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der Regierung nicht alles geschehen, was zur Aufklärung der Volksmassen notwendig war. Den Vorwurf mangelnder Pflicht⸗ erfüllung müssen wir jedoch unserseits zurückweisen.
Abg. Ledebour (Soz.). Daß die Konservativen, die Frei⸗ konservativen und die Partei Mumm eine Antisozialistendebatte her⸗ vorrufen würden, war begreiflich, denn was wollen diese Parteien überhaupt noch von der Zukunft erhoffen? Die konservative Partei hat wenigstens noch einen Resonanzboden in gewissen wirtschaftlichen Schichten des Voltes, nicht bloß beim Großgrundbesitz, sondern auch bei 8 großen Teil des mittleren Besitzes und bei denjenigen länd⸗ lichen Arbeitern, die von der Obervormundschaft des Großgrundbesitzes noch nicht befreit sind. Aber die Freikonservativen sind doch gar keine Partei, sie sind nichts als die Inhaber einzelner Verlegenheitsmandate. S0, war Ss auch in Westpreußen. (Vizepräsident Dr. Paasche bittet den Redner wicderholt, nicht auf die Generaldebatte zurückzu⸗ greifen.) Wenn der Abg. Arendt gemeint hat, die freikonservative
z; 9† — “ : . 8 Partei konant in Reiche och mit dem Aufsteigen des nationalen Ge⸗
dankeas, so ist das eine reine Phantasterei. Die Firma Graf Westarp, Arendt, Mumm u. Co. hat in dem Bestreben, ihren schwindenden
Einfluß im Volke wieder zu stärken, eine Verstärkung des Kampfes gegen
die Sozialdemokratie empfohlen. Die Regierung soll ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie erlassen. Graf Westarp ist allerdings mit seiner neulichen fulminanten Scharfmacherrede zur Unterstützung seiner Resolution gegen das Koalitionsrecht beim Staatssekretär ab⸗
89 Es würde mir leid tun, wenn meine Worte dem
Staatssekretär schaden würden. Dieser hat aber seine Ausführungen nicht gemacht aus einem größeren Wohlwollen gegen uns, nicht unserer schönen Augen wegen, sondern, weil er das vorgeschlagene Mittel für unzweckmäßig und untauglich hält. Die Geschichte gibt ihm recht. Die Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz sollten doch den Herren die Augen aufknöpfen. Wenn man den bürgerlichen Parteien die Schuld an dem Wachstum der Sozialdemokratie beimißt, weil sie in diesem oder jenem Wahlkreis bei den Stichwahlen mit uns zusammen⸗ gingen, so sind das doch nur vorübergehende Erscheinungen. Das Wachstum der Sozijaldemokratie beruht auf der wirtschaftlichen Entwicklung Hand in Hand mit der zunehmenden politischen Auf⸗ klärung des Proletariats. Für diese Aufklärung leisten uns gerade die Abgg. Westarp, Arendt und ihre Parteigenossen die wertvollste Hilfe durch ihre Scharfmacherreden. Der Aba. Arendt hat die Auffassung ver⸗ treten, daß der Staatssekretär in der Kommission eine Drobung gegen Preußen gerichtet hat; der Staatssekretär Delbrück stellt diese Aeußerung so dar, als ob er damit hloß den Zweiflern eine Beruhigungspille habe eingeben wollen. Niemals koͤnne im Bundesrat ein Reichs⸗ gesetz ohne Preußen gemacht werden, Preußen würde sich niemals gefallen lassen, im Bundesrat überstimmt zu werden. Dasselbe hat auch schon der Abg. Arendt vor 14 Tagen im „Tag“ geschrieben. Deutschland hört aber auf, ein Bundesstaat zu sein, wenn ein Einzelstaat allein die Macht in Händen hat. Tatsächlich haben wir weder einen Einheits⸗ noch einen Bundesstaat. Zu welchen skandalösen Zuständen dieses Monopol eines Staates führt, zeigt ja die polnische Resolution, die von einer Zweidrittel⸗ mehrheit des Reichstags angenommen ist, und die lediglich die Folge davon ist, daß sich Preußen keinen Pfifferling um das Reich kümmert. Und da muß ich hier Verwahrung gegen den Versuch zweier Ab⸗ geordneten einlegen, die derselben Verlegenheitsgruppe angehören wie die Abgg. Arendt, von Kardorff und ... wie heißt doch der andere. . Zedlitz, und die die Regierung aufzuputschen ver⸗ sucht und verlangt haben, Preußen solle sich dem Bundes⸗ rate und dem Reichstage nicht fügen, und auch die Reichs⸗ regierung solle sich nicht durch Reichstagsbeschlüsse leiten lassen. Sie wollen, daß Preußen im Bundesrat gegen den Reichstag auftrete; die Herren haben also ein Staatsrecht mit doppeltem Boden. Etwas Skandalöseres kann gar nicht gedacht werden. Einer der beiden wünschte, der Staatssekretär Delbrück wäre der junge Mann des preußischen Ministers des Innern; weiter kann man die Ungeniertheit in dem Anspruch auf Zerrüttung des Reichs nicht treiben; denn wenn ein Staatssekretär sich wirklich dazu hergebe, junger Mann eines Ministers von Dallwitz zu sein, so verdiente er, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden.
Abg. Giesberts (Zentr.): Es ist sehr bedauerlich, daß die
Debatte über die Wohnungsfroge zu solchen politischen Auseinander⸗
„
setzungen führt. In der Wohnungsfrage waren alle Parteien des Hauses zu einer Einigung gelangt. Auch hier wie auf allen Gebieten der Sozialpolitik suchen wir einen Mittelweg, der zu einem praktischen Ergebnis führt. Zu einer Verschärfung der sozialpolitischen Gegen⸗ sätze besteht absolut kein Bedürfnis. Es hat doch einen sehr eigentüm⸗ lichen Eindruck gemacht, daß man die Gelegenheit im preußischen Ab⸗ geordnetenhause benutzt hat, um mobil gegen den Reichstag zu machen, und ich bedaure, daß die Konservativen sich jetzt auf die Seite der Scharfmacherei haben abdrängen lassen. Der Sozlaldemokratie werden sie damit keinen Abbruch tun. Die Strömung draußen im Lande ist durchaus den Tendenzen der Scharfmacherei entgegengerichtet.
Abg. Schultz (Rp): Der Abg. Ledebour hat in großer Erregung meine Partei und meinen Freund von Kardorff angegriffen. Er hat behauptet, dieser hätte den Staatssekretär Delbrück einen jungen Mann des Ministers von Dallwitz genannt. Er hätte doch den Bericht erst lesen sollen; der Abg. von Kardorff hat den Ausdruck zitiert und dann gesagt, wenn es so wäre, würde er sich freuen. Der Abg. von Kardorff hat verlangt, daß die Regierung auf die An⸗ schauung einer großen Mehrheit Rücksicht nimmt, hat dann aber ver⸗ langt und mit Recht verlangt, daß der Deutsche Reichstag sich nicht einmische in innerpolitische Angelegenheiten Preußens. Es eschah das, weil der Reichstag sich anmaßte (Vizepräsident Dr. Wenn der Reichstag ordnungsmäßig einen Beschluß faßt, haben Sie nicht das Recht, von Anmaßung zu sprechen). Der Reichstag hat durch Beschluß verlangt, daß der Reichskanzler in verfassungsmäsige Gesetze Preußens eingreift und die aufhebt. (Ruf bei den Polen: Rechtswidrig!) Ob Sie das so nennen oder nicht, die Gesetze sind legal zustande ge⸗ kommen, und kein Reichstag hat das Recht, sich da hineinzumischen. (Vizepräsident Paasche: Von der Wohnungsfrage ist in diesen Ausführungen mit keinem Wort mehr die Rede gewesen!)
Abg. Gothein (portschr. Volksp.): Die Grenze zwischen Reichs⸗ und Landesgesetzgebung ist ja flüssig. Selbst beim Bürger⸗ lichen Gesetzbuch sind einzelne Materien vorläufig der Landes⸗ gesetzgebung überlassen worden. Beim Wohnungsgesetz kann man zweifelhaft sein; aber nachdem der Reichstag ein⸗ stimmig die Regelung von Reichs wegen gefordert hat und die beiden Parteien der Rechten zugestimmt haben, ist von irgendeiner Anmaßung des Reichstages hier nicht die Rede. Die Aeußerung des Grafen Westarp über den Inhalt von Re⸗ solutionen ist gewiß richtig, aber wenn man zustimmt, daß eine Materie durch Reichsgesetz geregelt werden soll, so kann man doch nachher nicht sagen, man habe es nicht so gemeint, dann hat man mindestens das erste Mal nicht aufgepaßt. Graf Westarp hat nur eine Verlegenheitswendung gemacht, um seinen Umfall in dieser Frage zu maskieren. Nach unserer Auffassung muß die Materie unbedingt von Reichs wegen geregelt werden, auch dann, wenn Preußen sie zu regeln unternimmt. Wenn Preußen diese Materie regelt, so ist sie damit doch noch nicht für Mecklenburg geregelt. Auf die politische Erörterung werde ich nur noch ganz kurz eingehen; ich muß das tun, soweit wir angegriffen sind. Der Staatssekretär meinte, wenn die bürgerlichen Parteien ihre Pflicht getan hätten, säßen nicht 110 Sozialdemokraten hier. Wenn die bürgerlichen Parteien ihre Pflicht und Schuldigkeit getan hätten bei der Erbschaftssteuer, stände es auch anders, da haben wir das Unserige getan, die anderen nicht.
Damit schließt die Diskussion.
Persönlich bemerkt der
Abg. Dr. Dertel (dkons.): Der Staatssekretär hat sich an mich versönlich unmittelbar gewendet und ist auf meine Rede vom It. Januar zurüͤckgekommen., Er hat daraus geschlossen, daß ich ihm Mangel an Mut und Entschlossenheit vorgeworfen habe. Das ist ein sroßer Irrtum. Ich habe das nicht für die Vergangenheit und Gegenwart getan, sondern habe nur die Möglichkeit für die Zukunft
hingestellt. Meine politischen Freunde und ich haben seine
Ausführungen deshalb besonders bedauert, weil sie uns den Eindruck machen konnten, daß der Staatssekretär des Innern und der Reichskanzler in dem unvermeidlichem Kampfe gegen die Sozialdemokratie nicht das Mark, den Mut und die Ent⸗ schiedenheit zeigen werden, die wir verlangen. Zu diesem Kampf ge⸗ hört Mut und Entschiedenheit, die wir den Herren von der Regierung lebhaft und herzlich wünschen. Daß da Befürchtungen gehegt werden, und daß wir diese Wünsche jetzt noch haben, kann ich nicht bestreiten.
Abg. Ledebour (Soz.): Der Abg. Schultz hat behauptet, daß meine Freunde im Abgeordnetenhause bezüglich der Rede des Abg. Kardorff etwas Falsches behauptet hätten. Ich werde deshalb diese Worte hier verlesen. (Vizepräsident Paasche: Das würde doch zu weit führen!) Ich glaube, das ist doch nötig. (Vizepräsident Paasche: Sie haben nicht das Recht, mich zu kritisieren. Sie können persönliche Angriffe abwehren. Aber es ist nicht zulässig, dabei lange Debatten zu machen.) Daß übrigens der Abg. von Kardorff den Wunsch ausgesprochen hat, der Staatssekretär Delbrück möge sich hier als junger Mann des Ministers von Dallwitz fühlen, das hat der ahnungslose Abg. von Schultz⸗Bromberg vollauf bestätigt. (Vizepräsident Paasche: Das war keine persönliche Bemerkung.)
Abg. Graf von Posadowskpy (b. k. F.): Es ist darauf hingewiesen worden, daß zu einem Reichsgesetz die Uebereinstimmung beider Faktoren der Gesetzgebung nötig sind. Ich glaube aber, daß eine gesetzgebende Versammlung, die für sich Einfluß beansprucht, auch für sich das Recht beanspruchen muß, Mittel zu haben, um auf den anderen Teil einzuwirken. Im übrigen habe ich erklärt, daß, nach⸗ dem Preußen ein Wohnungsgesetz in Aussicht gestellt hat, wir hier die Frage eines Reichswohnungsgesetzes vorläufig ruhen lassen können.
Abg. Dr. Arendt (Rp.): Ich habe nicht davon gesprochen, daß Preußen im Bundesrat nicht überstimmt werden darf. Ich habe nur darauf hingewiesen, daß bei wichtigen Vorlagen Preußen nicht überstimmt wird. 1
Abg. Ledebour (Soz.): Der Abg. Arendt hat die Taktik seines Parteigenossen Schultz befolgt. Er hat durch seine Aus⸗ führungen genau bestätigt, was ich gesagt habe. Die Möglichkeit, Preußen zu überstimmen, habe ich nicht bestritten. Ich habe aber behauptet, daß sich die Praxis herausgebildet hat, daß bei wichtigen Vorlagen Preußen nicht überstimmt wird. Deshalb ist das Deutsche Reich kein Bundesstaat mehr.
Abg. Schultz (Rp.): Ich verzichte im Interesse des Abg. Ledebour.
Der außerordentliche Etat von 4 Millionen wird bewilligt. Die von der Budgetkommission beantragten Resolutionen und
die Resolution Mumm werden angenommen.
Die Einnahmen werden ohne Debatte bewilligt. Damit ist die zweite Lesung des Etats des Reichsamts Innern erledigt.
Ueber die dazu eingegangenen Petitionen wird nach dem Referat des Abg. Hoch (Soz.) nach den Kommissions⸗ anträgen beschlossen. Nur die Petition des Amtsgerichts⸗ dieners Behrens in Essen um Gewährung einer Industrie⸗ und Ortszulage für Staats⸗- und Reichsbeamte wird dem Reichs⸗ kanzler nicht, wie die Kommission wollte, als Material, sondern insoweit zur Berücksichtigung überwiesen, daß die Gehälter den Teuerungsverhältnissen angepaßt werden.
Vor dem Eintritt in die Beratung des Etats der Reichsjustizverwaltung wird ein Antrag auf Ver⸗ tagung angenommen.
Schluß gegen 5 ½ Uhr. Nächste Sitzung Sonnabend 11 Uhr (Etat der Reichsjustizverwaltung).
M“ Preußischer Landtag. 8 Haus der Abgeordneten. 8 127. Sitzung vom 7. Februar 1913, Vormittags 10 Uhr. (Bericht von „Wolffs Telegraphischem Bureau“.)
Uaeber den Beginn der Sitzung, in der die zweite Be⸗ ratung des Etats des Ministeriums des Innern bei dem Titel „Strafanstaltsverwaltung“ fortgesetzt wird, ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.
Abg. Witzmann (nl.) weist darauf hin, daß die Gefängnis⸗
aufseher bei der Beamtengehaltsverbesserung sehr schlecht weg⸗ gekommen seien. Hier sei eine Hilfe besonders nötig, denn es handle sich um eine sehr wichtige Beamtenkategorie, ihr Dienst sei ungleich schwieriger und verantwortungsvoller als der anderer Beamten. Das habe auch die Verwaltung anerkannt. Die Gefangenaufseher hätten nicht nur bei Tage, sondern auch bei Nacht Dienst, ihr Dienst sei mit Gefahr für Leib und Leben verbunden. Nur charakterfeste Männer könnten diese Dienste leisten, denn sie seien Bestechungen ausgesetzt. Eine Verbesserung ihrer Bezüge sei somit dringend not⸗ wendig. Abg. Faltin (Zentr.) äußert sich in gleichem Sinne. Ein Teil dieser Beamten sei nicht nur nicht im Gehalt aufgebessert, sondern sogar schlechter gestellt worden. Die Staatsregierung solle aus eigenem Antriebe den Gefangenaufsehern zu Hilfe kommen. Die Remuneration führe nur zu ungerechten Verteilungen. Die Dienst⸗ zeit der Aufseher sei einheitlich zu regeln und erheblich zu vermindern. Die Hilfsaufseher bäten um eine frühere Anstellung.
Abg. Dr. Schepp (fortschr. Volksp.) ist ebenfalls der Meinung, daß die Dienstzeit der Gefängnisbeamten einheitlich geregelt und herabgesetzt werden müsse. Die Lage der Gefängnisschreiber müsse ver⸗ bessert werden.
Abg. Siebert k(kons.) tritt für ein schnelleres Anfrücken der Anstaltsschreiber ein. Es müsse ihnen bald geholfen werden.
Abg. Dr. König (Zentr.): Aus der Tatsache, daß der Ver⸗ dienst der Gefangenen gestiegen ist, könnte man schließen, daß die Gefängnisarbeit wieder gewachsen ist. Ich muß aber anerkennen, daß in den letzten Jahren die Gefängnisarbeit nachgelassen hat, und hoffe im Interesse des gewerblichen Mittelstandes, daß die Gefängnis⸗ arbeit allmählich herabgesetzt und möglichst ganz beseitigt wird. Ich bitte die Regierung um Aufklärung in dieser Hinsicht.
Geheimer Oberregierungsrat Schlosser: Für die geistliche Fürsorge in den Strafanstalten ist in ausreichender Weise gesorgt. Den Wünschen einer möglichst umfangreichen Anstellung von Gefängnis⸗ geistlichen erweist die Regierung größtes Entgegenkommen. Der hygienische Zustand der Gesengniße muß als befriedigend bezeichnet werden. Die Gefangenen werden auf ihren Gesundheitszustand genau untersucht, und es hat sich bis jetzt nichts dafür ergeben, daß in hygienischer Beziehung für die Gefangenen nicht genügend Vorsorge getroffen ist. Auch auf dem Gebiete der Fürsorge für die entlassenen Straf⸗ gefangenen ist bis jetzt schon viel erreicht worden. Dann ist die Besser⸗ stellung der Aufseher gewünscht worden. Es muß zugegeben werden, daß in den Besoldungsverhältnissen dieser Beamten gewisse Härten bestehen. Um in dieser Hinsicht einen Ausgleich herbeizuführen, werden denjenigen Beamten, die einer Unterstützung bedürfen, ent⸗ sprechende Beihilfen zuteil. Dem Abg. König erwidere ich, daß jeder handwerksmäßige Arbeitsbetrieb in den Strafanstalten ausgeschlossen ist. Es handelt sich vielmehr nur um minderwertige Arbeiten. Im übrigen kann ich mitteilen, daß die Gefängnisarbeit ganz erheblich zurückgegangen ist.
Nach einigen Bemerkungen der Abgg. Dr. Flesch (fortschr. Volksp.), Lieber (nl.) und des Geheimen Ober⸗ regierungsrats Schlosser wird ein Antrag der
Abgg. Waldstein und Genossen (fortschr. Volksp.), die
Königliche Staatsregierung zu ersuchen, den in den Etat ein⸗ gestellten Betrag von 34 000 ℳ zur Förderung der Fürsorge für die aus der Strafhaft Entlassenen im nächsten Jahre wesentlich zu erhöhen, zurückgestellt.
Im Kapitel 97 (Wohltätigkeitszwecke) sind zu Beiträgen für die Unterstützung bedürftiger ehemaliger Kriegs⸗ teilnehmer 20 175 600 ℳ eingestellt.
„Abg. Beyer⸗Neustadt (Zentr.): Ich möchte um Auskunft bitten, wieviel Veteranen gegenwärtig Pension beziehen und wieviel von diesen die Veteranenbeihilfe von 120 ℳ bekommen. Der Abg. Marx hat bereits Beschwerde über allzu engherzige Auslegung des Begriffes Hilfsbedürftigkeit geführt.
Abg. Dr. Runze (fortschr. Volksp.): Unsere tapferen Freiheits⸗ helden, deren Verdienste um unser Vaterland nicht hoch genug ange⸗ schlagen werden können, haben ein besonderes Antecht darauf, daß sie in ausreichender Weise unterstützt werden. Viele von ihnen befinden sich in größter Not. Gerade in den letzten Jahren sind zahlreiche Fälle vorgekommen, wo Veteranen im größten Elend gestorben sind. Es hat sich allerdings zuweilen herausgestellt, daß solche Leute einer Unterstützung nicht würdig waren. Aber das darf uns nicht hindern, für die anderen etwas zu tun. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die aus⸗ geworfenen Summen nicht immer einwandfrei zur Verteilung gekommen sind. Man darf auch nicht die Veteranen auf die Unterstützungen seitens ihrer Kinder verweisen, sondern sie müssen völlig unabhängig gestellt werden. Bei der Prüfung des Zusammenhanges zwischen dem körperlichen Zustande eines Veteranen mit den Kriegsstrapazen sollte man nicht zu engherzig sein. Tagelang sind unsere Truppen in Frankreich durch fußtiefen Schnee gewatet, solche ungeheuren Strapazen müssen Spuren hinterlassen, die erst später zutage treten. Die private Veteranenfürsorge ist nicht immer ganz einwandsfrei; ich erinnere an manche Kornblumentage. Andere Städte haben besondere Mitt aufgebracht, um die Veteranen zu unterstützen. Namentlich d Stadt Berlin hat in den letzten Jahren außerordentlich viel für die Veteranen getan. Aber solche Beihilfen, so anerkennenswe sie sind, genügen bei der großen Zahl der Bittsteller nich Nun möchte ich einen Vorschlag machen. In Berlin arbeitet d Stadt für sich, das Generalkommando für sich und die Polizei fü sich. Es sollte eine Art Zentralisation der Beihilfen eintreten. 8 Stadt, das Polizeipräsidium und das Generalkommando müßten einen Ausschuß bilden. Das geschieht auch schon in bezug auf di Jugendpflege. Wie die Sache im einzelnen ausgearbeitet werden kann, will ich hier nicht ausführen. Die Beihilfen müßten vo 120 ℳ auf 150 ℳ jährlich erhöht werden. Es ist doch sonderba daß das Deutsche Reich trotz der Erhöhung der Zölle und Steuer nicht ein paar Millionen für die Veteranen übrig hat. Preuße sollte in Deutschland auch hier vorangehen. Endlich muß für unser alten, braven und hochverdienten Veteranen auskömmlich gesorgt werder
Geheimer Regierungsrat Dr. Sänger: Es handelt sich b der Frage der Veteranenfürsorge um eine Reichsangelegenhei Es soll nach den Verordnungen des Bundesrats eine woh wollende Untersuchung aller der in Betracht kommende Fälle stattfinden. So gut wie ausgeschaltet ist die Prüfun der Frage, ob der Betreffende erwerbsunfähig ist oder nicht. Aller dings muß daran festgehalten werden, daß die Fürsorge nu eintritt, wenn der Veteran nicht imstande ist, den notwendigen Lebens unterhalt zu verdienen. Die Kinder der unterstützungsbedürflige Veteranen haben ja in erster Linie die moralische Pflicht, ihre Elter zu unterstützen. Aber bei der Frage, ob die Kinder imstande sind sie zu unterstützen, soll wohlwollend verfahren werden, namentlidh wenn sie dadurch in ihrem Fortkommen gehindert werden. Aber di Unterstützung der Kinder ganz auszuschalten, würde im Widerspruch mit der Tendenz des Gesetzes stehen. Die Zahl der unterstützungs bedürftigen Veteranen hat sich im letzten Jahre um 30 000 vermehr das zeigt doch, daß die Bestimmungen wohlwollend gehandhab werden. Der Minister hat auch im vorigen Jahre einen Erlaß heraus⸗ gegeben, wonach eine mildere Handhabung der Bestimmungen eintreten soll. Von dem Zeugnis eines Arztes soll abgesehen werden, wenn nicht ganz besondere Gründe vorliegen. Es soll ferner auch der Besitz eines kleinen Kapitals die Veteranenspende nicht vermindern, wenn die Anlage des Kapitals im Interesse der Familie notwendig ist. Zur Schaffung einer Zentralstelle ist bisher ein Bedürfnis nicht hervorgetreten. Die betreffenden Gesuche sind an die zuständige Stelle geleitet worden. Im letzten Jahre sind wir allen Fällen nachgegangen, die in der Presse besonders namhaft gemacht wurden. Es handelte sich hier in der Hauptsache um Unwürdige, Landstreicher, Betrüger usw. Wir suchen nach Möglichkeit für die Veteranen zu sorgen und werden dies auch künftig tun. Ueber die Erhöhung der Veteranenspende schweben Erhebungen im Reich. Es wird sich hierbei darum handeln, ob die notwendige Deckung dafür geschaffen werden kann. Preußen läßt sein Wohlwollen nicht fehlen, hat man doch behauptet, die an Preußen angrenzenden Staaten verführen weniger wohlwollend. Wenn das auch nicht der Fall ist, so läßt Preußen es jedenfalls nicht an der nötigen Fürsorge fehlen.
Abg. Leinert (Soz.): Die Konservativen haben verhindert, daß die Veteranen zu ihrem Rechte gekommen sind. Wenn man auf ein Kaiserwort hinweist, so hat das keinen Zweck, siehe die Wahlrechts⸗ vorlage. Seit Jahren ist gefordert worden, daß die Summe für die Veteranenfürsorge erhöht werden solle. Die Regierung hat sich aber geweigert, einem derartigen Beschluß des Reichstages nachzukommen, weil kein Geld vorhanden sei. Der Regierunospertreter sagte, das Gesetz würde milde gehandhabt. Was nutzt aber die milde Handhabung, wenn kein Geld vorhanden ist. Preußen zahlt keinen Pfennig für die Veteranenbeihilfe. Da keine Aussicht besteht, daß das Petro⸗ leummonopol durchgeht, werden auch die vorgesehenen 8 Millionen aus den Petroleummonopoleinnahmen nicht zur Unterstützung der Veteranen ausgegeben werden können, weil das Reich auf dem Standpunkt steht, daß keine neuen Ausgaben bewilligt werden können, falls keine Deckung vorhanden ist. So steht es wenigstens in der offi⸗ ziösen Presse. Dagegen muß entschieden protestiert werden. Es ist festgestellt worden, das mancher Veteran aus Not und Elend Selbst mord begangen hat. Daher fordern wir unbedingt von der preußischen Regierung, ihre Stimme im Bundesrat für die Veteranen zu erheber Man hat eine halbe Million für die Zivilliste übrig gehabt, aber die Veteranen läßt man hungern. Es ist bedauerlich, daß für Leute in Alter von 60 bis 70 Jahren so wenig gesorgt wird, daß sie auf der Landstraße liegen müssen. Oft wird den Veteranen auch geraten, sich um Armenunterstützung zu bewerben. Die Veteranen müssen hungetn, weil Sie, die Vertreter des Großgrundbesitzes, kein Opfer bringen wollen. Würden die Konservativen die Erbschaftssteuer nicht abgelehnt haben, dann wäre für die Veteranen besser gesorgt worden. Wir sammeln in Deutschland für alle möglichen Zwecke, warum nicht aber für die Veteranen⸗ Statt neue Besitzsteuern zu schaffen, um den Veteranen einen erträglichen Lebensabend zu ermöglichen, fängt man die Besitzsteuer damit an, daß man den Veterunen die versprochenen 30 Mart entzieht und dieses Geld der Reichskasse einverleibt, damit neue Militärforderungen bewilligt werden können. Die Not der Veteranen bedeutet eine Schmach und Schande für die besitzenden Klassen.
Abg. Dr. Runze (fortschr. Volkp.): Wenn der Regierungs⸗ vertreter sagt, daß viele Veteranen der Unterstützung nicht bedürftig seien, und daß es sich bei manchen in Not befindlichen Veteranen um Landstreicher handle, und daß andererseits vielfach auch Schwindler als Veteranen aufträten, so weise ich darauf hin, daß dies gewiß zutrifft. Aber diese Tatsache enthebt uns doch nicht der Pflicht, für die Veteranenfürsorge mehr als bisher zu tun. “
„ (Schluß in der Zweiten Beilage.)
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Reichsa
(Schluß aus der Ersten Beilage.)
Abg. Strosser (kons.): Wenn wir auch an ein großes Maß —
von Aufreizungen seitens der Soztaldemokratie gewöhnt siad, so muß ich doch sagen, daß wir allerdings nicht voraussehen konnten, daß der Abg. Leinert die Frage der Veteranenfürsorge zu heftigen Ausfällen gegen die konservative Partei benutzen würde. Sie haben davon gesprochen, daß die Geundbesitzer kein Perz für die Peteranenfürsorge hätten. Ich erinnere Sie aber daran, daß ich bereits voer Jahren mit dem Abg. Dr. Hahn hier einen Antrag auf Echöhung der Beihilfe eingebracht habe. Wir haben durchaus die große Not der Veteranen anerkannt. Wir haben em ebenso warmes Herz für sie wie die Sozialdemokrcaten. Wir, die wir selbst im Keieg gewesen sind, wissen genau, was den Veteranen noltut. Nach Ihrer Auffassung hätte der preußische Staat nichts für die Veteranen getan. Tatsächlich sind aber doch 20 Millionen für die Veteranen angesetzt worden, das ist doch etwas; daß diese Summe nicht ausceicht, wissen wir ebensogut wie Sre. Sie wollen sich nur immer als Retter des Volkes hinstellen. Ich habe es für nötig gehalten, Sie wieder einmal
an den Pranger zu stellen wegen Ihrer Rede.
Die Debatte wird geschlossen. Persönlich bemerkt — “ “ Abg. Leinert: Ich habe nicht gesagt, d Großgrundbesitz habe
kein Herz für die Veteranen. Ich habe nur gesagt, weil die Groß⸗ grundbesitzer die Erbschaftssteuer verhindern, müssen die Veteranen verhungern. Wenn der Abg. Strosser daraus schließt, daß die Groß⸗ grundbesitzer kein Herz für die Veteranen haben, muß ich allerdings dieser Schlußfolgerung entgegentreten. Weiter habe ich nur erklärt, Preußen zahle keinen Pfennig für die Veteranen, denn die 20 Millionen kommen aus der Reichskasse. Das Kapitel wird bewilligt.
Berichterstatter Abg. Winckler (kons.) referiert über die
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Forderung einer ersten Rate von 100 000 ℳ im Extraordinarium
für den Neubau eines Dienstgebäudes zur Unterbringung der Medizinal⸗ abteilung und beantragt namens der Budgetkommission, diese Forderung nicht zu bewilligen und der Regierung anheimzustellen, in einem späteren Etat die Kosten für einen Erweiterungsbau des Ministeriums des Innern auf Grund eines Projekts anzufordern, welches die allmähliche einheitliche Bebauung der Grundstücke Unter den Linden 72/73 und Dorotheenstraße 49 — 51 für die Zwecke dies Ministeriums ermöglicht. gs
Das Haus beschließt nach dem Kommissionsantrage.
Abg. Dr. Wolf f⸗Gorki (kons.) bemängelt die Diensträumlich⸗ keiten der Distriktskommissare in der Provinz Posen.
Es folgt das Kapitel des Medizinalw esens.
Berichterstatter Abg. von der Osten (kons.) referiert über die Kommissionsverhandlungen und erwähnt insbesondere den Zwiespalt zwischen den Aerzteverbänden in ihrem Verhältnis zu den Kranken⸗ tassen; er hefürwortet ferner die von der Kommission beantragte Resolution, die Regierung zu ersuchen, für das Elat jahr 1914 den Fonds von 100 000 ℳ zur Unterstützung des Bezirkshebammenwesens wesentlich zu erhöhen.
Abg. Heckenroth. (kons.): In den letzten Jahren hat in weiten Kreisen unseres Volkes eine herzerfreuende Tätigkeit zur Be⸗ kämpfung der Säuglingssterblichkeit eingesetzt. Ich erinnere nur an die Gründung des Kaiserin Auguste Victoria⸗Hauses in Charlotten⸗ burg, an die Gründung unserer Wöchnerinnenheime und die Ein⸗ richtung der Wöchnerinneupflege, zu der ja besonders unsere Kaiserin die Anregung gegeben hat. Der Erfolg ist auch nicht ausgeblieben. Die Säuglingssterblichkeit ist in den letzten Jahren von 20 auf 16 % zurückgegangen. Eng verbunden mit der Frage der Säuglings⸗ sterblichkeit ist die Frage der Hebung unseres Hebammenstandes, die ja den einzelnen Staaten übertragen ist. Auf dem Lande, besonders in den schwach bevölkerten Gebieten unseres Vater⸗ landes, wird vielfach über die schlechte materielle Lage der Hebammen geklagt, die kaum das Notwendige haben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hier muß Wandel geschaffen werden. Es müßte eine Alters⸗, Invaliditäts⸗ und Krankenversicherung für die Hebammen eingeführt werden. Ihre soziale Lage muß gehoben und der Unterricht verbessert werden. Das alles kommt nicht nur der Gesundheit der Wöchnerinnen, sondern auch den neugeborenen Säug⸗ lingen zugute. Für die Krankenpflege ist besonders von unseren christ⸗ lichen Veranstaltungen in mannigfacher Hinsicht viel geleistet worden. Von dem weiblichen Pflegepersonal sind 40 000 organisiert, und 30 000 üben ihren Beruf frei aus. Gerade die Lage dieser un⸗ organisierten Schwestern läßt manches zu wünschen übrig. Auf Ver⸗ anlassung des deutschen Reichstags hat ja der Bundesrat vor einiger Zeit beschlossen, Erhebungen über die Lage der Schwestern in den privaten und öffentlichen Heilanstalten aanzustellen. Diese Erhebungen sind, wie der Präsident des Reichsgesundheitsamts mitgeteilt hat, für Preußen abgeschlossen. Das Bild, das sie uns dar⸗ bieten, ist aber keineswegs erfreulich. Die Tagesdienstzeit beträgt vielfach 11 bis 12 Stunden, steigt in manchen Anstalten sogar auf 13 und 17 Stunden. Die dienstfreie Zeit und der jährliche Erholungsurlaub ind sehr kurz bemessen. Die männlichen Kcankenpfleger sind oft besser gestellt als die weiblichen. Diese Erhebungen werden ergänzt durch die Ausführungen des Geheimen Medizinalrats Dr. Hecker in Straßburg, der auf die seelisch und körperlich anstrengende Tätigkeit der Schwestern hinweist. Die Krankenschwestern sind die verhältnismäßig am schlechtesten entlohnten aller Arbeiter. Als Höchsteinkommen ist der Be⸗ trag von 700 ℳ pro Jahr ermittelt woroen, das gilt selbstverständlich nur von den freien, den nichtorganisierten Krankenpflegerinnen. Für die organisierten sorgen ja in genügender Weise die Anstalten. Der zuzug aus den gebildeten Kreisen wird von Jahr zu Jahr geringer. Es ist also dringend notwendig, daß die Regelung dieser Verhältnisse afolgt. Wir wünschen, daß die Arbeitszeit fest bestimmt wird, eine
rennung von Tag⸗ und Nachtdienst geschieht, jährlich ein bestimmter Uulaub gewährt wird, und daß die Alters⸗ und Unfallfürsorge bei allen Schwestern eintritt. Es ist eine Pflicht der Allgemeinheit, der treuen
lichterfüllung der Schwestern und ihrer stillen, hingebenden Liebe zu gedenken und dafür zu sorgen, daß baldigst ihren Wuünschen ent⸗ sprochen wird. 1r Abg. Dr. Faßben der (Zentr.): Auf die Frage des Geburten⸗ neigangs möchte ich hier nicht weiter eingehen. Ueber sie ist in der letzten eht a im Reichstage verhandelt worden, und ich kann im Rahmen nes kurzen Referats kaum etwas Neues bringen. Die Ausführungen es Vorredners über die Verbesserung der Lage der Hebammen fftnn ich voll und ganz unterstreichen. Die Lage der Hebammen de verschiedenen Gegenden verschieden, aber es muß doch sichert dgh gefordert werden, daß ein Mindesteinkommen ihnen ge⸗ muß 1n Der Fonds zur Unterstützung des Hebammenwesens eee tsprechend dem Bedürfnisse der notleidenden Kreise in See benfange erhöht werden, daß wirklich eine Verbesserung der nn 1 SHebammen möglich ist. Wir sind einig mit dem Vorredner keit, auch nerkennung der Leistungen der christlichen Liebestätig⸗ drinana darin eeinig, daß die Lage der freien Krankenpflegerinnen ökämpfung r Verbesserung bedarf. Die Frage der Tuberkulose⸗ sammen Ei hängt eng mit der Reform des Wohnungswesens zu⸗ Es ist ie ist in erster Linie eine Wohnungs⸗ und Reinlichkeitsfrage. st zu begrüßen, daß die Annahme eines Wohnungsgesetzes
nzeiger und Königlich Preußischen Staats nzeige
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Zweite Beilage
Berlin, Sonnabend, den 8. Februar
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wenigstens für Preußen nahe gerückt ist. Aber mit dem Wohnungs⸗ gesetz allein, welches doch in erster Linie nur Repressivmaßnahmen zu ergreifen in der Lage ist, ist es nicht getan, sondern man muß sich auch um Maßnahmen der Bodenreform kümmern, in dem Sinne, daß eine Verbindung von Grund und Wohnung herbeigeführt wird. Es ist zu bedauern, daß der Reichstag im vorigen Jahre den Antrag auf Neuuntersuchung über die Dauer der Impfwirkung abgelehnt har. Im großen und ganzen ist nicht zu leugnen, daß die Regierung das Nötige getan hat, um die aus der Impfung entstehenden Gefahren zu vermeiden. Die Jaäpfärzte sind angewiesen, eine genaue Desinfektion der Impflanzette vorzunehmen und nur einwandsfreie Lymphe zu ver⸗ wenden. Die Regierung geht noch weiter, indem sie die IFmpfärzte einer besonderen Kontrolle der Medizinalräte unterstellt. Die Impfung er⸗ zeugt vielfach Krantheiten, daraus erklärt sich auch das große Heer der Impfgegner. Die Atteste der Hausärzte über die Zuläsfsigkeit einer Impfung werden vielfach nicht als vertrauenswürdig angesehen. Der Medizinalrat in Münster hat nur die Atteste der Impfärzte anerkannt, das Impfgeschäft geht aber die Reihe um, sodaß der Arzt, der in einem Jahre Impfarzt gewesen ist, im nächsten Jahre, wenn er nicht mehr Impfarzt ist, nicht mehr für ver⸗ trauenswürdig gilt. Ein Arzt ärgerte sich darüber, daß ein Junge nach der Impfung lachte, um zu zeigen, daß es nicht weh getan habe, und sagte: „Na, dann wollen wir es noch anders machen“, und er versetzte ihm noch ein paar scharfe Stiche. Eine Untersuchung über den Fall ist angeordnet worden. Ein Königsberger Professor, Dr. Hagemann, hat in einem Vortrag erwähnt, daß die Krebs⸗ erkrankungen in England bereits stärker auftreten als die Tuberkulose, und England hat eine große Tuberkuloseziffer. Man hat daran gedacht, in Münster ein Institut zur Bekämpfung der Krebskrankheit zu er⸗ richten, das ist eine unglückliche Idee. Nur eine Zentralisation der wissenschaftlichen Forschung versoricht Forischritte, und ich möchte deshalb namens meiner Freunde anregen, im Anschluß an die Bio⸗ logische Anstalt ein solches Institut zu errichten. Die Zunahme der Geisteskrantheiten ist vielfach auf den Alkoholmißbrauch und auf die Geschlechtskrankheiten zurückzuführen. Manche Beziehungen zwischen den geistigen Funktionen und den körperlichen Organen, namentlich den Unterleibsorganen, sind noch nicht genügend erforscht. Es ist fraglich, ob die Kost in den Irrenhäusern den Anforderungen der modernen Ernährungstherapie entspricht. Ich weise besonders auf das Buch des Professors Huber „Otganisation der Forschung und Ordnung von Materialien über die Entartung“ hin. Zur Lösung des Entartungsproblems sind vor allem vorbeugende Maßnahmen er⸗
forderlich.
MNiinister des Innern Dr. von D allwitz:
Meine Herren! Herr Abg. Heckenroth ist davon ausgegangen, daß die Säuglingssterblichkeit in Preußen und in Deutschland einen ziemlich hohen Prozentsatz ausmacht; er hat aber selbst an⸗ geführt, daß gerade in den letzten Jahren außerordentlich viel zur Beseitigung dieses Mißstandes geschehen ist. Er hat hauptsächlich darauf hingewiesen, daß seit Einrichtung des Kaiserin Auguste Viktoria⸗ Hauses in Charlottenburg, durch Förderung des Hebammenwesens und dergleichen die Säuglingssterblichkeit im Vergleich zu früher in nicht unerheblichem Maße herabgedrückt worden sei. Ich möchte hinzufügen, daß auf Anregungen der Zentral⸗ und Provinzialbehörden fast in allen größeren und mittleren Städten cine ganze Anzahl be⸗ sonderer kommunaler Einrichtungen getroffen worden ist, welche dem Zwecke dienen, die Säuglingssterblichkeit zu vermindern. Ich erinnere an die Einrichtung von Milchküchen, an die kostenlose und billige Lieferung von Säuglingsmilch, an die Gewährung von sogenannten Still⸗ prämien, die Unterstützung von Müttern, an die Säuglingsfürsorge⸗ stellen, Mütterbelehrungsstellen und ähnliche Veranstaltungen, die sich in der Tat ganz außerordentlich bewährt haben. Die Aufwendungen, die dafür gemacht werden, sind ja nicht zahlenmäßig festzustellen; sie lassen sich aber schätzungsweise auf eine ganze Anzahl von Millionen ansprechen, die nicht vergeblich verausgabt worden sind.
Allerdings glaube ich aber mit beiden Herren Vorrednern, daß eins der wichtigsten Mittel zur Minderung der Säuglingssterblichkeit in der Belehrung der Mütter, und zwar besonders über die Art und Weise der Ernährung der Säuglinge besteht. Das wird in der Hauptsache eine Aufgabe der Hebammen sein, und deswegen stimme ich mit dem Herrn Abg. Heckenroth überein, daß die Förderung und Besserung des Hebammenwesens in eine der wesentlichsten Auf⸗ gaben ist, wenn man den Zweck erreichen will, die Säugligssterblich⸗ keit noch erfolgreicher als bisher zu bekämpfen. Es sind daher wiederholt bis in die neueste Zeit die Kreise angeregt worden, die Regelung des Hebammenwesens durch Kreisstatuten herbeizuführen, um auf diese Weise die Berufs⸗ und Lebensbedingungen der Heb⸗ ammen besser zu gestalten und auch für sie zu sorgen, wenn sie infolge von Arbeitsunfähigkeit nicht mehr in der Lage sind, ihrem Berufe nachzugehen. Im ganzen haben bereits weit über hundert Kreise durch Kreisstatut die Regelung des Hebammenwesens auf den Kreis übernommen. In der Budgetkommission sind einzelne Bei⸗ spiele angeführt worden; besonders rühmend ist des Kreises Grimmen gedacht vorden, aber ähnliche Einrichtungen wie dort bestehen auch in anderen Kreisen. Eine große Anzahl von Kreisen bleibt allerdings noch übrig, in denen sich, wie ich hoffe, im Laufe der Zeit eine bessere Regelung des Hebammen⸗ wesens wird herbeiführen lassen. Zur Förderung derartiger Einrich⸗ tungen sind die 100 000 ℳ bestimmt, die in Titel 28 des Kapitels 97a eingestellt sind.
Dann gestatte ich mir noch darauf hinzuweisen, daß eine Förde⸗ rung des Hebammenwesens dadurch herbeigeführt worden ist, daß die Lehrkurse an den Hebammenlehranstalten von 6 auf 9 Monate aus⸗ gedehnt worden sind. Diese Einrichtung ist bei allen Provinzialanstalten durchgeführt; einzig und allein bei der Charité in Berlin hat sich die Durchführung der längeren Lehrkurse mit Rücksicht auf Schwierigkeiten baulicher Natur noch nicht ermöglichen lassen. (Abg. Schmedding (Münster): Hört, hört!) Auch ist eine Neuauflage des Hebammen⸗ lehrbuches erschienen, in welcher die Erfahrungen der neueren Zeit berücksichtigt worden sind, so daß auch nach dieser Richtung hin in nächster Zeit hoffentlich eine weitere Besserung eintreten wird.
Meine Herren! Nun hat der Herr Abg. Heckenroth angeregt, daß entweder durch Reichs⸗ oder durch Landesgesetz die Verhältnisse der Krankenschwestern geregelt werden sollten. Ich glaube, daß man nach dieser Richtung hin eine gewisse Vorsicht wird obwalten lassen
müssen. Es ergibt sich von selbst, daß die Möglichkeit vorliegt, in
staatlichen und kommunalen Krankenanstalten die Verhältnisse der Krankenschwestern im Aufsichtswege zu regeln oder dahin zu wirken, daß angemessene Einrichtungen auch für die Schwestern getroffen werden. Aber in den Betrieb der privaten Krankenanstalten, aller Anstalten, die geistlichen Körperschaften u. s. f. unterstellt sind, ein⸗ zudringen, indem man die Beschäftigung der Schwestern von oben herab reglementlert, das scheint mir nicht ohne weiteres zweckmäßig zu sein. Man wird sich zunächst wohl darauf beschränken müssen, gewisse Grundlinien aufzustellen, auf deren Durchführung möglichst hingewirkt werden muß.
Was dann die von Herrn Abg. Faßbender gegen das Verfahren bei den Impfungen geltend gemachten Einwendungen betrifft — er hat zwei Fälle angeführt: Rheineck und Plettenberg —, so möchte ich demgegenüber feststellen, daß es nicht zutrifft, wenn er geglaubt hat, daß Impfbefreiungsatteste der praktischen Aerzte nicht berück⸗ sichtigt werden, und daß dem Impfarzt in allen Fällen die Nach⸗ prüfung vorbehalten ist. Im Gegenteil, das Prinzip geht dahin, daß alle Aerzte Impfbefreiungsatteste ausstellen können, die die Impf⸗ ärzte berücksichtigen müssen, wenn nicht besondere Momente vorliegen, insbesondere wenn nicht etwa diejenigen, die die Befreiungsatteste ausgestellt haben, prinzipielle Impfgegner sind, und der Verdacht bei ihnen vorliegt, daß sie ganz allgemein Impfbefreiungsatteste aus⸗ stellen, weil sie eben die Impfung als solche bekämpfen und die Kinder von dieser ihres Dafürhaltens nicht berechtigten Manipulation befreien wollen.
So ist es auch in Plettenberg gewesen. Dort sind 53 Kindern Impfbefreiungsatteste ausgestellt worden, die großenteils von notorisch impfgegnerischen Aerzten ausgestellt worden waren. Um nun die hierdurch erforderliche Nachprüfung für die Eltern zu erleichtern — die Kinder waren zu dem angesetzten Termin nicht erschienen — ist der Impfarzt von Haus zu Haus gegangen, um die Kinder in der Wohnung der Eltern zu untersuchen. Das ist nur geschehen, um den Eltern und den Kindern eine Erleichterung zu gewähren, indem sie nicht zu einem neuen Impftermin bestellt zu werden brauchten. Es hat sich dann auch herausgestellt, daß bis auf 4 Fälle die Eltern, nachdem ihnen die Gründe mitgeteilt waren, die es angebracht erscheinen ließen, die Impfung vorzunehmen, sich bereit gefunden haben, die Kinder impfen zu lassen. Gewisse Beschwerden über das Verhalten des Impfarztes, die bei dieser Gelegenheit vorgebracht worden sind, sind zum Gegen⸗ stand von Ermittlungen seitens der Zentralbehörde gemacht worden; diese Ermittlungen sind aber noch nicht völlig abgeschlossen.
Was das Krebsforschungsinstitut in Münster anbetrifft, das Herr Abg. Faßbender erwähnt hat, so kann ich nur feststellen, daß mir nichts davon bekannt ist. Jedenfalls liegt im Ministerium des Innern nicht die Absicht vor, ein Krebsforschungsinstitut in Münster zu errichten.
Wegen des Instituts zur Erforschung der Geistes⸗ krankheiten ist im Oktober vorigen Jahres eine Eingabe der Provinzalvereine an die Zentralinstanz gelangt, in welcher die Förderung eines solchen Planes erbeten worden ist. Ein genaueres Programm und ein bestimmter Antrag liegen indeß nicht vor. Erst wenn die noch fortdauernden Beratungen der beteiligten ärztlichen Kreise beendigt sein werden, wird es an der Zeit sein, diesem Projekt näherzutreten. Zurzeit sind die Ziele desselben noch zu wenig be⸗ stimmt, um darauf bestimmte Entschließungen zu ermöglichen.
Die Kritik, die Herr Abg. Faßbender an dem Buch „Das Ge⸗ sundheitswesen des preußischen Staates“, das von der Medizinalverwaltung herausgegeben worden ist, geübt hat, ist in der Oeffentlichkeit nicht geteilt worden; es sind vielmehr die Vorzüge dieses Werkes in der Presse besonders hervorgehoben und es ist im allgemeinen günstig beurteilt worden.)
Eine Enquete über die Ursachen der Unterernährung ist vor einiger Zeit angeordnet worden; die Berichte der nachgeordneten Behörden sind indeß noch nicht sämtlich eingegangen. Wenn das ge⸗ schehen sein wird, wird das Material gesichtet werden, und dasselbe in späteren Jahren in dem „Gesundheitswesen des preußischen Staates“ Verwendung finden.
Abg. Dr. Arning inl.): Für den Schutz der Schwestern gegen übertragbare Krankheiten muß in höherem Maße gesorgt werden, als dies bisher geschehen ist. Obwohl sich die Zahl der Aerzte ganz gewaltig vermehrt, ist die Versorgung des Landes mit Aerzten nicht genügend. Es würde daher eine dankenswerte Aufgabe sein, das Zusammenströmen der Aerzte an den größeren Zentren aufzuhalten und für ein Abströmen nach dem Lande zu sorgen. Durch den Erlaß des Ministers vom vorigen Jahre, betreffend die Rechts⸗ fähigkeit der ärztlichen Vereine, ist in Aerztekreisen eine große Un⸗ zufriedenheit hervorgerufen worden. Ein sehr bedenkliches Moment ist der Geburtenrückgang. Vielfach wird behauptet, der Rückgang der Geburten sei eine Folge der Degeneration des Volkes. Diese Behauptung ist unrichtig. Von einer Degeneration kann gar keine Rede sein, weil die sozialen Verhältnisse besser geworden sind. Auch der Zolltarif von 1902 hat eine bessere Ernährung des Volkes herbei⸗ geführt. Wir haben keineswegs eine Unterernährung. Es ist auch keineswegs richtig, wenn die Abnahme der Geburten auf die angebliche Abnahme der Eheschließungen zurückgeführt wird; denn die Ehe⸗ schließungen halten Schritt mit der Bevölkerungszunahme. Auch die Abnahme der Fortpflanzungsfähigkeit ist durch nichts erwiesen, viel⸗ mehr dürfte der Geburtenrückgang auf eine künstliche Beschränkung zurückzuführen sein. Die Vermehrung der Bevölkerung ist von größter Bedeutung für den Staat, deshalb muß der Staat mit allen Mitteln dafür eintreten, daß der Rückgang der Geburten nicht weiter fortschreitet. Es fragt sich nur, ob dies durch gesetzgeberische Maßregeln zu er⸗ reichen ist. Neue gesetzliche Maßnahmen gegen die Abtreibung dürften wohl keinen Zweck haben. Der Erfolg einer negativen Ge⸗ setzgebung erscheint mir sehr zweifelhaft. Da es sich hter um den Willen der einzelnen Individuen handelt, kann die Gesetzgebung hier nicht eingreifen. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die gewiß eine Besserung auf diesem Gebiete herbeiführen können. Es dürften sich besonders folgende Maßnahmen empfehlen: Besserung der Ver⸗ hältnisse der Hebammen, Maßnahmen gegen den Alkoholismus und gegen Geschlechtskrankheiten, Unterstützung kinderreicher Familien usw. Auch die Schaffung eines Wohnungsgesetzes ist erforderlich. Die Fürsorge für schwangere Frauen muß weiter ausgebaut werden. Innere Kolonisation nach jeder Richtung wird am besten helfen. Diese innere Kolonisation hat auch auf die
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