1913 / 15 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 17 Jan 1913 18:00:01 GMT) scan diff

Boden unseres Heimatlandes geführt worden ist, der mit dem Blute zweier Völker getrankt ist, die dazu geschaffen sind, in friedlichem Wetteifer an den Werken der Kultur, des Fortschrittz und der Zivilisation mitzuarbeiten. Alle den Frieden störenden Tendenzen, alle Revanchegelüste stoßen bei uns auf die schroffste Abwehr. Wir können nur erwarten, daß man gegenüber diesem wirklich nicht weltbewegenden Ereignis der Vorträge Werterlés kühles Blut bewahrt. Man wird hoffentlich nicht ge⸗ wissen Beamtenkreisen in Elsaß⸗Lothringen nachahmen, die in einem Ausfluge elsaß⸗lothringischer Vereine nach Frankreich gleich allerhand wittern. Solche Ausflüge sind wirklich vollständig harmlos. In der nächsten Woche spricht kein Mensch mehr davon. Das Deutsche Reich verspürt davon noch gar keine Erschütterung. Wenn der Abg. von Gamp auch verlangt hat, daß in Zukunft für Wetterlé im Deutschen Reichstage kein Platz mehr fein soll, so entscheiden darüber lediglich die eigenen Wähler des Aba. Wetterle. Im übrigen kann ich nur sagen, daß meine Parteifreunde sich seit Köller immerfort vor den Kopf gestoßen gefühlt haben, daß sie sich einem System der Brüskierung gegenübersehen. Der Redner führt dann aus, daß man es den Katholiken schuldig gewesen sei, bei der Einrichtung einer katholisch⸗theologischen Fakultät an der Univpersität Straßburg den berechtigten Ansprüchen der Kurie Rechnung zu tragen, daß auch in dem Zugeständnis, daß die jungen Kleriker Philosophie und Geschichte bei einem der katholischen Kirche zugehörigen Professor hören können, nichts Auffälliges liege. Auf dem sozialpolitischen Gebiete sei der Stolz auf die Reichsversicherungsordnung doch nicht ganz berechtigt. Jedenfalls sei die Witwen⸗ und Waisenrente, auch die Altersrente, gänzlich ungenügend: man würde für die Erhöhung sehr leicht Mittel haben, wollte man die Riesenaufwendungen für Rüstungezwecke nur etwas einschränken. Die Besoldungsverbe sserungsvorlage von 1909 sei für viele Beamtenkategorien ein Torso geblieben. Die Schädigung des Weinbaues durch die Reblaus habe weitere Ausdehnung gewonnen. Frankreich habe sein durch die Reblaus ruiniertes Rebengelände völlig erneuert, und sein Weinbau habe die alten und noch größere Er⸗ folge aufzuweisen. Die Meinung, daß die neuen Revbven nicht so guten Wein lieferten als die fruͤheren, sei nicht richtig. Erfreulich und mit Dank zu begrüßen sei das Eingreifen des Staatssekretärs Delbrück, der persönlich nach dem Elsaß gekommen sei, um sich vom Stande des Weinbaues zu überzeugen. Möchten die Zentral⸗ reichsbehörden tunlichst immer sich persönlich informieren, denn es werde von einer gewissen Presse ganz unerhört gegen die Wahrheit über die reichsländischen Verhältnisse gesündigt.

Abg. Hoch (Soz.): Ich gedenke mich ausschließlich mit sozial⸗ politischen Fragen zu beschäftigen, über die im Zusammenhang sich zu außern diese Debatte allein die Gelegenheit gibt. Der Staatssekretär Delbrück suchte sich gestern gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, daß seine sozialpolitische Tätigkeit den Anforderungen nicht entspreche. Damit hat er etwas Unmögliches versucht, denn diese Unzulänglichkeit ist bereits Gemeinplatz geworden. Die Vollendung der Reichsversicherungsord⸗ nung hat sich durch die arbeiterfeindliche Haltung des Zentrums in vielen Punkten als ein sozialpolitischer Rückschritt erwiesen; die Be⸗ rufung auf diese Leistung kann den Standpunkt, daß jetzt vorläufig Schluß gemacht werden müsse, wahrlich nicht begründen. Richtig ist, daß wir hier und da mit Verordnungen herumgedoktort haben; aber wo bleibt die einheitliche Regelung der Arbeiter⸗ und Angestelltenver⸗ ältnisse? Von dieser Forderung, für die sich zwei Juristentage aus⸗ gesprochen haben, ist noch nicht das Geringste erreicht. Wir brauchen Arbeitskammern unter maßgebender Mitwirkung der Arbeiter; was ist uns geboten worden? Bis jetzt gar nichts. Der neue Reichstag hat och keine einzige sozialpolitische Vorlage erhalten; das ist unerhört gegenüber den Versprechungen aller Parteien bei den Wahlen, auf den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung zu dringen. Die Verschärfung des wirtschaftlichen Gegensatzes in dem letzten Jahre hätte dem Staatssekretär einen ganz besonderen Ansporn dazu geben müssen.

Die Kapitalskonzentration hat 1912 immense Fortschritte gemacht, ie Berliner Großbanken verwalten jetzt ein Kapital von 13 ½ Mil⸗ iarden Mark. Allein die Dreãner Bank hat 1911 einen Umsatz

von 91 Milliarden Mark. Die Deutsche Bank dürfte 1912 nicht weniger als 150 Milliarden Umsatz erreicht haben. Die wichtigsten broduktionszweige gelangen immer mehr unter den maßgebenden Ein⸗ daß dieses Großbankkapitals, und entsprechend steigern sich unter

iesem Einfluß die Lebensmittelpreise, steigt die allgemeine Teuerung.

2*

er Kohlenpreis ist um 0,50 bis 1 für die Tonne unter sehr eigen⸗

ümlicher Mitwirkung der preußischen Regierung gesteigert worden, ür das arbeitende Volk in einem Jahre eine Mehrausgabe von 00 Millionen Mark. Die Gewinne der Großkapitalisten gehen in die Milliarden; demgemäß wird auch der Luxus und die Verschwendung in diesen Kreisen bis ins Widersinnige gesteigert. Nicht nur die Ar⸗ beiterschaft, auch der Mittelstand leidet darunter. Er wird trotz allem, was geschehen ist, immer mehr aufgerieben und immer mehr vom Großkapital abhängig. Was man zu seinem Schutze an Gesetzen ge⸗ macht hat, hat nicht geholfen und kann nicht helfen; der Entwicklungs⸗ gang läßt sich nicht aufhalten. Weiß man das, so belügt man die An⸗ gehörigen des Mittelstandes. Der Abg. Werner aus Gießen, der hier so gegen die Warenhäuser tobte, hat selbst schon im Warenhause gekauft. Der kleine Kaufmann wird vom Warenhause ‚genau so ruiniert, wie der Schuhmacher von der Schuhfabrik. An dieser Ent⸗ wicklung ist nichts zu ändern. Man darf nicht zurückgehen, sondern vorwärts. Wir Sozialdemokraten wollen die Ausbeutung der Ar⸗ beiter durch das Großkapital verhindern und dasselbe der Gesamtheit nutzbar machen. Genau so verhält es sich beim Mittelstand. Die Arbeiter führen deshalb den Kampf gegen das Großkapital, weil gerade sie unter der gegenwärtigen Ausbeutungswirtschaft am meisten zu leiden haben. Die bedenkliche Tatsache der Bevölkerungsabnahme in Deutschland kommt lediglich daher, weil weite Kreise unseres Volkes nicht in der Lage sind, sich genügend zu ernähren. Das sollte eine ernste Mahnung sein, den Forderungen der Arbeiter mehr gerecht zu werden. In derselben Zeit, während die deutschen Arbeiter unter der herrschenden Fleischteuerung zu leiden haben, bekommen es die Konservativen fertig, hier in diesem Hause durch den Abg. Grafen Westarp einen Vorstoß zu machen und den Kampf zu verkündigen, der den Arbeitern dasjenige Recht, das ihnen die Zustände noch einiger⸗ maßen erträglich macht, nehmen soll. „Sie (zu den Konservativen) wollen die Arbeiter völlig knechten und sie dem Großkapital ausliefern. Dieser Vorstoß des Abg. Grafen Westarp kennzeichnet seine Partei mehr als alles andere. Wir brauchen ja zwar diese Drohungen nicht zu fürchten; wir haben ja schon einmal Ausnahmegesetze gehabt von einem Manne, der man mag denken über ihn, wie man will jedenfalls ein ganz anderer Kerl ist als der Abg. Graf Westarp. Die damaligen Ausnahmegesetze sind unter ganz anderen Verhältnissen ent⸗ standen. Die wirtschaftliche Entwicklung war noch lange nicht so wie heute. Der Erfolg dieser Ausnahmegesetze war der, daß wir 1 ½ Millionen Stimmen bekamen. Die gewerkschaftliche Bewegung war nicht mehr zurückzuhalten trotz aller Beschwerden, die man vor⸗ brachte. Wir brauchen den Kampf gegen die Ausnahmegesetze daher nicht zu scheuen, wir brauchen nicht zu zweifeln, wie der Ausgang sein wird. Solange das Großkapital die Uebermacht hat, haben wir auch Sozialdemokraten. Dagegen kann der Abg. Graf Westarp nichts machen. Für mich ist entscheidend, daß auch der Minister Dr. Del⸗ brück eine überaus bezeichnende Stellung eingenommen hat. Mit dem einen Auge schielt er nach den Konservativen und mit dem andern nach der Linken. Der Staatssekretär sagte, es sei ein Unding, mit einer Maßnahme wie dem Streikpostenverbot die Sozialdemokratie zu be⸗ kämpfen. Mit einem derartig unüberlegten Schritt könne man nichts erreichen. Ich glaube, der Staatssekretär Dr. Delbrück tut dem Abg. Grafen Westarp sehr unrecht, wenn er seine Rede als eine Ent⸗ gleisung und als eine Unüberlegtheit bezeichnet. Der Abg. Graf Westarp hat seine Rede gewiß sehr sorgfältig überlegt. Die Rede hätte nach Inhalt und Form gar nicht anders sein können, als wenn der Abg. Graf Westarp den Befähigungsnachweis dafür hätte er bringen wollen, daß er auch an höherer Stelle, etwa als preußischer Justizminister, die Geschäfte der Scharfmacher verrichten könne. Wir selber mahnen die Arbeiter, sich in den gesetzlichen Grenzen zu halten. Erleben wir es denn nicht bei allen solchen Bewegungen, daß man einen Schritt weiter geht, als man es bei ruhiger Ueberlegung tun

würde? Seien Sie doch ehrlich. Für den Arbeiter steht bei einem Streik seine Existenz auf dem Spiel, und wenn dann Leufe kommen, die ihm in den Rucken fallen, dann ist es begreiflich, daß ihn Empörung ergreift. Es ist hier so wie in jedem anderen Kriege; jeder Verräter ist verächtlich. Es war bezeichnend in der Rede des Staats⸗ sekretärs, daß er zugab, daß schwere Verfehlungen im Bergarbeiter⸗ streik nur ganz selten vorgekommen sind; es wären nur Kleinigkeiten, Lappalien. Es war eine Schande, daß eine Mutter mit ihrem Säug⸗ ling ins Gefängnis geschickt wurde, nur weil sie einem Streikbrecher

Pfui zugerufen hatte. Die Rede des Abg. Grafen Westarp wird uns

in der Agitation sehr wertvolle Dienste tun. Wir werden unseren Wählern aber auch sagen, daß der Staatssekretär eine Aenderung des Strafgesetzbuchs zu ihren Ungunsten in Aussicht gestellt hat. Dann werden wir in einer ganz anderen Zahl hier in den Reichstag einrücken. Die Entrüstung über den sog. Terrorismus der Arbeiter ist bei den meisten gar nicht ehrlich gemeint, sondern eine schamlose Komödie. Warum geht man denn nicht gegen die Arbeitgeber vor? Besteht bei⸗ ihnen etwa kein Terrorismus? Sie üben denselben Terrorismus, ja noch weit mehr. Ein Geheimrat hat das in einem Buche auch zuge⸗ geben. Dieses Buch ist in der „Sozialen Praxis“ besprochen worden. Es ist anerkannt worden, daß die Machtmittel, die die Arbeiter da⸗ gegen haben, höchst dürftig sind. Das Auftreten des Abg. Westarp hat uns nicht gewundert. Er hat uns bei den letzten Wahlen viel ge⸗ nützt und wird uns weiter nützen. Weshalb sein Vorstoß? Er hat sehr patriotische Gründe vorgebracht. Die Herren führen den Patriotis⸗ mus immer dann im Munde, wenn sie etwas besonders Volksfeind liches vorhaben. Er hat sich entrüstet über Mitteilungen unseres Freundes Fischer aus einem Aktenstück. Wer die Geschichte kennt weiß, daß darüber kein Zweifel besteht, daß alle Parteien, alle Re⸗ gierungen jedes Mittel im Kampfe benutzen. Das müßte der Abg. Graf Westarp wissen, der jahrelang Polizeipräsident gewesen ist. Die konservativen und junkerlichen Regierungen haben viel schlimmere Mittel benutzt. Der Abg. Fischer hat nichts dazu getan, das Material zu erlangen. Die preußischen Junker haben vor einem Jahrhundert einen vertraulichen Brief des Freiherrn vom Stein, worin er seinem gepreßten Herzen über die Franzosenherrschaft Luft machte, den Fran⸗ zosen ausgeliefert. Keine einzige Partei hat ein solches Schandmal in der Geschichte wie die konservative Junkerpartei. Soll ich noch an Marschalls Flucht in die Oeffentlichkeit erinnern, an die Angriffe der „Post“ gegen den Kaiser bei der Marokkoaffäre? Sie haben keinen Grund, uns Moral zu predigen. Auch über unsere „revolutionären Tendenzen“ brauche ich kein Wort mehr zu verlieren. Der Reichs⸗ kanzler hat ja in seiner Thronrede selber gesagt, daß die Entwicklung nicht stillsteht. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung ändern sich auch die politischen Verhältnisse. Gerade in der heutigen Zeit sollten Sie sich hüten, so viel gegen den Umsturz zu reden. Das Jubiläumsjahr 1913 erinnert nicht nur an die Wiederaufrichtung, sondern auch an den Husammenbruch Preußens, der erfolgte, weil das Junkertum alle Volkskräfte niederhielt, weil es den Staat ohnmächtig gemacht hatte. Alle Ihre Vorwürfe gegen uns sind unangebracht, sie treffen nicht uns, sondern fallen auf Sie zurück. Sie haben Ihre ganze Taktik auf Wahlzwecke zugeschnitten. Die preußischen Landtagswahlen stehen vor der Tür, und Ihr Gewissen ist so schlecht, daß Sie trotz des Drei

klassenwahlsystems Angst haben. (Zuruf rechts.) Wenn Sie hoffen, daß wir uns mit Ihnen einlassen, so täuschen Sie sich, bei uns hängen Ihnen die Trauben zu hoch. Der Vorstoß der Konservativen ist be⸗ rechnet auf die Nationalliberalen, und da war er auch notwendig, denn der Fleischwucher hatte auch in diesen Kreisen schließlich Unmut er⸗ regt; jetzt gilt es für die Konserpativen, sich bei den Herren vom großen Geldsack wieder zu empfehlen, daher der Angriff auf das Kvalitionsrecht. Die Konservativen haben nicht immer die Geschäfte dos Großkapitals machen helfen; sie sind früher Anwälte der Sozial

politik gewesen und haben für die Fabrikarbeiter etwas übrig gehabt; die Zeiten sind vorbei, jetzt bilden sich die Konservativen mehr und mehr zu einer Söldnertruppe des Großkapitals heraus, sie nehmen dessen Interessen wahr, wenn sie nur klingende Entschädigung be⸗ kommen. Der Staatssekretär hat in der Budgetkommission selbst zugeben müssen, daß wir mit der Sozialreform nicht weiter kommen, weil Preußen die Dinge verschleppt; als der Abg. Ledebour diese Er⸗ klärung zu Protokoll verlangte, der Staatssekretär Dr. Delbrück sie allerdings abzuschwächen. Wenn es sich um neue Zuchthausgesetze, um neue Liebesgaben für die Junker handelt, dann läßt man ihn ge⸗ währen, aber sonst wird ihm ein Hemmschuh angelegt. Die Denk⸗ schrift, die der Abg. Fischer zur Sprache gebracht hat, zeigt recht deut⸗ lich, daß der Staatssekretär nur eine untergeordnete Behörde des preußischen Ministers des Innern ist, der seinerseits nur die Junker⸗ herrschaft repräsentiert. Dieses Verhältnis zeigt auch dem preußi⸗ schen Volke, daß bei den nächsten Wahlen viel mehr auf dem Spiele steht, als es den Anschein hat. Mit dem Junkorregiment in Preußen und Deutschland muß aufgeräumt werden, alle Kräfte müssen sich dazu vereinigen, ihm einen vernichtenden Schlag zu versetzen.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Dr. Delbrück:

Meine Herren! Ich möchte zu den letzten Ausführungen des Herrn Abg. Hoch folgendes feststellen. Der Abg. Hoch hat sich auf Ausführungen bezogen, die ich in der Budgetkommission gemacht habe, und hat hinzugefügt, diese Ausführungen seien auf Grund eines Wunsches eines seiner Parteifreunde von mir zu Protokoll gegeben und wesentlich abgeschwächt. Ich stelle das mit aller Entschiedenheit in Abrede. Das Protokoll ist mir von der Budgetkommission in Form eines Korrekturabzugs vorgelegt worden (Zuruf von den Sozial⸗ demokraten: Ganz etwas anderes ist gesagt!), und ich bitte den Herrn Abg. Hoch, sich davon zu überzeugen, daß ich in den maßgebenden Stellen überhaupt nichts korrigiert habe. (Zurufe von den Sozial demokraten: Ist gar nicht bestritten!)

Es mag sein, daß ich den Herrn Abg. Hoch mißverstanden habe, es kann sein, daß auch andere ihn mißverstanden haben, und ich stelle dementsprechend hier ausdrücklich fest, daß ich an dem Protokoll⸗ entwurf so, wie er mir von dem Bureau des Reichstags zugegangen ist, keinerlet wesentliche Aenderungen vorgenommen habe. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Behaupte ich auch nicht!)

Meine Herren, ich habe auch nicht die Absicht gehabt, mich über Schwierigkeiten zu beschweren, die mir Preußen macht, sondern es war lediglich meine Absicht, darauf hinzuweisen, daß die Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage oder einer Bundesratsvorlage im Deutschen Reiche vermöge seiner staatsrechtlichen Konstruktion zeitraubender und schwieriger ist als in einem Einheitsstaate, und ich habe das an einzelnen Beispielen erörtert. Ich bin allerdings, wie es mir scheint, auch noch von anderer Seite bei diesen Ausführungen mißverstanden worden. Ich muß das wenigstens annehmen nach den Ausführungen aus der Feder des Herrn Abg. Gothein in der heutigen Morgennummer des „Berliner Tageblatts“. (Zuruf links.) Ich möchte infolgedessen auch auf diesen Punkt noch mit wenigen Worten eingehen.

Der Gang der Dinge ist doch der: eine Vorlage an den Reichs⸗ tag kann nur an ihn gelangen nach vorhergängiger Beschlußfassung des Bundesrats. Der Bundesrat nun besteht aus den Vertretern der verbündeten Regierungen. Im Bundesrat selbst kann jede der ver⸗ bündeten Regierungen durch ihre Bevollmächtigten Anträge stellen. So weit bin ich, glaube ich, mit dem Herrn Abgeordneten Gothein einig. (Zustimmung links.) Der normale Weg ist also und die

ursprüngliche Entwicklung ging dahin, daß mit Rücksicht darauf, daß

Preußen der führende Bundesstaat ist, mit Rücksicht darauf, daß der Vorsitzende des Bundesrats gleichzeitig preußlscher Bevollmächtigter zum Bundesrat und preußischer Ministerpräsident war, Antraͤge

der Reichsleitung an den Bundesrat unter der Firma der preußischen Anträge gingen, ebenso wie bayerische Anträge, wie württembergische, wie sächsische Anträge an den Bundesrat ge⸗ langen können. Nun hat sich inzwischen ja tatsaäͤchlich der Zustand entwickelt, daß sich, nicht der Form nach, aber der Sache nach, eine Art Reichsregierung entwickelt hat. Diese Reichsregierung mußte entstehen in dem Augenblick, wo durch das Stellvertretungs⸗ gesetz dem Reichskanzler ständige Stellvertreter mit Ministerverant⸗ wortlichkeit zur Seite gestellt wurden. Denn, meine Herren, die Sache liegt doch tatsächlich so, daß durch das Stellvertretungsgesetz der Reichskanzler entlastet wird nicht nur in bezug auf die Arbeit, sondern in bezug auf die Verantwortlichkeit, und daß also die einzelnen Staatssekretäre für alle in ihrem Ressort vorkommenden Angelegen⸗ heiten, soweit sie ohne eine unmittelbare Direktive, ohne einen un⸗ mittelbaren Einfluß des Reichskanzlers bearbeitet sind, in jeder Be⸗ ziehung die volle Verantwortlichkeit zu tragen haben.

Daraus, meine Herren, ergibt sich ferner der Natur der Dinge nach, daß die Vorlagen, die in der ersten Zeit der Entwicklung des Reichs in den zuständigen preußischen Ministerien aus⸗ gearbeitet wurden, heute in der Regel in den betreffenden Reichs⸗ ämtern ausgearbeitet werden. Nun, meine Herren, frage ich Sie: wie soll bei den eben von mir charakterisierten staatsrechtlichen Verhältnissen die Vorlage eines Entwurfs an den Bundesrat kommen anders als durch einen der beteiligten Bundesstaaten resp. mit Ermächtigung eines der beteiligten Bundesstaaten? Der Herr Reichskanzler als solcher kann im Bundesrate keine Anträge stellen (Zuruf links: Natürlich!), sondern er kann Gesetzesvorlagen im Bundesrat formell nur als preußischer Vertreter einbringen. Tatsäch⸗ lich hat sich die Sache so entwickelt, daß in zahlreichen Fällen, beinahe in der Mehrzahl der Fälle sogenannte Präsidialvorlagen gemacht werden. Diese Präsidialvorlagen sind also tatsächlich Vorlagen des Reichskanzlers, aber, meine Herren, derartige Präsidialvorlagen können doch von uns, die wir alle preußische Bevollmächtigte zum Bundesrat sind, die wir die preußischen Stimmen im Bundesrat zu vertreten haben, nicht an den Reichstag gebracht werden, ehe wir nicht der Zustimmung des preußischen Staatsministeriums sicher sind, das für die Instruktion der preußischen Stimmen für den Bundesrat verantwortlich ist. Wir können ja nur die preußischen Stimmen zugunsten der Vorlage ab⸗ geben denn der Reichskanzler als solcher hat keine Stimme, sondern nur den Vorsitz. Daraus ergibt sich, daß ich in allen denjenigen Fällen, wo ich eine Vorlage zu machen beabsichtige, zwei Wege habe: entweder ich beantrage als preußischer Staatsminister im preußischen Staatsministerium, zu beschließen, als preußischen Antrag beim Bundesrat einen Gesetzentwurf des und des Inhalts in Vorschlag zu bringen, oder aber es wird eine sogenannte Präsidialvorlage gemacht, d. h., die Vorlage wird bei mir oder in dem betreffenden Reichsamt ausgearbeitet, und dann wird durch Verhandlung mit den zuständigen preußischen Ressorts festgestellt, ob die preußischen Ressorts inhaltlich einverstanden sind. Wenn sich Schwierigkeiten ergeben, wird eine Entscheidung des Staatsministeriums herbeigeführt; und wenn die Zustimmung des Steaatsministeriums zu der betreffenden Vorlage vorhanden ist, geht der Antrag als Präsidial⸗ vorlage an den Bundesrat mit Ermächtigung Seiner Majestät des Kaisers, nachdem diesem berichtet ist, daß das preußische Staats⸗ ministerium mit dieser Bundesratsvorlage einverstanden ist. Andere Wege als die beiden genannten gibt es nicht. In einem wie im anderen Falle ist aber die Reichsleitung genötigt, die Zustimmung des preußischen Staatsministeirums zu dieser Vorlage herbeizuführen. Denn nur dadurch kann sie die 17 preußischen Stimmen in die Wag⸗ schale wersen. Das sind staatsrechtliche Verhältnisse, die nach Lage unserer Verfassung nicht aus der Welt zu bringen sind und nach meiner Ansicht auch gar nicht beseitigt werden sollten. (Oho! links.) Denn das Deutsche Reich ist auf dem Gedanken aufgebaut, daß Preußen der führende Bundesstaat ist; und daraus ergibt sich ohne weiteres, daß die preußische Politik und die Politik des Reiches nur nach einheitlichen Gesichtspunkten und mit denselben Zielen geführt werden können. (Zurufe von den Sozialdemoktaten.) Wer das be⸗ seitigen will, beseitigt die staatsrechtlichen Grundlagen, auf denen das Deutsche Reich aufgebaut ist. (Sehr richtig! rechts. Zuruf von den Sozialdemokraten: Dann muß auch das Wahlrecht im Reich und in Preußen dasselbe sein!) Durch den Bundes⸗ vertrag, auf dem das Deutsche Reich aufgebaut ist, hat das Reich die Verpflichtung übernommen, die Rechte der einzelnen Bundesglieder zu schützen, nicht aber sie zu beeinträchtigen; und in dieser Garantie für die Rechte der einzelnen Bundesglieder liegt auch die Garantie für die verfassungs⸗ mäßigen Einrichtungen der einzelnen Staaten. Die Bezugnahme auf das Wahlrecht war hier also vollständig unzutreffend

Um nun auf das Thema zurückzukommen: um eine derartige Vor⸗ lage mag sie formell eine Vorlage des Herrn Reichskanzlers, also eine Präsidialvorlage, sein, mag sie ein preußischer Antrag sein weiter zu fördern, ist doch eine Beschlußfassung des Bundestats er⸗ forderlich. Eine solche Beschlußfassung ist aber nur möglich, nachdem die hier anwesenden Bevollmächtigten der einzelnen Bundesstaaten von ihren Regierungen instrutert sind. Die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten müssen dazu ihrerseits die betreffenden Vorlagen prüfen im Hinblick auf die besonderen Rechte der einzelnen Staaten und mit Rücksicht auf die besonderen wirtschaftlichen und polftischen Ver⸗ hältnisse der einzelnen Staaten. Auch das ist eine Notwendigkeit, und das gereicht unserer Gesetzgebung und der Tätigkeit des Reiches nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Denn in dieser sorgfältigen Durcharbeitung der Vorlagen in allen Bundesstaaten liegt eine gewisse Garantie, daß die Verschiedenartigkeit der Interessen, die in dem großen, weiten Deutschen Reiche bestehen, bei der Ausarbeitung der Gesetzes⸗ vorlagen von vornherein berücksichtigt werden und in angemessener Weise auf ihre Rechnung kommen können.

An diesen Einrichtungen ist also nicht zu rühren, an diesen Ein⸗ richtungen ist nichts zu ändern. (Oho! links. Sehr richtig! rechts.) Ich habe mich lediglich darauf berufen, daß in diesen Einrichtungen allerdings durch die Kompliziertheit des Mechanismus, durch die Viel⸗ seitigkeit der Faktoren, mit denen ich zu verhandeln genötigt bin, große Schwierigkeiten entstehen. Diese Schwierigkeiten müssen in den Kauf genommen werden. Sie beruhen zum Teil auf persönlichen Verhältnissen, sie koͤnnen einmal größer, einmal schwächer sein. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten) Schon der Fürst Bismarck hat sich über diese Schwierigkeiten bltter beklagt; aber er ist nie auf den Gedanken gekommen, daß diese Schwierig⸗

der Krankenversicherung, versicherung usw. umzustürzen und nach einem anderen System

keiten etwa beseitigt werden könnten durch eine Abänderung der Ver⸗ fassung, durch eine Beseitigung der föderativen Grundlage des Reiches. Das habe ich mit aller Entschiedenheit hier nochmals feststellen wollen. (Bravo! rechts.)

Nun, da ich einmal das Wort habe, ist es mir vielleicht gestattet, noch mit einigen Ausführungen auf die gestern schon erörterten Fragen und die von mir für heute schon in Aussicht genommenen Fragen des Mittelstandes einzugehen. Der Herr Abg. Hoch hat die Polemik der früheren Redner seiner Partei gegen das Reichsamt des Innern fort⸗ gesetzt und hat insbesondere moniert, daß die Kompliziertheit und Vielseitigkeit unserer Vorschriften auf dem Ge⸗ biete des Arbeiterschutzes ein wesentlicher Mangel unserer Arbeiterschutzgesetzgebung sei, und er hat auch hierfür, wenn ich ihn recht verstanden habe, wieder die Regierung ver⸗ antwortlich gemacht. An diesen Ausführungen des Herrn Abg. Hoch ist mir eins interessant. derselbe Vorwurf einer überaus komplizierten, bis zum Uebermaß spezialisierenden und reglementierenden Behandlung aller soziaspolitischen Fragen ist kürz⸗ lich in der Oeffentlichkeit von ganz anderer Seite gekommen; er ist erhoben worden, von einem großen Teil der Arbeitgeberpresse, mit Begeisterung begrüßt und weitergetragen, in der Broschüre des Professors Bernhard. Es würde mich nicht gewundert haben, wenn von anderer Seite der Vorwurf erhoben würde, daß unsere Gesetz⸗ gebung zu kompliziert, zu kasuistisch und die Anwendung manchmal unerträglich kleinlich ist. Wenn von anderer Seite dieser Vorwurf gekommen wäre, so würde ich ihn etwa folgendermaßen beantwortet haben: es ist nicht in Abrede zu stellen, daß in der Entwicklung, die unsere Arbeitergesetzgebung genommen hat, in der Art ihrer Durchführung Schwierigkeiten sich zeigen, die zum Teil in der über⸗ aus kleinlichen und kasuistischen Art liegen, in der diese Dinge be⸗ handelt werden. Aber woher kommt das? Das kommt zunächst daher, daß schon hier im Reichstage jede einzelne Partei, vor allen Dingen aber die Herren Vertreter der Arbeiter⸗ interessen darauf bedeacht sind, daß in den Gesetzen mit unglaublicher Sorgsamkeit und Peinlichkeit jeder irgendwie mögliche Fall berücksichtigt wird. Wenn in irgend einem Falle ein Arbeiter nach Ihrer Meinung Unrecht bekommen hat, so muß in das nächste Gesetz, das verabschiedet wird, sofort ein Paragraph hinein⸗ gearbeitet werden, der nach Ihrer Ansicht die Sicherheit bietet, daß ein Verstoß und eine nach Ihrer Meinung unrichtige Behandlung nicht wieder vorkommt. Ich erinnere an die Beratungen, die wir über die Reichsversicherungsordnung gehabt haben. Die Reichs⸗ versicherungsordnung hat dieser Neigung, zu spezialisieren, dieser Neigung zur Kasuistik, die in der ganzen sozialpolitischen Gesetzgebung sich schon ohnehin breitgemacht hat, reichlich Rechnung getragen mit Rücksicht auf die Gestaltung der früheren Gesetze und die zahlreichen Wünsche, die aus Arbeitgeber⸗ und Arbeitnehmerkreisen an uns heran⸗ getreten sind. Aber diese Tendenz zur Kasuistik und diese Tendenz zum Reglementieren im kleinen ist in der Kommission noch wesentlich verstärkt worden, und ich könnte eine ganze Reihe von Gesetzes⸗ paragraphen anführen, die diesen Bestrebungen ihre Entstehung ver⸗ danken, und die zweifellos die Anwendung der Gesetze nicht verein⸗ fachen, sondern erschweren. Je kasuistischer ein Recht wird, um so komplizierter, um so schwerer wird seine gerechte Anwendung. Also an der Regierung liegt es nicht, sondern es liegt zu einem nicht un⸗ erheblichen Teile an dem Entwicklungsgange, den unsere sozialpolitische Gesetzgebung genommen hat.

Wenn der Herr Abg. Hoch ferner getadelt hat, daß der Aufbau unserer Gesetzgebung ein unrichtiger sei, daß ihr ein einheitlicher Unterbau fehle, daß man die ganze sozialpolitische Gesetzgebung bei der Reform anders hätte aufbauen müssen, so gebe ich ihm in ge⸗ wisser Beziehung darin recht. Meine Herren, auch ich bin der Ansicht, daß eine einheitliche Gestaltung aller dieser großen Gesetze für alle Teile besser wäre. Auch mein Herr Amtsvorgänger ich habe hier den Herrn Grafen von Posadowsky im Auge hat nach meiner Erinnerung einer ähnlichen Auffassung hier Ausdruck gegeben. Die Arbeiten, denen die Reichsversicherungsordnung schließlich ihr Ent⸗ stehen verdankt, sind geleitet gewesen von der Tendenz, die ganze Gesetzgebung zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Aber, meine Herren, wenn dieses Ziel nicht erreicht worden ist, so liegt das auch wieder nicht an der Reichsregierung, sondern es liegt ich habe das, glaube ich, in der Kommission zur Beratung der Reichsversicherungs⸗ ordnung des längeren dargelegt an der historischen Entwicklung, die unsere Arbeitergesetz ebung einmal genommen hat. Es liegt daran, daß bei der stückweisen Inangriffnahme der einzelnen Materien Einrichtungen, Verhältnisse und Gewöhnungen geschaffken worden sind, die so fest in der Bevölke⸗ rung und in den Arbeitgeber⸗ und Arbeitnehmerkreisen wurzela,

daß wir sofort einem unüberwindlichen Widerstande gegenübergestanden

haben würden, wenn wir versucht hätten, die ganzen Einrichtungen der Unfallversicherung, der Invaliden⸗

auszubauen.

Meine Herren, das alles ist eingehend von mir erwogen worden, als ich die Geschäfte hier übernahm, von Ihnen bei der Beratung in der Kommission. Aber ich glaube, alle die Herren, die an den Kommissionsberatungen teilgenommen haben, werden mir darin bei⸗ stimmen, daß, wenn ich mit dem Versuch hervorgetreten wäre, unsere ganze Arbeitergesetzgebung auf einer einheitlichen Grundlage auf⸗

zubauen, dieser Versuch sehr bald im Keim erstickt sein würde, und so,

meine Herren, sind wir genötigt gewesen, uns in der Reichs⸗

versicherungsordnung mit dem zu begnügen, was wir dort erreicht

haben. Daß das keine vollkommene Arbeit ist, weiß keiner genauer als ich; ob sie aber besser hätte geleistet werden können, und namentlich, ob der Reichstag sie häite besser leisten können, wenn an meiner Stelle ein anderer Staatssekretär gestanden hätte, ist mir

doch zweifelhaft, denn ich habe Ihre Geschäfte nicht zu besorgen,

sondern dazu sind die Herren ja selber Manns genug. (Seiterkeit.) Nun wird der Herr Abg. Hoch mit einem weiteren Einwande

kommen, er wird sagen: ja, wir denken uns die einheitliche Entwicklung

der Dinge ganz anders. Dem Herrn Abg. Hoch das hat er ja öfter hier ausgeführt schwebt der Gedanke vor, daß wir hier von

eichs wegen nach allgemeinen Grundzügen die Arbeitergesetzgebung regeln sollen, und daß ihre Anwendung dann in die Hände von paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzten Organen gelegt werden soll, denen es überlassen ist, die Gesetze anzuwenden und aus den Gesetzen herauszuarbeiten, was sich herausarbeiten läßt. So wenigstens habe ich die Ausführungen des Herrn Abg. Hoch verstanden.

Jc, meine Herren, das geht nicht, und daß das nicht geht, hat auch wieder seinen Grund in historischen Verhältnissen und hat in aller⸗ erster Linie seinen Grund in der Art, wie Ihre Portei sich zu unserer sozialpolitischen Gesetzgebung gestellt hat, in der Art, wie Ihre Partei geglaubt hat, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft fördern zu müssen.

Meine Herren, wenn die Arbeiter und ihre Führer rein sachlich, ohne polttischen Beigeschmack, ohne die Tendenz, die bestehende Staats⸗ und Wirtschaftsordnung auf den Kopf zu stellen, ihr Ziel verfolgen würden, dann hätte man von Anfang an wahrscheinlich unsere Arbeitergesetzgebung auch auf einer anderen, den Wünschen des Herrn Abg. Hoch sich nähernden Grund⸗ lage aufbauen können. Aber, meine Herren, daß wir einer Partei, von der ich zugeben will, daß sie heute etwas milder ist als vor 20 Jahren, die damals neben den wirtschaftlichen Forderungen ein Heer von politischen Forderungen aufgestellt hat, die den Widerstand des ganzen deutschen Vaterlandes hervorrufen müssen, die Ausübung so wichtiger Gesetze anvertrauen sollten, das hat doch kein Mensch im Ernste von uns verlangen können und wird auch heute niemand von uns im Ernste verlangen können. Wenn Sie also fragen, warum wir die Sache anders, bureaukratisch, von oben herunter haben organisieren müssen, so erwidere ich: weil wir verhindern mußten, daß diese dem Wohle der arbeitenden Klassen dienende Einrichtung für politische Zwecke ausgenutzt wurde. (Sehr richtig! rechts.) Ich komme immer wieder darauf zurück, und ich werde Ihnen an immer neuen Beispielen nachweisen können, daß hier der Fehler bei Ihnen liegt, aber nicht bei uns. Wir können es nicht dulden, und wir müssen uns dagegen wehren, daß derartige Einrichtungen, die rein wirt⸗ schaftlichen, die humanitären, die, sozialen Zwecken dienen, für politische Zwecke einer Partei ausgenutzt werden, die schließlich auf eine völlige Umwälzung der staatlichen und wirtschaftlichen Verhält⸗ nisse des Deutschen Reiches hinarbeitet. (Zustimmung rechts. Wider⸗ spruch bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, das ist geschehen. Ich berufe mich auf die Kommissionsverhandlungen über die Kranken⸗ versicherung. Wenn Sie mir heute wieder bestreiten, daß das ge⸗ schehen ist, so will ich Ihnen ein anderes Beispiel anführen, das mir ganz besonders ans Herz geht. Ich erinnere an das Gesetz über die Sicherheitsmänner im Bergbau. Das Gesetz ist aus meiner Iniatiative entstanden. Es ist mir nicht ganz leicht geworden, dieses Gesetz durchzubringen. Ich habe das Gesetz eingebracht in der Hoff⸗ nung, daß man aus dem Sicherheitsmann, so wie ich ihn mir gedacht hatte, mit den Kautelen, die für seine Funktion geschaffen waren, ein rein technisches Institut machen würde, daß zu Sicherheitsmännern die sach⸗ verständigen, technischen Vertrauensleute der Belegschaft gewählt werden sollten. Ich habe angenommen, daß, wenn die Versicherungen, die mir damals von Arbeiterkreisen gegeben wurden, erfüllt würden, es möglich sein würde, daß bei der Wahl der Sicherheitsmänner nicht politische Gesichtspunkte ausschlaggebend sein werden, sondern daß lediglich die technische, die persönliche Zuverlässigkeit, die Charakter⸗ eigenschaften des einzelnen Sicherheitsmannes entscheidend für die Wahl sein würden. Meine Herren, was haben Sie aus der Sache gemacht? Eine politische Institution der Sozialdemokratie. (Hört! hört! rechts.) Ich verweise auf die gedruckte Instruktion für die Sicherheitsmänner, die in jedermanns Händen ist, und die hier in diesem Hause wiederholt besprochen worden ist. Ich verweise darauf, daß diese Wahlen sich überhaupt nicht anders vollziehen, als in den Formen eines Kampfes zwischen den christlichen Gewerkschaften und den Sozialdemokraten. Meine Herren, dieser Fall ist charakteristisch: Durch die Politisierung des Instituts der Sicher⸗ heitsmänner ist der gute Zweck dieses Gesetzes von vorn⸗ herein vereitelt worden. (Zustimmung rechts.) Es wird sich an unserer Arbeitergesetzgebung, an der ganzen Art, wie sie aufgebaut ist, an der ganzen Art, wie sie durchgeführt und gehandhabt werden muß, an der bureaukratischen Behandlung der Sache, die unvermeidlich ist, nichts ändern lassen, nachdem Sie 25 Jahre lang niemals in der Lage gewesen sind, wirtschaftliche Verhältnisse von politischen Zielen zu trennen. 8

Der Herr Abg. Hoch wird wieder sagen, ich hätte einen Vorstoß gegen die Sozialdemokratie gemacht. Ja, ein Druck erzeugt Gegen⸗ druck. Die Herren haben in den letzten Tagen wiederholt und heute wieder die Regierung angegriffen, Sie haben unsere Maßnahmen be⸗ mängelt, Sie haben den Grund der Mängel bei uns gesucht, und nun versuche ich, Ihnen klar zu machen, daß auch bei Ihnen die Mängel ihre Ursache haben, und daß die Hauptmängel, soweit solche bestehen, nicht zu allerletzt durch Ihr unzweckmäßiges Verhalten hervorgerufen worden sind.

Meine Herren, ich will damit die Frage der Sozialpolitik ver⸗ lassen. Ich bin ohnehin breiter geworden, als es in meiner Absicht lag. Es ist aber vielleicht ganz zweckmäßig, daß diese Fragen bei dieser Gelegenheit einmal in extenso erörtert worden sind. Ich darf auch vielleicht darauf verzichten, auf Einzelheiten aus dem Ge⸗ biete der Sozialpolitik einzugehen, die die Herren gestern nach mir noch besprochen haben. Es ist da eine Reihe von Wünschen aus⸗ gesprochen worden, es ist vor allem der Wunsch ausgesprochen worden⸗ daß man von der Ermächtigung der Reichsversicherungsordnung Gebrauch machen möge, bestimmte Berufskrankheiten den Unfällen gleichzustellen.

Meine Herren, das alles ist in Arbeit. Die Reichsversicherungs⸗ ordnung ist zum Teil erst in Kraft getreten und die Zeit zu ihrer vollständigen Durchführung war bisher viel zu gering.

Meine Herren, damit komme ich nun zu den Fragen des Mittelstandes, die ebenso wie im vorigen Jahre auch in diesem Jahre in den Reden der Sprecher aller Parteien dieses Hauses einen weiten Raum eingenommen haben. Der Herr Abg. Irl hat in seiner langen Rede über die Wünsche des Mittelstandes gestern den Satz an die Spitze gestellt: Ich habe mich im vergangenen Jahre so ein⸗ gehend über die Fragen und Wünsche des Mittelstandes aus⸗ gesprochen, daß ich heute darauf verzichte, alle diese Wünsche zu wiederholen; es ist nicht angenehm, immer wieder dieselben Dinge zu sagen. Meine Herren, ich werde diesem Beispiel folgen. Ich habe im vergangenen Jahre die Fragen des Mittelstandes in ihren Grundzügen und in einer Unzahl von Einzelheiten eingehend besprochen und erörtert. Ich bitte Sie, meine Herren, sofern Sie das Bedürfnis dazu haben, meine vorjährigen Ausführungen nochmals anzusehen. Ich möchte ihnen nichts hinzufügen; ich würde damit nur das Bild dessen, was ich

im vergangenen Jahre gesagt habe, verwischen. Ich möchte aber auf

1 einzelne Punkte eingehen, die auch der Herr Abg. Irl ge besonderen Betrachtung unterzogen hat.

* stern einer

Im Vordergrund steht da der, wie ich anerkenne, auf den ersten 8

Blick nicht unberechtigte Vorwurf, daß die verbündeten Regierungen im Laufe der letzten Jahre aus dem Kreise der Erwägungen nicht wesentlich herausgekommen seien, und daß die Taten, die sie aufzu⸗ weisen hätten, im Vergleich zu den im vorigen Jahre eröffneten Aussichten und mit Rücksicht auf den guten Willen, den Sie ausge⸗ sprochen hätten, zu helfen, recht mäßig seien. Meine Herren, ich möchte dem gegenüber einmal an einzelnen Beinspielen anführen, wie außerordentlich schwierig es ist, in dieser spröden Materie zu einem Ergebnis zu kommen, namentlich dann, wenn man ver⸗ sucht, in die Kreise der Interessenten hineinzusteigen und mit ihnen zusammen zur Lösung der zahlreichen Probleme zu kommen. Ich möchte hier auf ein typisches Beispiel hinweisen.

Seit über einem Jahrzehnt verlangt man in Handwerkerkreisen, daß man die Großindustrie an den Kosten der Lehrlings⸗ ausbildung, insbefondere an den Kosten der Innungsschulen u. dergl. beteiligen solle. Meine Herren, ich habe mich bemüht, diesem Problem auf den Grund zu kommen, als ich noch das Ressort des preußischen Handelsministers hatte. Ich bin damals zu dem Er⸗ gebnis gekommen, daß eine derartige Einrichtung schwer zu treffen ist, daß die Grundlagen für eine Heranziehung der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung schwer zu konstruieren sind. Ich bin auch zu dem Ergebnis gekommen, daß der finanzielle Effekt einer derartigen Beteiligung in den Kreisen des Handwerks erheblich über⸗ schätzt wird, und ich habe die Auffassung gewonnen, daß bei einer zwangsweisen Heranziehung der Industrie zu den Kosten der Lehrlingsausbildung für bestimmte Gewerbe die Nachteile die Vorteile überwiegen würden. Nun, meine Herren, ich habe gleichwohl auf das stürmische Verlangen, das immer erneut in dieser Beziehung erhoben ist, gesagt: ich werde meine Bedenken zurückstellen, es mag auch sein, daß die finanziellen Ermittlungen, die meinen damaligen Schlüssen zugrunde gelegen haben, unzutreffend sind, ich werde versuchen, weiter zu verhandeln. Nun, meine Herren, habe ich erstmals am 1. April 1911 mit Vertretern des Handwerks verhandelt. Diese Verhandlungen sind ergebnislos verlaufen. Ich habe dann zum zweiten Male Verhandlungen, und zwar in einem beschränkten Kreise, im Juli vorigen Jahres geführt. Es haben an dieser Besprechnng teilgenommen Vertreter des deutschen Handwerks⸗ und Gewerbe⸗ kammertags, des Zentralverbands der vereinigten Innungsverbände, der deutschen Mittelstandvereinigung und von der anderen Seite des deutschen Handelstags, des Zentralverbands deutscher Industriellen und des Bundes der Industriellen. Bei dieser Besprechung haben zunächst die Vertreter des Handwerks anerkannt, daß die finanzielle Bedeutung der Beteiligung der Industrie an den Kosten der Lehrlingsausbildung von ihnen wohl überschätzt sei. Sie haben aber einen anderen Gesichtspunkt, und nach meiner Meinung mit Recht, in den Vordergrund geschoben. Sie haben gesagt: uns liegt auch weniger an der materiellen Unterstützung, die uns die Beteiligung der Industrie eventuell bieten könnte, sondern vielmehr an dem idealen Ziele eines Zusammenarbeitens mit den großen Be⸗ trieben da, wo wir gemeinschaftliche Aufgaben zu er⸗ füllen haben. Es kommt hier die Auffassung zutage, daß eine unerwünschte Folge unserer Gesetzgebung ist, daß die großen und kleinen Betriebe sich immer mehr von einander trennen im Gegensatz zur Landwirtschaft, wo Groß⸗ und Kleinbetriebe als eine geschlossene Masse zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen auftreten. Es haben auf diese Aeußerung des Handwerks hin auch die Vertreter von Handel und Industrie erklärt sie seien gern bereit, auf derartigem Gebiete mit den Vertretern der kleineren Betriebe und des Mittelstandes zusammen zu arbeiten, und das Ergebnis der Besprechung ist schließlich gewesen, daß man jedenfalls zurzeit eine gesetzliche Regelung dieser Frage im Sinne einer zwangsweisen Heran⸗ ziehung der Industrie nicht mehr urgiert, sondern daß man sich dahin geeinigt hat, daß die Handwerkskammern und die Handelskammern zu gemeinschaftlichen Ausschüssen zusammentreten sollen, um diese und andere gemeinsame Interessen in gewissen periodischen Wiederholungen miteinander zu regeln und zu fördern. Dieser Fall ist charakteristisc„h. Das stürmische Verlangen nach einer gesetzliche Regelung ist schließlich den Erwägungen gevichten, hier aus so oft geltend gemacht worden sind. Die eignet sich nicht zur gesetzlichen Regelung. Dafür ist aber eine freiwillige Einigung zustande gekommen, von der wir zu nächst abwarten müssen, was sie für Erfolg hat, und der ich meinerseits die besten Erfolge wünsche. Es freut mich, daß es mi gelungen ist, dieses Zusammenarbeiten zu vermitteln, und ich bemerk⸗ ausdrücklich, ich werde jederzeit bereit sein, weiterhin diese vermittelnde Tätigkeit eintreten zu lassen, aber auch die Frage einer gesetzlichen Regelung der Sache in Angriff zu nehmen, wenn mir hinreichende 8 Grundlagen für eine derartige Regelung geboten werden, was ja möglich ist, nachdem im Prinzip Großindustrie und Handwerk nicht mehr feindlich einander gegenüberstehen, sondern den guten Willen haben, sich auf neutralem Boden zu vereinigen.

Genau so und noch markanter liegt der Fall des § 100 q der Gewerbeordnung. Auch dies ist eine alte Forderung des Hand⸗ werks. Sie hat inzwischen in fast allen großen Parteien dieses Hauses warme Anhänger und Freunde gefunden. Aber sowohl der preußische Herr Handelsminister im Abgeordnetenhause wie ich hier haben auf die Berdenken hinweisen müssen, die sich einer Beseitigung dieses Paragraphen entgegenstellen. Wir haben ferner auf die Schwierigkeiten hinweisen müssen, die sich auch einer Ausgestaltung des Gedankens nur für einzelne Betriebe und unter Kautelen und Einschränkungen entgegenstellen. Ich habe mir aber gleichwohl gesagt, daß, wenn eine so große Majorität des Reichs⸗ tags eine derartige Forderung stellt, es meine Pflicht ist, nach Wegen zu suchen, um diese Forderung zu erfüllen, und ich habe zu diesem Zweck mit den Beteiligten verhandelt. Nun, meine Herren, mit welchem Erfolg? Die Sache ist auf der Handwerkerkonferenz, die im vorigen Frühjahr im Reichsamt des Innern abgehalten worden ist, erörtert, mit dem Ergebnis, daß die Besprechung des § 100 f auf den eigenen Wunsch der Beteiligten von der Tagesordnung abgesetzt ist (hört! hört! bei den Nationalliberalen), und ich habe den Eindruck, daß die Auffassung, daß der § 100 g doch seine Berechtigung hat und daß seine Beseitigung mit großen Unzuträglichkeiten verknüpft sein würde, die in keinem Verhältnis stehen würden mit den damit zu erreichenden Vorteilen, in immer weitere Kreise des Handwerks gedrungen ist. Auch bei den letzten großen Verhandlungen der Handwerker ist diese Frage in den