lionen aus den Steuergroschen bezahlen zu lassen, zu denen ar uden und Heiden beitragen. Wir bekämpfen aber nicht bloß diese s Iiden Kircheneinrichtungen, sondern vor allem den Mißbrauch der Religion zu politischen Zwecken der Unterdrückung, und da hat gerade die Mili⸗ tärgeistlichkeit während des Krieges Ungeheures geleistet. In einem vog einem Divisionspfarrer verfaßten für Krieger findet sich der Satz: „Wenn das Bajonett in der Brust des Feindes knirscht, auch das ist Gottesdienst!“ ir Schreiber hat si gefälliger Pharisäer hingestellt. (Präsident Löbe ruft den Redner zum zweiten Male zur Ordnung.) Haase hat sich gar nicht wegen Ihrer christlichen Liebe nach dem Hedwigskrankenhause bringen lassen, sondern weil er so großes Vertrauen zu dem Dr. Rotter hafte. Der Hosprediger Adolf Stöcker war es, der anfangs der achtziger Jahre in Berlin den Haß predigte und die Judeahetze inszenierte. Im Ok⸗ lober 1915 erklärte Ludendorff in Kowno Walter Rathenau, der Krieg im Westen sei nie mehr zu gewianen. Dann aber war es ein furcht⸗ bares Verbrechen, den Krieg bis 1918 weiter zu treiben. Die Front ist nicht von hinten erdolcht worden. Schuld an dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches sind diese wahnsinnigen Verbrecher, die das Volk in den Krieg getrieben haben. Wir werden nicht müde werden, dem Kapitalismus und dem Imperialismus, die sich für ihre politischen Zwecke auch des Mißbrauchs der Religion bedienen und dafür be⸗ zahlen, die Maske vom Gesicht zu reißen.
Abg. Frau Zis b (u. Soz.): Den Militarismus, der uns in der ganzen Welt verhaßt gemacht hat, hassen wir aus Herzensgrund. Als Sklavenseelen haben wir uns diesen Militarismus gefallen lassen müssen. Die saüekistischen Frauen verachten und hassen den Militarismus um so mehr, als er in den juggen Soldatea alles Eigene vernichtet hat. Bekanntlich war es Kaiser Wilhelm II., der das Wort vom Schießen auf die eigenen Gltern sprach. In der deutschen Republih ist dieses Wort wahr geworden, die heutige Reichswehr hat es wahr gemacht. (Zuruf rechts: Die Rote Armee schießt wohl in die Luft?) In Rußland steht das Volk in Waffen. (Lachen rechts.) Wie win uns gegen den alten Militarismus gewehrt haben, wehren sich die sozia⸗ listischen Frauen auch gegen den neudeutschen Militarismus. (Lachen.)
Abg. D. Everling (D. V.): Zu dem Thema Kirche und Heer bat Ahgeordneter Adolf Hoffmang die stärksten Töne gesprochen. Neues hat er allerdings 8b gelernt. Suru des Abgeordneten Adolf Hoffmann: Sie haben das Alte noch nicht einmal begriffen!) Ganz all⸗ gemein hat er gesagt, daß die Pfarrer ihr Amt mißbraucht hätten, um den Kapitalismus zu verteidigen. Die größten Geister der Wissenschaft und Kunst haben sich für das Christentum eingesetzt und begeistert. Das 8-8 Heer 8 eine der großartigsten Organisationen, seige päda⸗
hier als ein wohl⸗
vogische Wirkung ist von ungeheurer Bedeutung. Ich verstehe den ZBauer, der mir neulich sagte: Was wird aus⸗unseren Jungen, wenn sie nicht mehr dienen, das war doch die schönste Zeit! Ich verstehe den Mann, denn ein wehrhaftes Geschlecht haben wir nötig. Wir siad Sklaven, weil wir unser Schwert zerbrochen haben. Ihr Streben (zu den Unabhängigen Sozialdemokraten) geht dahin, uns noch mehr zu vernichten. Das Lied vom deutschen Soldaten und vom deutschem Wehrmann wird in einigen Jahrzehnten von neuem erklingen. (Leb⸗ hafter Beifall.) Mit nicht fanatischen, wohl unterrichteten Männern und Frauen könnte man sich sehr wohl über das große Problem „Krieg und Gbrhstettum unterhalten. Es würde sich dabei zeigen, daß der Krieg zu den notwendigen Uebeln gehört. 8 werden auch die Un⸗ abhängigen anerkennen, denn ühre Freude über den Krieg jenseits der Grenzen ist zu offenbar. Bei uns handelte es sich um einen Akt der Notwehr, der einzelne kann sich verleugnen, ein Volk aber hat die Pflicht, sich zu behaupten, in dieser Notwehr darf und soll man kämpfen, und wenn gesagt wird voller Abscheu, die Militärgeistlichkeit habe die Waffen gesegnet, so kenne ich kein er⸗ greifenderes Bild als das, auf dem Schleiermacher die ausziehenden Frerwilligen segnet, die eine sittliche Opfertat auf sich nahmen. (Zu⸗ rufe bei den U. Soz.: Imperialismus, Kapitalismus!) Lassen Sie doch diesen Unsinn. Ein gut dressierter Papagei kömnte diese Zwischen⸗ rufe vielleicht noch besser machen. Niemanden hat bei Ausbruch des Krieges mehr das Herz geblutet, als den wirklichen Christen. (Zwischen⸗ rufe.) Wenn Sie rufen, die Millitärgeistlichen hätten doppelte Ge⸗ hälten bekommen und seien deshalb hinausgezogen, so verüble ich Ihnen diesen Zwischenruf nicht, denn Sie verstehen es nicht anders, andere Motive liegen Ihnen fern. (Sehr gut! rechts.) Wenn Herr Hoff⸗ mann meint, zu Anfang des Krieges hätte man gegen den Krieg predigen müssen, so vergißt er, wie vor sechs Jahren in den ersten Augusttagen die Stimmung im deutschen Volke war. Die soziglistischen Führer, die gewagt hätten, sich dem entgegenzusetzen, wären fortgefegt worden. (Lebhafter Beifall.) Wären wir ein einig Volk geblieben, dann stände es heute anders um uns. Ich habe die ganzen Kautzki⸗ Akten gelesen (Zuruf: Aber nicht begriffen!), trotzdem bin ich der Ueber⸗ zeugung, daß das deutsche Volk in den Krieg hineingetrieben ist durch die Rachsucht der Franzosen, der Russen und durch den wirtschaftlichen Neid Englands. (Großer Lärm. Rufe: Militarismus!) Die Ursache des Krieges (iegt nicht bei Deutschland, die Veranlassung vielleicht bei uns, da wir nicht geschickt genug waren, den den Tatsachen ent⸗ sprechenden Eindruck in der Welt aufrechtzuerhalten, daß wir diejenigen waren, die in den Krieg hineingezwungen wurden. Wenn wir längst nicht mehr da sein e Hen wird man immer noch singen und reden von dem, was Hindenburg getan hat. (e Lärm links, erregte Zwischenrufe des Abg. Ledebour.) Welches Elend der Krieg gebracht hat, ist mir durchaus bekannt. Nichtsdestoweniger bin ich als deutscher Mann berechtigt und verpflichtet, dieser nichtsnutzigen Kritik entgegen⸗ zutreten. (Lebhafter Beifall bei den Rechtsparteien. Pfuirufe und andauernder Lärm bei den U. Soz.)
Abg. D. Mumm (D. Nat.): Heute vor sechs Jahren war es, daß in diesem Saale in einmütiger Stimmung (Zuruf links: Nein!) die Bewilligung der Kriegskredite ausgesprochen wurde, und zwar auch vom Abg. Haase als Führer seiner Fraktion. Auch unter Ihnen (nach links) waltete damals der Geist, dem ein August Bebel einst Aus⸗ druck gegeben hat, daß unter 1ee Voraussetzungen auch er das Gewehr auf seine Schulter nehmen würde. Wie tief sind wir seit diesen sechs Jahren gesunken! Die Unabhängigen arbeiten draußen im Lustgarten und zugleich hier im Saale an der Zermürbung der Volksseele. Adolf Hoffmann hat nie anders als zerstörend gewirkt, jetzt kämpft er mit seiner Fraktion gegen die Millitärgeistlichkeit an. Vor allem sollte doch Adolf Hoffmann sich scheuen, von falscher Doppel⸗ bezahlung zu reden, der als ehemaliger preußischer Kultusminister ge⸗ wußt hat, seinen Vorteil zu wahren. Dieser Mann, der zu Preußens unauslöschlicher kultureller Schmach als Kultusminister fungiert hat. (Vizepräsident Dr. Bell bittet dringend, derartige Wendungen einem Abgeordneten gegenüber zu unterlassen.) In der „Freiheit“ werden Dinge gegen Kirche und das Christentum vorgebracht, die der evange⸗ lische Preßverband für Deutschland richtiggestellt hat. Die Humanität ist erst durch das Christentum in die Welt gekommen; vorher war die Welt ohne Liebe. (Zuruf: Eine ganz unhistorische Auffassung!)
Vizepräsident Dr. Bell bittet, bei den allgemeinen Erörte⸗ rungen sich möglichst kurz zu fassen.
Abg. Andre (Zentr.): Immer waren es die Wortführer der Un⸗ abhängigen, die sowohl im Hause wie im Lande draußen den Kampf gegen das Christentum in erster Linie führen. Wenn Sie das Recht der Notwehr für die Russen gelten lassen, so müssen sie dies auch für uns tun. Kautsky hat über den Kapitalismus anders geurteilt. Er meinte, die Arbeiter wären bei der kapitalistischen Produktion besser daran, als beim Sozialismus und dem Mangel an Produktion. Sie (aah links) treiben eine Katastrophen⸗Politik. Sie sind eine ein⸗ seitige Klassenpartei und haben für die Lebensbedürfnisse anderer Volks⸗ schichten kein Verständnis.
Abg. Adolf Hoffmann (IU. Soz.): (Die bürgerlichen Parteien beg ses bis auf wenige Abgeordnete den Saal.) Von dem Tage ab, wo das Christentum eine Staatsreligion ge⸗ worden ist, hat es aufgehört, eine Religion der Mühseligen und Beladenen zu sein, und ist eine Religion der Herrschenden geworden zur Unterdrückung der Mühseligen und Beladenen. Wenn Sie (nach rechts) behaupten, wir hätten Freude am Kriege, weil wir Freude am Siege der Russen hätten, so sage ich: ja, wir heeben Freude am Siege der Russen, die vom Entente⸗Militarismus
bchen Freussoft werden sollen. Dee haben sich gegen eine Welt pon
Feinden zu verteidigen. Das trifft auf Deutschland nicht zu. War es Notwehr, als wir 1914 in Belgien einbrachen? Wenn die Abgg. Eberling und Mumm behaupten, wir hätten vor sechs Jahren nichts gegen den Krieg getan, so weise ich darauf hin, daß schon am 31. Juli in ganz Deutschland Demonstrationen gegen den Krieg von unserer Partei hattgecfunzen haben. Wir konnten ja nichts gegen den Krieg schreiben, da wir unter der Zensur und der Militärgewalt standen. Wir haben also seinerzeit gegen diesen wahnwitzigen Krieg protestiert. Haase selbst hat in der Fraktion gegen die Kriegskredite Se. er hat nur das vorgetragen, was die Fraktion beschlossen hatte. Bebel hat seine Aeußerung, daß er unter Umständen selbst das Gewehr über die Schulker nehmen würde, in dem Sinne ge⸗ sprochen, daß er gegen das zaristische Rußland ins Feld ziehen würde. Wir werden nicht dulden, daß Munition und Waffen nach Rußland geschafft werden im Auftrage der Entente. Herr Mumm wies wieder auf die alte Lüge hin, daß ich meinen finanziellen Vor⸗ teil als Kultusminister wahrgenommen hätte. Ich habe nur das Gehalt für ein Vierteljahr bei meinem Ausscheiden bekommen wie
die anderen Minister auch. Herr Mumm entblödet sich aber nicht,
die alte Verleumdung auszusprechen, die ich an den Pranger stelle. (Vizepräsident Dr. Bell bittet, sich gegenüber einem Abgeordneten zu mäßigen.) Bei diesem Vorwurf kann ich nicht mäßiger ant⸗ worten. In einer andern Versammlung würde ich den Ausdruck „elender Verleumder“ gebraucht haben. (Vizepräsident Dr. Bell: Ich habe die Aeußerungen des Abg. Mumm urückgewiesen.) Wir sind nicht gegen das Christentum, sondern nur gegen den Mißbrauch des Christentums. 1
Abg. Behrens (D. Nat.): Es ist bedauerlich, daß wir solche Reden hier hören müssen. Wir erheben Einspruch gegen die fort⸗ währende Fälschung, daß die Unabhängigen immer von den Arbeitern reden, während sie nur die unabhängigen Arbeiter meinen. Die Mehrheit der Arbeiterschaft steht nicht hinter ihnen. Das ganze — Theater darf man wohl nicht sagen — Gebaren dient nur dazu, die Reichswehr zu denunzieren, als ob sie eine Spitzelorganisation sei. Das ist ein demagogi cher Trick, um die Reichswehr bei der Arbeiter⸗ chaft in Mißkredit zu bringen. Die Arbeiterschaft sieht in der Reichswehr den Schutz für Ordnung und Sicherheit. Es ist kein Beweis erbracht, daß die Behauptung von dem Spitzelwesen der Wahrheit entspricht.
Damit schließt die Diskussion.
Persönlich bemerkt Abg. Mumm: Das bekannte Geschichts⸗ wort, daß vor dem Christentum eine Welt ohne Liebe gewesen sei, halte ich aufrecht. Die Minister haben früher ihr Gehalt nur bis zum Tage ihres Ausscheidens erhalten. Herr Hoffmann hat es für das ganze Vierteljahr gefordert. Im übrigen hat er von mir Schimpffreiheit. 8
Abg. Hoffmann (U. Soz.): Ich habe das Gehalt nicht ge⸗ fordert, es ist mir, wie auch den anderen ausscheidenden Ministern, gezahlt worden mit des Ministerpräsidenten und des Finanzministers, Pension wie die früheren Minister haben wir nicht bekommen.
Der Haushalt für das Wehrministerium wird bewilligt.
Beim Haushalt des Ministeriums für Ernährung und
Landwirtschaft bemerkt
Abg. Dr. Moses (U. Soz.): Die Verwüstungen unserer Volks⸗ kraft und Volksgesundheit durch die Unterernährung sind grauen⸗ erregend. Im Kriege war es allerdings verboten, die Wahrheit zu sagen, tatsächlich befanden wir uns aber im Zustand des langsamen Hungersterbens. Die Unwahrheit zu sagen, nur um die Stimmung aufrechtzuerhalten, war ein Verbrechen am Volke und an der Wissenschaft. Ein Aufruf an die Berliner Aerzte im Kriege ver⸗ langte sogar, daß die Stimmung der Patienten durch den Hinweis aufrechterhalten werden sollte, daß die einfache Kost gesundheit⸗ dienlich sei, daß die Sterblichkeit zurückgehe und daß es den Säug⸗ lingen noch nie so gut gegangen sei. So haben Vertreter der Wissenschaft das Volk systematisch belogen. Geheimrat Bumm, der an der Spitze des Gesundheitsamtes steht, erklärte hier, das Volk leide keine Not, das Gerede von Hungersnot sei eine Uebertreibung. Tatsächlich ist die Morbidität und Ma im 8 Besonders haben Tuberkulose und Kindersterblichkeit zugenommen. Das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt hat besonders auf die krankhaften Veränderungen des Knochensystems hingewiesen. Die Bekämpfung der Tuberkulose ist so lange, als die Ernährung nicht verbessert werden kann, eine Unmöglichkeit. Die Bergarbeiterschaft ihm Ruhrrevier darf nicht überanstrengt werden ohne gleichzeitige Hebung des Ernährungsstandes, Brot und Kartoffeln allein schaffen nicht die Muskulatur. Versprochen hat man ihnen diese 8 — vung längst, aber nicht gehalten. Es hieße Raubbau treiben mit dem letzten Aktivum, das uns noch bleibt, mit der menschlichen Arbeitskvaft, wenn hier nicht tatkräftig seitens des Ernährungs⸗ ministers eingegriffen wird. Das Volk befindet sich ohnehin im Stadium des langsamen Hungersterbens; die Arbeiterschaft ist am Ende ihres Lateins, nur ausgiebige Nahrungszufuhr kann der Volks⸗ gesundheit wieder aufhelfen. Auch an Unterernährung sind Mil⸗ lionen Deutscher zugrunde gegangen.
Zum Etat des Reichspostministeriums kommt
Abg. Frau Zietz (U. Soz.) auf ihre Behauptung zurück, daß man in Berlin Postaushelfer entlasse, während man vom Lande junge Leute in Scharen als Postillone heranziehe. Sie führt dem Post⸗ minister zum Beweise eine Anzahl Fälle an, in denen er politisch Indifferente vom Lande heranzog, um sich der politisch unliebsam hervorgetretenen Elemente zu entledigen.
Ein Vertreter der Reichspostverwaltung erklärt, daß der Sache nachgegangen werden soll; politische Motive kämen aber nicht in Betracht.
Zu der Gesamtabstimmung wird der Nothaushalt mit großer Mehrheit endgültig genehmigt.
Der Haushaltsausschuß hat folgende Entschließun⸗ gen vorgeschlagen:
1. Der Neichstag ist damit einverstanden, daß die aus dem Ab⸗ schluß des Reichslohntarifs für die Verkehrsarbeiter not⸗ wendig werdenden Mittel sowie die sich daraus ergebenden Ausgleich⸗ zulagen für die Beamten ausgezahlt werden. 16““
2. Der Reichstag erklärt sich grundsätzlich damit einverstanden, daß bei der eingeleiteten Nachprüfung des Reichsbesoldungs⸗ gesetzes die Folgerungen aus den Landesbesoldungsordnungen und den im Reiche bereits vorgenommenen Einstufungen gezogen werden, soweit dies mit dem einheitlichen Aufbau der Reichsbesoldungs⸗ essctene vereinbar ist, und daß die sich ergebenden Vorschüsse gezahlt werden.
Diese Entschließungen werden, nachdem Abg. Frau Zietz bei der Nachprüfung auch die Zuziehung der Beamtenausschüsse verlangt hat, angenommen, ebenso eine Entschließung des Ausschusses, wonach das Reich zur Gewährung der sogenannten Besatzungszulage an die Beamten der leistungsschwachen Länder und Gemeidnen einen Zuschuß gewähren soll.
Damit ist die Haushaltsberatung erledigt.
Das Haus tritt sodann in die Beratung der Inter⸗ pellation der Mehrheitssozialdemofraten, betr. Maßnah⸗ men gegen die Arbeitslosigkeit in Verbindung mit dem Antrage der Unabhängigen, betr. die Erwerbslosen⸗ fürsorge, ein.
Abg. Körsten (Soz.): Wir müssen 11 schaffen; die Arbeitsnachweise zeigen, daß Tausende arbeiten wollen, wenn sie nur die Gelegenheit hätten. Auf Monate hinaus ist keine Aussicht darauf vorhanden. Groß Berlin ist an der Arbeits⸗ losigkeit mit 20 % beteiligt. Seit Monaten werden keine Berg⸗ leute im Ruhrgebiet mehr angestellt; es mag richtig sein, daß die mangelnde Unterkunftsmöglichkeit daran schuld ist. In dieser Richtung muß etwas geschehen, damit wir unsere in Spaa ge⸗ gebenen Versprechungen einhalten können, wonach 50 000 neue Bergarbeiter einzustellen sind. Im Niederlausitzer Bvaunkohlen⸗
ortalität im Kriege gestiegen.
Verbesse⸗
gebiet könnte bei gutem Willen manches geschehen. Auf dem Lande will man von den Großstädtern nichts wissen, dabei stam⸗ men die meisten Großstädter vom Lande und kennen die Land⸗ arbeit von Jugend auf. Man greift lieber auf die lieben Polen zurück; sie sind ja auch billiger und gefügiger, mit ihnen kennt man keine Tarisverträge. Auch auf den Landes⸗ und städtischen Domänen bestehen die gleichen Verhältnisse. Die Postverwaltung hat tatsächlich 450 Postillione vom Lande nach Berlin geholt, während es hier viele arbeitslose Kutscher gibt. Bei der Eisenbahn ist es ähnlich. Solange es Arbeitslose hier gibt, sollte es grundsätzlich verboten werden, Leute vom Lande heranzuholen. Bei der Einstellung von Arbeitern sollte die In⸗ anspruchnahme der Arbeitsnachweise zur Pflicht gemacht werden. Die Erzählungen von den hohen Löhnen der Arbeiter treffen nicht zu; viele sind kaum in der Lage, die auf Marken zu bezie⸗ henden Waren zu kaufen. Notstandsarbeiten sind nötig, dadurch erzielen wir auch eine produktive Arbeitslosenunterstützung. Zu⸗ nächst kommen dabei Kanalbauten in Frage. 800 —1000 Familien könnten in Zossen untergebvacht werden. Es geschieht aber nichts. In Berlin ist jedes Haus reparaturbedürftig, da könnten Tausende von Arbeitern beschäftigt werden; hier müßte die Fürsorge ein⸗ greifen. Man hat den Eindruck, daß statt des Wiederaufbaues ein Abbau vorgenommen wird. Früher sagte man, man habe keine Ziegel zum Bauen, jetzt wird eine Ziegelei nach der andern stillgelegt. Eine große Druckerei hat ihre Rotationsmaschinen ins Ausland verkauft, sicher aus Papiermangel. Das liegt aber nicht im Interesse des deutschen Volkes. Buchdrucker sind jetzt zu Hunderten entlassen worden, z. B. in der Druckerei von Sittenfeld. Wenn solche Dinge geschehen, ist eine Aussicht auf Hebung unserer Industrie in absehbarer Zeit nicht vorhanden. Bismarck sagte einmal, es müsse eigentlich jeder Arbeiter das Recht auf Arbeit haben. Da jeder das Recht zu leben hat, muß er auch eine Existenz haben; darum besteht eine Pflicht, ihm Arbeit zu geben. Eine Erhöhung der Unterstützungen ist unbedingt erforderlich. Die Delegierten der Arbeitslosen von 26 großen Städten haben im Mai und Juni schon eine gewisse Verständigung erzielt. Die Verordnung, wonach die Unterstützung nach 26 Wochen aufhören soll, hat der Minister glücklicherweise zurückgenommen. Die Um⸗ stellung unserer Beleuchtungsart von Gas in elektrisches Licht ist in vielen Fällen sehr wünschenswert, z. B. braucht bei der Eisen⸗ bahn nur ein Motor im Packwagen zu stehen, um billige Beleuch⸗ tung zu schaffen. Ich bitte, die von mir angeführten Richtlinien dem Reichswirtschaftsrat zur Besprechung zu überreichen. Wir müssen Arbeit schaffen und, wenn das nicht möglich ist, eine menschenwürdige Unterstützung. (Beifall.)
Reichsarbeitsminister Dr. Brauns: Meine Damen und Herren! Die wachsende Arbeitslosigkeit ist ein Symptom unserer außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Gesamtlage. Wenn darüber hier und da noch Zweifel hätten bestehen können, so sind diese durch die Verhandlungen im Ausschuß des Reichswirtschaftsrats über den bekannten Antrag Wissell wohl vollständig behoben. Ich kann mich natürlich über die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Seite der Frage nicht eingehend verbreiten. Das ist Sache des Reichswirtschafts⸗ ministeriums. In das Gebiet des Reichsarbeitsministeriums fällt die sozialpolitische Seite der Angelegenheit.
Ehe ich auf die Einzelheiten sozialpolitischer Art eingehe, ge⸗ statten Sie mir zunächst ein Wort über die tatsächliche Lage, Es besteht seit Beendigung des Krieges eine gewisse chronische Arbeits⸗ losigkeit, freilich unterschiedlich im Verfolg der einzelnen Zeitabschnitte. Wir hatten Erwerbslosenunterstützung zu zahlen am 15. Januar 1920 an 447 660 Hauptunterstützungsempfänger. Am 1. Juni hatte die Zahl mit 270 451 ihren niedrigsten, also verhältnismäßig günstigsten Stand erreicht. Seitdem ist aber wiederum eine beträchtliche Steigerung zu verzeichnen. Gegenwärtig beträgt die Zahl der voll⸗ unterstützten Erwerbslosen 357 143. Das ist die Zahl vom 15. Juli⸗
Neben der völligen Erwerbslosigkeit spielt aber in den letzten Monaten die Verkürzung der Arbeitszeit in ganzen Industrien und Industriezweigen eine außerordentlich große Rolle. Leider ist der Umfang dieser Arbeitszeitverkürzung nicht genau festzustellen. Neben den Hauptunterstützungsempfängern, deren Zahl ich eben nannte, und den unterstützten Kurzarbeitern kommen noch die unterstützten Familienangehörigen der Hauptunterstützungsempfänger in Frage. Am 15. Januar betrug ihre Zahl 379 071. Parallel den vorigen Zahlen hatten wir auch hier am 1. Juni dieses Jahres den verhältnismäßig günstigsten Stand mit 255 373; diese Zahl stieg am 15. Juli dieses Jahres wieder auf 328 997. Wie sich der Arbeits⸗ markt in der Folge entwickeln wird, läßt sich zurzeit noch nicht übersehen.
Gegenwärtig wird, wie ich eben schon andeutete, aus einzelnen Bezirken eine leichtere Besserung gemeldet, so beispielsweise aus der Schuhindustrie, die zuerst von der Katastrophe betroffen worden war. In dieser Industrie ist in einzelnen Orten die Arbeit wieder auf⸗ genommen worden. Ich glaube, sagen zu dürfen: Da bei dem Ver⸗ hältnis von Warenvorrat und Bedarf an sich — ich sage nicht: Nach⸗ frage — der Bedarf noch immer unendlich größer ist als der Vorrat, so ist es meines Erachtens nicht unbedingt vichtig, mit einer langen Dauer dieser Krisis zu rechnen.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß ein neues Verhängnis für die Gestaltung des Arbeitsmarktes sich aus dem Abkommen von Spaa ergeben könnte, wenn es nicht gelingen sollte, durch erhöhte Kohlenförrerung die Gefahr zu beseitigen. (Sehr richtig!) Nach allem, was ich bisher feststellen konnte, sind die Bergarbeiter ihrerseits bereit, alles zu tur, was an ihnen liegt, um nicht noch mehr Arbeits⸗ brüder arbeitslos und brotlos zu machen. Ich hoffe zuversichtlich, daß die Bergarbeiter auf diesem Standpunkt beharren werden und auch alle anderen in Betracht kommenden Kreise sich von gleichem Be⸗ streben leiten lassen.
Nun zu den sozialpplitischen Hilfsmitteln! Im Vordergrund steht da selbstverständlich die Arbeitsvermittlung. Das Reichsarbeitsministerium tut alles, was in seinen Kräften steht, um diese auszubauen. Das Reichsamt für Arbeitsvermittlung ist bereits in Wirksamkeit getreten. In den Ländern verzeichnen wir gegenwärtig gerade bedeutungsvolle Fortschritte im Ausbau des Arbeitsnachweises. Ein Reichsgesetz über den Arbeitsnachweis ist im Entwurf fertig⸗ gestellt und wird in den nächsten Tagen im Ministerium mit den Interessenten besprochen werden.
Der Arbeitsvermittlung erstehen gegenwärtig ganz neue Auf⸗ gaben. Eine der wichtigsten dieser Aufgaben ist die Berufs⸗ umstellung. Noch auf lange Zeit hinaus werden gewisse Industrie⸗ zweige der Fertigfabrikation, insbesondere solche, die auf den Welt⸗ markt angewiesen sind, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Dagegen bedürfen wir vermehrter Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und in unserer gewerblichen Urproduktion, und auch hier voraussicht⸗ lich auf lange Frist.
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n Reichsanzeiger und Preußis
Berlin, Donnerstag, den 5. August
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Ist diese Berufsumstellung schon an sich nicht leicht, so erstehen ihr gegenwärtig ganz besondere Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Wohnungsbeschaffung. Der Herr Vorredner hat das eben bereits hervorgehoben. Eingehend über diese Frage zu sprechen, würde natürlich im Zusammenhange mit dieser Interpellation zu weit führen. Ich will hier an dieser Stelle wenigstens betonen, daß das Reichs⸗ arbeitsministerium, soweit es selbst an der Beseitigung dieser Wohnungsnot beteiligt ist, sein Bestes tut, insbesondere auch in den großen Industrierevieren, vor allen Dingen im Ruhrrevier. Es sind auch neuerdings wieder 300 Millionen Mark bereitgestellt worden, um dort den Wohnungsbau schneller zu fördern. Der Reichstag wird sich sofort nach der Sommerpause mit dieser Frage eingehend befassen müssen. Die Arbeitsvermittlung wie die Berufsumstellung haben in letzter Zeit noch mehr als früher darunter gelitten, daß abwandernden Arbeitskräften nicht genügend Bekleidung, Schuhe, Wäsche zur Ver⸗ fügung gestellt werden konnten. Auch ist in vielen Fällen ein An⸗ lernen, eine Ausbildung in dem neuen Beruf unbedingt erforderlich. Das Reichsarbeitsministerium stellt für diese Zwecke Geld aus der produktiven Erwerbslosenfürsorge zur Verfügung.
Es ist richtig, was der Herr Vorredner gesagt hat, daß fremde Arbeitskräfte den deutschen Arbeitslosen die Arbeitsgelegenheit durch⸗ aus nicht wegnehmen dürfen. Es ist darum auch bereits angeordnet, daß die Beschäftigung ausländischer Arbeiter und Arbeiterinnen von der Genehmigung der zuständigen öffentlichen Arbeitsnachweise ab⸗ hängig ist.
Von Belang ist ferner die richtige Verteilung der vorhandenen Arbeitsgelegenheit. Deshalb sind im allgemeinen Ueberstunden zu vermeiden, wenigstens dann, wenn das gleiche Ergebnis durch Mehr⸗ einstellung von Arbeitskräften erreicht werden kann. In einzelnen Fällen kann diese Mehreinstellung von Arbeitskräften auch dadurch erzielt werden, daß gewisse nichtvermehrbare, unersetzliche Arbeits⸗ kategorien Ueberstunden leisten, und in diesen Fällen wäre allerdings die Leistung von Ueberarbeit ein Gebot der Solidarität der Arbeiter untereinander.
Der Herr Abgeordnete Körsten hat nun bemängelt, daß sogar Ministerien Arbeitskräfte vom Lande herangezogen hätten, obgleich Arbeitslose in der Stadt eine passende Besetzung dieser Stellen auf anderem Wege ermöglicht hätten. Ich bin natürlich im Augenblick nicht in der Lage, die betreffenden Ministerien über diese Zusammenhänge zu befragen. Das eine aber will ich ohne weiteres feststellen: es ist allerdings erwünscht, daß auch die Behörden bei Einstellung einer größeren Zahl von neuen Arbeitskräften sich vorher mit dem Reichs⸗ amt für Arbeitsvermittlung ins Benehmen setzen.
In der Bereitstellung größerer Mittel für Notstandsarbeiten ist seit November 1918 alles mögliche geschehen. Nach den Berechnungen des Reichsfinanzministeriums sind im Durchschnitt des Jahres 1919 durch Notstandsarbeiten 330 000 Arbeitskräfte beschäftigt worden. Das Reich hat dazu insgesamt 470 Millionen Mark Zuschüsse geleistet. Die Mängel der reinen Notstandsarbeiten sind bekannt. Darum werden die Notstandsarbeiten jetzt in der neuen Form der produk⸗ tiven Erwerbslosenfürsorge fortgeführt. Dabei werden Arbeiten ohne volkswirtschaftlichen Wert grundsätzlich ausgeschlossen. Wir suchen diese Aufwendungen für die Erwerbslosenfürsorge in ein gewisses Verhältnis zu der Ersparnis an Unterstützungsgeldern zu bringen und fördern insbesondere diejenigen Arbeiten, die dem wirt⸗ schaftlichen Wiederaufbau dienen. Wir haben auf diese Weise be⸗ trächtliche Gelder für Meliorationen aufgewandt. Wir haben ins⸗ besondere uns bemüht, was auch der Herr Vorredner verlangt hat, die Torfstecherei zu fördern. Wir haben jetzt Gelder bereitgestellt, um die Wohnungsreparaturen zu fördern. Wir haben von seiten des Arbeitsministeriums, um das auch in diesem Zusammenhang zu sagen, bereits Schritte hinsichtlich des Zossener Lagers getan, wo nach unserer Auffassung Möglichkeiten zur Unterbringung eines Teiles derjenigen, die bezüglich ihrer Wohnung nicht versorgt sind, gegeben sind, und wo sich auch noch neue Arbeitsgelegenheiten beschaffen lassen. Wir haben geholfen, die Moore zu erschließen, haben Hafenbauten, Straßen⸗ bauten in Angriff genommen. Das Reich legt Wert darauf, seine großen Kanalbauten zu fördern. Noch heute hat sich das Kabinett mit einer dieser Kanalbauten eingehend befaßt.
In diesem Zusammenhang sei auch gesagt, daß die Zahlung der Gelder aus der produktiven Erwerbslosenfürsorge nicht erst, wie der Herr Interpellant meinte, erfolgt, wenn die Arbeiten beendet sind; die Zahlung ist vielmehr sofort möglich, sobald die Bewilligung ge⸗ geben ist.
Für die Bemessung der aus der produktiven Erwerbslosen⸗ fürsorge den Gemeinden und Ländern zufallenden Summen war bisher die obere Grenze das Doppelte der ersparten Arbeitslosenunter⸗ stützungen. Die Reichsregierung hat sich neuerdings auf Wunsch aller Beteiligten entschlossen, mit Rücksicht auf die gegenwärtige Krisis den Anreiz zu diesen Arbeiten dadurch zu steigern, daß sie jetzt ausnahms⸗ weise bis zum Zweieinhalbfachen der Ersparnis geht. Aus den Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge sind seit dieser Umstellung, die ich eben näher gekennzeichnet habe, also seit stark einem Monat, bereits 84 Millionen Mark bewilligt worden, und dadurch sind rund 40 000 Erwerbslose auf die Zeit von etwa fünf Monaten einer produktiven Arbeit zugeführt worden. Freilich ergeben sich daraus für das Reich
ssowohl wie für die Länder und für die Gemeinden schwere finanzielle Opfer, die in ihrem Endergebnis heute noch gar nicht zu übersehen
sind. Gleichwohl glaubt die Regierung, diesen Weg gehen zu müssen, in der Ueberzeugung, daß Arbeit, Beschäftigung immer besser ist, als eine bloße Arbeitslosenunterstützung. (Sehr richtig!) Bekanntlich ist die Erwerbslosenunterstützung viel angefochten worden. Aber man ist
doch wohl verpflichtet, zu sagen: sie ist besser gewesen und auch heute noch besser als ihr Ruf. Sie hat sich auch in
den letzten Monaten im Vergleich zu den wachsenden Anforderungen
erheblich gebessert. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist sie zweifellos bloß ein vorläufiges Hilfsmittel. sobald nicht sein, auch dann nicht, wenn wir eine Versicherung gegen
Aber ganz zu entbehren wird sie
Arbeitslosigkeit haben werden. Auch dann werden wir einer solchen Erwerbslosenfürsorge immer noch bedürfen. Inwieweit sie in das Gesetz über Arbeitslosenversicherung eingearbeitet werden kann, und inwieweit dieses Gesetz darauf Rücksicht zu nehmen hat, ist eine Frage, die wir gegenwärtig noch prüfen. Zu dieser Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die, wie gesagt, bereits vorbereitet ist — der Ent⸗ wurf liegt vor und ist dem Reichsrat zugeleitet worden — muß es möglichst bald kommen.
Die finanzielle Lage des Reichs, der Länder und der Gemeinden zieht der Fürsorge für die Erwerbslosen engere Grenzen, als es vom sozial⸗ politischen Standpunkt aus erwünscht ist. Die Regierung verkennt keineswegs, daß die Arbeitslosen durchaus berechtigte Wünsche nach weitergehenderen Unterstützungen haben. Aber im Augenblick sind die Verhältnisse stärker als die Menschen, und auch die Regierung sieht sich da vor unübersteigbare Hindernisse gestellt. Innerhalb der Grenzen des Möglichen soll aber auch weiterhin alles geschehen, um die Lage der Euwerbslosen und ihrer Familien zu erleichtern. Im ganzen hat das Reich seit Beginn der Erwerbslosenfürsorge, also seit November 1918 bis zum 31. März 1920, 711 Millionen ausgegeben. Mit dem, was die Länder und Gemeinden geleistet haben, beziffert sich die Gesamtsumme der Leistungen für Erwerbslosenfürsorge auf 1400 Millionen Mark. (Hört! Hört! im Zentrum.)
Ich habe soeben bereits gesagt, daß die Reichsregierung sich be⸗ müht, die Erwerbslosenfürsorge der gegenwärtigen Krisis anzupassen. In Anbetracht dessen hat sie folgende Beschlüsse gefaßt:
Nach den bisher vorliegenden Verordnungen sollten am 1. August Erwerbslose, die mehr als 26 Wochen erwerbslos sind, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, die allerdings schon in der ersten Verord⸗ nung vorgesehen waren, aus der Erwerbslosenfürsorge ausscheiden. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Lage sind die Länder angewiesen worden, von der Ausnahmebefugnis einen freieren Gebrauch zu machen, selbst⸗ verständlich unter Prüfung der Notlage im Einzelfall. Je nach den örtlichen Verhältnissen kann unter Umständen die Ausnahme⸗ befugnis auch auf Gruppen von Erwerbslosen ausgedehnt werden. Ferner soll denjenigen langfristigen Erwerbslosen weiter geholfen werden, die Angehörige zu ernähren haben. Die Reichsregierung hat beschlossen, daß für diese eine Verstärkung der Unterstützung unter ent⸗ sprechender Beteiligung der Länder und Gemeinden eintreten soll. Die einschlägigen Anweisungen werden in diesen Tagen an die Länder er⸗ gehen. Selbstverständliche Voraussetzung für diese Hilfe ist natürlich, daß der § 8 der Erwerbslosenfürsorge gerade für langfristige Erwerbs⸗ lose zur Anwendung gelangt. Dieser Paragraph bestimmt, daß Unter⸗ stützungen zu versagen oder zu entziehen sind, wenn der Erwerbslose sich weigert, eine nachgewiesene Arbeit anzunehmen, die außerhalb seines bisherigen Berufs liegt, sofern sie ihm nach seiner körperlichen Beschaffenheit zugemutet werden kann.
Weiterhin hat die Reichsregierung beschlossen — und damit kommen wir ja auch einem Wunsche entgegen, der eben geäußert worden ist —, daß die Gewerkschaftsunterstützung künftig nicht mehr auf die Erwerbslosenunterstützung zur Anrechnung gelangen soll. Bisher sollte sie zu 50 Prozent angerechnet werden.
Die Lage der Kurzarbeiter verlangt gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit. Ich habe schon eingangs hervorgehoben, daß die Zahl der Kurzarbeiter ganz beträchtlich steigt. Es muß dafür gesorgt werden, daß für sie der Antrieb, auch in verkürzter Arbeitszeit aus⸗ zuharren, erhalten bleibt und daß angesichts des gegenwärtigen Geld⸗ wertes ihre Lage nicht unerträglich wird. Bisher wurden Kurz⸗ arbeiter dann unterstützt, wenn 70 Prozent ihres verbleibenden Ar⸗ beitsverdienstes geringer waren als die volle Erwerbslosenunter⸗ stützung. Unterdessen sind die Löhne über die Unterstützung so weit hinausgegangen, daß mit dieser Regelung die Unterstützung der Kurz⸗ arbeiter — allerdings nicht in allen, aber wenigstens in einigen Be⸗ rufen — sozusagen aussetzt. Es ist deshalb verlangt worden, die Kurzarbeiterunterstützung so zu gestalten, daß des entgangenen Arbeitsverdienstes dem Kurzarbeiter vom Arbeitgeber und von der Erwerbslosenfürsorge erstattet werden. Diese Lösung ist in der gegenwärtigen Lage und vor Durchführung der Arbeitslosenversiche⸗ rung nicht möglich. Dagegen hat die Reichsregierung beschlossen, den Wünschen dadurch entgegenzukommen, daß der Prozentsatz der Anrechnung von 70 auf 60, unter Umständen auf 50 herabgemindert wird. Die entsprechenden Anweisungen werden ebenfalls unverzüglich ergehen.
Weitere Erhöhungen hat das Kabinett allerdings wegen der überaus traurigen Finanzlage des Reiches geglaubt, nicht bewilligen zu können.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist eine Sache von aller⸗ größtem öffentlichen Interesse. Sie darf aber meines Er⸗ achtens keineswegs den öffentlichen Körperschaften allein überlassen werden. Es wäre durchaus verfehlt, das zu tun. Gerade der Deutsche ist leicht geneigt, immer nur nach der Hilfe des Staates zu rufen. Es können vielmehr und müssen auch andere Kreise tatkräftig zur Verhütung von Arbeitslosigkeit mithelfen. Ich appelliere da zu⸗ nächst an die Arbeitgeber und an den Handel. Für viele aus diesen Kreisen waren die letztvergangenen Jahre auch noch nach dem Kriegsabschluß, gemessen an der wirtschaftlichen und politischen Gesamtlage, eine Zeit seltener Hochkonjunktur. (Zustimmung.) Soweit das zutrifft, muß erwartet werden, daß dieselben Kreise auch die weniger angenehme Seite des Risikos auf sich nehmen und das ihrige tun, um die Preise der gesamten wirtschaftlichen Lage anzu⸗ passen und dadurch die Voraussetzung zu schaffen für eine Gesundung unserer Volkswirtschaft und für die Versorgung unserer Bevölkerung mit des Lebens Notdurft.
Auf diese Dinge näher einzugehen, muß ich von meinem Stand⸗ punkt aus als Arbeitsminister unterlassen. Jedenfalls aber dürfen rein privatwirtschaftliche Gesichtspunkte in der gegenwärtigen Lage nicht entscheidend sein. Dafür hängt von der Entwicklung unseres Arbeitsmarktes viel zu viel ab. Ehre und nationales Pflichtgefühl erheischen gebieterisch hier Opfer der privaten Wirtschaft für unsere Volkswirtschaft, Opfer, die im Interesse des Gesamtwohls liegen.
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Eine entsprechende dringende Mahnung muß ich aber auch an alle deutschen Arbeiter richten. Die Arbeiter können auch selbst manche Arbeitslosigkeit verhüten. Leider sind wir aus der Periode unausgesetzter Arbeitskämpfe immer noch nicht heraus. Immer noch müssen wir erleben, daß jedwede Forderung, jedwede auch sehr weit⸗ gehende, undurchführbare Forderung mit sofortiger Arbeitseinstellung eingeleitet wird (hört, hört! bei den Deutschnationalen), oder daß man diese wenigstens androht. In der gegenwärtigen Lage ist aber jeder Streik die Wurzel neuer Arbeitslosigkeit (sehr richtig! bei den Deutschnationalen und bei den Deutschen Demokraten), und zwar nicht bloß für die Streikenden selbst. Heutzutage liegen die Dinge nicht so, daß unsere Volkswirtschaft mit Waren gesättigt ist, daß auf allen Gebieten reiche Vorräte vorhanden sind und daß infolge⸗ dessen die Lohnkämpfe in Form von Streiks zunächst nur die un⸗ mittelbar beteiligten erfassen; sie greifen in ihrer Wirkung heute sofort viel weiter und legen manchmal Tausende von Arbeitshänden lahm, und das in einer Zeit, da unsere Bevölkerung im Winter friert und Hunderttausende von armen Menschen kein Hemd auf dem Leibe tragen! Das liegt auch nicht im Interesse der Arbeiter selbst. Es liegt meines Erachtens im Gegenteil im ureigensten Interesse des gesamten Arbeiterstandes, mit dem Feuer des Streiks nicht leichtfertig zu spielen, sondern vielmehr jede derartige Entscheidung auch im Bewußtsein der sozialen Folgen für die eigenen Standes⸗ genossen reiflich zu prüfen und keinerlei friedliche Verständigung unversucht zu lassen, ehe man zu dieser äußersten Maßnahme des Streiks greift.
Ich gehe weiter. Tausende von Händen brauchten heute nicht zu feiern, wenn gewisse Arbeiterkategorien — ich verallgemeinere durchaus nicht — durch mäßige Ueberstunden ihnen das Arbeiten ermöglichten. Das Beispiel der Bergarbeiter könnte noch auf man⸗ chen anderen Gebieten im großen wie im kleinen Nachahmung finden. (Zuruf von den Unabhängigen Sozialdemokraten: Von wem denn?) — Zum Beispiel im Verkehrsgewerbe! — Wir sollten alle, jeder in seinem Beruf, auch die Angestellten und Beamten, das Beispiel eines eifrigen Dienstes am Gesamtwohl geben. (Sehr richtig! im Zentrum und bei der Deutschen Volkspartei.)
Der gewerkschaftlich geschulte Arbeiter weiß, daß der Aufstieg des Arbeiterstandes nicht zu vergleichen ist mit einer unausgesetzt gleich⸗ mäßig steigenden Linie. Er weiß, daß die Entwicklungslinie Kurven aufweist mit einem Auf und Ab, und in einem solchen Tiefstand — in einem solchen Wellental, will ich lieber sagen, befinden wir uns gegenwärtig. Derselbe Arbeiter ist aber zufrieden, wenn die Gesamttendenz der Fortentwicklung aufwärts und vorwärts führt, und das ist doch in der gegenwärtigen Zeit — ich rede nicht gerade vom Augenblick — zweifellos der Fall.
Wir können nicht verkennen, daß die letzten Jahre der Arbeiter⸗ schaft gewaltige Erfolge auf allen Gebieten gebracht haben. Es sind dauernde Erfolge, sofern und solange unsere politische Entwicklung weder von außen noch von innen gewaltsame Störungen erleidet. Keine wirtschaftliche Krisis, mag sie den Arbeiterstand auch vorüber gehend noch so sehr treffen, kann die gesetzlichen Grundlagen unserer neuen sozialen Ordnung wieder beseitigen. Was aber kommen würde wenn in der schwebenden äußeren und inneren Frisis die Arbeiter⸗ massen Maßhaltung und Ruhe verlieren und Wirtschaft und Staat zu⸗ gleich ins Wanken bringen, wer vermag das zu sagen? Ein gewerk⸗ schaftliches und sozialpolitisches Ringen von zwei Menschenaltern mit samt den Erfolgen der letzten Jahre wäre dann aufs Spiel gesetzt. Ich traue der Vernunft und der Einsicht, der Standessolidarität und der Volkssolidarität der deutschen Arbeiter zu, daß sie ein so gewagtes Spiel nicht treiben. Mit allseitiger Opfer⸗ und Hilfsbereitschaft kommen wir — das hoffe ich zuversichtlich — auch über diese Krisis hinweg. (Lebhafter Beifall bei den Deutschen Demokraten, bei der Deutschen Volkspartei und im Zentrum.)
Abg. Dißmann (I. Soz.) bedauert, daß die so wichtige Frage der “ so kurz vor Toresschluß zur Erörterung gelangt. 357 000 Arbeitslose sind eine erschrecklich ohe Zahl. Der Wellen⸗ schlag der letzten sechs Jahre bedeutet für die deutsche Arbeiterschafr kein Auf und Nieder, sondern einen ständigen Niedergang. Die Ar⸗ beiterschaft hungert andauernd, denn der Reallohn ist von Monat zu Monat tiefer gesunken. An die Entsagung der Arbeiterschaft hat auch heute der Minister wieder appelliert; die besitzende Klasse, das UPater. nehmertum pfeift auf diesen Appell. Darum hat ein solcher Appell heute überhaupt jede Wirkung verloren, der Appell an die Arbeitgeber wird auch nach dem Diktat von Spaa nutzlos verhallen. Die Wirt⸗ schaftskrise hat noch nicht einheitlich eingesetzt, aber sie verschärft sich mit jedem Tage. In Sachsen, im Rheinland, Westfalen überall das⸗ selbe trübe Bild. Die Arbeitslosen von heute sind Opfer in doppeltem Sinne, Opfer des Kapitalismus und Opfer des Weltkrieges. Sie haben ein Recht auf hinlängliche Unterstützung. Im April 1919 bereits wurde aber der Unterstützungssatz reduziert trotz wachsender Teuerung des Unterhalts, wad diese Verminderung wurde, wie der Gang der Dinge in Frankfurt a. M. beweist, auch brutal durchgeführt. Seit einem Jahre hat sich die Lebenshaltung um 100 % verteuert, die Erhöhung der Erwerbslosenunterstützung stellt demgegenüber nur einen Bettelpfennig dar. Die Unterstützung muß für männlicke wad weibliche Arbeiter einheitlich gestaltet werden. In den teuersten deutschen Städten ist für eine starke Familie ein Durchkommen mit 120 Mars pro Woche nicht möglich. In Wirklichkeit hat man aber noch an der Leistung der Unterstützung allerlei Einschränkungen eintreten lassen. In der ersten Woche werden Arbeitslosenunterstützungen nicht be⸗ zahlt. Wovon sollen aber die Arbeitslosen, die meist längere Zeit schon Kurzarbeiter gewesen sind, in dieser ersten Woche leben? Die Erhöhung der Unterstützungssätze ist notwendig, und eine Begrenzun auf 26 Wochen ist auf die Dauer nicht möglich. Ein Skandal is es, daß die Regierung den Erwerbslosen die gewerkschaftliche Unten siscoer fbssebt. Es ist ein Skandal, daß Leute, die jahrelang in der Gewerkschaft gesessen haben, solche Regierungsakte veranlassen.
(Vizepräsident Bell rügt den Ausdruck Skandal.) Bei einer ganzen b
Reihe von Berufsgruppen ist es nicht möglich, Arbeiter aus anderen Branchen zu beicheftigen deshalb ist die Bestimmung unhaltbar, da g9 Arbeit angenommen werden muß. Viele Arbeiter sind 89 örperlich nicht dazu imstande. Während des Krieges wurden ungezählte Milliarden aufgewendet, um Menschen zu morden, dann muß man jetzt auch die wenigen Milliarden aufbringen, die ein ausreichende Erwerbslosenfürsorge ermöglichen. Das Existenzmini⸗ mum muß zum wenigsten gewöhrt werden. Will man das Elend gründlich befeitoen dann nuß das kapitalistische Wirtschaftssystem aufhören. Das deutsche Kapital wird ins Ausland verschlappt. —