1922 / 116 p. 3 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 19 May 1922 18:00:01 GMT) scan diff

2.

eann die Angestelltenversicherung ihren Zwe

11“ . v 8 8 1 8 Nunmehr beginnt die Aussprache über Sozialversicherung.

Abg. Kaiser (Soz.): Bevor das große Ziel der Vereinheit⸗ lichung aller Sozialgesetze erreicht wird, müssen noch eine Reihe von Novellen erledigt werden. Im Reichstag müssen wir demnächst zu einer Klärung in der Frage der Verschmelzung der Angestellten⸗ bersicherung mit der übrigen Sozialversicherung kommen und auf jeden Fall die Angestelltenversicherung wieder lebensfähig machen.

ir sehen eine Lösung nur in der Verschmelzung, denn nur dann erfüllen. Wir ver⸗ langen in einer Entschließung, daß bei der Auslegung des Gesetzes über Notstandsmaßnahmen zur Unterstützung von Empfängern aus der Invaliden⸗ und Angestelltenversicherung darauf Bedacht genommen wird, daß Leistungen, die nur den Zweck haben, die gesetzliche Rente zu erhöhen, nicht angerechnet werden. Die Farteien der Rechten sträuben sich bezeichnenderweise gegen eine

das Kapitel

Kürzung der Warte⸗ und Ruhegelder der Beamten bei einem Ein⸗

ommen über 50 000 ℳ, weil es sich angeblich um wohlerworbene Rechte handelt. Aber auch die Arbeitsinvaliden und die Kriegs⸗ veschädigten haben wohlerworbene Rechte. Die Leistungen der Landesversicherungsanstalten müssen erhöht werden, mit dem Ge⸗ anken einer dadurch erforderlich werdenden Beitragserhöhung müssen wir uns abfinden. Das Ministerium wird zu prüfen haben, ob in der Sozialversicherung nicht die gleitende Rentenskala an⸗ gewendet werden kann, denn die Leistungen der Sozialversicherung haben mit der fortschreitenden Geldentwertung nicht Schritt ge⸗ halten. Auf dem Gebiete der Krankenversicherung müssen wir möglichst bald zu einer Vereinheitlichung kommen. In die Krankenversicherung müssen auch die Kleingewerbetreibenden und die kleinen Landwirte aufgenommen werden. Wenn die Land⸗ wirte auch gegenwärtig viel Geld haben, so sehen wir doch am Himmel die drohende Verschuldung der Landwirte aufsteigen. (Hört, hört! rechts.) Notwendig ist auch die obligatorische Kranken⸗ versicherung der Familien im Anschluß an die allgemeine Kranken⸗ versicherung. Ein Gesetzentwurf hierfür muß bald vorgelegt werden, damit das Gesetz noch in diesem Jahre in Kraft treten kann. Die Wochenhilfe muß ausgebaut werden, die dazu erforderlichen Mittel müssen aber durch Gesetz angefordert werden und nicht schon jetzt, wie ein Antrag der Kommunisten es fordert. Notwendig ist auch die Erhöhung des Grundlohns in der Krankenversicherung, die Pflichtgrenze muß erhöht werden. Warnen möchte ich dringend davor, die Krankenkassen zu ermächtigen, die Verpflichtung zur Gewährung von ärztlicher Hilfeleistung durch Geld ablösen zu können, denn damit würde den Krankenkassen eine ihrer wesent⸗ lichsten Grundlagen genommen werden. Die Bestimmung der ärztlichen Honorartaxe darf nicht länger mehr den einzelnen Ländern überlassen werden. Die Unfallversicherung muß schleunigst auf alle Arbeitnehmer ausgedehnt werden. In der Unfallversicherung muß der Grundsatz Geltung gewinnen, daß auch der Weg von und zur Arbeitsstelle als Betriebstätigkeit angesehen wird, und es muß schließlich auch ein Ausgleich in den Leistungen und der Geld⸗ entwertung gefunden werden. Ungerecht ist es, daß nur die Rentner, die über 50 Prozent unfallverletzt sind, Erhöhungen er⸗ halten. Wir begrüßen die Mittel für die Bekämpfung der Volks⸗ seuchen, der Tuberkulose, der Geschlechtskrankheiten usw. Die beste Bekämpfung ist allerdings eine gute Ernährung.

Abg. Lambach (D. Nat.): Wir sind für die Erhaltung aller besonderen Formen der Krankenkassen und verlangen von der Re⸗ gierung, daß sie in ihren Vorlagen für die Erhaltung der Betriebs⸗ krankenkassen, der Innungskrankenkassen, der Landkrankenkassen und der Ersatzkrankenkassen sorgt. Wir wollen auch die besondere Angestelltenversicherung aufrecht erhalten. Daß deren Beiträge und Leistungen noch nicht den jetzigen Geldverhältnien angepaßt sind, ist gerade die Schuld der Freunde der Verschmelzung der An⸗ gestelltenversicherung mit der Invalidenversicherung. Aber es bedarf des Ausbaus des gesamten Versicherungswesens in der Richtung der Anpassung an die Bedürfnisse der einzelnen Bexufs⸗ zweige. 1

Arcg. Karsten (U. .): Mir kam es gestern, wie ich dem Minister erwidere, nicht lediglich auf eine Kritik an, sondern darauf, die Frage des Umbaus unserer Sozialversicherung über⸗ haupt zu besprechen. Das jetzige Versicherungsprinzip ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn die Invalidenrentner bekommen nur etwa ein Fünftel ihrer Beiträge. Wir wollen eine Gesun⸗ dung der Sozialgesetzgebung dadurch, daß alle Hilfen und Unter⸗ stützungen einheitlich zusammengeschmolzen werden. Wenn man eine große umfassende Reform ablehnt, bleibt uns allerdings nichts anderes übrig, als das bisherige Flickwerk fortzusetzen und alles laufen zu laßzen, wie es will. Das Ministerium sollte großzügig der modernen sozialen Entwicklung folgen. Wir müssen noch vor den Sommerferien den Invalidenrentnern eine Erhöhung ihrer Renten bringen. Die kleinen Gewerbetreibenden, kleinen Händler und kleinen Landwirte müssen in die Sozialversicherung einbezogen werden. Es ist graue Theorie, daß Leute, die noch bis 50 Prozent erwerbsfähig sind, einen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt finden. Wie kann eine alte Frau mit einer Monats⸗ rente von 5,35 Mark leben? Wir beantragen, einen neuen Titel einzufügen von 600 000 Mark für einen Reichsausschuß für Arbeitsinvalidenfürsorge, der aus Vertretern der Invaliden⸗ organisation und der Gewerkschaften gebildet wird.

Reichsarbeitsminister Dr. Brauns: Meine Damen und Herren! Ich darf vielleicht auf einige Anregungen, die in der weiteren Debatte gegeben worden sind, zurückkommen. Bei der An⸗ wendung des Gesetzes über die Unterstützung der Invaliden rentner rechnen Gemeinden auf die Unterstützung auch solche Zu⸗ wendungen an, welche Arbeitgeber oder Einrichtungen der Berufs⸗ fürsorge (Unruhe Glocke des Präsidenten) ihren erwerbs⸗ unfähigen Arbeitern freiwillig gewähren. Dies geschieht ins⸗ besondere bei der Zulage zu den knappschaftlichen Leistungen. Da⸗ durch ist bei den invaliden Bergleuten und den Vertretern der Ver⸗

sicherten allerdings eine gewisse Unruhe entstanden. Es besteht die

Gefahr, daß die Zulagen widerrufen werden. Diese Zulagen, um die es sich hier handelt, ergänzen die wegen der Geldentwertung unzulänglich gewordenen knappschaftlichen Leistungen, entsprechen also einer sittlichen Pflicht der Werkbesitzer und dem ‚Interesse an der Erhaltung eines berufsfreudigen Arbeiterstandes. Wo die Zulagen wegen der außerordentlichen Teuerung mit der ausdrück⸗ lichen Bestimmung gewährt werden, daß sie lediglich die öffent⸗ lichen Leistungen ergänzen und bei Anrechnung auf öffentliche Leistungen wegfallen, hat das Reich dagegen nichts zu erinnern, daß die Anrechnung unterbleibt. (Zuruf bei den Unabhängigen Sozialdemokraten: Faules Kompromiß!) Im übrigen entspricht die Anrechnung solcher Zulagen dem Gesetze. Sofern also Fest⸗ stellungen der eben betriebenen Art nicht erfolgen, wäre die An⸗ rechnung gesetzmäßig. Im übrigen wird die Angelegenheit bei der Aenderung des Unterstützungsgesetzes, um die es sich im Herbst dieses Jahres spätestens wieder handelt, ihre Klärung finden. Dies gilt auch, soweit die Entschließung den Unterschied in der Höhe den Invalidenrenten auf Grund der Versicherung in einer höheren Lohnklasse gewahrt wissen will.

Im 6. Ausschuß ist bereits eine Verhandlung angesetzt, die über eine ganze Reihe derjenigen Gegenstände Klarheit schaffen wird, über die Herr Kaiser uns eben Vortrag gehalten hat. Am Freitag befaßt sich dieser Ausschuß mit der Krankenversicherung und mit der Wochenhilfe, dann mit der Erhöhung der Zulage für die Unfallrentner und ferner mit der Neufeststellung der Ver⸗ sicherungsgrenze und der Gehaltsklassen der Angestelltenversicherung.

Dann ist wiederum zur Sprache gekommen die Befreiung der

demokratischen Sozialminister zu verhandeln.

Krankenkassenangestellten vom Besoldungssperrgesetz. immer wieder betonen, daß in dieser Frage das, Reichsfinanz⸗ ministerium zuständig ist. Das Reichsarbeitsmir ium hat nichts dagegen einzuwenden, daß das Sperrgesetz bei Krankenkassen nur unter den Voraussetzungen und nur in dem Umfang angewendet wird wie auch bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte.

Zu den übrigen Fragen habe ich mich bereits im Ausschuß und in meiner gestrigen Rede geäußert. Ich glaube, mich daher auf diese Bemerkungen beschränken zu können.

Der Antrag der Unabhängigen wird abgelehnt.

Akg. Girbig (Soz.) führt Beschwerde über die Ausnutzung der Arbeiter in der Glasindustrie. Leben und Gesundheit der Arbeiter müssen höher stehen als der Profit. Die Behauptung der Fabrikanten, daß bei Verkürzung der Arbeitszeit und weiteren Schutzmaßnahmen die Qualität der Arbeit leiden würde, sei unzu⸗ treffend, denn die deutsche Glasindustrie genösse einen Weltruf.

Abg. Dr. Fick (Dem.) bezeichnet es als fraglich, daß die Bürokratie imstande sein werde, Unfälle zu verhüten. Besser wäre die freiwillige Zusammenarbeit der Maschinenfabriken, Berufs⸗ genossenschaften und Gewerkschaften, womit in der Glasindustrie schon gute Erfolge erzielt seien. Die Selbstverwaltung müsse hier gerade zu ihrem Recht kommen, das sei besser als dicke Gesetzbände.

Reichsarbeitsminister Dr. Brauns: Es ist richtig, daß sich der Zentralverband der Glasarbeiter beim Reichsarbeitsministerium beschwert hat über Nichteinhaltung der achtstündigen Arbeitszeit in der Glasindustrie. Wir haben uns daraufhin sofort an das betreffende Land, in diesem Falle an Bayern, gewandt. Es ist also nicht richtig, wenn gesagt wurde, daß das Reichsarbeits⸗ ministerium in der Sache nichts getan hätte. Das bayerische Ministerium hat die Sache auch verfolgt und hat uns mitgeteilt, daß gegenwärtig Tarifverhandlungen schweben. bayerische Ministerium hat uns weiter mitgeteilt, daß allerdings Ueber⸗ schreitungen der Arbeitszeit stattgefunden hätten, daß das aber ge⸗ schehen sei auf Grund von Vereinbarungen zwischen Unternehmern und den Arbeitern. Ich weiß nicht, wie weit diese Ver⸗ einbarungen gegangen sind und in welchen Förmen sie ab⸗ geschlossen worden sind. Das bayerische Ministerium hat uns weiter mitgeteilt, daß es diese Angelegenheit weiter verfolge. Ich muß annehmen, daß die bayerische Regierung, die verfassungs⸗ mäßig dazu berufen ist, für die Durchführung der Gesetze zu sorgen, das in diesem Falle auch tun wird.

Dann hat ein Antrag Moldenhauer gewünscht, daß wir ge⸗ meinsam mit der Glasberufsgenossenschaft und Vertretern der be⸗ teiligten Arbeitgeber⸗ und Arbeitnehmerorganisationen die Fragen des Arbeiterschutzes in der Glasindustrie prüfen. Dazu sind wir selbstverständlich jederzeit bereit. Wir können also dieser Ent⸗ schließung in der abgeänderten Form der Nummer 4304 nur zu⸗ stimmen. Im übrigen stimme ich dem zu, was der Herr Bericht⸗ erstatter über den § 120 e und seine Anwendung gesagt hat.

Angenommen wird der Antrag Dr. Moldenhauer, die Regierung zu ersuchen, gemeinsam mit der Glasberufs⸗ genossenschaft und den Vertretern der Arbeitgeber⸗ und Arbeitnehmerorganisationen in eine Beratung über An⸗ ordnungen einzutreten, durch welche die Unfallgefahr beim Aufsprengen und Aufschneiden der Walzen in der Tafelglas⸗ industrie nach Möglichkeit vermieden werden kann. Dadurch ist die gestern mitgeteilte Resolution des Ausschusses erledigt. längert werden soll, sind aber auch berechtigt. Durch Verbesserung

Es folgt der Abschnitit Tarifwesen und ArH b Abg. Rosemann (u. Soz.): Der vorliegende Gesetzentwurf über die Arbeitszeit im Steinkohlenbergbau, der keineswegs den Siebenstundentag festlegt, ist für die Bergarbeiter unannehmbar. Die Bergarbeiter wollen nicht ein besonderes Arbeitsgesetz, son⸗ dern verlangen die baldige Einbringung eines einheitlichen Ar⸗ beitsgesetzes für alle Arbeiter und Angestellte. Die Bergarbeiter wollen solänge nicht mehr Ueberstunden leisten, als nicht die Arbeitszeit für sie gesetzlich geregelt ist. Ihre Befürchtungen, daß durch die Ueberschichten die allgemeine Arbeitszeit allmählich ver⸗ längert werden soll, sind aber auch berechtigt. Durch Verbesserung der technischen Einrichtungen läßt sich ohne Ausdehnung der Arbeitszeit die Förderung steigern. 50 Prozent unserer Gruben sind in der Technik noch weit zurück. Der Manteltarif der Berg⸗ leute ist schon vor Monaten gekündigt worden, und erst jetzt soll die Entscheidung darüber fallen. Bei den Bergunternehmern im Ruhrbezirk herrscht noch immer der alte Herrenstandpunkt. Ein Werkleiter vergriff sich tatsächlich an einem Betriebsrat, weil dieser nicht sofort auf Aufforderung das Büro verließ, und der Betriebs⸗ rat wurde dann entlassen, und zwar, wie es hieß, nicht als Be⸗ triebsrat, sondern als Arbeiter. Diese Art der Behandlung der Betriebsräte reizt zu immer neuen Streiks. Die Regierung muß ferner endlich zur Frage des 1. Mai und 9. November als Feier⸗ tage Stellung nehmen; die Arbeiter wollen diese Feiertage haben. Die Arbeitgeber nehmen den Arbeitern immer mehr Rechte ohne Rücksicht darauf, ob dadurch Streiks entstehen. Da kann man sich nicht wundern, wenn die Bergarbeiter Ueberschichten ablehnen. Der Gesetzentwurf über die Arbeitszeit in den Steinkohlenberg⸗ werken enthält neben der einen Verbesserung der Abkürzung der Arbeitszeit auf sieben Stunden auch manche Verschlechterung des jetzigen Zustandes. So kann z. B. der Arbeitsminister für Be⸗ triebe mit ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen einfach auf Antrag des Arbeitgeberverbandes die Schichtzeit um eine halbe Stunde verlängern. Außerdem wird die Arbeitszeit nicht über⸗ haupt gesetzlich festgelegt, sondern soll durch Tarifvertrag ab⸗ weichend geregelt werden können. Und für Betriebspunkte mit einer Wärme über 28 Grad Celsius soll, wenn eine Vereinbarung nicht zustandekommt, die Bergbehörde die Arbeitszeit festsetzen; zur Bergbehörde haben aber die Arbeiter kein Vertrauen.

Abg. Brey (Soz.): Der Entwurf der Schlichtungsordnung wird von den Arbeitern abgelehnt, weil sie darin eine Beeinträch⸗ tigung ihrer Rechte sehen. All die darin enthaltenen Zwangs⸗ maßnahmen können das Ziel nicht erreichen, das erreicht werden soll. Es bedarf eines allgemeinen Arbeitervertragsrechts. Auf dem Wege der Verordnung sind allerdings schon manch Forderungen der Gewerkschaften erfüllt worden. Deshalb sollte man jetzt ein Tarifgesetz jedenfalls nicht überhasten, sondern ein⸗ gehend prüfen. Manche Arbeitnehmerorganisationen können nicht als Tarifträger angesehen werden. Der Tarifgedanke hat erst eine kurze Tradition; noch im Jahre 1914 erklärte der Zentralverband der deutschen Industriellen die Tarifverträge als gefährlich für die Industrie. Die Frage bedarf also durchaus noch der Klärung. Dem Geiste der Unternehmer darf nicht Rechnung getragen werden. In einem Falle in Magdeburg konnte es nicht zu einer Verbindlichkeitserklärung eines Schiedsspruchs kommen, weil sich das Arbeitsministerium einmischte. Danach scheint noch der alte tariffeindliche Geist im Reichsarbeitsministerium zu herrschen. Gegen die hartgesottenen Metallindustrieherren sollte der Minister mit schärferen Maßnahmen zufassen. Die Gewalttaten, die man den Arbeitern vorwirft, gehören in das Gebiet der Fabel. Wenn Betriebsschädigungen vorgekommen sind, so sind sie die Folgen der Sünden der Arbeitgeber, die den Arbeitern ihre Rechte vor⸗ enthalten. Ins Gebiet der Fabel gehören auch die Behauptungen, daß die Sekretäre des Fabrikarbeiterverbandes und des christlichen Arbeiterverbandes terroristische Akte geleitet hätten. Der Streik in der Zementindustrie hat noch zu keiner Verständigung geführt, in Baden haben die Unternehmer es abgelehnt, mit dem sozial⸗ Dieser Streik kann

das ganze Bauprogramm des Reichsarbeitsminfsters über den Haufen werfen. Deshalb sollte der Minister auf die Unternehmer einwirken. Auf tariflichem Wege müssen die Dinge in Ordnung gebracht werden.

* Abg. Schimmelpfennig (D. Nat): Die Stellungnahme des Ministers gegen die wirtschaftsfriedlichen Arbeiterverbände wird in dem Pommerschen Landbund große Erregung erzeugen und neuen Konfliktstoff in die pommersche Landwirtschaft werfen. Die pommerschen Landwirte haben Kollektivverträge mit ihren Arbeitern abgeschlossen. (Unruhe links.) Die Tätigkeit der Sozialisten in Pommern hat geradezu verheerend gewirkt. (Ruf links: Unerhört! Sie werfen ja die Leute auf die Straße!) Ter Arbeitsminister hat diese Tarifverträge nicht anerkannt, die ange⸗ fochtenen Satzungen des Landtages sind aber geändert worden, trotzdem ging der Minister auf den Vorschlag eines Schieds⸗ spruches nicht ein. Wir wollen uns diese Behandlung nicht länger gefallen lassen. (Lachen links.) Wir stehen in dieser Frage mit unseren Arbeitern zusammen, und ich bitte dringend den Minister, seine Haltung zu ändern. Die Vereinigungsfreiheit ist in der Ver⸗ fassung für alle und jedermann gewährleistet. Die Haltung des Ministers bringt es dahin, die Koalitionsfreiheit zum Koalitions⸗ zwang zu machen. Wir fügen uns diesem Zwang nicht.

Abg. Simon⸗Franken (U. Soz.) beklagt es, daß die Tarif⸗ verträge von den Unternehmern nicht innegehalten werden, und daß selbst Richter dahin erkannt hätten, daß für verbindlich er⸗ klärte Tarifverträge die Unternehmer, die nicht zur Arbeitnehmer⸗ organisation gehörten, nicht verpflichteten, den tarifmäßigen Lohn zu zahlen. Dagegen muß das Ministerium Maßnahmen ergreisen. Der Vorredner wollte der Freiheit einen Weg bahnen, natürlich der Freiheit, wie er sie meint. Mit der Berufung auf die Ver⸗ fassung kann der Vorredner keinen Enidruck machen. Die Arbeit⸗ geber haben früher den schärfsten Druck auf die Arbeiter ausgeübt. Die wirtschaftsfriedlichen Verbände können nicht anerkannt werden; hat doch selbst ein Großunternehmer gesagt, daß sie Parasiten und Sumpfpflanzen seien, die sobald wie möglich aus⸗ gerottet werden müßten.

Abg. Frau Ziegler (U. Soz.): Noch immer fehlt es an einem einheitlichen Arbeitsrecht für die Hausangestellten. Der dem Reichswirtschaftsrat vorgelegte Gesetzentwurf gibt den Haus⸗ angestellten keine zeitgemäßen Rechte, sondern stempelt sie zu Menschen zweiter Klasse. Das Arbeitsministerium wagt es in diesem Entwurf, den Hausangestellten eine 13 stündige Arbeitszeit zuzumuten und das Recht auf einen völlig freien Sonntag vorzu⸗ enthalten. Bedauerlich ist es, daß nach der Regierungsvorlag⸗ Kinder von 12 Jahren an täglich 3 Stunden Arbeit im Häaushalt leisten sollen. Wie will die Regierung die Gewähr dafür bieten, daß diese Jugendlichen vor gesundheitlichen Schäden und vor Aus⸗ beutung bewahrt bleiben? Die Regierung hat die Pflicht, den Hausangestellten zu ihrem Rechte zu verhelfen, denn sie legt ihnen ja viele Pflichten auf. .

Abg. Moldenhauer (D. Vp.): Die Ausführungen des Arbeitsministers über die wirtschaftsfriedlichen Gewerkschaften haben bei uns lebhaftes Befremden hervorgerufen. Wenn der Minister Organisationen, deren Vertreter Mitglieder dieses Hauses sind, mit einem Namen bezeichnet, den diese Verbände als kränkend empfinden, so muß die Sachlichkeit der Verhandlung dadurch leiden. Der Minister sollte wissen, daß auch die christlichen Gewerk⸗ schaften sich anfangs nur schwer durchsetzen konnten. Ich hoffe, daß der Minister seine Ansicht noch ändern wird. Ein Koalitions⸗ zwang, wie ihm der Minister Braun das Wort geredet hat, wider⸗ spricht der Verfassung. (Lebhafter Beifall.)

Abg. Malzahn (fraktionsloser Kommunist): Im Tarif⸗ wie im Schlichtungswesen haben die Arbeiter gleich schlechte Er⸗ fahrungen gemacht. Der Kampf unserer süddeutschen Brüder ist der Kampf des gesamten Proletariats. Die Schlichtungsordnung will dem Arbeiter seine besten Rechte nehmen. Den Entwurf über die Arbeitszeit im Bergbau lehnen wir ab. Wir verlangen hier die sechsstündige Arbeitszeit. Der Urlaub für Arbeiter muß gesetz⸗ lich festgelegt werden.

Reichsarbeitsminister Dr. Brauns: Meine Herren, ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß wir uns hier über den Inhalt des Artikels 159 der Reichsverfassung weiter unterhalten. Man kann über die Bedeutung und den Sinn dieses Artikels verschiedener Meinung sein. (Lebhaftes Hört, hört! und Zurufe von der D. Vp.) Ich sage: man kanm verschiedener Meinung sein. Mehr habe ich nicht gesagt! Auch unter denen, die diesen Artikel damals beschlossen haben, die ihn mitberaten haben, sind über seinen Inhalt die Meinungen geteilt. (Zuruf von den D.⸗Nat.: Das gilt von der ganzen Reichsverfassung! Heiterkeit.) Das ist etwas anderes. ob wir über den Wert der Reichsverfassung geteilter Meinung sind oder über das, was in den betreffenden Artikeln gesagt ist.

Was nun den Koalitionszwang angeht, so hat es mir selbstver⸗ ständlich fern gelegen, irgendeinem Koalitionszwang mit illegalen Mitteln das Wort zu reden. (Hört, hört! bei der D. Vp.) IJc habe ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wenn die Herren einen Augenblick gestatten, hoffe ich, den Passus noch sofort zu finden —, daß es eben auf die Umstände und die Mittel, unter denen ein Koalitionszwang ausgeübt wird, ankommt. Sie können ja das Stenogramm nächstens nachsehen; Sie werden das finden.

Ich glaube, daß damit wohl das Mißverständnis, von dem der Herr Vorredner ausgegangen ist, genügend aufgeklärt ist. (Lebhaftes Widerspruch bei der D. Vp.)

Abg. Winnefeld (D. Vp.): Vor weiteren Experimenten auf dem Gebiet des Kohlenbergbaues möchte ich warnen im Inter⸗ esse der deutschen Wirtschaft, die unter Kohlenmangel leidet. Das sollten doch auch die Herren auf der Linken einsehen. Jetzt müssen schon aus dem Ausland Kohlen eingeführt werden. Es ist ein volkswirtschaftlicher Unsinn, Kohlen einzuführen, die wir im Lande selbst gewinnen können und zugleich Arbeitslosenunterstützung zu zahlen. Als Bergmann habe ich keine Veranlassung, den Entwurf über Arbeitszeit im Kohlenbergbau ohne weiteres abzulehnen.

Abg. Janschek (Soz.) bespricht die Bergarbeiterfragen.

Um 814 Uhr wird ein Vertagungsantrag des Abg. Höllein (Komm.), der damit begründet wird, daß mit der Arbeitskraft der Abgeordneten und des Personals kein Raubbau getrieben werden dürfe, gegen die Stimmen der Kommunisten abgelehnt. Darauf sprechen noch die Abgeordneten Thiel (D. Vp.), Oettinghaus (U. Soz.), Adams (D. Vp.), der das Zementwerk Leinen⸗Heidelberg gegen Angriffe des Abg. Brey verteidigt und Schmidt⸗Cöpenick (Soz.).

Der Gesetzentwurf über die Arbeitszeit im Bergbau wird an den Sozialpolitischen Ausschuß überwiesen.

Um 914 Uhr vertagt das Haus die weitere Beratung des

Etats auf Freitag, 11 Uhr. *

(Fortsetzung des Nichtamtlichen in der Ersten Beikage⸗)

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Verantwortlicher Schriftleiter: Direktor Dr. Tyrol, Charlottenburg.

Verantwortlich für den Iböö Der Vorsteher der Geschäftsstelle

Rechnungsrat engering in Berlin. Verlag der Geschäftsstelle (Mengering) in Berlin. Druck der Norddeutschen Buchdruckerei und Verlagsanstalt, Berlin, Wilhelmstr. 32.

6 Acht Beilagen

keinschließlich Börsenbeilage und Warenzeichenbeilage Nr. 50 A und B) und Erste, Zweite, Dritte und Vierte Zentral⸗Handelsregister⸗Beilage

öPöP] Beilage ““ zum Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen St

ger 1922

138. Sitzung vom 18. Mai 1922, Vormittags 11 Uhr.

(Bericht des Nachrichtenbüros des Vereins deutscher Zeitungsverleger*).)

zräsident Leinert eröffnet die Sitzung um 11 Uhr 20 Minuten, in Anwesenheit von 5 Abgeordneten.

Ohne Debatte stimmt das Haus dem Zentrums⸗ antrag auf Einrichtung von Einigungsämtern zur Aende⸗ rung der in Altenteils⸗ usw. Vertragen vorgesehenen Geld⸗ .“ nach Maßgabe der heutigen wirtschaftlichen Verhält⸗ nisse zu.

Darauf setzte das Haus die zweite Bevatung des Haus⸗ halts der Berg⸗, Hütten⸗ und Salinenver⸗ waltung fort.

Abg. Rogg (Komm.) berichtet über Uebergriffe von Unter⸗ nehmern gegen Betriebsräte. Die Arbeiterschutzvorschriften im Kohlenbergbau würden nicht genügend beachtet. Die Sicherheit der im Bergbau beschäftigten Arbeiter müfse aber unter allen Umständen gewährleistet werden. Die Zustände in der Knapp⸗ schaftsheilstätte in Dehnhausen seien himmelschreiend. Die Revision der Schachtanlagen von Klaustal sei monatelang nicht vorgenommen worden. In der Jagd nach Profit werde der Arbeiterschutz von den Unternehmern ganz vergessen.

Abg. Dr. v. Waldthansen (D. Nat.): Aus der Rede des Handelsministers glaube ich entnommen zu haben, daß er sich die Umstellung des staatlichen Berg⸗, Hütten⸗ und Salinenbetriebes so denkt, daß er unter Begründung einer Anzahl von Aktien⸗ gefellschaften doch eine Zentralverwaltung für diese Betriebe in zerlin einrichten will. Ich würde für eine solche Idee nicht zu haben sein, denn eine derartige Zentralabteilung, die von der zentralen Bergverwaltung losgelöst ein Eigenleben führt, würde gerade den Bürokratismus, den wir beseitigen wollen, wieder zutage fördern und eine wirkliche Betätigung der Aufsichtsräte und Generalversammlungen hemmen. Den vom Hauptausschuß beantragten neuen Ministerialrat lehnen wir ab; die Vor⸗ EW großen Werks der Betriebsumstellung erfordert be⸗ sondere Mittel, die ja der Ausschuß auch der Regierung zur Ver⸗ fügung stellen will und aus denen auch die Entschädigung für die Hilfskräfte bestritten werden kann, die sich für dieses Werk ein⸗ setzen müssen. Die Deutschnationalen haben den paritätischen Ausbau der Beiräte bei den Oberbergämtern beantragt. Gestern hat dieser unser Antrag auf mehreren Seiten Widerspruch ge⸗ funden. Wenn aber diese Beiräte nach der Auffassung des Aus⸗ schusses im wesentlichen dazu bestimmt sind, bei den Oberberg⸗ ämtern ein Sprachrohr für die Wünsche und Interessen der Arbeitnehmer darzustellen, so kann man es Arkeitgebern nicht verdenken, daß sie dabei auch ihrerseits ihre Interessen zur Geltung bringen wollen. Was den Sortierungsvertrag betrifft, den Herr Hugo Stinnes mit Paris abgeschlossen hat, so hat auch der Minister zugegeben, daß es sich da um ein vollkommen ein⸗ wandfreies Geschäft handelt, das auch nicht die leiseste Angriffs⸗ fläche bietet. Gleichwohl hat gestern der Abg. Sobottka einen neuen Angriff daraus hergeleitet, daß der Minister von Hausbrand, der Kohlenkommissar aber von Industriekohlen gesprochen hat. Ich stelle fest, daß nach dem Protokoll der Vollversammlung des Reichskohlenrats vom 31. März der Reichskohlenkommissar von Industriekohle nicht gesprochen hat. (Widerspruch links.) Die Pariser können bei den kleinen Schornsteinen ihrer Häuser und bei ihren Kaminanlagen, die dort statt der Oefen allgemein sind, die Kohle nicht so verwenden, wie wir sie bekommen; die Kohlen müssen darum gesiebt werden, um für Paris als Hausbrand Ver⸗ wendung zu finden. Im Ruhrrevier ist Tag für Tag die Ge⸗ stellung von 450 Zehntonnenwagen notwendig. Im Höchstfall sind 237, im niedrigsten Fall 40 gestellt worden; im Durchschnitt ist 100 die Gestellungszahl, 150 ist schon hoch. Glück⸗ licherweise liegen die Zechen in der Nähe des Kanals, den sie zum Transport benutzen können. Wir haben zur Milde⸗ rung des Wagenmangels die Forderung erhoben, daß die Eisen⸗ bahnverwaltung endlich mit dem Bau von Fünfzehntonnenwagen rascher vorwärts gehe. Die jetzt an Polen gefallenen früher preußischen Gebiete der Provinzen Posen und Westpreußen waren stets für Kali sehr starke Abnehmer; sie hungern auch jetzt nach Kali, und die Regierung sollte Schritte tun, um bei Polen durch⸗ zusetzen, daß uns gegen Kali Roggen geliefert werde. Im Jahre 1913 betrug der Inlandsabsatz an Kali 54,5 Prozent, der Aus⸗ landsabsatz 45 5 Prwozem. 1921 ist ersterer auf 83,5 Prozent ge⸗ stiegen, letzterer auf 16,5 Prozent zusammengeschrumpft. Bei einer so außerordentlichen Verschiebung kann die Landwirtschaft sich nicht wundern, daß se höhere Preise anlegen muß. Dr. Pinker⸗ neil hat gestern die Erhöhung des Kohlenpreises als geradezu katastrop 14 bezeichnet. Ich kann das nur bestätigen und bedauern, daß der Reichstag damals die Kohlensteuer auf 40 Prozent erhöht hat, während die eigentlichen Sachverständigen, der Reichswirt⸗ schaftsrat und der große Ausschuß des Reichskohlenrats 30 Prozent als das zulässige Maximum erklärten. Gewiß muß der Reichs⸗ finanzminister Mittel in größtem Stile heranschaffen, aber mußte denn gerade bei der Kohle die Steuerschraube derart angesetzt werden? Es wird ja dadurch automatisch die ganze Lebenshaltung in dem gleichen Maßstabe verteuert. Wenn der Inlandskohlen⸗ preis den Weltmarktpreis erreicht und damit der Weltmarktpreis auch für alle andern Produkte des Weltverkehrs entsprechend hinaufgetrieben wird, so kann für uns von einer Konkurrenz⸗ fähigkeit mit dem Ausland keine Rede mehr sein. Wir nähern uns dem Feidene⸗ wo diese Grenze überschritten wird; sie ist an einzelnen Stellen schon überschritten worden. Geht das so weiter, dann ist der Tag nicht mehr fern, wo die Arbeitslosigkeit mit all ihrem Elend auch an uns herantritt. Nun ist von links ein Antrag gestellt, der eine grundlegende Revision des Kohlensteuergesetzes verlangt. Ich glaube, schon jetzt hat die Reichsregierung eine Handhabe, um Abhilfe zu schaffen, denn § 6a des Reichskohlen⸗ steuergesetzes ermächtigt sie, nach Anhörung des Reichsrats und des Reichswirtschaftsrats evtl. die Kohlensteuer herabzusetzen. Möge die Regierung Veranlassung nehmen, die Reichsregierung vor die Frage zu stellen, ob nicht dazu der Zeitpunkt jetzt ge⸗ kommen ist. Wohin ein Volk kommen muß, wenn es auf den Export zu verzichten gezwungen wird, das sehen wir jetzt an der Tschecho⸗Slowakei. Dort muß eine Fabrik nach der andern den Betrieb schließen oder ihn auf das äußerste einschränken; die dortige chemische Industrie hat ihre Arbeiterschaft vor die Alter⸗ native gestellt, sich 30 Prozent Lohnabzug gefallen zu lassen oder die Arbeit zu verlieren. Solange also Export noch möglich ist, muß diese Möglichkeit unbedingt ausgenutzt werden, das erfordert das Interesse der Arbeiter selbst. Daß der Export durch Streiks auf das Schwerste gefährdet wird, darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. as den letzten Streik im Industrierevier betrifft, so hat der Zechenverband durchaus korrekt gehandelt. Der 1. Mai

*) Mit Ausnahme der durch Sperrdruck hervorgehobenen Reden der Herren Minister, die im Wortlaute wiedergegeben sind.

war kein Feiertag, sondern ein Arbeitstag, und es war ein Ent⸗ gegenkommen der Zechenverwaltungen, wenn sie den Direktoren empfahlen, von Geldstrafen Abstand zu nehmen, wenn ein Arbeiter am 1. Mai ausblieb. Die Vertreter des Bergarbeiterverbandes hatten aber schon am 10. und 11. April erklärt, sie würden trotz⸗ dem ihre Anhänger zu Demonstrationen am 1. Mai auffordern. Hätte der Verband eine andere Haltung eingenommen, so wäre der Streik gar nicht ausgebrochen. Ich perfönlich halte jeden Streik für durchaus unzulässig. (Gelächter auf der äußersten Linken.) Deutschland kann sich heute Streiks nicht leisten. (Un⸗ ruhe und Lachen links.) In Deutschland hat nach der Revolution ein Streik den andern abgelöst, der Streikbazillus wütet weiter. In Deutschland wird mit dem Gedanken des Streiks viel zu viel gespielt, und in Arbeitnehmerkreisen tritt zum Teil eine außer⸗ ordentliche Ueberempfindlichkeit auf. Es darf nicht vorkommen, daß, wenn ein Betriebsrat, vielleicht auch zu Unrecht, gemaßregelt wird, man dann sofort die betreffende Zeche oder Fabrik bestreikt und womöglich Sympathiestreiks angezettelt werden, die wie dies⸗ mal 25 000 Bergarbeiter in einer Zeit der schwersten Not Deutsch⸗ lands veranlassen, zehn Tage lang mitzumachen. (Große Unruhe auf der Linken.) jiese persönliche Note der Streiks ist total falsch. Ein Streik mag versucht werden, wenn es sich um Lebens⸗ notwendigkeiten handelt, Streiks aber, wie den letzten, die ent⸗ stehen, weil irgend einem Betriebsrat auf den Fuß getreten wird, halte ich für ein Verbrechen. Was würden Sie dazu sagen, wenn ein Zechendirektor oder Zechenbesitzer aus ähnlicher Veranlassung zehn Tage Aussperrung verfügen würde? (Zuruf links: Das machen sie ja alle Tage!) Auf beiden Seiten ist Verständnis und usammenarbeiten notwendig, sonst ade Wiederaufbau unseres

aterlandes! (Beifall rechts.)

Ein Regierungsvertreter geht auf die vom Abg. Rogg geschilderten Zustände der Lungenheilstätte in Behringhausen ein und berichtet, aus welchen Gründen man dort zu einer Ver⸗ schärfung der ärztlichen Vorschriften hätte schreiten müssen. Abg. Husemann (Soz.) setzt sich mit den gestrigen Aus⸗ führungen des Abg. Dr. Pinkerneil auseinander. Verantwortlich⸗ keit habe Herr Pinkerneil wenig gezeigt. (Zustimmung.) Von allen namhaften Volkskreisen, die für die Volkswirtschaft in Frage kämen, nähmen die Bergarbeiter die meiste Rücksicht auf die All⸗ gemeinheit. (Sehr richtig!) Ich frage, fährt Redner fort, ob Herr Pinkerneil bereit ist, den Betriebsräten, die gestern so schwer angegriffen worden sind, Genugtuung widerfahren zu lassen und ob er bereit ist, seine gestrige Rede Auge in Auge den Betriebs⸗ räten gegenüber zu halten. Herr Pinkerneil sagte, die meisten Betriebsräte taugten nichts, sie seien Schnaps⸗ und Schieberräte. Wer hat denn die Betriebsräte dahin gebracht, daß sie diesen Handel angefangen haben? Das war die Grubenverwaltung. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wenn Ueber⸗ griffe zustandekommen, dann reißt man die Betriebsräte auch sofort herunter. Würden Sie, Herr Pinkerneil, mitten im Ruhr⸗ revier gearbeitet haben und würde Ihnen das ganze Material der Behandlung der Betriebsräte auf den Zechen bekannt sein, dann würden Sie das nicht alles gesagt haben. Wäre die ganze Be⸗ handlung der Maifeierfrage von der Unternehmerseite eine andere gewesen, dann wäre es auch nicht zu den Konflikten gekommen. In einem Anschlag einer Zechenverwaltung hieß es, daß unent⸗ schuldigtes Fernbleiben von der Arbeit eine Anrechnung auf den Urlaub nach sich ziehe. Eine Beurlaubung finde nur in Fällen persönlicher Angelegenheiten statt. Entschuldigungen wurden also gar nicht angenommen. Nur der Herrenstandpunkt des Zechen⸗ verbandes ist an allen Vorkommnissen schuld. (Sehr war! bei den Sozialdemokraten.) Hat denn die christliche Religion mit der Einsetzung der Feiertage auch so lange gewartet, bis sie die Mehr⸗ heit hatte? Hat man denn früher, wenn die vergangenen Hohen⸗ zollern nach Essen kamen oder sonst ein nationaler Feiertag war, hat man da gefragt, ob die Mehrheit der Bergarbeiter feiern wollte? (Zustimmung.) Nur mit Zwang wurde alles gemacht. Redner berichtet des weiteren über viele Uebergriffe von 8 nehmern gegenüber den Betriebsräten. In einem Falle wurde ein ehemaliges Betriebsratsmitglied verpflichtet, sich nicht wieder wählen zu lassen. Die Beschlüsse der Betriebsräte würden von einzelnen Unternehmern nicht als bindend angesehen. Ein Anschlag, in welchem sich eine Witwe eines verunglückten Bergmannes für eine Sammlung der Belegschaft bedankte, sei abgerissen worden. Ein Betriebsratsmitglied sei entlassen, weil es einen Anschlag anheftete, in dem zum Beitritt in die gegründete Unterstützungs⸗ kasse aufgefordert wurde. Durch solche Uebergriffe trügen die Unternehmer nicht dazu bei, das Einvernehmen zu fördern, von dem immer geredet werde. Das Notizenmachen beim Vorlesen von Bilanzen in einer Sitzung des Betriebsausschusses wurde für un⸗ zulässig bezeichnet. Systematisch würden monatelang zurückliegende Dinge hervorgeholt, um unliebsame Betriebsratsmitglieder los⸗ zuwerden. Was Herr Pinkerneil gesagt hat, fährt Redner fort, ist gewissermaßen eine Kampfansage. Ich habe mich gefragt, ob das mit der Koalition überhaupt vereinbar ist und ob eine solche Be⸗

schimpfung der Arbeiter und Arbeitervertreter zulässig ist. Ich

gebe Ihnen Brief und Siegel, die Ruhrbergleute werden sich die Verschandelung des Betriebsrätegesetzes nicht gefallen lassen. Wenn Herr Pinkerneil sagte, Herr Stinnes gebe 600 000 Arbeitern Brot, und sorge dafür, daß alle großen Betriebe in Bewegung sind, so tun dies vielmehr die 600 000 Arbeiter. Wenn diese es wollen, so werden die Werke stillstehen, ob es Herr Stinnes will, oder nicht. Die Werke werden laufen, selbst wenn Herr Stinnes oder andere Industriekapitäne nicht mehr sind. (Stürmische Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) So kann man eine Arbeitsgemeinschaft nicht auffassen. Ich wünsche und hoffe nur, daß diese Debatte dazu führt, daß man wirklich die Arbeiter zu verstehen sucht, und daß das Wort, das 1905 hier gesprochen wurde, wahr werde, daß man versucht, die Seele des Arbeiters verstehen zu lernen. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

Abg. Otter (U. Soz.) wendet sich gegen einige Aeußerungen des Abg. Pinkerneil und fragt: Sind Sie, Herr Pinkerneil, bereit, für das Wohl des Vaterlandes und eine Erhöhung der Kohlen⸗ produktion mit mir in den Bergbau einzufahren? Ich bin bereit, Sie als Bergarbeiter anzulernen. Ich erkläre mich bereit, mit den Herren von Waldthausen, Martin, Seidel und Pinkerneil zusammen Kohle zu fördern. Dann möchte ich einmal sehen, ob Sie noch von Ueberschichten reden. Der letzte Streik ist keineswegs eine Niederlage für uns gewesen. Der 1. Mai ist ein Weltfeiertag des Proletariats und daran ist nicht zu rütteln. Die Arbeiterschaft läßt es sich nicht nehmen, am 1. Mai gegen die ganze kapitalistische Clique und ihre Ausbeutung zu demonstrieren. Herr Harsch hat von den „sozialistischen Horden“ gesprochen und damit sich einer unqualifizierbaren Beschimpfung schuldig gemacht; darum bin ich ihm entgegengetreten. Herr Harsch hat auch das seinige getan, um die Kampfesstellung der Beamten im Ruhrrevier zu unter⸗ graben. Auf die Aussperrungen hätte Herr v. Waldthausen im Hinblick auf das Schauspiel, welches das Unternehmertum in der süddeutschen Metallindustrie seit langen Wochen bietet, lieber nicht hinweisen 1

Abg. Sobottka (Komm.) wendet sich gegen einige der gestrigen Ausführungen der Abgg. Martin und Dr. Pinkerneil, und empfiehlt den Vertretern der Mehrheitssozialisten, mit derselben erfreulichen Energie, wie diese Anwälte des Kapitalismus, den innerlich unwahren Ideen der Arbeitsgemeinschaft zwischen Kapital und Arbeit den Abschied zu geben

Mit einer Replik des Abg. Harsch (Zentr.) gegen den Abg. Otter schließt die allgemeine Besprechung.

Persönlich bemerkt der

Abg. Dr. Pinkerneil (D. Vp.), daß er die Aufforderung des Abg. Otter, sich von ihm als Bergarbeiter anlernen zu lassen, ablehnen müsse (Heiterkeit); er habe auch in den Parlamentsferien reichlich Arbeit und daäfür keine Zeit.

Zu den einzelnen Titeln dieses Haushalts ist die Rede⸗ zeit auf 5 Minuten beschränkt.

Abg. Holz⸗Schlesien (D. Nat.) macht gegen den Zentrums⸗ antrag, den bisherigen Markscheidergehilfen die Amtsbezeichnung „Markscheider“, den Oberbergamtszeichnern die Amtsbezeichnung „technische Bergobersekretäre“ zu verleihen, und die Feldaufseher in Oberschlesien in das Angestelltenverhältnis zu überführen, Be⸗ denken geltend.

Abg. Dr. Pinkerneil (D. Vp.) befürwortet den Antrag, den Oberbergamtsmarkscheidern die Amtsbezeichnung Berg⸗ und Vermessungsrat, den übrigen staatlichen Markscheidern die Amts⸗ bezeichnung Berg⸗Vermessungsrat zu verleihen.

Abg. Rürup (Zentr.) tritt diesem Antrage entgegen und empfiehlt den vom Zentrum gestellten Antrag.

Auf eine Anregung des Abg. Franz (Zentr.) erklärt der

Minister für Handel und Gewerbe Siering: Ich habe be⸗ reits in meiner ersten Rede auf die Verpflichtung des Staates hingewiesen, Oberschlesien besondere Fürsorge zuteil werden zu lassen. Die Anregungen des Herrn Abgeordneten Franz werden mir Anlaß geben, erneut in eine ernste Prüfung darüber einzutreten, inwieweit dem Schaden, den Arbeiter und Angestellten gehabt haben, Rechnung getragen werden kann. Es ist nur das Allerböseste bei der Sache, daß wir uns gegenwärtig dort nicht selbst mit den Körperschaften ins Benehmen setzen können. Ich habe bereits in meiner zweiten Rede in Aussicht gestellt, daß ich, sobald sich dazu die Möglichkeit bietet, in Oberschlesien anwesend sein werde, um mit allen in Frage kommenden Körperschaften in dieser Angelegenheit Rücksprache zu nehmen. Soweit wir irgend können das ist nach meiner Ansicht Pflicht des Staates muß er alles tun, um die schweren Wunden wieder zu heilen, die der oberschlesischen Bevölkerung geschlagen worden sind. (Bravo!)

Abg. Kilian (Komm.): In Mitteldeutschlaͤnd lassen es die Bergbehörden vielfach an der erforderlichen Aufsicht sehlen. Im Braunkohlenbergbau unterlassen es die Unternehmer häufig, das

Terrain wieder einzuebnen, nachdem die Kohle a t ist. Hi muß Remedur eintreten. hle abgebaut ist. Hier

Abg. Sobottka (Komm.): Die elektrischen iper haben 8 allmählich als eine Gefahr für sie bieten nicht genügende Sicherheit. 8 8 Abg. Dr. Pinkerneil tritt für den Antrag der Deutschen Volkspartei ein, für den Ausbau des Gießereifachs an der Berg⸗ akademie Clausthal sofort Sorge zu tragen. Es soll eine Million bee Nne ““ den Etat eingesetzt werden unter der V assetzung, da r De · i

eine Million ügung feellt.

Minister für Handel und Gewerbe Siering: Bezüglich des Antrags auf Drucksache Nr. 2766 kann ich mitteilen, daß der Herr Finanzminister ganz auf dem Boden dieses Antrags steht. Wenn ich darum bitte, ihn heute nicht abschließend anzunehmen, sondern erst im Ausschuß zu beraten, so lediglich deshalb, um eine bessere Grundlage zu finden. Diese Ausschußberatung ist auch im Interesse der Antragsteller wünschenswert. Daß ich persönlich diesen Bestrebungen sehr freundlich gegenüberstehe, sie sogar für dringend notwendig halte, brauche ich nicht zu betonen. Wir füllen damit eine Lücke aus, die bisher bestanden hat. Aus diesem Grunde bitte ich Sie, den Antrag dem Ausschuß zur be⸗ sonderen Beratung zu überweisen. Ich bin überzeugt, daß das Bestrebungen des Antrags beistimmen wird.

mit schließt die Einzelbesprechung. Es wird zur Ab⸗ stimmung über den Berghaushalt 8 die senee hene een vorliegenden Anträge geschritten. 8

Der Haushalt selbst wird nach den Vorf Hläg des Hauptausschusses in Einnahme und Ausgabe e d demgemäß die Besoldung für einen 9. Ministerialrat bewilligt. Der Antrag der Deutschen Volkspartei, betreffend die Ein⸗ stellung von einer Million mehr in das Extra⸗Ordinarium für die Bergakademie in Clausthal, wird dem Hauptausschuß überwiesen. Die Anträge des Hauptausschusses gelangen fast durchweg zur Annahme, nur derjenige, der bei der Neu⸗ gestaltung der Syndikatstverträge die Sonderbezugsrechte der Hüttengesellschafte mit Zechenbesitz beseitigen will, wird mit 114 gegen 108 Stimmen abgelehnt. 1 b

Sämtliche Anträge, die sich auf Beamtenverhä nisse beziehen, gehen an den E“

Von den aus der Mitte des Hauses sonst eingebrachte Anträgen wird der der Deutschnationalen auf paritätischen Ausbau der Beiräte bei den Oberbergämtern abgelehnt. Der Antrag der Deutschnationalen, betreffend die Unterstellung landwirtschaftlich benutzter Flächen, welche durch den Berg⸗ bau ausgebeutet werden, unter die Pachtschutzordnung, geht an den landwirtschaftlichen Ausschuß. Die Anträge der Kom⸗ mumisten und Unabhängigen auf Sozialisierung des Bergbaus der Sozialdemokraten ar 2 ohlen setzes wi delsausschuß überwiesen. 8 8 1

Die zweite Beratung des Gesetzentwurfes, be⸗ 11““ Hannover, wird

haoutigen Tagesordnung abgesetzt und so , 1 erster Stelle beraten ““ 8—

Das Haus geht über zur Beratung des Haushalts des Ministeriums für Volkswohlfahrt. Der Ausschuß hat vorgeschlagen, den Haushalt mit ver⸗ schiedenen Erhöhungen in der Ausgabe zu bewilligen. So werden eine 19. Minsterialratsstelle, 5 Millionen Mark an Beihilfen zur Bekämpfung der Tuberkulose, 500 000 Mark zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und Erhöhung anderer Titel beantragt. Daneben unterbreitet der Ausschuf dem Hause eine Reihe von Entschließungen.

Abg. Frau Ege (Soz.) erklärt, daß die Sozialdemokratie stets die Schrittmacherin der Volkswohlfahrt gewesen sei. In das Volkswohlfahrtsministerium müßten mehr Frauen berufen werden. Der Wohlfahrtspflege werde noch viel zu wenig Be⸗ deutung beigemessen. Es sei erfreulich, daß der Aus chuß