beüfbne G ießt, beantr

Abg rordneten die Fassung? schließ antragen dieselben

„Die Sitzungen des Verbandsausschusses sind öffentlich. Für

fassenden Beschluß die Oeffentlichkeit ausgeschlossen werden.“ Die Abgg. Bitta (Zentr.) u. Gen. beantragen zu § 13 in. der Bestimmung, daß in der Rheinprovinz und Westfalen als Abgeordneter der Gemeinde an Stelle des Gemeindevorstehers Kreisausschuß der Bürgermeister (Amtmann) zum Mitgliede des Verbandsausschusses bestellt werden kann, die Einschaltung, daß dies nur auf Antrag des Gemeindevorstehers geschehen kann. Aenderichterstatter Abg. Ecker⸗Winsen (nl.) referiert über die Nenderungen, die das Herrenhaus beschlossen hat, und empfiehlt deren Abg. Dr. Flesch (fortschr. Volksp.): Nach der Vorlage soll alles der Kretsausschuß machen. Wir können für diese Vorlage nicht stimmen und befinden uns dabei in der guten Gesellschaft der sämt⸗ lichen Vertreter der Städte im Herrenhaus. Dort ist das Gesetz als eine schwere Beeinträchtigung der Selbstverwaltung und der Ent⸗ vigung der Städte gekennzeichnet worden. Man kann mit Hegit sagen, daß dies nicht ein Gesetz für die Städte, sondern gegen die Städte ist. Man muß fragen, wozu denn überhaupt dieses Gesetz gemacht wird. Die Regierung macht sich die Begründung leicht, indem sie einfach auf das eng⸗ kische Vorbild hinweist. Das Haus hat allerdings einmal durch Beschluß die Regierung ersucht, die Zulassung von Zweck⸗ verbänden nach der Landgemeindeordnung für die östlichen Provinzen auf die ganze Monarchie auszudehnen. Aber das ist ekwas ganz anderes, denn da handelt es sich um die Zulassung von Verbänden nach diesem Gesetz aber kann ein Feeeng ausgeübt werden. Vor allem wünschen wir, daß die Möglichkeit der Zwangsbildung in § 2 geistrichen wird, und daß, wenn ein Kreis beteiligt ist, die Verbands⸗ 8 dacg rur gsch Gesed erfolgen kann. Im ganzen müssen wir aber 2 Abg. Dr. Iderhoff (freikons.): Wir wünschen, daß das Gesetz noch in dieser Sessivn zustande tommt. Infolgedessen sind wir nicht in der Fage, einen der vorliegenden freisinnigen Anträge anzunehmen. Nachdem der Minister in der Kommission erklärt hat, daß er die Landräte dahin verständigen werde, daß nur dann in der Rhein⸗ provinz und Westfalen als Abgeordneter der Gemeinde an Stelle des Gemeindevorstehers der Bürgermeister bezw. Amtmann zum Mitgliede des Verbandsausschusses bestelt werden soll, wenn der Gemeinde⸗ vorsteher zustimmt, werden wir auch den Antrag Bitta ablehnen, um nicht die Vorlage irgendwie zu gefährden. s *8 Abg. Dr. Ecker⸗Winsen (nl.): Der Entwurf enthält viele Ver⸗ besserungen gegenüber der ursprünglichen Regierungsvorlage. Eine Verbesserung ist auch die von den Gegnern eines Zwangszweck⸗ verbandes im Herrenhause eingebrachte Aenderung, daß die Zwangs⸗ v eines Zweckverbandes unterbleibt, sofern und solange ein Beteiligter bereit und im stande ist, die gemeinsame Aufgabe dadurch zu erfüllen, 8 er den übrigen Beteiligten die Mitbenutzung einer kommunalen Anstalt gestattet. Eine Reihe weiterer Beschlüsse fordert aber einen großen Teil meiner Freunde zum Widerspruch gegen die Fassung des Herrenhauses heraus. Wir wollen aber daran die Vorlage nicht scheitern lassen und werden dem Gesetzentwurf in der Fassung des Herrenhauses zustimmen. 8 b Abg. von Brandenstein (kons.): Die Aenderungen des Herren⸗ aufes entsprechen zwar nicht unseren Ansichten und Wünschen, sind aber nicht erheblich genug, um eine Zurückverweisung an das andere Haus gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Wir werden darum dem Entwurf in der jetzigen Fassung zustimmen. 6 Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Unsere Stellungnahme gegen das esetz war von vornherein klar. Wir lehnen einen jeden Zwangs⸗ zweckverband ab, also auch die Fassung des Herrenhauses. 8 Abg. Fink (nl.): Namens eines Teiles meiner Freunde muß ich zum Ausdruck bringen, daß wir nicht in der Lage sind, für den Gesetz⸗ entwurf zu stimmen. Wir verkennen nicht, daß im einzelnen Falle ein Zweckverband gut und nützlich sein kann, müssen uns aber gegen den Zwang aussprechen, der in diesem Gesetzentwurf enthalten ist, und glauben, daß solche Dinge besser der freien Entschließung und privatrechtlichen Abmachungen überlassen werden. Ein Bedürfnis für ein solches Gesetz ist bis jetzt nicht hervorgetreten. Die Begründung des Gesetzentwurfs durch die Regierung enthält auch nur höchst mangelhaftes Material. Soweit schon jetzt die Möglichkeit zu einem solchen Zwange, wie ihn das Gesetz vorsieht, gegeben ist, ist davon wenig Gebrauch gemacht worden. Die Sache ist nur ein Schlag gegen die Selbstverwaltung und das Selbstbestimmungsrecht, und wir können den Weg, den das Gesetz beschreiten will, nicht gutheißen. Damit schließt die allgemeine Besprechung.

In der Einzelberatung wird § 1 ohne Debatte an⸗ genommen. .

h 2 befürworten die Abgg. Cassel und Flesch (fortschr. Volksp.) noch einmal die fortschrittlichen Anträge. 82 wird unter Ablehnung der Anträge Cassel unver⸗ ändert angenommen.

g- § 13 tritt der

Abg. Herold (Zentr.) für den Antrag Bitta ein. Die Gemeinde⸗ vorsteher in Nheinland und Westfalen müßten den Gemeindevorstehern in den Böstlichen Provinzen gleichgestellt werden. Die Erklärung 88 Regierung könne nicht genügen. Es müsse im Gesetz zum Aus⸗ ruck kommen, daß nur auf Antrag des Gemeindevorstehers die Ver⸗

Minister des Innern von Dallwitz:

1 Ich bin gern bereit, die Bedenken, die der Herr Vorredner soeben geäußert hat, zu zerstreuen. Es liegt tatsächlich in der Tendenz des Gesetzes, daß nur ausnahmsweise die Gemeindevorsteher durch die Bürgermeister in diesen Funktionen ersetzt werden sollen. Ich kann deshalb erklären, daß ich bereit bin, in der Ausführungsanweisung die Landräte noch ausdrücklich anzuweisen, dem Kreisausschuß die Bestellung der Landbürgermeister an Stelle der Gemeindevorsteher nur ausnahms⸗ weise und nur nach Anhörung der Gemeindevorsteher und nur dann vorzuschlagen, wenn besonders gewichtige Gründe hierzu Anlaß geben. Hierbei wird zugleich auf die Verpflichtung hingewiesen werden, gegebenenfalls bei gegenteiligen, nicht sachlichen Beschlüssen der Kreis⸗ ausschüsse die Offizialbeschwerde gemäß § 123 des allgemeinen Landes⸗ verwaltungsgesetzes einzulegen. Eine derartige Anweisung ist umsomehr angebracht, als es sich hier um Funktionen handelt, die die Kreis⸗ ausschüsse nicht als Organe der Selbstverwaltung, sondern als ein mit⸗ wirkendes Organ bei der staatlichen Aufsicht ausüben.

Abg. Cassel (fortschr. Volkep.) erklärt sich für den Antrag Bitta. Daß im Falle der Annahme das Gesetz an das Herienhaus zurück gehen müsse, sei kein Grund, „uun auf die Annahme des Antrages zu

geändert durch die

Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Die Regierung hat schon oft Er⸗ klärungen abgegeben, aber sie hat selbst feierliche Erklärungen nicht gehalten. Es wird hier immer Komödie gespielt.

Präsident von Kröcher ruft den Redner wegen dieses Vorwurfs gegen den Minister zur Ordnung.

Abg. Herold (Zentr.) zieht nach der Erklärung des Ministers seinen Antrag zurück.

Abg. Cassel (fortschr. Volksp.): Die Erklärungen des Ministers haben nicht dieselbe Bedeutung wie eine gesetzliche Aktion. Es wäre deshalb besser gewesen, wenn der Vorredner den Antrag aufrecht

erhalten hätte.

Abg. Winckler (kons.): Wenn der Minister, der mit der Aus⸗ führung des Gesetzes beauftragt wird, Ausführungsanweisungen er⸗ läßt, so wird darin ein Niederschlag derjenigen Erwägungen zu sehen sein, die für die Fassung des betreffenden Gesetzes maßgebend waren. Nach der jetzt abgegebenen Erklärung des Ministers ist also der Antrag vollkommen unnötig. .

Die Abgg. Liebknecht (Soz.) und Flesch fortschr. Volksp.) nehmen den Antrag Bitta wieder auf.

In der Abstimmung stimmen für den Antrag Bitta nur die Volkspartei, Polen und Sozialdemokraten. Der Antrag wird abgelehnt. Der § 13 wird unverändert angenommen.

Ebenso werden die übrigen Teile des Gesetzes unter Ab⸗ lehnung der Anträge der Volkspartei unverändert angenommen. —In der Gesamtabstimmung wird das Gesetz gegen die Stimmen der Volkspartei, der Polen, der Sozialdemokraten und eines Teiles der Nationalliberalen angenommen.

Es folgt die Beratung des bereits am 10. Januar ein⸗ gebrachten Antrages der Abgg. Aronsohn u. Gen.:

die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, noch in dieser

Session einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen 1) unter

Abänderung der Artikel 70, 71, 72 und 115 der Preußischen Ver⸗

fassungsurkunde für die Wahlen zum Abgeordnetenhause das all

gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe zur Einführung gelangt, 2) zu⸗ gleich auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember

1905 und entsprechend den Grundsätzen vom 27. Juni 1860 eine

anderweitige Feststellung der Wahlbezirke für

die Wahlen zum Abgeordnetenhause herbeigeführt und die

Gesamtzahl der Abgeordneten neu bestimmt wird.“

Zur Begründung des Antrages erhält, während der Minister von Dallwitz und die übrigen Mitglieder der Staatsregierung den Saal verlassen, das Wort der h Abg. Traeg er Fortschr. Volksp.): Es ist erfreulich, daß man den Antrag noch auf die Tagesordnung gesetzt hat, weil seine Besprechung für das ganze Haus ein Bedürfnis ist. Ich kann aber das Bedauern nicht unterdrücken, daß wir den Ministerpräsidenten nicht an seinem Platze sehen und auch sonst keinen Regierungsvertreter. Nachdem der Wahlrechtsreformfeldzug durch den Rückzug der Re⸗ gierung heendet war, blies die Regierung mitten in der Schamade mit einem Male Fanfare. Man glaubte, an vielen Aeußerungen erkennen zu müssen, daß sie ihr Ziel nicht aufgegeben hätte, sondern bei nächster Gelegenheit mit aller Beschleunigung eine Vorlage wieder einbringen würde. Diese Meinung war weit verbreitet. Man erklärte, die Frage des Wahlrechts würde nie zur Ruhe kommen auch der Abg. von Zedlitz sprach sich in diesem Sinne aus —, und man war der Ansicht, ohne geheimes und direktes Wahlrecht würde der Ministerpräsident nicht mit einer neuen Vorlage kommen dürfen. Die Regierung hätte den Versuch unternehmen müssen; es ist ja in letzter Zeit so viel versucht worden; auch gegenüber den Wählern wäre dies ihre Pflicht gewesen. Millionen von Wählern sind durch ihr Verhalten in die äußerste Erregung versetzt. Bei der Agitation für die bevorstehenden Reichstagswahlen wird die Frage des preußischen Wahlrechts eine verhängnisvolle Rolle spielen. Die Reformbedürftigkeit ist seit langen Jahren anerkannt worden. Schon lange ist beraten, gesammelt und alles mögliche zur Vorbereitung unternommen worden. Mit der Novelle von 1906 beginnt dann die glorreiche Aera unserer Wahl⸗ rechtsreform. Die Uebertragung des Reichswahlrechts auf Preußen ee immer dringender gefordert, und durch die Vergeblichkeit des Wunsches wurde ein großer Unwille und Erbitterung hervorgerufen. Am 3. Januar 1908 wurde darüber im Reichstage verhandelt, und als am 20. Oktober der Landtag neu eröffnet wurde, bezeichnete die Thron⸗ rede die Wahlreform als eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart. Die Regierung aber behandelte die Sache obenhin, und es wurde sogar be⸗ stritten, daß in der Thronrede eine bindende Zusicherung gegeben sei. Endlich wurde im Frühjahr 1909 ein Gesetz vorgelegt. Es behielt die indirekte Wahl bei, für die sich eigentlich niemand, solange wir die Frage im Hause behandelt haben, erklärt hat. Die geheime Wahl war ein Entgegenkommen gegen unsere Wünsche, aber für die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner behielt man das oͤffentliche Verfahren bei, und wenn ich einmal einen heiteren Augenblick haben will, so brauche ich nur an die preußischen „Kultur⸗ träger zu denken. . Im Herrenhause wurde eine wefentliche Bestimmung der Regierungsvorlage, durch die die plutokratische Wirkung des Wahlrechts etwas abgeschwächt war, wieder it die Drittelung in dem ganzen Wahlkreis: da erklärte die Regierung die ganze Vorlage für unannehmbar. Damals nahm man dieses Wort noch etwas tragischer. Wenn der Ministerpräsident heute etwas für unannehmbar erklärt, so ist er eines Heiterkeitserfolges sicher. Schließlich erklärte der Ministerpräsident, daß die Regierung ihre Vorlage zurückziehe. Deshalb haben wir den Antrag wieder einbringen müssen. Aller⸗ dings wird es kaum noch möglich sein, in dieser Session eine neue Wahlrechtsvorlage zu machen: aber diese Legislatur⸗ periode darf nicht zu Ende gehen, ohne daß nochmals der Versuch gemacht wird, das preußische Wahlrecht in angemessener Weise zu reformieren. Deshalb muß die Vorlage in der nächsten Session wieder eingebracht werden. Wir verlangen das allgemeine gleiche, direkte Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe. Der Minister⸗ präsident sagte einmal, das allgemeine gleiche Wahlrecht sei uns als ein Erbteil der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen. Das Reichswahlrecht hat es zuwege gebracht, daß eine ganze Reihe von Bundesstaaten das Reichswahlrecht auch bei sich eingeführt haben. Eine große Einheit muß auf demselben Fundament aufgebaut sein und das Fundament der Verfassung ist das Wahlrecht; es kann nur zu Unzuträglichkeiten führen, wenn das Wahlrecht in den verschiedenen Bundesstaaten verschieden ist. Gerade Preußen hat Verpflichtungen gegenüber dem Reich zu erfüllen. Preußen und Deutschland fallen zusammen, und wenn sie verschiedene Wahlrechte haben, muß die Verschiedenheit unter allen Umständen beseitigt werden. Der Minssterpräsident hat gesagt, daß die politische Kultur und die politische Erziehung durch das demokratische Wahlrecht geschädigt werden, und daß die parlamentarischen Sitten bei diesem Wahlrecht verflachen und verrohen. Trotzdem hat er den Elsaß Lothringern das demokratische Wahlrecht gegeben. Er sagte ferner einmal, die Elsaß⸗Lothringer müßten erzogen werden. Und welches Erziehungsmittel wählte er? Er wählte u. g. mit Recht das Reichstagswabhlrecht, also das Wahlrecht, das der Erziehung schadet und die Sitten verroht und verflacht! Dr. von Bethmann als Erzieher! Dr. von Bethmann hat sich eines besseren delehrt. Wenn er aber jetzt noch die Argumente gegen das geheime und direkte Wahl⸗ recht anführen würde, so würde er das Hohngelächter der ganzen Welt hervorruten. Der Ministerpraͤsident hat gesagt, es sei heikel zu prüfen ob ein Volk für dieses oder jenes Wahlrecht reif sei. Wenn Preußen nicht reif ist, wer ist denn sonst reif? Auch für das prenßische Volk gilt doch seit 40 Jahren im Reiche das Reichswahlrecht und niemand kann sagen, daß sich eine politische Unrelfe dei dem Gebrauch gezeigt hade. Man will das preußlsche Wahlreche konservieren, um Preußen als Vormacht für das Reich zu erhalten. Was konserviert werden soll, ist gar nicht das alte preußische Wahlrecht, ist gar nicht der preußische Geist. Der preußische Geist ist in Stein und Hardenberg hervorgetreten, und für diese war

verzichten. Die Erklärung des Ministers sei nicht genügend.

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nicht irgendwelches Vorrecht maßgebend. Nach preußischem Recht

sind alle vor dem Gesetze gleich. Aber zum Beispiel die Stellung unserer Gutsvorsteher und dergleichen ist ein Mißbrauch der Gleich⸗ heit. Der Geist aber, der in Preußen herrscht, und die Regierung die in Preußen ist, übt ihre Wirkung auf ganz Deutschland aus⸗ zir machen im Reiche eine Menge Gesetze, deren Ausführung der Einzelstaaten überlassen bleibt, und in Preußen werden sie manchmal ausgeführt, daß das Gegenteil herauskommt. Wiederholt hat der Reichskanzler versichert, daß das Vereinsgesetz loyal gehandhabt werden soll; ich zweifle nicht an dem guten Willen des Reich kanzlers, aber er ist nicht so stark wie die Nebenregierung. Wir halten daran fest, daß das Wahlrecht geändert werden muß, ent⸗ sprechend dem Wahlrecht in den anderen Bundesstaaten. Sonst wird die alte Mainlinie wieder hergestellt. Aber auch die Wahlkreis⸗ einteilung muß neu vorgenommen werden. Jetzt wird die eine Hälfte der Bevölkerung durch 303, die andere durch 140⸗Abgeordnete ver⸗ treten. Preußen muß die Vormacht in Deutschland bleiben. Das wollen wir mit einer Reform des Wahlgesetzes erreichen. Mit dem Rufe der Stärkung Preußens als Vormacht in Deutschland gehen wir in den Wahlkampf. 8. Abg. Hoffmann (Soz.): Es ist bezeichnend, daß diese wichtige Angelegenheit so gewissermaßen mit der Reisetasche in der Hand erledigt wird. Man sagt uns, wir hätten dann nicht so lange Reden halten sollen. Wenn Sie das meinen, so wenden Sie sich doch an Ihren Kollegen Diederich Hahn, daß er nicht wie ein Komet hier erscheint, eine lange Rede hält und dann wieder verschwindet, oder an den Freiherrn von Gamp, der hierher kommt, wenn er seinem Landrat drohen will. Wir haben hier so das Gefühl, als ob uns die Regierung bald nach Hause schicken wird. Sie selber ist ja schon nach Hause gegangen. Im Reichstage hat der Reichskanzler er⸗ klärt, daß es in Elsaß⸗Lothringen keine Staatsbürger zweiter Klasse mehr geben solle. Aber bei uns in Preußen gibt cs sogar noch weiter Staatsbürger dritter Klasse. Aber Preußen nimmt sich als Vorbild Mecklenburg, wo die Junker so sinn⸗ reich sich um das Wappen des Ochsenkopfes sammeln: es bleibt hinter der Türkei, ja selbst hinter Rußland zurück. Oesterreich hat das allgemeine Wahlrecht und hat bei den letzten Wahlen die volksausplündernde klerikale Cliquenwirtschaft be eitigt. Wenn man behauptet, daß unser Volk nicht reif sei, so ist das die infamste Beleidigung des arbeitenden und werktätigen Volkes, die man sich denken kann. Das Volt ist in den Augen der herrschenden Klassen nur zur schamlosesten Ausbeutung da; man gibt ihm eine stiefmütterliche Schulbildung. Die herrschenden Klassen sollten sich schämen, Unwissenheit und Knechtschaft zu erhalten. Aber es wird dahin kommen, daß die Empörung des frivol beleidigten Volkes sich Luft machen wird. 90 % des Volkes sind durch den niederträchtigen Gewaltstreich entrechtet worden, der dem Bürgertum die erkämpften Verfassungsrechte wieder genommen hat. Bis heute ist dieses Verbrechen noch nicht gesühnt. Selbst der jetzige Inhaber der preußischen Königskrone, Wilhelm II. (Präsident von Kröcher: Sie dürfen den Namen Seiner Majestät und ihn selbst nicht in die Debatte ziehen), erklärte vor drei Jahren am 20. Oktober in der Thronrede, daß die Wahlreform die wichtigste Frage der Gegenwart ist. Aber der ungekrönte König ist mächtiger, er befiehlt, und das Königswort darf nicht eingelöst werden. Mit diesen Junkern Arm in Arm wandert das Zentrum. So macht das Zentrum Politik. Sie ist aber auch danach. Es sucht das Volk am Narrenseile zu führen, es macht aber nach oben hinauf seine Einflüsse geltend. Es war einst die Zeit, wo ein deutscher Kaiser nach Rom pilgern mußte. Heute macht es das Zentrum um⸗ gekehrt, heute muß Vater und Sohn von Rom wegbleiben, wenn es das Zentrum so will. Das Vorgehen des Zentrums bei der Wahl⸗ vorlage muß auch dem Blindesten die Augen geöffnet haben. Es stimmte gegen das direkte Wahlrecht und gegen das geheime Wahl⸗ verfahren der Abgeordnetenwahl, um nur ein Beispiel zu nennen. (Präsident von Kröcher: Ich erfahre erst jetzt, daß Sie von der „unglaublichsten und unwürdigsten Komödie“ mit Beziehung auf Mitglieder des Zentrums gesprochen haben, und rufe Sie des⸗ wegen zur Ordnung.) Man sieht, was von den Ver⸗ sicherungen des Zentrums nach der Richtung des gleichen und geheimen Wahlrechts zu halten ist. Die Junker sagen wenigstens, daß sie es nicht wollen. Dagegen kann man kämpfen. Wenn man aber so tut, als wollte man dem Volke etwas geben, und hintenherum hintertreibt man es, so kann man damit immer nech die Leute einfangen, die nicht alle werden. Vorläufig kann man von dem Zentrum und den Junkern noch sagen: sie säen nicht, und ernten doch, das dumme Volt wählt sie doch. Aber es wird nicht immer so bleiben. Das Volk wird Ihnen bei den kommenden Wahlen seinen Willen entgegensetzen und Ihnen einen Denkzettel geben, daß Ihnen die Augen über⸗ gehen. Die Abwesenheit der Regierung ist eine Rücksichts⸗ losigkeit, wie sie sich kein Parlament der Welt gefallen lassen würde. Kein Wunder, daß da gewissen Leuten der Kamm schwillt. Ich erinnere nur an den Abg. von Oldenburg, der sagte, wenn wir direkte Steuern in einem Staate einführen, der das allgemeine Wahlrecht hat, so liefern wir das Portemonnaie der Besitzenden der Sozialdemokratie aus. Also. das Dreiklassenwahlrecht brauchen Sie zum Schutze Ihres Portemonnaies, um das Volk zur Ader zu lassen und sich selber vor allen Ausgaben zu schützen. Diesen Gedanken hat auch der Abg. von Hepdebrand bei Ablebnung der Erbschaftssteuer ausgesprochen. Wir aber wollen das Dreiklassen wahlrecht abschaffen selbst auf die Gefahr hin, daß der „Reichs⸗ bote“ schreibt, daß ein zähnefletschender Löwe herumläuft, der an Elsaß⸗Lothringen Blut geleckt hat. Das preußische Wahlrecht nft der letzte Halt der Reaktion. Tut das Volk bei den nächsten Wahlen seine Schuldigkeit, so wird es mit Ihrer Herrlichkeit zu Ende sein. Die Junker wollen sogar dem Reichstagswahlrecht das Genick um⸗ drehen, trotzdem aber macht das Zentrum mit ihnen Politik zum Schaden des gesamten Volkes. Soll ich über die nationalliberale Partei und das Wahlrecht sprechen? (Heiterkeit.) Ihre Heiterkeit be⸗ weist, wie Sie die Stellung dieser Partei zum Wahlrecht beurteilen. Wir haben hier im Hause und im Reichstag immer erfahren müssen. daß sie konservativer sind als die Konservativen. Auch auf die Freisinnigen haben wir kein rechtes Vertrauen. Gewiß nicht! Bei den traurigen Erfahrungen, die wit mit deren Haltung in den Kommunalverwaltungen und bei dem gestrigen Eintreton des Abg. Lippmann fur die großstädtischon Hausbesitzer gemacht haben. Wir müssen dem Volke immer wieder zeigen, daß es sich nicht auf die bürgerlichen Parteien verlassen kann, troß der Jubiläums feste, die mit so großem Tamtam gefeiert werden. Das Volk wird bei den nächsten Wahlen eine Gencralabrechnung halten mit den Nationalliberalen, mit den zentrümlichen Volksbemoglern und mit denjenigen Leuten, die die Klinke der Gesetzgebung nur benutzen, um sich auf Kosten des arbeitenden und tärigen Voltes zu bercichern, ja, die die Gelder aus den Taschen dieses Volkes zu ihren Wahlfonds mißbrauchen. Der freisinnige Wahlrechtsantrag geht uns nicht weit genug, wir sohen in ihm nur cine Abschlagszablung. Vor allem ver⸗ langen wir emine Herabsetzung des Wahlalters auf 20 Jabhre. (Zurufe: Sechs Jahre’ Sechs Wochen!) Ich glaude ja, daß Prolekarier⸗ sänglinge schon mohr Intolligenz besitzen, als Sie mit 20 Jabren.” Wenn man mit 17 bis 18 Jahren schlau genng ist, Lebon und Gesunddeit für das Vaterland zu gpfern, wenn es zulangt, mit 17 Jahreg cinen Kaiserthron zu besteigen, so langt es auch zu mit 20 Jadren torlzunehmen an den Geschichen des Vaterlandes. Wir wohlen auch kein Damenwablrecht, aber das allgemeine Wablrecht füur Personen über 20 Jahre, ob Mann oder Frau. Man sagt, das Wahlrocht sei ein Recht für die Männer, weil diese idr Leden für das Vaterland opfern müßten. Aber guch die Frau bdringt Opfer für das Vaterland, Ounderttausende von Frauen sterben an Kindbefrfreber. Ein Staat in Amerika konnte schon im Jahre 1894 das 25ährige Jubiläum des Politischen Stimmrechts der Frau seiern, und dabei wunde betont, welchen Segen die Teilnahme der Frau dem Staate gebracht hätte, daß die Kranken besser gepsegt werden, daß die Gefangnisse Ueer sind usfw. Habem miedt

Maria Theresia und Karharina II., von der sich die Geschichts⸗

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