1913 / 48 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 24 Feb 1913 18:00:01 GMT) scan diff

Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Mein Kollege Borchardt hat nicht gesagt, daß die Bäckereibetriebe ausschließlich schuld an der Vermehrung der Tuberkuloseerkrankungen sind. Man kann doch die Worte nicht gewaltsam mißversteben wollen. Vor allen Dingen aber muß man für bessere bauliche Zustände in den Bäckereien sorgen, damit die Gefahr der Tuberkuloseerkrankungen vermindert und die Gefahr, die aus den Krankheiten für die Konsumenten entsteht, nach Möglich⸗ keit vermindert wird. Solche Bäckereien, in denen mit der Tuber⸗ kulose behaftete Gesellen arbeiten, sind geradezu Seuchenherde. Die Ursachen der Tuberkulose liegen zum großen Teil in den Schädigungen, denen das Proletariat infolge des Wohnungselends und der schlechten Ernährung unterworfen ist. Der Abg. Mugdan hat sich gewundert über den salto mortale meines Freundes Borchardt. Er selbst hat aber einen salto mortale gemacht, der viel hals⸗ brecherischer ist und geradezu an zirkusakrobatische Kunststücke erinnert, indem er zu den sozraldemokratischen Bäckereien übergesprungen ist und behauptet hat, daß in diesen der größte Schmutz herrsche. Auf diese Bemerkung, die ebenso unrichtig wie kühn ist, ertönte in dem ganzen Hause ein „Sehr wahr!“. Die überwiegende Mehrzahl der Abgeordneten hat doch keine Ahnung davon, wie es in einer sozial⸗ demokratischen Bäckerei aussieht, sie hat also gar kein Recht, darüber zu urteilen. Ein unbestrittenes Verdienst meines Kollegen Bebel ist es, daß er in den 90 er Jahren eine Broschüre über die sanitären Zustände der Bäckereien herausgeg ben hat, die Anlaß zum gesetzlichen Eingreifen gab und von außerordentlicher Be⸗ deutung für die sanitäre Gestaltung in unseren Bäckereien ist. Gewiß scheut sich unsere Partei nicht, da, wo Mißstände besteben, sie rückhaltlos aufzudecken. Ich vermute aber, daß der Abg. Mugdan den Schmutz der sozialdemokratischen Bäckereien verwechselt mit dem Schmutz, der von dem Abg. Bebel seinerzeit aufgedeckt worden ist. Der Abg. Mugdan sollte sich mit dem Material genauer befassen, ehe er hier ein Urteil fällt. Den Bäckergesellen, die ohnehin schon schlecht bezahlt werden, kann man doch nicht noch die Verantwortung auferlegen für den Schmutz, der in den Bäckereibetrieben durch un⸗ genügende gesetzliche Maßnahmen entsteht. Wenn unzuträgliche Zustände bestehen, so ist es in erster Linie gerade die Sozialdemokratie gewesen, die hier Remedur geschaffen hat. Die Konsumvereine werden allerdings zum Teil in einer Weise ge⸗ leitet, wie sie nach Meinung der Sozialdemokraten nicht geleitet werden müßten. Daraus erklären sich auch die vielen Konflikte, in welche die sozialdemoktatische Presse mit Herrn Kaufmann, dem Leiter der Groß⸗ einkaufsgenossenschaft in Hamburg, geraten ist. Ich muß mich ent⸗ schieden dagegen wenden, daß man die Vorgänge in der Stadtverordneten⸗ versammlung in einer solchen Weise fäͤlscht. Die Sozialdemokratie hat natürlich vollstes Verständnis für eine Bewegung, die vor 100 Jahten die Befreiung des Volkes herbeigeführt hat. Die Sozial⸗ demokratie will aber nicht frohe Feste feiern, sondern sie hat das Gefuhl der Trauer für das viele Blut, das damals nutzlos verschwendet worden ist. Wir haben das Gefühl, daß ein Wartburgfest gefeiert werden müßte. Das preußische Volk hat alle Veranlassung, dieses Jahr festlich zu begehen, in dem es den Freiheitskampf kämpft gegen das Junkertum und die politischen Heuchler, die neulich in der Berliner Stadtverordnetenversammlung das Wort gehabt haben. (Vizepräsident Dr. Porsch Redner, solche Ausdrücke nicht gegen Stadt⸗ verordnete zu gebrauchen.) 8 ü Abg. C 11“ Wenn der Abg. Dr. Mugdan mir aus dem von mir gebrauchten Worte „natürlich’ heraus unterstellen will, daß ich nicht wüßte, daß die Arbeiter auch auf andere Weise als an Tuberkulose sterben könnten, so ist das ein logischer

Lopfsprung.

Kepf⸗ Zr. Mugdan (fortschr. Volksp.): Bei dem ganzen Kampfe um die Bäckereiverordnung handelt es sich nur darum, daß man nicht kleinliche Abweichunen zum Anlaß nimmt, um den beteffenden Bäcker wirtschaft ich zu schädigen und eventuell den Hausb sitzer zu ruinieren. Gegen den Schmutz in der Bäckerei einzuschreiten, hat der Bäcker ja selbst das größte Interesse. Ueber die hygienischen Mißstände in den Bäckereien ist schon lange vor Bebel geschrieben worden. Ich habe nicht behauptet, daß in allen Bäckereien sozialistischer Konsumvereine Schmutzereien herrschen. Aber in dem einen cg wurden die allergrößten Schmutzereien fest⸗ gestellt, die es überhaupt geben kann, und man hat recht lange ge⸗ wartet, bis man Abhilfe schuf. Die Aeußerung von Bebel: „Schweinerei“ ist erst 2 Jahre alt. Sie bezieht sich gerade auf diese sozialistische Bäckerei. Bebel sagte, wenn die Verhältnisse so liegen, dann liegt eine große Schweinerei vor. Der Abg. Liebknecht hat also soeben nur ein schönes Märchen erzählt. Die Vorgänge in der Stadt⸗ verordnetenversammlung hat der Abg. Borchardt in die Debatte gezogen. Wie kann man immer davon sprechen, daß die Tuberkulose eine Proletarierkrankheit ist? Die Krankheiten kennen keinen Unterschied zwischen Fürst und Proletarier. Die Sozialdemokratie macht allein diesen Unte schied, um die Bevölkerung aufzuhetzen.

Abg. Cassel (fortschr. Volksp.): Der Abg Liebknecht hat sich

unterstanden, mir und den anderen Mitgliedern der Stadtverordneten⸗ versammlung wegen unseres Verhaltens bei den Verhandlungen über die Jahrhundertfeier den Vorwurf der politischen Heuchelet zu machen. Ich halte es vollständig unter meiner und meiner Kollegen Würde, dem Abg. Liebknecht nur irgendein persönliches Wort gegenüber diesem Vorwurf zu sag n. Was ich über ihn denke, kann ich hier nicht sagen. Ich kann aber versichern, daß, wenn ich es täte, ich mir sofort eine Rüge zuziehen würde. Dazu habe ich zu große Achtung vor der Würde dieses Hauses. Ich habe auch zu roße Achtung vor der Zeit, um deren Erinnerung es sich handelt. Ich weiß nicht, was Dr. Liebknecht zu der Behauptung berechtigt, ir hätten am Donnerstag etwas ausgesprochen, was mit unserer ganzen Haltung in Widerspruch stebt. Ich stehe den Maßnahmen der Königlichen Staatsregierung sehr kritisch gegenüber. Ich habe eine olche selbst noch am Donnerstag vorher mit größter Entschiedenheit ekämpft. Niemand hat wohl in der Berliner Stadtverordneten⸗ ersammlung gegenüber der Regierung schärfere Töne erhoben als ich. Wir haben es aber nie verleugnet, daß wir unser Volk und unser Vater⸗ and lieben. Wir haben immer Treue und Anhänglichkeit an unser deutsches Vaterland, an unsere Heimatstadt und an unser Heimatland Preußen bewiesen. So haben wir auch niemals das Gefühl für die⸗ enigen Vorgänge verleugnet, die es uns überhaupt nur ermöglicht ben, daß es bei uns ein öffentliches Leben gibt. Ohne diese Vorgäͤnge vären ja auch die Abgg Liebknecht und Borchardt nicht in die Lage versetzt worden, hier das Wort ergreifen zu können (Lachen bei den Soz.). Mit diesem verlegenen und öden Lachen setzen Sie sich in Gegensatz zu er geschichtlichen Entwicklung unseres Volkes In keinem Lande der Welt würde man das verstehen. Nirgends würde es eine Partei wagen. Das ist nur das Vorrecht der deutschen Soztaldemokratie. Die Sozialdemokratie hat durch Verlesung ihres papiernen Protestes nur ein Thbeater aufgeführt. Der Abg. Liebknecht will das Verhalten einer Freunde damit entschuldigen, weil ihnen die spätere deutsche Entwicklung nicht Fägt. Aber ihre Haltung findet ja bis tief in die igenen Reihen lebhaften Widerspruch. Die Haltung der Sozial⸗ demokratie wird dem deutschen Volke unverständlich bleiben. Ihre öhnischen Bemerkungen über unseren Charakter und unsere Persön⸗ lichkeiten will ich nicht weiter kritisieren. Das soll uns nicht hindern, uch in Zukunft einzutreten für freiheitliche Gesinnung und Be⸗ trebungen, aber auch für das Ansehen und die Würde unseres reußischen und deutschen Vaterlandes.

Abg Graf von Spee (Zentr.): Zu dieser Debatte nur die eine Bemerkung, daß es dem Abg. Dr. Liebknecht mißlungen ist, seine Ge⸗ nossen in der Stadtverordnetenversammlung herauszureden. Ich habe nich nur zum Worte gemeldet, um dem Mißverständnis vorzubeugen,

als oh mir Vertrauen zu dem Handelsministerium bei der Entscheidung und Genehminung industr eller Anlagen fehlte. Aber bei dem großen Interesse, das gerade die Landwirtschaft auf diesem Gebiete hat, war mein Wunsch durchaus berechtigt, daß gerade das landwirtschaftliche Ministerium bei solchen En schkidungen maglichst stark beteiligt werde. So wird sich am besten ein vüsgleis herbeiführen lassen. Dem Unter⸗ taatssekretär danke ich für seine Auskunft, ich hoffe, daß die landwirt⸗ chaftlichen Interessenten den Termin benutzen werden, um ihre Wünsche r Geltung zu bringen.

Abg. Dr. Liebknecht: Die Bemerkungen des Abg. Cassel

waren nicht geeignet, die Haltung seiner Freunde in der Berliner

Stadtverordnetenversammlung irgendwie zu motivieren, und sie waren auch kein hinreichender Anlaß zu den Begeisterungsrufen, die sich an seine Worte anschlossen. Ich habe vorhin von politischer Heuchelei gesprochen und dabet selbstverständlich nicht daran gedacht, den Herrer eine bewußte Heuchelei vorzuwerfen. Daß der Abg. Cassel ehrlich zu Werke gegangen ist, ist ja selbstverständlich, aber die ganze Stimmung, die in der Stadtverordnetenversammlung zum

Ausdruck kam, und deren Mundstück zum Teil der Abg.

Cassel war, war allerdinas eine Stimmung, die ich nicht anders charakterisieren kann, als ich sie vorhin charakterisiert habe. Diese Stimmung ist allerdinge zum Teil wahrscheinlich entstanden aus einer vollkommenen historischen Unkenntnis und Verständnis⸗ losigkeit. Ich kann natürlich mich in diesem Moment nicht ein⸗ gehender damit beschäftigen. Tatsache ist jedenfalls, daß jener Kampf gegen den Eroberer von den herrschenden Klassen unter⸗ stützt wurde, um zum Schaden der Bevölkerung ihre eigene Herrschaft zu etablieren. Das können Sie in dem heutigen Leitartikel des „Vorwärts“ lesen. (Widerspruch des Abg. von Wenden). Dann werden Sie niemals klug werden, Abg. von Wenden. Meine Freunde im Rathause haben nur den einen Gedanken zum Aus⸗ druck gebracht, daß 1813 das ganze preußische Volk Gut und Biut hergegeben hat zur Befreiung von einem fremden Er⸗ oberer, und daß es sich zu dieser gewaltigen patriotischen Tat aufgeschwungen hat auf Veranlassung von Versprechungen, die ihm gegeben worden sind, von höchster und allerhöchster Stelle, Versprechungen auf freiheitl che politische Entwicklung. Auf die Jahre 1813 und 1815 sind dann die Karlsbader Beschlüsse

gefolgt, das Jahr 1848, die Gegenrevolution und das preußische Drei⸗

klassenwahlrecht, dem Sie Ihre Erxistenz verdanken. Jene Opfer an Gut und Blut sind schließlich nur gebracht für die herrschenden Klassen, während man das Volk in das Joch des Dreiklassensystems hineingespannt hat. Wenn wir unter diesem Gesichtspunkte erklären, daß wir das Jahr 1813 auf das höchste zu rühmen und zu preisen bereit sind, so müssen wir auf der anderen Seite sagen, daß wir nicht gewillt sind, es zu feiern als eine Feier der Hohenzollern. Ebenso sind wir gegen eine Feier, der man ein kirchliches Gepräge gibt. Wir wünschen eine Feier in dem Sinne einer Befreiung des preußischen Volkes von dem Dreiklassenwahlunrecht.

Ein Schlußantrag wird angenommen.

Abg. Cassel sfortschr. Volksp.) (zur Geschäftsordnunag): Die Haltung meiner Freunde brauche ich nicht zu rechtfertigen, weil sie sich von seibst rechtfertiat und keiner Rechtfertigung, geschweige denn einer Entschuldigung bedarf. Ich kann im Rahmen einer Geschäftsordnungs bemerkung nicht näher nachweisen, daß es sich hier gar nicht darum handelt, die Demagogenverfolgungen, die Karlsbader Beschlüsse und die nachkommenden Ereignisse zu feiern, sondern den Aufschwung des preußischen Volkes im Jahre 1813. (Abg. Hoffmann: Ohne Napoleon säßen Sie noch heute im Ghetto!)

Abg. Borchardt (Soz.): Die Haltung der Freisinnigen beruht auf ganz anderen Gründen, als sie angegeben werden, darauf, daß die Freisinnigen eine Bevölkerungsschicht vertreten, die von dieser Entwicklung den größten Nutzen gehabt hat. Sie gehören, ja zu den Ausbeutern, zu den Kapitatisten. Mit seinen Bemerkungen über die Tuberkulose hat Herr Mugdan lediglich dem reaktionären Standpunkt eine moralische ÜUnterstützung angedeihen lassen. Außerdem hat mich der Abg. Dr. Mudgan wiederholt ganz merkwürdig mißverstanden. Er ist dabei geblieben, daß ich behauptet hätte, die Arbeiter sterben nur an Berufskrankheiten. Ich berufe mich auf das Stenogramm meiner Ausführungen (Redner verliest die be⸗ treffenden Stellen). Das kann nur derjenige mißverstehen, der mit Voreingenommenheit an die Sache und meine Bemerkungen dam herantritt. Ich habe sodann auch keineswegs den Schluß gezogen, daß die Bäckermeister auch nicht an der Feier von 1813 teilnehmen wollen; das ist mir gar nicht eingefallen (Redner verli st auch diesen Teil seines Stenogramms). Ich habe dem Vorsitzenden des Schutz⸗ verbandes so viel Vernunft und Vorurteilslosigkeit gar nicht zu⸗ getraut, daß er aus diesem Grunde die Feier ablehnt; so vernünftig und vorurteilsfrei sind bloß die Sozialdemokraten.

Abg. Cassel (Fortschr. Volksp., persönlich): Der Abg. Hoffmann hat sich, als ich vorhin die Tribüne verließ, veranlaßt gesehen, mir zuzurufen: „Ohne Napoleon säßen Sie noch heute im Ghetto.“ Der Abg. Hoff⸗ man hat dabei in der vornehmen Art, die ihn auszeichnet, in witzig sein sollender Weise darauf anspielen wollen, daß ich jüdischer Religion bin. Ich gehöre nicht zu denen, die jemals ihre Religion verleugnen,

sondern zu denen, die sich stolz und freudig zu ihr bekennen, ich be⸗

merke aber, daß 1813 die Juden in Berlin nicht mehr im Ghetto saßen; das hahen die Fürsten Preußens zu verhindern ver⸗ standen. In paterländischen Dingen kenne ich überhaupt keine Konfession, benso wenig wie meine treuen Gl. bens gehosgen, die 1813 zu Hunderten Gut und Blut zum Opfer gebracht haben. Und deswegen kann 8 duff Bemängelungen mit der ge⸗ bührenden Empfi dung herabsehen.

Abg. Dr Mugdan ffortschr. Volksp.): Der Abg. Borchardt hat mich mißverstanden. Wenn er sein Stenogramm nochmals liest, wird er finden, daß das Wort „natürlich“ gar nicht anders aufgefaßt werden kann, auch ganz ohne Voreingenommenheit, als daß die Tuberkulofe und die anderen Krankheiten „natürlich“ im Berufe akquiriert sind.

Abg. Hoffmann (Soz.): Der Abg. Cassel sollte in den 13 Jahren, die wir jetzt im Berliner Rathause zusammen arbeiten, längst kennen gelernt haben, daß ich der letzte bin, der ihn we en seiner religiösen Abstammung etwas nachsagen wird. Ich habe bloß, hier wie im Rathause, protestiert gegen die Art der Geschichtsfälschung und des patriotischen Ueberschwangs, sich nach unserer Haltung im Rathaus“ öffentlich als Patriot par excellence dem Volke zu zeigen. Darum habe ich darauf hingewiesen, daß gerade die Juden es sind, auch die in unserem Vaterlande, die die Gleichstellung dem Napoleon zu danken haben, und daß wir die Versprechungen, um die wir nachher durch Wortbruch gekommen sind, zu feiern, keine Ursache haben.

Abg. Cassel (fortschr. Volksp.): Der Abg. Hoffmann rief mir zu, ohne Napoleon säßen die Juren noch im Ghetto. Was ich sonst von Herrn Hoffmann denke gehört nicht hierher, daß diese Aeußerung aber die ihr zuteil gewordene Abwehr verdient hat, dafür berufe ich mich auf dieses Haus. Es ist die Manier des Abg. Hoffmann, denjenigen lächerlich zu machen, der solche Worte einsteckt. Ich stecke nichts ein.

Abg. Hoffmann (Soz.): Wenn der Abg. Cassel nichts ein⸗

steckt, wird es außen um so sichtbarer sein. Ich muß doch sagen, daß es mich allerdings zum Lachen reizt, wenn Angehörige des Tempels in eine protestantische Kirche wandern.

Abg. C apfel (fortschr. Volksp.): Ich werde, wenn ich lebe, am 10. März nicht zum ersten Male in einer Kirche sein, ich bin sehr häufig dagewesen, weil sich meine Auffassung von Religion sehr von der des Abg Hoffmann unterscheidet. 8 8

Vizepräsident Dr. Porsch: Nunmehr kann ich wohl feststellen, daß gegen den Titel nichts zu erinnern gewesen, und daß er bewilligt ist.

Bei den Ausgaben für das Eichwesen bemerkt

Abg. Wenke (fortschr. Volksp.): Von den 458 kommunalen Eich⸗ meistern sind bei der Verstaatlichung des Eichwesens 275 nicht in den Staats⸗ dienst übernommen worden, weil sie nicht geeignet sein sollen Warum sie nicht geeignet sind, ist nicht recht klar. Im allgemeinen hat man die Eichmeister über 50 Jahre nicht übernommen. In meiner Heimat hatte ein braver Handwerker das Amt des Eichmeisters ausgeübt und dabei die Kundschaft, die er früher als Schlossermeister hatte, verloren, und jetzt kann er diese Kundschaft nicht wiederfinden. Der Minister hat erklärt, daß eine Entschadigung der brotlos gewordenen Eichmeister nicht Sache des S aates, sondern der Kommunen sei; die Gemeinden sind aber durch die Verstaatl'chung des Eichwesens felbst geschädigt, eine mittlere Stadt in Schlesien hatte zum Beispiel aus ihrem Eichwesen eine Einnahme von 20 000 ℳ, die ihr natürlich ge⸗ nommen ist. Die Gemeinden sind auch gezwungen worden, ihre

Eicheinrichtungen dem Staate ohne Entschädigung zur Verfügung

zu stellen. In den Etat sollte ein Fonds eingestell dem die brotlos gewordenen Eichmeister entschädiät besdedeäs aus

Bei der Ausgabe für den Staatskommissar an der Berliner Börse kommt

Abg. Spinzig (freikons.) auf die Frage der Zul⸗ 8 Aktien der deutschen Erdöl⸗Gesellschaft an der Berliner Börsung der Wenn der Minister die Aktien nicht habe zulassen wollen, weil über das Schicksal des Petrolcummonopolgesetzes noch nicht entschieden sei, so könne doch auf ein Gesetz, das erst vorgelegt sei, noch gar nicht wie auf ein bestehendes Gesetz Rücksicht genommen werden. Der Deutschen Erdöl⸗Aktiengesellschaft sei nun die Unterbriggung ihrer Aktien erschwert. Wenn auch der Minister nach den gesetzlichen Bestimmungen formell richtig verfahren sei, so hätte er doch mindestens erst abwarten sollen, welche Entscheidung die Zulassungsstelle selbst getroffen hätte. Selbstverständlich wolle seine Partei das Aufsichtsrecht des Handelsministers über die Börse in keiner Weise schmälern; dieses Aufsichtsrecht müsse vielmehr sehr weitgehend sein.

Bei den Ausgaben für die Schiffahrts⸗ und Hafenpolizei,

das Lotsenwesen usw. bemerkt

Abg. Freiherr von Maltzahn (kons.): Die Revierlotsen sind in der Besoldungsordnung nicht berücksichtigt worden. Sie sind so schlecht gestellt, daß sie auf gewinnbringende Nebenbeschäftigung angewiesen sind. Aber die Nebenei nahmen, welche die Revierlotsen früher hatten, sind inzwischen fortgefallen. Wenn man bedenkt, daß diese Beamten auch noch Beiträge an Krankenkassen, Invaliditätsversicherungen usw. zu entrichten, daß sie nicht einmal freie Wohnung haben, daß also von dem ohnehin schon niedrigen Einkommen ohne weiteres 600 in Abzug zu bringen sind, so ist anzuerkennen, daß sie bessergestellt werden müssen. Ich betone noch einmal, daß es sich hier nicht um eine Durchbrechung der Besoldungsordnung handelt, da in dieser über die Gehaltsbedingungen der Lotsen nichts enthalten ist. Ich bitte den Minister, der großen Not der Revierlotsen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und dafür zu sorgen, daß ihre Gehaltsbezüge möglichst erhöht werden.

Ministerialdirektor Lusensky: Die Revierlotsen sind nicht etatsmäßig angestellte Beamte. Da der Betrag der Lotsengelder sehr gering ist und für den Lebensunterhalt nicht ausreicht, so wird den Lotsen ein Mindestbetrag von 1400 jährlich gewährleistet. Soweit also die Lotsengelder an diesen Betrag nicht heranreichen, wird das Fehlende aus der Staatskasse zugeschossen. Die Revierlotsen können so schnell in etatsmäßige Stellen nicht übergeführt werden, weil ihre meist recht geringe Beschäftigung ört lich verschieden ist. Am größten ist die Beschäfligung der Lotsen in Stralsund, wo die Einnahme der Lotsengelder in den letzten drei Jahren durchschnittlich 1000 betragen hat. In vieler anderen Orten ist der Betrag aber bedeutend geringer, so betragen die Lotsengelder in Barth durchschnittlich nur 421 jährlich. Die Differenz zwischen diesem Betrag und dem von der Regierung gewährleisteten Einkommen muß natürlich von der Staats⸗ kasse ausgeglichen werden. Es ist nun anzuerkennen, daß mit 1400 jährlich schwer zu leben ist. Andererfeits bereitet diese Frage er⸗ hebliche Schwierigkeiten. Man kann nicht über den Betrag von 1400 hinausgehen, da diefer Betrag das Mnndestgehalt ist, welches etatsmäßig angestellten Beamten durch die Besoldungs⸗ ordnung zusteht. Jedenfalls sind wir bereit, diese Frage wohlwollend zu prüfen.

Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Die Einführung der Sonnt gs und Nachtruhe auf reichsgesetzlichem Wege wird von den Schiffs⸗ angestellten schon seit Jahren vergeblich gewünscht. Eine große An⸗ zahl Reedereien hat bereits mit den Angestellten entsprechende Tarif⸗ verträge abgeschlossen. Die Verhältnisse, in bezug auf den Sonntags⸗ und Nachtdienst sowohl als auch auf die sonstigen Arbeils⸗ bedingungen der Schiffsangestellten, sind derart unzuträglich, daß wir ständig vor der Gefahr eines Streiks stehen Vielleicht üb die Regierung ihren Einfluß dahin aus, daß in irgendeiner Weise den Ansprüchen der Angestellten entgegengekommen wird. Wir bitten die Regierung, daß sie dafür sorgt, daß der wiederholten Fo de⸗ rung des Reichstags Genüge geschieht und die Sonntagsruhe endlich eingeführt wird. Vor einer Reihe von Jahren, bei der Regelung der Elbschiffahrt, wurden die Privatschiffer von den Reedereien be⸗ wogen, diesen ihre Privatschiffe auf 10 Jahre zu vermieten. Vor Ab⸗

schluß dieser Vereinbarung gab es noch private Schleppdampfer auf

der Elbe, deren sich die Privatschiffer bedienen konnten. Inzwischen sind aber diese Schleppdampfer von den Reedereien völlig aufgekauft worden. Die Privatschiffer mußten eben der Macht des Großkapitals weichen. Bedauerlich ist, daß leider diesen großen Schiffahrtsunter nehmungen noch weitgehende Vorzugsrechte gewährt werden. Wir wollen keineswegs die natürlichen Verkehrsmittel hemmen, aber wir protestieren dagegen, daß den großen Reedereien unbegründete Bevor⸗ zugungen gewährt werden, die das Großkapital nicht zu beanspruchen hat. Durch solche Vorzugsrechte wird diesen Reedereien nur der Kampf gegen die kleinen Schiffseigner erleichtert. Ich bitte den Minister dringend, die Interessen der kleinen Schiffer nach Möglich⸗ keit zu wahren. 8

Bei den Ausgaben für das gewerbliche Unter⸗ richtswesen bemerkt

Abg. Strosser lkonf.): Von verschiedenen Seiten wird darüber geklagt, daß der Verkauf von Schrelb⸗ und Zeichenmaterialien an den verschiedenen Lehranstalten in einer Weise betrieben wird daß dagegen eingeschritten werden muß. Es sind in dieser Be⸗ ziehung auch wiederholt Petitionen eingegangen, u. a. auch eine solche aus Breslau. Vor drei Jahren ist von dem Minister ein Erlaß ergangen wonach dieser Verkauf von Schreib⸗ und Zeichenmaterial seitens der Schuldiener eingeschränkt werden soll. Aber dieser Erlaß hat so gut wie gar keinen Erfolg gehabt. Der Handel wird in weitestem Umfange weiter betrieben. Von seiten der Papierhändler wird behauptet, daß die Schuldiener völlige Lager von solchem Schreibmaterial unterhalten. Es wird mir versichert, daß in Breslaun die Schuldiener in steter Verbindung mit dem Fabrikanten stehen, und daß deshalb auch das Ministerium früher wiederholt diese Be⸗ schwerden als teilweise berechtigt anerkannt und eine Abhilfe zugesagt hat. Natürlich beziehen sich diese Beschwerden nicht nur auf die An⸗ stalten, welche im Handelsetat stehen. Seitens des Handelsministers ist verfügt worden, daß der Verkauf nur ausnahmsweise erfolgen soll und bezüglich derjenigen Materialien, die nach Güte und Format in den Geschäften nicht zu haben sind. Diese Einschränkung ist immerhin dankenswert, aber nicht ausreichend, denn eine solche Konzession, in Ausnahmefällen den Schülern Materialien zu verkaufen, dürfte immer umgangen werden. Die sogenannten dringenden Fälle werden sich zweifellos außerordentlich häufen. Ich bin auch überzeugt, daß es nur einer Anregung bedarf, und die Papiergeschäfte werden sich, auch diejenigen Materialien beschaffen, die sie jetzt nicht führen. Diese Geschäftsleute bezahlen doch Steuern, während Schuldiener kemerlei Gewerbesteuer zahlen und sogar freie Dienstwohnungen haben. Es handelt sich hier um ein tief eingewurzeltes Uebel. Zweifellos drücken die Direktoren der betreffenden Anstalten gern einmal ein Auge zu und können auch diesen Verkauf schwer kontrollieren. Wenn

diese Schuldiener sich ganze Lager halten, so könnte doch durch eine

Revision festgestellt werden, in welchem Umfange dieser Verkauf erfolgt. Ich babe das Vertrauen zur Staatsregierung, daß sie gern Abhilfe schaffen wird. . Ein Regierungskommissar: Durch Ministerialerlaß 8818 bestimmt, daß der Verkauf von Materialien, wo er biesher üblich war, nur unter der Voraussetzung weitergeführt werden kann, daß sorgfättig darauf geachtet wird, daß Gegenstände für den dauernden Becarf, glio Reißzeuge, Messer, Bücher, nicht verkauft werden dürfen. Es besteht alfo die Tendenz, den Verkauf durch die Schul⸗ diener möglichst einzuschränken. In dem Falle in Breslau, wo da⸗ gegen verstoßen worden ist, ist auf eine Beschwerde Remedur ein⸗ getreten. 88 Abg. Strosser (kons.): Diese Erklärung ist ja sehr dankens

wert, aber der Minister hat doch zugelassen, daß die Schuldiener

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sicht noch vermehrt werden (sehr richtig! links), weil es dem Hand⸗

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Federhalter, Bleistifte, Papier, Hefte und dergleichen ver⸗ sederm, If damit wird in vielen Anstalten ein außerordentli fen dürfen, und damit wird in vielen Anstalten ein außerordentlich auf reicher Handel getrieben und den Gewerbetreibenden seine er⸗ mliche Konkurrenz gemacht. Der Regierungsvertreter erklärt dieses edenken für ungerechtfertigt, denn nach dem Ministerialerlaß soll er Reaierungspräsident nach Anhörung des Schulvorstandes org⸗ ltig prüfen, ob nach Maßgabe der Schulverhältnisse eine Weiter⸗ ührung dieses Verkaufes notwendig erscheint. Bei den Ausgaben für die Handels⸗ und Gewerbeschulen ir Mädchen bittet Abg. Kindler ffortschr. Volksp.) um einen Neubau für die zewerbeschule in Posen. Die Räume in dem alten Gebäude seien ollommen unzureichend und genügten auch den polizellichen Vor⸗ hriften nicht. Ein Regierungskommissar erkennt die Notwendigkeit nes Neubaues an. Die Verhandlungen über die Aufstellung eines auprojekts und über die Bereitstellung eines Bauplatzes seien im ange, und sie würden nach Möglichkelt beschleunigt. Bei den Zuschüssen zur Einrichtung und Unterhaltung der ortbildungsschulen bemerkt Abg. Dr. Kaufm ann (Zentr.): Wir sind nach wie vor über⸗ ugt, daß unsere Fortbildungsschulen ersprießliche Resultate nicht tigen können, wenn man den wichtigsten Erziehungsfaktor, den Religionsunterricht, ausschließt. Von den beteiligten Ministerien ist die Aufgabe der Fortbildungsschulen, erziehlich zu wirken, auch an⸗ erkannt worden. In der Schule hat der Junge die Religion von Fltern, Schule und Kirche als etwas Gegebenes aufgenommen. Tritt er in. die Fortbildungsschule, so drohen in dem gefährlichen Alter, in dem er sich befindet, seiner religiösen Ueberzeugung mancherlei Gefahren seitens seiner Mitschüler, durch Lektüre, allerlei Vergnügungen usw. Wenn er sieht, wie seine Mitschüler die Waffen strecken vor dem Hohn und Spott ihrer Umgebung, so unterliegt er nur zu leicht derselben Versuchung. Die Fort⸗ bildungsschule soll durchaus nicht, wie unsere Gegner meinen, ein langweiliges Auswendiglernen von Bibelstellen, ein trockenes Memo⸗ rieren des Katechismus im Religionsunterricht den Schülern auferlegen. Der Religionsunterricht soll den Jünglingen und Jungfrauen in den entscheidendsten Jahren ihres Lebens ein Helfer sein in den sittlichen Kämpfen, ihnen Licht und Stab geben. Wenn man hört, wie der Minister die religiös⸗sittliche Wirkung des Religionsunterrichtes aner⸗ kennt und doch Maßregeln versagt, die die religiöse Bildung fördern sollen, so ist damtt nicht geholfen. Wir verlangen nach wie vor grundsätzlich die Einführung der Religion als obligatorischen Unter⸗ richt in den Fortbildungsschulen. Der fakultative Religionsunterricht ist nur ein Notbehelf, aber auch dieser muß in einer Weise gegeben werden, daß er wirklich Nutzen hat. Auch müssen die Lehrer im Hauptamte tätig sein. Ein Regierungsrat soll sich geäußert haben, daß die Regierung deshalb gegen die Einführung dieses Unterrichts ist, weil dadurch Geist⸗ liche in das Lehrerkollegium kommen können. Aachen hat mit dieser Methode gute Ergebnisse erzielt. Von den jungen Leuten hat sich nnemand und von den Handwerkern haben sich nur wenige ge⸗ weigert, an diesem Unterricht teilzꝛunehmen. Die Fortbildungsschule wird nie das leisten, was sie leisten soll, wenn der Religions⸗ unterricht fehlt.

Minister für Handel und Gewerbe Dr. Sydow:

Es war mir sehr interessant, die Darlegungen zu hören, wie im einzelnen in Aachen dieser freiwillige Unterricht ausgestattet ist, der dort mit Unterstützung der Gemeinde von Geistlichen der katholischen Kirche erteilt wird. Wenn man das Programm hörte, so hätte man ssch zunächst wohl sagen mögen: das ist ja eigentlich eine allgemein ghaltene Lebenskunde. (Sehr richtig!) Aber es muß doch in Wahr⸗

heit ttwas anders sein; denn der Herr Vorredner wechselte zwischen sem Ausdruck und dem Ausdruck Religionsunterricht, und kam zulezt immer wieder auf die Einführung des Religionsunterrichts in der Fortbildungsschule. Ich glaube ihn also richtig zu ver⸗ stehen und der Sache vollkommen gerecht zu werden, wenn ich sage: s. ist gemeint eine religiöse Unterweisung, die sich auf die verschiedenen Fragen, welche dem jungen Menschen entgegen⸗ treten, bezieht, die aber immer auf der Basis der konfessionellen Religionsanschauungen bleibt. (Sehr richtig! im Zentrum.) Gut, ich habe damit die Frage klargestellt, um die es sich handelt.

Daß die Partei des Herrn Vorredners ihre Anschauung in den letzten zwei Jahren in dieser Beziehung nicht gewechselt hat, habe ich als selbstverständlich angenommen. Ich hoffe, Sie werden es ebenso verstehen, wenn ich sage, daß die Königliche Staatsregierung an der damals vertretenen Anschauung festhält. (Bravo! Zuruf vom Zentrum: Leider!) Sie sagen: leider, ebenso könnte ich sagen: leider haben Sie Ihre Auffassung nicht geändert. Ich glaube, mit dem gegenfeitigen „Leider“ kommen wir wirklich nicht weiter. Ich achte Ihre Anschauung, ich bitte aber um ebenso viel Achtung für die meinige; denn sie beruht auf ebenso viel sittlichem Ernst und auf ebenso viel Achtung vor der Religion, wie Sie sie haben. Die Fönigliche Staatsregierung erkennt vollkommen an, und auch ich zabe es wiederholt ausgesprochen, daß die Religion ein wesentlicher Erziehungs faktor ist, nicht bloß für die Schuljugend, auch nicht nur für die Dauer der Fortbildungsschule, sondern für das ganze mensch⸗ liche Leben.

Die Frage steht aber so: soll die Unterweisung zwangsweise den jungen Leuten gegeben werden, sollen sie zur Teilnahme daran genötigt werden, in einem Alter, in welchem sie nach dem Gesetz befugt sind, ihre Konfession zu wählen, sogar aus der Kirche auszu⸗ treten, wenn sie wollen, vor allem aber in einem Alter, wo der Zwang meiner Anschauung nach und nach der Anschauung einer ganzen Menge anderer Leute, die es mit der Religion ernst meinen, eher schädlich wirken kann als nützlich? (Sehr richtig! links.) Denn gerade in diesem Alter reagiert die Jugend in solchen Dingen gegen einen ihr aufgenötigten Religionsunterricht leicht in einer Weise⸗ se die Sache selber schädigt. Vor allen Dingen werden da die ungen Leute mit anderen zusammengebracht, die von Hause her, vom Umgang in Fabrik und Werkstatt her zu einem leider so negativen Standpunkt der Religion gegenüber gebracht sind, daß sie auch bei zenjenigen, die von Hause die Achtung und Ehrfurcht vor der Religion mitbringen, nicht nur den Nutzen der religiösen Unterweisung ver⸗ nichten, sondern unter Umständen auf deren religiöse Anschauungen ferstörend wirken können. Dann aber kommt noch hinzu, daß wir damit zu einer Konfessionalisierung des Fortbildungsschulwesens kommen, die ich für meine Person grundsätzlich für schädlich halte. (Bravo! links.)

Was ferner die für den Religionsunterricht erforderliche Zeit ketrifft, so weiß ich wohl, daß in vielen Kreisen, nämlich in den reisen des Handwerks, die politisch auf dem Standpunkt des Zentrums siehen, der Wunsch besteht, den Religionsunterricht obligatorisch zu machen das hat Herr Abg. Euler neulich hier ausgeführt —: aber bbenso sicher ist, daß in größten Teilen unseres Vaterlandes das dandwerk den Wunsch hat, daß die obligatorischen Unterrichtsstunden

aber sie haben doch die Zweckmäßigkeit der Verlegung allmählich 9

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werk schon schwer fällt, für den Teil des Unterrichts, der überwiegend fachlich ist, die Lehrlinge auf so lange zu entbehren, wie es jetzt schon verlangt wird. (Sehr richtig! links.)

1 Wenn der Herr Vorredner eben gesagt hat, in Aachen habe niemand von den Eltern und von den Handwerkern, glaube ich, nur drei, dahin gewirkt, daß die jungen Leute an dieser religiösen Unter⸗ weisung nicht teilnehmen, so ist das ein Beweis dafür, daß es da, wo der Boden dazu bereitet ist, auch ohne Zwang geht. Jetzt ist die Sache allgemein dahin geordnet, daß nach der Ministerialanweisung von 1897 den Geistlichen der Zutritt zu den Fortbildungsschulen, die Verbindung mit den Fortbildungsschülern behufs religiöser Unter⸗ weisung auf fakultativer Basis erleichtert werden soll. Dadurch wird 8gs das ist vielleicht dem Herrn Vorredner nicht ganz zum Bewußt⸗ sein gekommen —, ermöglicht, daß wegen der Art dieser religiösen Unterweisung lediglich die Geistlichen und ihre Vorgesetzten freie Hand haben. Stellen Sie die religiöse Unterweisung in den Lehr⸗ plan ein, dann wird sie natürlich ein lehrplanmäßiger Gegenstand, über dessen Inhalt die Staatsregierung kraft ihres Schulhoheitsrechts entscheidet, nicht aber die Kirche. Ich weiß nicht, ob das im Sinne des Herrn Vorredners wäre.

Daß die Befürchtung, es könnten Geistliche in den Schulvorstand kommen, für die Staatsregierung bestimmend gewesen sei, um den Religionsunterricht nicht obligatorisch zu machen, muß ich verneinen. Schon bei der Beratung des Fortbildungsschulgesetzes vor andert⸗ halb oder zwei Jahren habe ich mich mit einer Bestimmung ein⸗ verstanden erklärt, in der gesagt wurde, daß durch das Statut be⸗ stimmt werden kann, daß außer den im Gesfetze allgemein vor⸗ geschriebenen Mitgliedern noch andere Personen, insbesondere Fortbildungsschullehrer, technische Beamte, Geistliche und Aerzte zu Mitgliedern des Schulvorstandes gewählt werden. Gegenwärtig sind auch schon in manchen Gemeinden Geistliche Mitglieder des Schulvor⸗ standes. Das hat also (Abg. Kaufmann: Lehrkörper habe ich gesagt!) jedenfalls kein Bedenken. Mitglieder des Lehrkörpers können sie nur sein, wenn der Religionsunterricht lehrplanmäßiger Gegen⸗ stand ist, und das ist er nicht, und auch in Aachen ist er es nicht.

Wenn in Aachen und auch in Neuß die Gemeinden Mittel aufwenden, um den kirchlichen Gemeinschaften die Erteilung dieser religiösen Unterweifung zu erleichtern, so ist von der Staatsregierung nicht das geringste dagegen eingewendet worden. So gut eine Ge⸗ meinde die Befugnis hat, wenn sie will, ein Grundstück zum Bau einer Kirche zu schenken, so gut kann sie auch ihre Mittel zu jenem Zwecke verwenden; dem sind nirgends Schwierigkeiten bereitet worden.

Ich meine also, daß die Staatsregierung das ihrige getan hat, um, abgesehen von dem Zwange, dem sie allerdings widerstrebt, den religiösen Kirchengemeinschaften den Zutritt zu den Fortbildungs⸗ schulen zum Zwecke der religiösen Unterweisung zu ermöglichen. Das wird sie auch weiter tun; aber weiter zu gehen, beabsichtigt sie nicht. (Bravo! links.)

Abg. Wenkke (fortschr. Volksp.): Im Etat sind die kaufmänni⸗ schen und die gewerblichen Fortbildungsschulen gemeinsam aufgeführt; man sollte eine Trennung erwägen, wie sie das Landesgewerbeamt in seinem Bericht schon vorgenommen hat. Die kaufmännischen Fort⸗ bildungsschulen behaupten, daß sie bei der Verteilung der Staats⸗ zuschüsse zu schlecht, die gewerblichen zu gut wegkämen. Die an kommunalen Schulen angestellten Handelslehrer klagen über das bunte Gewirr, das ihre Besoldungsverhaltnisse darstellen, sie möchten dafür einheitliche Bestimmungen nach dem Muster derer für die Königliche Gewerbeschule in Thorn. Der Etat wirft in diesem Jahr 600 000 an Staatszuschüssen aus, 340 000 mehr als im Vorjahre. Wir be⸗ grüßen diese starke Förderung des Fortbildungsschulwesens, denn in diesem, verbunden mit der Meisterlehre, erblicken wir das Beste, was man dem Handwerker mit auf den Weg geben kann. Von jeher sind wir Freunde einer energischen Förderung des Fortbildungsschulwesens, es ist eine der ältesten Forderungen unseres Programms. Nun hat der Abg. Euler vom Zentrum neulich und heute der Abg. Kaufmann wieder die Forderung erhoben, daß ein neues Pflichtfortbildungsschul⸗ gesetz den obligatorischen Religionsunterricht enthalten müsse. Als liberaler Handwerker möchte ich erklären, daß das Zentrum und die Konfervativen, als sie den Gesetzentwurf zu Fall brachten, weil er nicht darin war und die Regierung dieses Verlangen für unannehmbar er⸗ klärte, dem Handwerk damit einen schlechten Dienst erwiesen haben. Denn das Gesetz hätte immerhin für das Handwerk einen Fortschritt bedeutet. Es wird doch allgemein anerkannt, daß die Fortbildungs⸗ schule im wesentlichen die jungen Leute für den schweren wirtschaft⸗ lichen Kampf vorbereiten soll, der heute nun einmal geführt werden muß. Die hier gewährte Fortbildung kann nur eine beschränkte sein; der Unterricht ist jetzt in die Tagesstunden verlegt und eine Verlänge⸗ rung kann man im Interesse der meisten Handwerker nicht wünschen, und es geht auch nicht an, wegen des Religionsunterrichts die anderen Unterrichtsgegenstände zu verkürzen. Die Fortbildungsschule soll doch nicht für den Himmel, sondern für den wirtschaftlichen Kampf vorbe⸗ reiten. Auch die Konservativen haben doch früher durch den Mund des Abg. von Goßler und von Kölichen gegen den Religionsunterricht in diesen Schulen gesprochen. Wenn in dem Kaufmannschen Pro⸗ gramm auch das Thema von der „Abstammung des Menschen“ vorkam, so möchte das vielleicht in einem Sinne behandelt werden, der im krassen Gegensatz steht zu den Forschungen der Wissenschaft. Der Turnunterricht soll, wie in der Budgetkommission erklärt wurde, obligatorisch nur da eingeführt werden können, wo weniger als sechs Pflichtstunden bestehen. Nachdem der Unterricht in die Tagesstunden verlegt ist, haben ja die jungen Leute Abends mehr Zeit zu Leibes⸗ übungen, und da könnten die Leiter der Schulen den Schülern empfehlen, sich den Jugendabteilungen der Turnvereine anzuschließen. Der Ausfall des Abg. Rahardt gegen die Lehrer, denen er die Schuld der Verlegung des Fortbildungsschulunterrichts auf die Tagesstunden beimißt, weil sie den Abend freihalten wollten, ist unberechtigt ge⸗ wesen. Die Verlegung ist erfolgt auf Grund der praktischen Er⸗ fahrung, weil die jungen Leute, welche tagsüber schwere Arbeit getan haben, wie Tischler, Schmiede, Schlosser, Abends müde in die Schule kommen, einschlafen und der Unterricht dann zwecklos ist. Auch die Handwerker haben sich ja nur zögernd mit der Verlegung abgefunden;

erkannt.

Abg. Dr. Maurer nl.): Die Lehrerfrage ist für unsere Fort⸗ bildungsschule von der größten Bedeutung. Es muß erstrebt werden, immer mehr ordnungsmäßig vorgebildete Lehrer in den Fortbildungs⸗ schulen anzustellen. Auch muß eine einheitliche Aufbesserung der Grundgehälter stattfinden, die dem Bildungsstande der Lehrer ent⸗ spricht. Der Minister hat im vergangenen Jahre ein recht ver⸗ ständiges Wort gesprochen, indem er sagte, er hielte es nicht für zweck⸗ mäßig, Erziehungsfragen alle Jahre wieder zum Gegenstande des Parteistreites zu machen. Ich würde auf die Frage der Einführung des Religionsunterrichtes in unseren Fortbildungsschulen nicht weiter eingehen, wenn der Abg. Kaufmann 8 Frage nicht in aller Ausführ⸗ lichkeit aufgerollt hätte. Die Stellung unserer Partei in dieser An⸗ gelegenheit ist ja vollständig bekannt. Auch dis Oeffentlichkeit hat sich mit dieser Frage schon des öfteren beschäftigt. In Berlin hat eine Versammlung, darüber stattgefunden, in der auch mein Name als Diskussionsredner gewissermaßen als Reklame genannt wurde. Ich

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war darüber sehr erstaunt. Aber die Angriffe, die der Abg. Ströbel

kurz danach aus diesem Anlaß gegen mich gerichtet hat, waren voll⸗ ständig deplaciert, und ich muß sie zurückweisen als einen Eingriff in meine Privatangelegenheiten. Der Minister hat mit Recht bedauert, daß durch die Hineinziehung der Frage des Religionsunterrichts nichts anderes erreicht worden ist als eine gewisse Hemmung der so überaus wichtigen und von allen Seiten so anerkannten Frage der gewerblichen

Fortbildung unserer Jugend. Die Forthildung unserer Jugend ist notwendig aus gewerblichen Gründen. Der Abg. Kaufmann sagt, es handle sich nicht bloß um eine gewerbliche Erziehung, sondern um eine sittliche Erziehung. Das ist ja unzweifelhaft richtig. Das betonen wir ebenso sehr wie er. Aber über die Art, wie hier zur Sittlichkeit erzogen werden soll, ist zwischen uns und ihm eine breite Kluft. Was der Abg. Kaufmann hier vorgetragen hat, war nicht Religion, sondern ein Stück Lebenskunde. Was der Abg. Kaufmann wünscht, kann ebenso im deutschen Unterricht erreicht werden. Gewiß soll die Fort⸗ bildungsschule eine Erziehungsschule und keine Wiederholungsschule sein. Der Abg. Kaufmann hat ja selbst eingesehen, wie schwierig es ist, in diesem Alter auf die Jugend einzuwirken. In einem Buch über das Münchener Volks⸗ und Fortbildungsschulwesen wird u. a. fest⸗ gestellt, daß die meisten Schwierigkeiten der Disziplin in der Religions⸗ stunde entstehen. In merkwürdigem Widerspruch steht damit die Forderung nach hauptamtlichen Religionslehrern in der Fortbildungs⸗ schule. Die Folge der Einführung des Religionsunterrichts in der Fortbildungsschule wäre die konfessionelle Scheidung. Das wünschen Sie (zum Zentrum). Wir wünschen unter keinen Umständen, daß diese nationale Einrichtung konfessionell geschieden wird. Die Her⸗ stellung des Stundenplans ist heute schon schwer genug. Durch di

Anstellung von Geistlichen in den Fortbildungsschulen wird aber di

Gestaltung des Stundenplans noch viel schwieriger. Es ist sehr be⸗ dauerlich, daß wir uns auf keinen gemeinsamen Boden der staats⸗ bürgerlichen Erziehung stellen können. Sie fürchten auch die obliga⸗ torische Fortbildungsschule. Sie wollen nicht mit uns zusammen arbeiten, Sie wollen die Bildung in Ihrem Sinne, die einseitig von Voraussetzungen ausgeht, die in einem paritätischen Staat nicht ange⸗ bracht sind. Es läuft darauf hinaus, das Fortbildungsschulwesen da⸗ zu unterminieren, wenn man die Fortbildungsschule konfessionell macht.

Abg. Lieneweg lkons.): Die Regierung sollte die kleinen ländlichen Schulen, die von Handwerkersöhnen besucht werden, namentlich durch Barmittel unterstützen und auch die weiteren Wünsche des Bundes der Handwerker berücksichtigen. Gegenüber dem wachsenden Einfluß der Sozialdemokratie auf die Jugend ist ein Schutz der Autorität der Lehrer und Leiter der Fortbildungsschulen unbedingt notwendig. Wie weit die Unbotmäßigkeit der Jugend heutzutage geht, beweisen verschiedene Fälle in Bielefeld. Ein Junge hatte wegen seiner Flegeleien eine Ohrfeige erhalten, und dieser Fall wurde in der Stadtverordnetenversamm⸗ lung von einem Sozialdemokraten aufgebauscht. Der Schüler be⸗ mächtigte sich eine große Erregung, und es kam zu Verhältnissen, wobei die Lehrer beinahe die Lust verloren, zu unterrichten. Nur durch die größte Ruhe und Umsicht der Lehrer und des Leiters gelang es, Ruhe zu schaffen. Solche und ähnliche Fälle lassen erkennen, wohin wir treiben. Jeder, der es mit unserem lieben, teuern Vater⸗ lande gutmeint, muß dafür sorgen, daß unsere Jugend erzogen werde zu Gottesfurcht, Königstreue und Vaterlandsliebe.

Minister für Handel und Gewerbe Dr. Sydow:

Ich habe nur eine ganz kurze Bemerkung zu machen. Der Herr Vorredner hat den Wunsch ausgesprochen, es mögen bei der Ein⸗ berufung der Fortbildungsschullehrer zu den seminatistischen Aus⸗ bildungskursen besonders die aus den Kreisen der Praktiker hervor⸗ gehenden Lehrer berücksichtigt werden. Es freut mich, ihm mitteilen zu können, daß von den 60 Stellen des demnächst ins Leben tretenden seminaristischen Kursus mehr als die Hälfte solchen Fortbildungs⸗ schullehrern gegeben ist, die aus den Kreisen der Praktiker hervor⸗ gegangen sind. (Bravo!)

Hierauf vertagt sich das Haus.

Persönlich bemerkt

Abg. von Wenden (konf.): Ich glaubte, daß die den pommerschen Bauherren gemachten Vorwürfe bei diesem Etat zurückgewiesen werden konnten. Ich habe mich inzwischen davon überzeugt, daß dies doch wohl besser an anderer Stelle geschieht. G

Abg. von Arni m (kons.): Der Abg. Borchardt hat den Reichs⸗ verband gegen die Sozialdemokratie „Reichslügenverband“ genannt. Schon vor zwei Jahren hat der Präsident deswegen seinen Kollegen Leinert zweimal zur Ordnung gerufen, und das Haus hat den Ordnungsruf aufrechterhalten. Auch haben die Gerichte deswegen Geldstrafen bis zu 600 erkannt. Der Abg. Borchardt hat also hier beleidigende Aeußerungen vorgebracht, die ihm außerhalb des Hauses wohl teuer zu stehen gekommen wären.

Präsident Dr. Graf von Schwerin: Ich stelle fest, daß der damalige Vizepräsident diesen Ausdruck erst prüfte und mit einem Ordnungsruf belegte, nachdem sich der Abg. von Arnim dadurch beleidigt gefühlt hatte. Mir war der Vorgang unbekannt. Ich werde aber in Zukunft ebenso verfahren.

Abg. Borchardt (Soz.): Auch ich war vor zwei Jahren nicht Mitglied des Hauses und wußte es ebensowenig wie der Präsident. Die Gerichte haben dem Verband auch Lügen nachgewiesen. Ich werde mir deshalb nicht nehmen lassen, ihn auch in Zukunft als Lügenverband zu bezeichnen.

„Präsident Dr. Giaf von Schwerin: Nach dem eben Aus⸗ geführten darf ich diesen Ausdruck nicht dulden.

8 Schluß gegen 4 ³¾ Uhr. Nächste Sitzung Dienstag, 25. Februar, 1 1. Uhr. (Handelsetat; Etat für die Berg⸗, Hütten⸗ und Salinenverwaltung.)

Koloniales.

am 22. d. M. ihre ersten Tabake 150 Zentner in Bremen zum Verkauf. Der Durchschnittserlös betrug, wie „Boesmanns Telegraphisches Bureau“ erfährt, nahezu 4 für das Pfund. Dieser Preis bedeutet eine Bewertung als gutes Deckmaterial für Zigarrenzwecke und ist wiederum ein Beweis dafür daß derartige Tabake, für die die deutsche Industrie bisher völlig abhängig von den holländischen Märkten war, in Kamerun gezogen werden können. Erreicht wurde dieses für die deutschen Kolonialbestrebungen höchst erfreuliche Ergebnis auf Grund langjährtger Ver⸗ suche, die unter Leitung eines erfahrenen Sumatra⸗Tabakpflanzers vorgenommen sind. Es besteht nunmehr die Absicht, die genannte Versuchsgesellschaft demnächst in eine Aktiengesellschaft mit größerem Kapital umzuwandeln, um dann den plantagenmäßigen Anbau von Decktabaken in Kamerun in größerem Maßstabe zu betreiben.

8.

8 Verkehrswesen. W

—In Haris in Deutsch Südwestafrika ist am 16. Februar eine Telegraphenanstalt für den internationalen Verkehr eröffnet worden. Haris liegt etwa 30 km südwestlich von Windhuk. Die Wortgebühr für Telegramme nach Haris ist dieselbe wie na Windhuk. Sie beträgt gegenwärtig 2 75 ₰. 8

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Die Deutsche Tabaksbaugesellschaft Kamerun brachte

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