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Wenn das . der Erste Staatzanwalt im Amte so treibt, wie mögen es dann erst die nachgeordneten Staatsanwälte treiben! Zur Rettung des EEE erhebe ich wiederholt die Forderung,
daß die Staatsanwalte selbständiger und unabhängiger nach oben ge⸗
macht werden müssen, sonst 5 kein Mensch an ihre Objektivitat. Der Abg. Merkin hat in allem Ernst angedeutet, es gebe preußische Staatsampälte, die eher für die Fhre eines Sozialdemokraten als eines Konservativen einschreiten würden. Das glaubt doch der stärkste Mann nicht. Der Abg. Mertin soll uns einen solchen Staatsanwalt vorzeigen, der auch nur die Ehre eines Fortschrittsmannes höher ein⸗ schatzte als die eines Konservativen; solche Bemerkungen müssen ge⸗ radezu komisch und lächerlich wirken. Damit komme ich auf die eform der Strafprozeßordnung und des Gerichtsperfassungsgesetzes. In der Deutschen Juristenzeitung“ hat der Schriftleiter eine Reihe von enfserepaen von Reichstagsmitgliedern über diese Reformfragen
zubliziert. Mit den Grundgepanken, die ich da entwickelt habe, haben sich die Abgg. Wellstein, Schiffer und Haase einverstanden erklärt.
Einigkeit besteht über die Reform im Wege der Not⸗ und S ezial⸗
setgebung. Wir können nicht 10 bis 19 Jahre auf die allernot⸗ vendigsten Reformen warten; entscheidend ist allein das Bedürfnis es deutschen Volkes, des rechtsuchenden Publikums. Die Reform der desabnahme, die 3 jehung der Lehrer zum Schöffen⸗ und Ge⸗ chworenenamt, die Beseittgugg des Zeugniszwanges für die Presse, diese Fragen sind völlig spruchreif. Keine Ein⸗ ung scheint sich erzielen u lassen über die Berufung in trafsachen. KWeng. Graf Westarp in seinem Artikel in der „Deutschen Juristenzeitung“ gemeint hat, bei einer solchen Notgesetzgebung leide die wissenschaftliche Systematik, so ist diese schon längst nicht mehr vorhanden oder doch stark durch⸗ brochen, so bei der Jugendgerichtsgesetzgebung. Die Anträge Basser⸗ mann⸗Schiffer gehen viel weiter als unsere dort gemachten Vor⸗ schläge; manche guten Gedanken sind nur kurz angedeutet und so all⸗ gemein gehalten, so nichtssagend, daß wir 19⸗ Bedenken tragen, den Antrag anzunehmen. Was Henie- die religiöse Erziehung der Kinder anbetrifft, so kommen wir hier doch auf ein Gebiet, das von Reichs wegen aufzunehmen sich früher gerade die Nationalliberalen so beim ersten Teil des Toleranzantrages, ganz energisch geweigert haben; es ist also in diesem Punkte bei ihnen eine vollständige Meinungsänderung eingetreten. Auf die Einzelheiten der Frage wird übrigens mein Freund Dove noch näher eingehen. Aügh auf die große Reform werden wir nicht warten, wir müsgen den eg der Notgesetzgebung beschreiten und uns dabei auf gewisse streng umrissene Gebiete beschränken. Wir folgen damit nur dem Vorgang der Regierung, die ja auch ihre Wünsche auf dem Wege des Spezialgesetzes zu erreichen sucht. Heute ist schon wieder ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der ganz gewaltige, auch politische Gefahren in diesem Hause heraufbeschwört. Ein Entwurf in der Richtung der berühmten Lex Heinze ist uns zugegangen. Ich habe nichts dagegen, wenn dem Unwesen der Animierkneipen und der Rummelplätze entgegengetreten wird, selbst wenn der Besuch der Agrarwoche etwas darunter leiden sollte; ich habe auch nichts gegen eine Beschränkung des Kinobesuches durch Kinder. Aber die Aus⸗ arbeiter der Vorlage scheinen sick der großen Kämpfe um die Lex Heinze nicht mehr recht zu entsinnen. Selbst der Abg. Dr. Oertel hat P erklärt, §§ 184 und 184a des Srestese⸗ genügen zur Bekämpfung des wirklichen Schmutzes und der wirklichen Unsittlichkeit; derselben Meinung hat der frühere bavyerische Justizminister von Miltner Aus⸗ druck gegeben. Viel radikaler aber ist der Kollege Bell, weit radikaler als der Kollege Oertel. Ich warne schon jetzt vor den Folgen einer solchen etwas unüberlegten Gesetzgebung. Es ist eine heilige Pflicht aller Parteien, den wirklichen Schmutz und den wirklichen Schund ins⸗ besondere im Interesse unserer deutschen Jugend zu bekämpfen. Aber ich muß mich doch gegen die Art wenden, wie Dr. Oertel heute wieder gegen die echte, ernste Kunst hergezogen ist. Dr. Oertel wirft eine 88 ernste Kunstrichtung wie die Sfäeom mit den Futuristen und Kubisten zusammen; er sagt ja selbst, daß er die Kunst nicht kennt.
Mit einigen eleganten Schlagworten hilft er sich über die Schwierig⸗
keiten hinweg, unter dem Deckmantel der Sittlichkeit darf sich die un⸗
sittliche Feigenblattmoral nicht breit machen. Das schmutzige Zeug,
das man in den Papierkorb wirft, soll man doch nicht als ty 1
deutsche Kunst ansprechen. Die größten Zotenjäger aller Gesellsche ts⸗
kreise machen am meisten nach außen hin in Sittlichkeit; es wird ein
Sittlichkeitsmäntelchen herausgehängt und dabei die schmutzigste
Sinnlichkeit poussiert. Sensationslüsterne Schweinerei darf in der
Berichterstattung ebensowenig geduldet werden als sonstwo; das
Uebel wird aber nur durch die Selbsthilfe in der Press elbst be⸗
seitigt werden können. Die anständige große Pre⸗ se sollte unter
keinen Umständen dem schlechten Geschmack des pießers nachgeben, sondern als Erzieher des deutschen Volkes wirken. Zur Rettung der
Sittlichkeit wird mit oft geradezu lächerlichen Schritten vorgegangen.
Eben hat das Reichsgericht das Verhalten der 12. Berliner Straf⸗
kammer desavouiert. Ies Strafkammer leidet offenbar an fixen
Ideen, insbesondere den Postkarten gegenüber; sie hat ja ausgesprochen,
daß auch ein Feigssetkustaege unzüchtig sein könne. Das ist doch
auch künstlerisch völlig unsinnig. Der Standpunkt der Strafkammer erinnert an das Wort von der „Rinnsteinkunst“. Auch Rembrandt und Albrecht Dürer sind dann in den Rinnstein hinabgestiegen. Das
Einhauchen des künstlerischen Odems in die Materie macht das Kunst⸗
werk. Und nun soll ein Kunstwerk in einer noch so künstlerischen
Reproduktion unzüchtig sein? Mit aller Energie wendet sich die
Künstlerschaft gegen diese Herabdrückung der Reproduktion. Beson⸗
ders unzüchtig soll nun die Postkarte sein. Der Zweck der Künstler⸗
postkarten ist heute in den meisten Fällen der gleiche, wie der der viel teureren photographischen Reproduktion; diese kann die große Masse des Volkes nicht kaufen. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Frage ist in Deutschland sehr groß; es handelt sich um eine der größten und geachtetsten Industrien. Ich habe die 43 Postkarten, welche die Berliner Strafkammer beschlagnahmen ließ und die das Reichs⸗ gericht freigegeben hat, auf den Tisch des Hauses niedergelegt. Es handelt sich hier nicht um die öffentliche Auslegung der Postkarten in großen Massen und Reihen, wie es der preußische Justizminister darstellte, sondern sie sind alle aus den Mappen der Grossisten durch die Schutzleute herausgenommen worden. Gewiß kann die Art der
Aufmachung eine Schmutzerei sein; aber das kommt hier nicht in
Betracht. Bei einem Verleger erschienen mehrfach sechs bis acht Be⸗
amte, nahmen Tausende von Postkarten mit und stellten sie ihm erst nach langen Monaten wieder zu, obwohl nur eine einzige Postkarte
einmal inkriminiert worden war, und nachher erfolgte durchweg Frei⸗ sprechung; ein Beweis, wie plan⸗ und ziellos Schutzleute und Staats⸗ anwälte vorgehen. Weiter handelt es sich bei diesen keuschen Re⸗ produktionen meist um öffentliche Kunstdenkmäler, nicht um Schmiere⸗ reien. In Tübingen wird es homerisches Gelächter erregen, wenn man hört, daß die Nymphe, die am Neckar steht, ebenfalls beschlag⸗ nahmt worden ist. Man hat sich hier wieder einmal vor der ganzen Welt blamiert. Der Rat der Stadt Dresden, der doch wohl nicht an besonderer Unsittlichkeit leidet, hat sich gegen die Beschlagnahme erklärt. Auf der anderen Seite läßt man offenkundige Schmutzereien ungeschoren, nicht bloß unbedingt unzüchtige, sondern auch die ge⸗ schmacklosen Postkarten, die, ohne unzüchtig 1 sein, das Scham⸗ gefühl gröblich verletzen. Ich habe hier auf den Tisch des Hauses eine Reihe deraxtiger Postkarten ausgelegt, die von der Polizei frei⸗ gegeben sind. Hier zeigt sich, 9 die Polizei in solchen Fällen wie der Elefant im Porzellanladen vorgeht. Der Feldzug der Polizei gegen die Wachsbüsten in Friseur⸗ und Konfektionsläden ist direkt eine Tar⸗ tüfferie. Ich möchte fragen, ob man eine Hofdame wegen einer solchen Tracht zurückweisen würde. Aber hier geht man gegen Wachsbüsten vor (Abg. Heine: Die find auch perlockender wie Hof⸗ damen!). Herr Heine, ich weiß nicht, ob Sie eine solche Praxis für Hofbälle haben. Dort sind auch vielleicht junge Leutnants, die doch auch verdorben werden köonnen. So die Sittlichkeit retten zu wollen, ist doch direkt sinnlos. Man sagt, es würde hier wegen Gefährdung der Jugend öffentliches Aergernis genommen. Oeffentliches Aergernis ist doch ein sehr böser Begriff, der selbst in Richterkreisen böses Aergernis bereitet. Er ist einer der kautschukartigsten Begriffe, ganz besondehz, wenn es den Schutzmann angeht. Man hat mir erzählt, ein Angeklagter ist von zwei Schutzleuten in einer sehr wenig sittlich schönen Weise angetroffen worden. Vor Gericht erklärte der eine
Schutzmann, er habe vorschriftsmäßig das öffentliche Aergernis genom⸗
men, während der zweite das verneinte. Auf die verwunderte F d
das Nackte in der Kunst rein sehen können. Mit dem
“ Vorsitzenden erklärte dieser, daß der Polizeihauptmann ihnen verboten habe, Aergernis zu nehmen, es sei ihnen in der Instruktionsstunde gesagt worden, sie sollten nur darauf achten, ob andere Aergernis nehmen. Auf weitete Frage bezüglich der Aussage des ersten Schutz⸗ manns wurde erklärt, daß dieser in der betreffenden Instruktionsstunde nicht zugegen gewesen sei. Wir sollten uns hüten, von neuem diesen Begriff in die angekündigte Gesetzgebung aufzunehmen, zumal es einer Verschäxfung gar nicht bedarf. Die Konfiszierung einer anderen künstlerlschen Foftkarte ist geradezu der typische Fall einer porno- graphia eventualis. Auf ihr nimmt ein junger Mann von einer am Fenster stehenden jungen Frau mit einem Kinde auf dem Arme Abschied. Die Postkarte ist von dem Schutzmann konfisziert worden, weil die Frau keinen Trauring hat und man annehmen muß, daß hier auf die Folgen eines illegitimen Verhältnisses hingewiesen werden soll. Der Polizist ist putativ unzüchtig gewesen. Ein 6 erichtshof, der allerdings den ganzen Tag nur in Sirtlichkeit macht, wie die Strafkammer, muß allmählich ein gewisses anormales Sittlichkeits⸗ gefühl bekommen. Ich muß mich deshalb gegen eine Konzentrierung der Sittlichkeitsprozesse wenden. Das kann nur die vorhandene krankhafte Sittlichkeitstuerei und Heuchelei fördern. Der Vortrag des Kollegen Bell hat eine sehr ernste Seite. Die berühmte Turn⸗ hose der Mädchen wirkt auf weite Kreise unsittlich. Es ist deshalb ein Segen, daß der König von Bayern und der Deutsche Kaiser sch von ihrer Harmlosigkeit selbst überzeugt haben. Aber man hat si nicht bloß gegen diese, sondern sogar gegen die Mhthasenboser eines Jungen, die durchbrochene Bluse eines jungen Mädchens usw. gewendet, weil die deutschen Schweinekerle sich dabei aufregen. Sogar an einem anatomischen Wandbild, das den Aufbau des mensch⸗ lichen Körpers zeigt, hat man Anstoß genommen, ebenso wie man eine Lehrerin, die einen entblößten Hals hatte, als un ittliches Weibsbild bezeichnete. Das Allertollste ist aber die Verball rnisterung unserer deutschen Dichter. Hier wäre ein Gesetz zum Schutze der deutschen Felesschen notwendig. Ueberall wird Reinigungssucht in den Schul⸗ büchern betrieben. Goldene Worte sind in dem Münchener Sittlich⸗ keitsverein gesprochen worden, wo als bestes Kampfmittel die richtige sittliche Erziehung in der gesunden Gewöhnung an das Nackte gefordert wird. Weiter wird gefordert, die Kinder so zu erziehen, daß sie auch b Mit d. egriff zur Er⸗ siehung zur religiösen deutschen Auffassung läßt sich nichts anfangen. Man soll bedenken, daß das Ebenbild Gottes doch nackt auf die Welt gekommen ist. Gute Literatur nützt hier tausendmal mehr als die deutschen Sittlichkeitsschnüffeleien. Der Staat hat bisher hier nur wenig Positives getan. Pestalozzi hat darauf hingewiesen, daß es eine Schande sei, wenn man das Unkraut solange wachsen läßt, bis es über⸗ wuchert. enn hier abwegige Urteile gefällt werden, so kommt es von der Weltfremdheit der betreffenden Richter. Aber es rührt sich in deutschen Richterkreisen, damit der Richterstand wieder die alte Stellung im Volke einnimmt. Der Richter muß wie in den großen Kulturfragen auch in der Kunst Bescheid wissen. Es klingt wie eine Aeußerung moralischen Katers, wenn in der „Deutschen Richter⸗ eitung“ Erwägungen zu finden sind, daß unsere Richter meist nur noch gragraphenmenschen sind. Der Richter muß sich wieder mehr am öffentlichen Leben beteiligen, damit er frei von allen innerlichen Vor⸗ urteilen wird. Er gehört vor die Front des deutschen Volkes. Wir wollen alle darauf hinarbeiten, daß der Richter die ihm gebührende Stellung einnimmt im Interesse der Fortentwicklung unseres ganzen Staatsgedankens.
Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco:
Meine Herren! Der Herr Vorredner hat sich, wie auch schon andere Herren Redner, mit verschiedenen gerichtlichen Entscheidungen beschäftigt, durch welche in den letzten Zeiten Postkarten mit Nach⸗ bildungen von Werken bildender Kunst für unzüchtig erklärt worden sind. Ich stimme selbstverständlich allen den Herren durchaus zu,
die da ausgeführt haben, daß der Schm utz in Schrift und Bild
energisch bekämpft werden muß; und ich bin fest überzeugt, daß darüber in diesem hohen Hause auch nur eine Stimme sein kann. Die Schwierig⸗ keiten, meine Herren, beginnen erst dann, wenn es sich um die Ver⸗
breitung von Nachbildungen von Kunstwerken handelt, und zu diesem
Punkte ist eine Reihe von einzelnen Fällen angeführt. Ich kann mich zu diesen einzelnen Fällen nur im allgemeinen äußern; sie sind mir in ihren Einzelheiten nicht bekannt und ohne diese Kenntnis ist es natür⸗ lich nicht möglich, zu ihnen Stellung zu nehmen. Wenn man z. B. hört, daß Postkarten mit Abbildungen von Bildern anerkannter Meister, deren Originale in Museen hängen, für unzüchtig erklärt worden sind, so gebe ich gern zu, daß eine solche Entscheidung zunächst überrascht. Sieht man aber dann bei näherem Eingehen auf die Sachlage, daß die Karte von dem betreffenden Händler etwa in einer Umgebung, die die Lüsternheit wachruft, vielleicht zusammen mit obszönen Darstellungen feilgeboten wurde, dann gewinnt die Sache ein durchaus anderes Gesicht. Im übrigen will ich gar nicht bestreiten, daß man über die Richtigkeit der einen und anderen Entscheidung auf diesem Gebiet verschiedener Meinung sein kann. Wer jemals sich mit diesen Fragen näher beschäftigt hat, weiß, welche Schwierigkeiten die Abgrenzung der Begriffe des Unzüchtigen bietet, und es ist nur natürlich, daß dabei in Ermangelung eines allgemeinen gültigen greifbaren Maßstabes die Ansichten im einzelnen Falle auseinander gehen. Man wird aber aus solchen ein⸗ zelnen Entscheidungen weitgehende Schlüsse nicht ziehen dürfen.
Das Reichsgericht hat bei Auslegung der maßgebenden Bestim⸗ mungen über die Verbreitung unzüchtiger Schriften und Abbildungen ständig die Auffassung vertreten, daß die bildliche Darstellung des Nackten an sich ebensowenig unzüchtig ist, wie der unverhüllte mensch⸗ liche Körper selbst. Ebensowenig hat sich das Reichsgericht der Er⸗ kenntnis verschlossen, daß durch die vorherrschende künstlerische Idee auch bei Darstellungen sinnlicher Schönheit die sinnliche Empfindung zurückgedrängt und damit eine Verletzung des Scham⸗ und Sittlichkeits⸗ gefühls ausgeschlossen wird. Damit wird grundsätzlich der Kunst die⸗ jenige Bewegungsfreiheit gewährleistet, deren sie zur Vollentfaltung ihrer Kräfte bedarf.
Auf der anderen Seite hat das Reichsgericht in ebenso ständiger Rechtsprechung angenommen, daß Reproduktionen von Kunstwerken insbesondere in Postkartenform in einer Weise mißbraucht werden können, daß sie zu unzüchtigen Abbildungen werden. Der Mißbrauch kann in der Art der Darstellung liegen indem z. B. — das hat auch der Herr Abg. Oertel angeführt, — unter Verzerrung des künstlerischen Charakters des Urbildes das Grobsinnliche in den Vordergrund ge⸗ drängt wird. Er kann aber auch in den äußeren Umständen der Zur⸗ schaustellung, in geflissentlicher Zusammenstellung einer Reihe von Nacktdarstellungen und anderem gefunden werden. Das Reichsgericht hat sich nun, wie hier schon angeführt ist, vor einigen Tagen erneut mit dieser Frage beschäftigt. Das Landgericht I Berlin hatte einige Karten lediglich aus dem Grunde für unzüchtig erklärt, weil sie Ab⸗ bildungen von nackten männlichen und weiblichen Körpern darstellten und als Massenmaterial zur Verbreitung im großen Publikum be⸗ stimmt waren. Das Reichsgericht ist dieser Auffassung entgegen⸗ getreten. Ich habe eine Abschrift des Urteils heute erhalten und bin in der Lage, den Herren einige Sätze aus dieser neuesten Entscheidung vorzutragen. Das Reichsgericht führt aus:
„Zum Begriffe des Unzüchtigen gehört notwendigerweise eine Beziehung zum Geschlechtsleben. Eine Schrift oder eine Abbildung ist nach § 184 des Strafgesetzbuchs nur insofern unzüchtig, als sie
Behauptungen begründen können; gewisse „Schatten“ auf den
das im Volke herrschende allgemeine Scham⸗ und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung zu verletzen geeignet ist. stellung des unverhüllten menschlichen Körpers wird aber, wie das Reichsgericht wiederholt ausgesprochen hat, für sich allein in der
Regel nicht geeignet sein, eine solche schamverletzende Wirkung her⸗ vorzurufen. Es müssen besondere, das Geschlechtsleben be⸗ rührende Umstände hinzutreten, um dasjenige, was zunächst nur die natürliche Erscheinung des natürlichen Menschen ist, zu einer unsitt⸗
lichen oder schamlosen Erscheinung umzuwandeln.“ An einer anderen Stelle des Urteils wird ausgeführt:
„Daß Werke der Bildhauerkunst, in denen der nackte Körper des Menschen zur Erscheinung kommt, sich auch den Blicken von Personen zeigen, die das Künstlerische an ihnen nicht zu erkennen und nicht zu würdigen vermögen, deren Auge vielmehr am Geschlechtlichen haften bleibt, wird sich niemals vermeiden lassen. Wäre die Rücksicht auf sie allein maßgebend, dann müßte jede Aufstellung solcher Bildwerke im
Freien und jede Verwendung derselben zum Schmuck der Gärten und Häuser unterbleiben. Das wäre unerträglich. In der Wirklichkeit wird denn auch eine so weitgehende Rücksicht nicht geübt. Bild⸗ werken mit der Darstellung unverhüllter menschlicher Gestalten be⸗ gegnet man in den öffentlichen Anlagen unserer Großstädte häufig, und die Allgemeinheit pflegt keinen Anstoß daran zu nehmen, daß sie auch Unerwachsenen und Ungebildeten zu Gesicht kommen, die in dem Nackten vielleicht nur das schlechthin Gemeine erblicken. Kann aber nicht angenommen werden, daß die öffentliche Aufstellung von Kunst⸗ werken solcher Art den herrschenden Anschauungen über Zucht und Sitte zuwiderläuft, so leuchtet nicht ein, wie das Zurschaustellen von photographischen Abbildungen dieser Werke, vorausgesetze daß sie die künstlerische Bedeutung des Originals noch erkennen lassen, und der Umstand, daß die Bilder zur Massenverbreitung bestimmt sind, ihnen den Stempel des Unzüchtigen soll aufdrücken können.“ Daß diese Gedanken an sich richtig sind, ist hier schon mehr⸗ fach hervorgehoben worden. Sachgemäß angewendet, führen sie zu gesunden Ergebnissen, und ich möchte noch mitteilen: auch die Straf⸗ rechtskommission hat sich zu einer Aenderung der Bestimmungen des zurzeit geltenden Strafgesetzbuches nicht veranlaßt gesehen. Zum Schluß bitte ich mit einigen Worten noch auf die Beschlag⸗ nahme von Postkarten in der Dresdener Galerie übergehen zu dürfen.
Soweit mir bekannt, ist die Unbrauchbarmachung in einem Strafver⸗ fahren ausgesprochen worden, das gegen einen Postkartenhändler an⸗ hängig war, und in dem sich die Unzüchtigkeit aus den Umständen des Vertriebes ergab. Meine Herren, ob in derartigen Fällen in der Tat die Unbrauchbarmachung aller Postkarten — einerlei, wo sie sich be⸗ finden, und wie sie verbreitet werden, ausgesprochen werden muß, oder ob es nicht dem Gesetze mehr entspricht, sich auf die Einziehung der⸗ jenigen Karten zu beschränken, die sich bei dem abgeurteilten Händler befinden, das scheint mir noch weiterer Klärung zu bedürfen, und es wird eine Aufgabe der Rechtsprechung sein, diese Frage erneut der Prüfung zu unterziehen.
Abg. Heine (Soz.): Die gesetzliche Regelung der Verhältnisse der Bureaugehilfen darf nicht bis zum Abschluß der Tarifvertrags⸗ verhandlungen verschoben werden, denn selbst wenn zwischen dem An. waltsverein und den Angestellten ein Tarifvertrag zustande käme, so besteht doch keinerlei Exekutivgewalt, kein Mittel, den Vertrag durch⸗ üsetzen. Was den Schutz der Ehre betrifft, so hat neusich der
bg. Böhme mitgeteilt, 33 nicht weniger als 27 Konservative und Mitglieder des Bundes der Landwirte wegen Beleidigung der führen⸗ den Männer des deutschen Bauernbundes verurteilt worden sind. Mir scheinen Beleidigungsklagen das ungeeignetste Mittel im poli⸗ tischen Kampf zu sein. Ich will gerade nicht sagen, daß der Deutsche lügt, wenn er höflich ist, aber diese schwächliche Angst vor jedem deutlichen deutschen Wort geht wirklich zu weit. Wurde doch der Bergmann Krämer seinerzeit wegen formeller Beleidigung verurteilt, weil er den Ausdruck „der hochmögende Herr Bergrat“ gebraucht hatte, und im bekannten Cölner Prozeß erfolgte Verurteilung wegen des Wortes „Backschisch'. Dabei haben sowohl die Strafkammer in Trier wie das Landgericht Cöln materiell geradezu ausgezeichnet entschieden, und doch kamen sie nicht über diesen einen Punkt hin⸗ weg. Wenn diese beiden ausgezeichneten Gerichtshöfe verurteilen zu müssen glauben, wie geht es dann erst bei anderen nicht so aus⸗ gezeichnet zusammengesetzten und geleiteten zu! Gerade das Reichs⸗ gericht ist es, welches den Begriff der Beleidigung so maßlos au gedehnt hat, in jedem Scherzwort schon eine Beleidigung sieht. Anderseits besteht ein Interesse daran, daß jemand, dem etwa Ehrenrühriges nachgesagt worden ist, die Beweisaufnahme zur Klar stellung erzwingen kann; das wäre möglich, ohne neue Fesseln für da freie Wort zu schaffen. Ganz verfehlt aber ist es, den größeren Schu der Ehre durch Erhöhung der Strafe und Beschränkung der Beweis aufnahme herheiführen zu wollen. Das Palladium des Angeklagt das Recht auf die Beweisaufnahme, soll man nicht preisgeben, aue nicht für die Wiedereinführung der Berufung. Mit dem Wor „Klassenjustiz“ sagen wir den Richtern nicht die bewußte Absicht de Rechtsbeugung nach; aber in Prozessen über Mißhandlungen auf Polizeiwaͤchen, über Uebergriffe von Schutzleuten usw. zeigt es sich immer wieder, daß viele Richter sich von den ihnen anerzogenen An⸗ schauungen nicht loszumachen vermögen. Mit dem Begriff des „dolus eventualis“ wird hierbei gegen uns der ärgste Mißbrauch getrieben. „Klassenjustiz“ heißt auch nicht, daß der Arme verurteilt, der Reiche
freigesprochen wird, so liegt die Sache nicht; es fehlt den Richtern 8
für das Aufwärtsstreben des Arbeiterstandes vielfach das Verständ nis; der Richter glaubt, im wesentlichen vom Standpunkte des Auto⸗ ritätsschützers vorgehen zu müssen, er faßt es nicht, daß der Arbeiter Rechte für sich in Anspurch nimmt. Wir stecken eben noch viel zu sehr im Absolutistischen, im Polizeistaat. — herrlichungen der Streikbrecher in manchen Richtersprüchen.
zwei Jahren. Dabei sprechen die Richter es aus, es werde ja jetzt
schon im Reichstage verlangt, die Streikbrecher mehr zu schützen, 8
also müßten die Gerichte auf höhere Strafen erkennen. Das ist keine Gerechtigkeit mehr. t. Norddeutschland, kommt eine große Fülle politischer Parteilichkeit vor; das ist auch kein Wunder, da die Staatsanwaltschaft politisch abhängig ist von der Regierung. So weit sind wir eben noch nicht,
daß ein Sozialdemokrat seine Ehre vertrauensvoll in die Hände des
Staatsanwalts legen kann. Die politischen Prozesse sind der Tod der Gerechtigkeit; wenn sie verschwinden, wird es auch mit der Klassen⸗ justiz rasch ein Ende haben. Was die unzüchtigen Reproduktionen von Kunstwerken betrifft, so ist auch hier das Reichsgericht schuld. Zum Begriff des Unzüchtigen gehört die Absicht der Erregung der Sinnenlust, 8 hat es auch früher das Reichsgericht angesehen; von da ist die Vorstellung entstanden, daß jede Darstellung eines nackten
weiblichen Körpers hcögtih sein könne oder sei. Hier hat die ganze ih
verrohte Auffassung ihren Ausgang genommen, die sich auch in der Juͤdikatur geltend gemacht hat, der jetzt auch die Reproduktionen unterworfen worden sind. Ich habe auf den Tisch des Hauses Re⸗ produktionen von een niedergelegt, welche die „Photogra⸗ phische Gesellschaft“ geliefert hat, und die ebenfalls, obwohl sie ganz ausgezeichnete Arbeiten sind, als unzüchti v” lagnahmt sind. Nur mit perversen Gedankengängen hat hier bie hcagtedel sönst. ie⸗
oto⸗ oraphien sollen unzüchtige Wirkungen erzeugen! Auf diesen Blödsinn ist das Reichsgericht nicht eingegangen; aber solche Staatsanwälte
Die Dar⸗
ur Aenderung der Bestimmungen über die Geschäftsverteilung bei
astaände gebracht, und es scheint mir hohe Zeit zu
eidurchaus rechtswidriger Weise Gebrauch gemacht worden; man hat
lwir uns hier in solchen Ausdrücken bewegen, daß ich mich nicht genötigt ehe, gegenüber solchen Ausdrücken nochmals Stellung zu nehmen.
Megelung, die die gegenwärtig vorhandenen großen Unzuträglichkeiten
So erklären sich die Ver⸗ In den letzten Monaten erleben wir fortgesetzt, daß bei Verurteilungen wegen Streikdeliktes die Strafen dreimal so hoch ausfallen, als noch vor
In der Staatsanwaltschaft, und nicht nur in 8
8 auf die Kunst losgelassen! Nicht ganz schuldlos sind die stler und die Kunstverleger selbst gewesen, weil sie nicht recht⸗ wfür die Abwehr sorgten. In der 12. Strafkammer in Berlin sich geradezu eine „Sternkammer“ gegen die Kunst etabliert. traurigen Erfahrungen mit solchen Sonderkammern haben ja
Gerichten geführt; hier liegt also ein Rückfall in den alten stand vor. Auch das sogenannte objektive Verfahren gegen 8, hotographien wird mißbräuchlich gehandhabt; die Staatsanwaltschaft lagt diesen Weg ein, wenn es sich um angesehene Künstler oder erleger handelt, die die Richter doch wohl nicht als Pornographen zurteilen würden. Damit werden wir beinahe auf österreichische
zu sein, daß hier vatsächtigh ist auch schon auf politischem Gebiete 9
lgeschritten wird. s or volit G resse von diesem objektiven Verfahren
en die sozialdemokratische
diesem Wege u. a. die Verurteilung von Flugblattverbreitern egen Hochverrats erzielt. Die bestehenden Vorschriften und Ge⸗ reichen vollständig aus. Dieselben Leute, die über die un⸗ n Postkarten zetern, erhalten anderseits die Jugend in einem eulichen Stumpfsinn. Knaben, die durch unsere Schule gegangen die in unseren Turnvereinen ihren Körper ehren und achten int haben, werden sich durch solche Dinge nicht verführen lassen. 6 Ganze ist eine Frage der Bildung und der Kultur. Dieser olizei, dieser Staatsanwaltschaft neue diskretionäre Befugnisse zu iben, davon kann aber unter keinen Umständen die Rede sein.
Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco:
Nach meinen Notizen hat der Abgeordnete Heine hier einige Aus⸗ rücke gebraucht, die ich nicht ohne weiteres durchgehen lassen kann. go viel ich gehört habe, hat er gesprochen von einer verrückten Recht⸗ prechung des Reichsgerichts, er hat gesprochen von perversen Ge⸗ unkengängen der Staatsanwaltschaft, er hat davon gesprochen, daß a6 Reichsgericht diesen Blödsinn hoffentlich nicht mitmachen wird, 96 Landgericht sei bei seinen Ausführungen entweder kindlich, wenn znicht bösartig sei. Meine Herren, ich muß diese Ausdrücke ent⸗ lieden zurückweisen (Bravo! rechts.) und ich möchte doch bitten, daß
Bravol rechts.)
Abg. Dr. Gerlach (Zentr.): In einer Versammlung von Irren⸗ hat man sich mit einer reichsgesetzlichen Regelung des Irren⸗ einverstanden erklärt. Von verschiedenen Seiten sind Bedenken rrüber laut geworden, daß gesunde Personen in einer Irrenanstalt nterniert werden können. Das ist aber bei der strengen Regelung der Aufnahmebestimmungen so gut wie ausgeschlossen. Die Direktoren der taatlichen und anderer Anstalten haben ganz genaue Vorschriften. Bei Privatanstalten darf ein Kranker nur aufgenommen werden, wenn in Zeugnis eines Medizinalbeamten, eines Kreisarztes oder eines Direktors einer staatlichen Anstalt vorliegt. Nach Aufnahme in die Unstalt werden zuerst die betreffenden Papiere genau untersucht und ich bei den Kranken festgestellt, ob die in den Papieren mitgeteilten visachen wirklich stimmen. Wo es wünschenswert erscheint, wird sort ein Vormund oder Pfleger bestimmt, in welchem Falle dann bei traigen Reklamationen die betreffenden Papiere den Behörden zur Verfügung gestellt werden. In einem Falle beschwerte si ein u scer direkt, daß ein Mann, dem jeder schon die Krankheit ansieht, sict Aufnahme findet. Wenn es schon bei einem Kranken schwer ist, unn ersieht man, wie schwer es sein muß, einen Gesunden in eine nstalt zu bringen. Auch für die Entlassung liegen ganz bestimmte sorschriften vor. Es läßt sich nicht leugnen, daß hier einmal Be⸗ inken für die Sicherheit der Allgemeinheit entstehen können. Aber bier dann einzuschreiten und den Betreffenden in seiner persönlichen swiheit beschränken zu können, das ist Sache der Gerichte und der be⸗ reffenden Instanzen. Eine Internierung nach Freisprechung geistes⸗ vnker Verbrecher kann nur durch gerichtlichen Beschluß erfolgen. Der hedner erörtert dann noch ausführlich den Fall Wagner, der auch be⸗ beise, daß Fehlgriffe durch kein Gesetz verhindert werden können. Es eiein Zeichen der Zeit, daß die Massenmorde zunehmen und daß auch bHviel Jugendliche den Weg des Verbrechens betreten. Ohne eine ichtige ethische Erziehung und vor allem ohne eine religiöse Erziehung ürde es nicht möglich sein, unsere Jugend vom Verbrechen zurück⸗ uhalten. Die Vorurteile gegen die Irrenärzte haben sich in den letzten zahren vermindert; die Psychiater werden sich trotz aller Anfeindungen icht davon abbringen lassen, den Kranken zu helfen und gleichmäßig ie Interessen der Kranken wie der Jugendpflege wahrzunehmen.
Abg. Dove ffortschr. Volksp.): Der Vorredner hat seinen Fraktionsgenossen Belzer widerlegt, nur schade, daß er dies nicht schon in der Fraktion getan hat. Wenn Irrtümer bei den Psychiatern orkommen, so ist das menschlich, es wäre aber ein Fehler, die Wissen⸗ chaft nicht zu Rate zu ziehen. Man wird dafür sorgen müssen, daß ie Gerichte imstande sind, gestützt auf psychiatrische Urteile, zu ent⸗ scheiden, ob der Kranke noch weiter in der Anstalt zu bleiben hat oder nicht. Die Resolutionen Bassermann⸗Schiffer verfolgen zwei sich widersprechende Ziele. Die eine wendet sich an die kontemplative Natur es Reichskanzlers. Ich fürchte, daß sich die Zahl der schlaflosen lächte des Reichskanzlers erheblich vermehren wird. Manche der Wünsche mögen ja berechtigt sein, aber bei solcher Fülle von Stoff ann es dahin kommen, daß wir schließlich gegen das Ganze stimmen nissen. Was die Vereinheitlichung des Verfahrens und die gemischten Gerichtshöfe betrifft, so glaube ich, daß nur ein geringer Teil der Sachen zu einer solchen Verhandlung geeignet ist, wie es die Re⸗ olution vorsieht. Der neuzuschaffende Gerichtshof würde wieder nur klin neues Verfahren und einen neuen Instanzenzug nach sich ziehen. Das Verdienst der beiden Resolutionen ist, daß sie eine Reihe wich⸗ tiger Fragen direkt auf die Tagesordnung der gesetzgebenden Faktoren estellt haben. Die Frage der Gültigkeit oder Ungültigkeit der mit un⸗ erkannt Irren abgeschlossenen Rechtsgeschäfte bedarf durchaus einer
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beseitigt. Eine solche Regelung ist, wie zahlreiche Eingaben der inter⸗ sierten Kreise beweisen, dringend notwendig, und die verbündeten Regierungen, die doch bei der Frage der Haftung des Tierhalters so hnell bei der Hand waren, sollten auch diese Frage nochmals in gründ⸗ iche Erwägung ziehen, auch wenn die Unzuträglichkeiten hauptsächlich nur in Berlin hervorgetreten sind. Der Schutz der Inhaber von Schuldperschreibungen der Kreditorganisationen muß bei dem in Aus⸗ sich gestellten Gesetzentwurf, betreffend den GeöG außer⸗ halb des Konkurses, auch wirksamer gestaltet werden, als es zurzeit Pall ist. Zu dem Thema der Klassenjustiz möchte ich meiner Freude Ausdruck geben, daß wir jett durch die Diskussion zu einer gewissen Klärung gekommen sind. Der Vorwurf der bewußten Klasteniutis wrird nicht mehr erhoben. Wir wollen alle die Mißstände beseitigen, die in der Judikatur auftreten; aber wir wollen auch nicht das Ziel aus dem Auge verlieren, daß das Vertrauen in unsere Rechts⸗ pflege nicht erschüttert werden darf, und wollen doch auch anerkennen, daß unsere Rechtspflege im großen und ganzen eine gute ist. Abg. Sachse (Soz.): Der Abg. Mertin hat gestern einen Fall rwähnt, daß der Staatsanwalt in Waldenburg gegen einen dortigen Redakteur Anklage erhoben hat, weil er behauptet hat, in meinem Beisein seien Unterschriften unter einem o gefälscht wvorden. Ich wurde verschiedentlich deshalb in der Presse aufgefordert, mein Mandat niederzulegen. Ich habe Strafantrag Festellt einmal um die Sache Fiarzustellen, dann um die Unparteilichkeit des Staats⸗ unwalts zu prüfen, der in anderen Fällen gegen sozialdemokratische Redakteure sofort öffentliche Anklage erhoben In dem kommen⸗ den Prozeß wird es sich herausstellen, daß die gegen mich erhobenen Beschuldigungen jeder Grundlage entbehren. (Abg. Mertin: Das lhat doch mit meinen Ausführungen nichts zu tun!)
Damit schließt die allgemeine Diskussion.
Die Frage der Witwe Hamm in Flandersbach soll be⸗ onders behandelt werden.
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Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco: Meine Herren! Bevor Sie in die Verhandlung über die Straf⸗ sache gegen die Witwe Hamm eintreten, bitte ich Sie, mir für wenige Worte Gehör zu schenken. Bereits am 12. Dezember v. J. haben 4 Mitglieder dieses hohen Hauses mir mitgeteilt, daß sie bei der Be⸗ ratung des Justizetats den Fall der Witwe Hamm in Flandersbach, die im Jahre 1908 zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, zum Gegenstand ausführlicher Besprechung machen würden, und zwar be⸗ sonders unter dem Gesichtspunkte der Gutachten des Polizeirats Braun, der Kommissare Kutzki und Metelmann und des Nahrungsmittelunter⸗ suchungsamts des Königlichen Polizeipräsidiums in Berlin. So dank⸗ bar ich natürlich für jede vorherige Ankündigung einer derartigen Er⸗ örterung bin, möchte ich Sie doch bitten, diese Erörterung auf das möglichste zu beschränken. Die Akten in dieser Strafsache haben mir bisher niemals vorgelegen. Sie werden andauernd gebraucht, und ich kann Ihnen nur auf Grund von Mitteilungen, die mir ein Herr aus dem preußischen Justizministerium gemacht hat, folgendes sagen: Die Witwe Hamm ist im Jahre 1908 wegen Beihilfe bei der Ermordung ihres Ehemannes zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und ver⸗ büßt zurzeit diese Strafe. Nachdem die Verurteilung ausgesprochen, sind mehrere Voruntersuchungen eingeleitet worden, um den mutmaß⸗ lichen Täter zu ermitteln. Diese Voruntersuchungen haben aber ein⸗ gestellt werden müssen, weil der Täter nicht zu ermitteln war. Es hat dann vor mehreren Jahren ein Wiederaufnahmeverfahren geschwebt. Das Wiederaufnahmegesuch ist aber abgelehnt und die Beschwerde von dem Oberlandesgericht Düsseldorf zurückgewiesen worden. Neuerdings sind wieder zwei Voruntersuchungen eingeleitet worden, um den Täter zu ermitteln, und gleichzeitig schwebt seit Ende Januar d. J. wieder ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten der Witwe Hamm. Der Fall ist neuerlich im preußischen Abgeordnetenhause ausführlich verhandelt worden; eine nochmalige Erörterung würde sich angesichts des schweben⸗ den Wiederaufnahmeverfahrens und im Hinblick auf die schwebenden Voruntersuchungen als eine Besprechung eines schwebenden Rechtsver⸗ fahrens darstellen. Von diesem Gesichtspunkte aus wie besonders mit Rücksicht darauf, daß die Herren in eine eingehende Würdigung der erhobenen Beweise eintreten wollen, unterliegt jede Erörterung des Falles in diesem hohen Hause erheblichen Bedenken. Ich meinerseits muß mich bei dieser Sachlage von jeder weiteren Erörterung dieser Angelegenheit zurückhalten und kann an derselben nicht teilnehmen. Ich glaube den Herren die dringende Bitte ans Herz legen zu sollen, ihrerseits entweder die ganze Erörterung zu unterlassen oder sich wenigstens die größte Zurückhaltung aufzuerlegen.
Hierauf wird Vertagung beschlossen. Persönlich bemerkt der “ 1. Abg. Dr. Junck (nl.): Der Abg. Dr. Oertel hat gesagt, wäre auch bei manchem Mitglied dieses Hauses ein kleiner patholo⸗ gischer Zug zu entdecken. Er sagte dann weiter; beim Abg. Dr. Junck nicht und bei mir auch nicht. Vom Standpunkte des guten Geschmacks hat der Abg. Oertel keine Veranlassung zu seiner Aeußerung. Ich möchte den Abg. Oertel doch bitten, wenn er wieder glaubt versteckte Witze und Anspielungen machen zu müssen, es auf seine eigenen Kosten zu tun und meine Person aus dem Spiele zu lassen. Ich muß mir jedenfalls sein Vorgehen mit aller Entschiedenheit verbitten. Abg. Dr. Oertel (dkons.): Ich möchte dem Abg. Junck in aller Ruhe sagen, daß meine Nebenbemerkung durchaus nicht böse
gemeint war. 8 “ 8 Abg. Dr. Junck (nl.): Es wäre ja noch schöner gewesen, wenn
der Abg. Oertel seine Bemerkung böse gemeint hätte. Ich wiederhole, sie entsprach nicht dem guten Geschmack.
Schluß 634 Uhr. Nächste Sitzung Donn erstag 1 Uhr pünktlich. (Fortsetzung der Beratung des Justizetats; Marineetat.)
Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 8 30. Sitzung vom 18. Februar 1914, Vormittags 11 Uhr (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)
Meber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.
Das Haus setzt die zweite Beratung des Etats des Ministeriums des Innern, und zwar zunächst die Ver⸗ handlungen im Anschluß an das Ausgabekapitel „Landrät⸗ liche Behörden und Aemter“, fort.
Hierzu liegt der Antrag der Abgg. Dr. von Campe und Genossen (nl.) vor, die Staatsregierung zu ersuchen, in erhöhtem Maße und schleuniger als bisher eine Verstaat⸗ lichung der Bureaus der Landratsämter vorzunehmen.
Ferner wird von den Abgg. Graf von der Groeben und Genossen (kons.) beantragt, die Staatsregierung wolle möglichst bald durch Vorlegung eines Gesetzes der Frage der Regelung der Stadtrezesse der neuvorpommerschen Städte nähertreten.
Auf Bemerkungen widert der
Minister des Innern Dr. von Dallwitz:
Meine Herren! Der Herr Abg. Richtarski hat sich darüber be⸗ schwert, daß im Jahre 1899 ein evangelischer Landrat im Kreise Leobschütz ernannt worden ist, während der Kreis, wie der Herr Ab⸗ geordnete angibt, lieber einen katholischen Landrat haben wollte. (Heiterkeit.) Ganz genau ist mir die Sache nicht erinnerlich; ich war damals nicht Minister, und es ist schon 14 Jahre her. Aber, wie mir gesagt worden ist, ist als feststehend anzunehmen, daß der Kreis⸗ tag als solcher überhaupt das Vorschlagsrecht nicht ausgeübt und sich nicht gegen die Ernennung des jetzigen Landrats ausgesprochen hat. (Hört, hört! rechts und bei den Nationalliberalen.)
Die zweite Beschwerde, die der Herr Abg. Richtarski vorgebracht
des Abg. Richtarsky (Zentr.) er⸗
Amtsvorsteher die Zentrumspartei aus der Kommunalverwaltung aus⸗ zuscheiden. Das ist eine so allgemeine Behauptung, daß Sie mir darin Recht geben werden, daß damit nicht viel anzufangen ist. (Sehr richtig! rechts.) Im übrigen bin ich aber der Ansickt, daß konfessionelle Momente mit der Kreiskommunalverwaltung überhaupt nichts zu tun haben (sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen), und daß lediglich die Zugehörigkeit zur Zentrumspartei jedenfalls einen besonderen Titel nicht bildet, um an der Kommunalverwaltung teilzunehmen. (Sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen.)
Drittens aber hat Herr Abg. Richtarski einen Fall vorgebracht, der im Jahre 1912, also vor zwei Jahren, im Ministerium entschieden sein soll. Dunkel ist mir der Fall auch erinnerlich. Der Herr Ab⸗
hat, bestand darin, daß angeblich die Tendenz bestehe, mit Hilfe der
werden sollte. Es handelte sich um einen Gemeindevorsteher, der an⸗ geblich irgendwelche Bevorzugungen oder Unregelmäßigkeiten vorge⸗ nommen haben sollte. Das Beweisergebnis hatte dies nicht in dem Maße bestätigt, wie behauptet worden war; darum batte gegen den Gemeindevorsteher nicht eingeschritten werden können. Der Landrat hatte es demgemäß abgelehnt, der Regierungs⸗ präsident hatte nach eingehen der Prüfung der Sachlage den Bescheid des Landrats aufrecht erhalten, und dasselbe ist seinerzeit im Mi⸗ nisterium des Innern geschehen. Ich kann nicht zugeben, daß irgend etwas Unzutreffendes und Unrichtiges weder von den höheren Instanzen noch von dem Landrat begangen worden wäre. Wenn nun der Herr Abg. Richtarski daraus die Schlußfolgerung gezogen hat, daß der Landrat nicht die richtige Auffassung von seinen Amtspflichten habe, so ist das meines Dafürhaltens eine willkürliche Behauptung, der entgegenzutreten ich mich für verpflichtet halte. (Bravo! brechts und bei den Nationalliberalen.)
Abg. von Bockelberg (kons.): Meine Freunde haben gegen den Antrag von Campe erhebliche Bedenken, da er zu einer Ver⸗ mehrung der staatlichen Beamten führen würde. Es erscheint uns auch fraglich, ob durch eine Verstaatlichung der Landratsbureaus eine Verbesserung der Arbeitsleistungen erzielt wird. Von dem jetzigen System wollen wir zurzeit nicht abweichen, da es sich durchaus be⸗ währt hat und auf diesem Wege eine bessere Ausbilrung der Hilfs⸗ arbeiter möglich ist. Allerdings halten es meine Freunde nicht für angebracht, daß die Steuerveranlagung von Privatangestellten durch⸗ geführt wird. Sie wünschen hier, daß in den landrätlichen Steuer⸗ bureaus staalliche Beamte angestellt werden. Junge Leute, die durch ihre Tätigkeit den Nag weis ihrer Befähigung erbracht haben, sollten dann zu Steuerassinenten ernannt werden. Mit der Ueberweisung des Antrages an die Budgetkommission sind wir einverstanden. Abg. Dr. von Woyna (freikons.): Die von dem Abg. Richtarsky vorgebrachten Paritätsbeschwerden sind ja sehr alt. Schon im alten Abgeordnetenhause haben wir uns mit dem Abg. Bachem sehr eingehend über die Frage der Berücksichtigung der Angehörigen des Zentrums bei der Besetzung der Verwaltungsstellen unterhalten. Es handelt sich hierbei um lokale Beschwerden, und diese Beschwerden sind nicht geeignet, an dem System, das in Preußen besteht, irgendetwas Zu ändern. Die Nationalliberalen haben in den letzten Jahren sich bemüht, Mißstände auf dem Gebiet der inneren Verwaltung abzustellen. Dahin gehört auch der Antrag Schiffer wegen der Polizei⸗ verordnungen. Ich habe schon vor 15 Jahren gesagt, daß wir in Preußen in Polizeiverordnungen ersticken. Die Tendenz dieses An⸗ trages ist also richtig. Nur ist das Ziel auf dem von ihm vor⸗ geschlagenen Wege nicht zu erreichen. Aehnlich verhält es sich mit dem Antrag von Campe, der uns heute vorliegt. Durch die Beschäftigung junger Leute aus allen möglichen bürgerlichen Berufen nach Absolvierung der Volksschule in den Landrats⸗ ämtern ist es möglich, diese Jungen in Lebensstellungen zu lancieren, die sie sonst nicht erreichen würden. Ich kenne selbst eine große Anzahl solcher Jungen, die unter mir ausgebildet sind, und die mir dafür dankbar sind. Es wäre nicht an⸗ gebracht, diese Verhältnisse zu verändern. Auch finanzielle Be⸗ denken sprechen gegen den Antrag von Campe. Wir würden einen Mehaufwand von etwa 10 Millionen Mark brauchen. Ich kann nicht zugeben, daß die Geschäfte bei einer Verstaat⸗ lichung besser fahren würden. Es kommt doch einmal vor, daß ein Angestellter sich nicht eignet, dann muß das Vertragsverhältnis sofort gelöst werden können. Ist er aber fest angestellt, so muß man ihn dauernd behalten. In der letzten Zeit sind die Landratsämter be⸗ sonders überlastet gewesen durch die mit der Einziehung des Wehr⸗ beittags verbundene Arbeit. Die Ausführungsbestimmungen sind so spät gekommen, daß alles sich im letzten Augenblick zusammendrängte. Ich hoffe, daß künftig bei solchen besonderen Anlässen die Ausführungs⸗ bestimmungen früher erlassen werden.
Minister des Innern Dr. von Dallwitz:
Zu der Beschwerde, die der Herr Abg. Richtarsky gegen die Er⸗ nennung des Landrates im Kreise Leobschütz vorgetragen hat, kann ich noch nachtragen, daß, wie ich festgestellt habe, der Landrat des Kreises Leobschütz im Jahre 1899 ernannt worden ist, nachdem der Kreistag einstimmig zu seinen Gunsten auf die Ausübung seines Vorschlagsrechts verzichtet hatte. (Hört, hört! rechts.)
Soweit der Herr Abg. von Bockelberg die Frage der Anstellung staͤatlicher Beamten bei den Steuerbureaus berührt hat, kann ich, wie er selbst ausgeführt hat, darauf nicht eingehen, weil diese Sache nicht zu meinem Ressort gehört.
Ich habe nur das Wort genommen, um ganz kurz Stellung zu dem Antrag von Campe zu nehmen. Wenn der Antrag des Herrn Dr. von Campe lediglich den Zweck hätte, anzuregen, daß nach einiger Zeit doch wieder in stärkerem Maße staatliche Assistenten in den Landratsämtern angestellt würden, so würde ich dagegen nichts ein⸗ zuwenden haben; denn die Absicht, eine größere Anzahl staatlicher Assistenten in den Landratsämtern anzustellen, ist keineswegs auf⸗ gegeben, sondern nur die Ausführung einstweilen mit Rücksicht auf besondere Verhältnisse, wie ich demnächst ausführen werde, verlangsamt worden.
Dagegen muß ich mich gegen den Antrag in der Form und in dem Wortlaut, den er jetzt angenommen hat, wenden, weil ich aus dem Wortlaut entnehmen zu müssen glaube, daß Herr v. Campe eine völlige Verstaatlichung der Landratsbureaus in Aussicht ge⸗ nommen hat. Das würde nach meinem Dafürhalten weder den staatlichen Interessen noch den Interessen der Landräte noch auch den Interessen der jetzigen Privatgehilfen der Landräte entsprechen. Das staatliche Interesse ist von den beiden Herren Vorrednern dem Herrn Abg. von Woyna und dem Herrn Abg. von Bockel⸗ berg, genügend dargelegt worden. Es würde finanziell recht bedenkliche Konsequenzen haben. Im übrigen kann es auch nicht erwünscht sein, ohne Not den staatlichen Beamtenkörper in erheblichem Maße zu vermehren, wie es der Fall sein würde, wenn dem Antrag v. Campe stattgegeben werden sollte.
Ein anderer Gesichtspunkt, der gegen eine völlige Ver staatlichung der landrätlichen Bureaus spricht, ist der, daß gerade die Arbeit in den landrätlichen Bureaus in ihrem Umfange nach den Jahreszeiten außerordentlich schwankt; es gibt Zeiten, in denen außerordentlich viel zu tun ist, und andere Zeiten, in denen verhältnismäßig weniger zu tun ist. Bei keiner anderen Behörde findet ein derartiges Schwanken der Tätigkeit statt wie gerade bei den Landratsämtern. Nun bietet die jetzige Regelung den Landräten die Möglichkeit, zeitweilig Hilfskräfte einzustellen, die nach einiger Zeit wieder entlassen werden können, wenn der Umfang der Arbeit geringer geworden ist. Das würde, wenn die Bureaus verstaatlicht würden, nicht der Fall sein können. Es ist aus⸗ geschlossen, die Zahl der Anzustellenden nach Maßgabe der vorüber⸗ gehenden Arbeit zu bemessen, sondern es würde ein gewisses Durch⸗ schnittsmaß von Arbeitskräften angestellt werden müssen, das aber in Zeiten großer Arbeitslast nicht ausreichend sein
Hierzu ergreift das Wort der
würde. Schon aus diesem Grunde ist es meines Dafürhaltens