messen sei. In dem Abkommen über die Pensionen seien die sogenannten Neupensionäre sehr ungünstig weggekommen. Die Rechte der Minderheiten seien in dem Vertrage nach keiner Nichtung gesichert. Als schleswig⸗ holsteinscher Bevollmächtigter gab Tönnies folgende Erklärung ab: „Dem Vertrage müssen wir, die Provinz Schleswig⸗Holstein, zu⸗ stimmen, weil wir genötigt sind, den bestehenden tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Die auf Grund des Ver⸗ sailler Vertrages unter grober Mißachtung des in diesem Ver⸗ trage festgelegten Selbstbestimmungsrechts der Völker dem Deutschen Reich aufgezwungene Grenze erkennt die Provinz
Der
nicht an, wir verlangen eine entsprechende Korrektur.“ Vertrag wurde hierauf angenommen.
Die nächste Sitzung des Reichsrats findet am Donnerstag,
den 1. Juni atz 1
Der Ausschuß des Reichsrats für Rechtspflege hielt heute eine Sitzung.
Die Januarnummer der „Amtlichen Nachrichten des Reichsversicherungsamts“ für 1922 enthält u. a. den gemäß § 1358 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung auf Grund der Uebersichten aufzustellenden Nachweis über die Rechnungsergebnisse für das Geschäftsjahr 1920. Nachstehend werden die wichtigsten Zahlen aus der Nachweisung über die Geschäfts⸗ und Rechnungsergebnisse der nach dem Ausscheiden von Posen, Elsaß⸗Lothringen und der Pensionskasse der Reichseisenbahn verbliebenen 29 Versicherungsanstalten und 9 Sonderanstalten mitgeteilt. Zum Vergleich sind die Zahlen der vorjährigen Nachweisungen in Klammern beigefügt.
Hiernach hatten die 38 Versicherungsträger am Jahresschluß 1920 insgesamt 349 (339) Vorstandsmitglieder, 64 (61) Hilfsarbeiter der Vorstände und 585 (592) Ausschußmitglieder. Im Kassen⸗, Büro⸗ und Kanzleidienste waren 4180 (3751), im Ueberwachungs⸗ dienste 455 (428) Personen beschäftigt, und 478 (411) Personen verrichteten niedere Dienstleistungen. In den eigenen Genesungs⸗ heimen, Zahnkliniken und sonstigen Heilstätten der Ver⸗ sicherungsträger waren 3463 (2770) Personen tätig, während das in eigenen Invalidenhäusern beschäftigte Personal sich auf 76 (74) bezifferte. Nur eine Versicherungsanstalt führte die Waisenhauspflege in eigenem Betriebe durch und beschäftigte darin 28 (29) Personen. 11 (14) Landesversicherungsanstalten und die Seekasse unterhielten Ende 1920 769 (1787) Markenverkaufs⸗
stellen; außerdem gab es bei 23 (23) Landesversicherungsanstalten noch
3225 (3374) mit der Einziehung der Beiträge gemäß §§ 1447 bis 1456 der Reichsversicherungsordnung beauftragte Stellen.
Quittungskarten liefen insgesamt 11 140 233 (10 091 652) ein, darunter 36 825 (33 298) für Selbstversicherung. 1 347 321 (1 280 238) Karten trugen die Nummer 1, davon 1378 (1329) für Selbstversicherung. Die von den 29 Versicherungsanstalten aus rund 682 (634) Millionen Beitragsmarken erzielte Einnahme belief sich auf 490 664 100,96 (274 395 629,02) ℳ, die Beitragseinnahme der neun Sonderanstalten betrug 72 197 439,76 (37 638 216,25) ℳ für rund 71 (77) Millionen Wochenbeiträge. In diesen Beträgen sind 495 550,05 (72 536,59) ℳ enthalten, die von den Arbeitgebern ver⸗ sicherungsfreier Ausländer gemäß § 1233 Abs. 2 der Reichsversiche⸗ rungsordnung für rund 1 963 000 (384 000) Beitragswochen entrichtet worden sind. Außerdem wurden 57 805 (43 698,50) ℳ für Zusatz⸗
ken eingenommen, wovon 1954 (1848,50) ℳ auf die Sonder⸗ anstalten entfielen. Die Gesamteinahme aus Beiträgen bezifferte sich mithin auf 562 919 345,72 (312 077 543,77) ℳ.
Die Abrechnung für das Jahr 1920 (1919) umfaßte 130 541 (139 756) Invalidenrenten, 29 831 (66 489) Kranken⸗ renten, 41 754 (44 144) Altersrenten, 20 714 (22 491) Witwen⸗ und Witwerrenten, 1358 (1623) Witwen⸗ krankenrenten, 43 964 (81 936) Waisenrenten (Waisen⸗ stämme) und 104 (93) Zusatzrenten, zusammen 268 266 1356 532) Renten mit einem durchschnittlichen Jahresbetrage von 207,99 (210,97) ℳ, 200,18 (195,42) ℳ, 183,48 (180,80) ℳ, 85,63 (84,84) ℳ, 86,20 (85,70) ℳ, 91,16 (91,93) ℳ und 2,80 (1,76) ℳ. Der durchschnittliche Jahresbetrag ist demnach nur bei den Invaliden⸗ 5 Waisenrenten gefallen, bei allen anderen Renten dagegen ge⸗
iegen.
Kinderzuschüsse wurden bei Inrvalidenrenten in 21 104 (25 343) und bei Krankenrenten in 9665 (21 647) Fällen gewährt; ein Kinderzuschuß betrug durchschnittlich bei den Invalidenrenten 43,86 (45,12) ℳ und bei den Krankenrenten 46,63 (45,87) ℳ.
Bei der erstmaligen Festsetzung der Waisenrenten sind 94 012 (178 659) Waisen berücksichtigt worden, so daß auf eine Waäise ein durchschnittlicher Jahresbetrag von 42,63 (42,16) ℳ entfiel. Ferner sind 16 710 (29 039) Witwengelder und 8459 (6196) Waisen⸗ aussteuern in Durchschnittshöhe von 84,66 (83,12) ℳ und 27,01 26,84) ℳ gezahlt worden.
An reichsgesetzlichen Entschädigungen — Renten und einmaligen Leistungen — wurden 706 635 437,81 (468 238 352,80). ℳ gezahlt. Davon entsielen auf das Reich 97 686 280,67 (97 807 554,02) ℳ, nämlich 96 703 064,— (96 241 904,02) ℳ an Renten und 983 216,67 (1 565 650,—) ℳ an einmaligen Leistungen, auf die Versicherungs⸗ träger 608 949,157,14 (370 430 798,78) ℳ, und zwar 608 276 024,19 (369 372 295,18) ℳ an Renten und 673 132,95 (1 058 503,60) ℳ an einmaligen Leistungen (einschließlich 583,83 ℳ Beitragserstattungen). Außerdem hat das Reich 4 774 187,81 (2 499 033,29) ℳ übernommen, die auf Anweisung der Versicherungsanstalten Posen, Elsaß⸗Lothringen und Pensionskasse der Reichseisenbahnen gezahlt worden sind. b
Für das Heilverfahren eeinschließlich 6 863 864,05 (2 546 485.84) ℳ für Hausgeld, 14 948 679,77 (6 137 425,27) ℳ für allgemeine Maßnahmen gemäß § 1274 der Reichsversicherungsordnung sind insgesamt 174 579 072,47 (66 501 758,67) ℳ aufgewendet worden. An Ersatzleistungen gingen von den Krankenkassen 19 272 557,71. (6 674 022,71) ℳ, von den Trägern der Unfallversicherung 47 310,27 (20 086,93) ℳ und an sonstigen Ersatzleistungen und Zuschüssen 3 604 552,37 (1 363 539,19) ℳ, im ganzen 22 924 420,35 (8 057 648,83) Mark ein. Das Heeilverfahren erforderte somit bei den 38 Ver⸗ icherungsträgern eine Reinausgabe von 151 654 652,12 (58 444 109,84) Mark oder 26,94 (18,73) ℳ vom Hundert der Einnahmen aus Bei⸗ trägen ausschließlich der Zusatzmarken.
Dir Kosten der Invalidenhauspflege beliefen sich auf 7 330 718,84 (3 490 928,88 ℳ), wovon jedoch die einbehaltenen Rentenbeträge in Höhe von 700 125,41 (642 898,29) ℳ und sonstige Ersatzleistungen und Zuschüsse im Betrage von 629 442,46 (217 046,56) ℳ, insgesamt 1 329 567,87 (859 944,85) ℳ abzusetzen sind. Die tatsächliche Ausgabe betrug demnach nur 6 001 150,97 (2 630 984,03) ℳ.
„Für Waisenhauspflege wurden von 17 (17) Versicherungs⸗ trägern zusammen 2 381 092,55 (908 198,11) ℳ aufgewendet. Nach hehg “ 649,98 (71 211,99) ℳ 8 einbehaltene Renten und austige Ersatzleistungen und Zuschüsse blieb eine Reinausga 91e8 2,2 (836,989,12) 9, 3 “”“
Die Mehrleistungen nach § 1400 der Reichsversicherungsordnung beliefen sich auf 3 882 893,64 (3 718 039,14) ℳ.
Die Kosten der allgemeinen Verwaltung betrugen 107 546 991,18 (44 701 811,86) ℳ, das sind 191 (143) von 1000 ℳ der Einnahmen aus Beiträgen und Zusatzmarken und 119 (90) von 1000 ℳ der Gesamtausgabe. Die Verwaltungskosten überhaupt be⸗ liefen sich auf 133 566 014,26 (58 027 382,55) ℳ. Von 1000 ℳ der Verwaltungskosten überhaupt kamen auf die allgemeine Verwaltung 805 (770) ℳ, auf die Einziehung der Beiträge 44 (70) ℳ, auf die Ueberwachung 82 (84) ℳ und auf sonstige Kosten 69 (76) ℳ.
Die Gesamteinnahme stieg im Geschäftsjahr 1920 auf 664 717 527,25 (410 055 311,99) ℳ und die Gesatmntansgabe auf 907 231 242,33 (494 142 539,51) ℳ; die Vermögensverminderung be⸗ trug allo 242 513 715,08 (84 087 227,52) ℳ.
Landesversicherungs⸗ reichsgesetzliche Invaliden⸗ und
Das Vermögen der anstalten und der für die Hinterbliebenenversicherung bestimmte Teil des Vermögens der Sonderanstalten betrug am Schlusse des Berichtsjahrs 3 085 165 633,51. (3 130 003 668,04) ℳ. Diesem Vermögen (Roh⸗ vermögen) standen 993 951 944,85 (796 276 764,30) ℳ Schuld⸗ verpflichtungen gegenüber, so daß ein Reinvermögen von 2 091 213 688,66 (2 333 727 403,74) ℳ verblieb. Die Schuld⸗ verpflichtungen haben um 197,7 Millionen zugenommen, auch der Bestand an Wertvapieren hat sich um 37,6 Millionen und der an Darlehen um 63,8 Millionen verringert, während andererseits der Kassenbestand um 20,5 und der Buchwert der Grundstücke um 26,8 und der der beweglichen Einrichtung um 9,1 Millionen gestiegen sind. Der Bilanzwert der Wertpapiere und Darlehen bleibt hinter dem Ankaufs⸗ oder Auszahlungspreise um 397 895 812,71 (408 354 736,80) ℳ zurück. Von 1000 ℳ Rohvermögen waren 12 (6) ℳ im Kassenbestande, 937 (956) ℳ in Wertpapieren und Darlehen, 44 (34) ℳ in Grundstücken und 7 (4) ℳ in beweglicher Einrichtung angelegt, 1 460 238 269,53 (1 492 048 054,86) ℳ oder 698 (639) von 1000 ℳ des Reinvermögens in Anleihen des Reichs und der Bundesstaaten und in Darlehen an das Reich und die Bundesstaaten. Die durchschnittliche rechnungsmäßige Verzinsung des Ende 1920 in Wertpapieren und in Darlehen angelegten Vermögens betrug 4,20 (4,20) vH des Ankaufs⸗ oder Auszahlungspreisee.
Die Ausfuhrmindestpreise für Zündschnüre haben sich geändert. Näheres durch die Außenhandelsstelle Chemie, Abteilung „Sprengstoffe“ (Me). *
Der Ausfuhrmindestpreis für Salmiakgeist in Fässern nach England (ausgenommen die englischen Kolonien) ist herabgesetzt worden. Näheres durch die Außen⸗ handelsstelle Chemie, Nebenstelle „Stickstoff und Karbid“ (Mc).
„Die Ausfuhrmindestpreise für Zinkweiß haben sich geändert. Näheres durch die Außenhandelsstelle Chemie, Nebenstelle „Mineralfarben“ (Mg.).
Die Ausfuhrmindestpreise für schwefelsaure Ton⸗ erde nach Holland und Norwegen sind abgeändert worden. Näheres durch die Außenhandelsstelle Chemie, Neben⸗ stelle „Anorganische Chemie“.
Reichs.
Vom Vom 11. Mai 1. April 1922 bis 1922 bis 20. Mai 20. Mai
1922 1922
Tausend Mark
rung des
Einnahme. Allgemeine Finanzverwaltung: ¹) Steuern, Zölle, Abgaben, Gebühren 3 946 102 20 166 742 (darunter Reichsnotopfer).. ee m;e LII388“ 3 092 570] 13 747 620 Frenblerte SSchlkbk 998 —
Summe der Einnahme. 7 039 670 33 914 362
Ausgabe. Allgemeine Verwaltungsausgaben Gegenrechnung der Einnahmen. Ieene11“ Zinsen für die schwebende Schuld Zinsen für die fundierte Schuld .
unter G 35 190 629 994 596
397 918,1 „2 22 9891 1976 826 8 807 866/38 162 051
8 354 661
Betriebsverwaltungen. Reichs⸗Post⸗ und ⸗Telegraphenverwaltung: Abligferung. . 664 084 Deutsche Reichsbahn: NöIq111P’
mithin Ablieferung ..
GSunmme der Ausgabe . Die schwebende Schuld betrug an dis⸗ kontierten Schatzanweisungen am 10. Mai
1922 mit dreimonatiger Laufzeit 269 847 725
1 768 092 7 039 774
4 247 920 33 914 131
mit einer Laufzeit von mehr als drei und nicht über
13 Monaten 22) . . 12 742 490
282 590 215 Es traten hinzu 37 556 099ö1 Es gingen ab . 34 463 521 M mithin zu . 2392
ergibt 285 682 785
1) Das Steuern⸗ usfw. Aufkommen nach Abzug der von den Oberfinanz⸗ und Finanzkassen geleisteten Ausgaben.
²) Das Anwachsen der schwebenden Schuld ist verursacht durch Devisenbeschaffungen und Lieferungen für Reparationszwecke sowie durch Besatzungskosten. .
³) Seit März 1920 gelangen langfristige Schatzwechsel mit einer Laufzeit von 10—13 Monaten zur Ausgabe, welche, solange ihre Laufzeit drei Monate überschreitet, bei der Reichsbank nicht redis⸗ kontierbar sind.
Preußen.
Die amtliche Ausgabe der Jahresberichte der preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten und Berg⸗ behörden für 1921 ist fertiggestellt. In den Jahres⸗ berichten sind diesmal die bei der Besichtigung von Handels⸗ betrieben gemachten Beobachtungen eingehender behandelt. Außerdem sind in ihnen besprochen die Durchführung der die Arbeitszeit der Arbeiter und Angestellten regelnden Verordnungen, die bei der Durchführung des Betriebsräte⸗ gesetzes gesammelten Erfahrungen, die Beschäftigungsarten, denen sich die Arbeiterinnen nach ihrer Ablösung durch männ⸗ liche Arbeitskräfte zugewandt haben, die Mitwirkung der Betriebsräte sowie der Arbeiter⸗ und Angestelltenräte bei der Bekämpfung von Unfall⸗ und Krankheitsgefahren und Beobachtungen darüber, in welcher Weise die Arbeiter die nach Einführung des Achtstundentags ihnen reichlicher zur Verfügung stehende Zeit ausnutzen. Ein buchhändlerischer Vertrieb des Werks findet nicht statt. Bestellungen auf das Werk sind an das Ministerium für Handel und Gewerbe, Berlin W. 9, Leipziger Straße 2, zu richten. Der Preis des 68 Druckbogen umfassenden Werks beträgt für den broschierten Abdruck 208 ℳ und für den gebundenen Abdruck 228 ℳ. Seine Lieferung erfolgt gegen Nachnahme des Preises und der Portokosten. Bei der Bestellung ist anzugeben, ob broschierte oder gebundene Abdrucke des Werks gewünscht werden. “
Deutscher Reichstag. 221. Sitzung vom 29. Mai 1922, Nachmittags (Bericht des Nachrichtenbüros des Vereins deutscher Zeitungsverleger*).) Am Regierungstische: Reichskanzler Dr. Wirth, Reichs⸗ minister der auswärtigen Angelegenheiten Dr. Rathenau, Reichsfinanzminister Dr. Hermes u. a. Präsident Löbe eröffnet die Sitzung, deren Beginn von 1 auf 2 Uhr Nachmittags verschoben worden ist, um 21 4 Uhr, mit der Mitteilung von dem Eingang des Entwurfs eines Reichsknappschaftsgesetzes.
8
Entgegennahme einer Erklärung der Reichs⸗ regierung.
Reichskanzler Dr. Wirth: Meine Damen und Herren! Sie haben Gelegenheit gehabt, im Auswärtigen Ausschuß über die Politik der Reichsregierung von Genua, in Genna und nach Genua unterrichtet zu werden. Ich beabsichtige nicht, an dieser Stelle das dort bereits Vorgetragene zu wiederholen. Die Reichs⸗ regierung beabsichtigt auch nicht, über die Pariser Verhandlungen
sprechen. Wir sind der Auffassung, daß die Pariser Verhand⸗ lungen zurzeit im vollen Fluß sind, daß eine diplomatische Aktion im Gange ist, und daß deshalb die Regierung über das, was von ihren berufenen Vertretern im Auswärtigen Ausschuß erklärt worden ist, nicht hinausgehen kann. Es kann sich vielmehr heute nur darum handeln, zu dem bereits historisch Gewordenen, zu dem in Genua Vorgegangenen noch einmal Stellung zu nehmen. Wir haben das in Genua mit verschiedenerlei Ver⸗ öffentlichungen unsererseits bereits getan. Wir wollen aber hier einiges ergänzen und nachtragen und Ihnen Gelegenheit geben, zu unserer Genua⸗Politik Stellung zu nehmen.
Meine Damen und Herren! Im letzten Jahre ist in Deutsch⸗ land eine eigenartige Feier wohl durch ganz Deutschland hindurch
Dichter und Patrioten Dante Alighieri. Wohl kaum eine Stadt in Deutschland hat sich bei dieser Feier des 600jährigen Todes⸗ tages ausgeschlossen. Jene Feier galt ja nicht dem einzigartigen italienischen Patrioten und Dichter allein, sondern sie galt dem großen universellen Denker, der die politische ethische Welt in seinem großen Werke dargestellt hat. Ein Jahr nach dieser Feier hat Italien Gelegenheit gehabt, auf seinem Boden in Genua die Vertreter aller europäischen Nationen versammelt zu sehen, die Vertreter, die zusammengekommen sind, um einer großen Idee zu dienen, der Idee der Solidarität der europäischen Völker. Das italienische Volk hat die große Mission, die ihm damit zugefallen war, wohl verstanden und gewürdigt. Alle Schichten des italienischen Volkes haben die großen Aufgaben der Genua⸗Kon⸗ ferenz richtig eingeschätzt und danach gehandelt.
Ich darf auch an dieser Stelle im Namen der Reichs⸗ regierung dem italienischen Volk den aufrichtigen Dank des deutschen Volkes darbringen für die würdige Lösung der großen Aufgaben, die ihm die Genua⸗Konferenz stellte.
Diesen Dank dehne ich aus auf die italienischen Staats⸗ männer, die die Konferenz geführt haben. Es war eine saure, bittere, aber hochernste Arbeit, die die italienischen Staatsmänner in Genua vollbracht haben. Fleiß und Hingebung bis zur Er⸗ schöpfung waren das charakteristische Merkmal der Arbeit der ver⸗ antwortlichen italienischen Staatsmänner. Wir haben ihnen in Genua bei der Ankunft wie beim Abschied den Dank des deutschen Volkes ausgesprochen, den ich hiermit an dieser Stelle wiederholt habe.
Meine Damen und Herren! Ich darf in Ihrer Mitte die Frage formulieren: was sollte Genua sein, und was ist es ge⸗ worden? Es ist leichter, die Frage zu diskutieren, was Genua sein sollte. Es ist nicht allzu schwer, inmitten der Drangsale der europäischen Völker die Idee, die die Genua⸗Konferenz in sich dar⸗ stellte, auszumalen, sie gar auszuschmücken, der großen Hoffnung Ausdruck zu geben, die alle Völker, die ihre Vertreter dorthin ent⸗ sandt hatten, erfüllte. Viel schwerer ist die Frage zu erörtern: was ist aus dieser Idee in Genua schließlich geworden?
Was sollte Genua sein? Die Idee, von der ich schon andentend sprach, ist von England ausgegangen. Dort lag die Initiative, die Völker Europas, deren Interessen weit auseinandergehen, zu sammeln, sie an einen Tisch zu bringen, um mit ihnen gemein⸗ sam in friedlicher Arbeit die großen Differenzen der ganzen Welt zu besprechen. Die Konferenz war ursprünglich gedacht als eine Weltkonferenz, als eine Konferenz, die die großen wirtschaftlichen Spannungen, die die ganze Welt durchziehen, heilen sollte.
Meine Damen und Herren! Sie wissen: der Gedanke war kühn, er war groß, er war erhaben; er war vielleicht in der Atmosphäre, die heute noch Europa und die Welt durchzieht, zu groß, zu weitblickend, als daß er sich schon bis zum letzten Rest hätte verwirklichen können. Der Gedanke ist zunächst reduziert worden durch die Weigerung Amerikas, an dieser Konferenz teil⸗ zunehmen. Eine weitere Reduktion ist erfolgt durch die Politik Frankreichs in Cannes und in Boulogne. Die Tagesordnung ist schließlich so beschränkt worden, daß nicht einmal mehr die euro⸗ päische Krise in ihrem gesamten Umfange in das Programm der Genua⸗Konferenz aufgenommen worden ist.
Existiert denn überhaupt noch eine europäische Krise, und was ist sie? Dies ist vielleicht die verworrenste und die schwerste Frage, die wir untereinander diskutieren können. 1
Man kann große Gruppen von Fragen innerhalb dieser euro⸗ päischen Krise unterscheiden. Es ist die Krise der ehemaligen. Staatenverbindungen und Bündnisse, die vor dem Kriege bestanden haben und die schließlich zum Kriege geführt haben. Es sind die Krisen in den einzelnen Staaten selbst, es ist schließlich die Krise der europäischen Gesamtwirtschaft. Das Instrument, das iese große Krise einmal theoretisch behandeln sollte, sollte die Genua⸗ Konferenz sein. Diese Genua⸗Konferenz ist in ihrem Programm so reduziert worden, daß die harrenden Völker schließlich nicht einmal mehr in offiziellen Sitzungen die Wahrheit über alle diese Fragen hören konnten, daß die harrenden Völker nicht einmal dazu 8— kommen sind, alle die Probleme in Schärfe von denen formuliert zu hören, denen diese großen Fragen in den Herzen und auf den Fingernägeln brennen. Aber trotzdem das Programm reduziert
*) Mit Ausnahme der durch Sperrdruck hervorgehobenen Reden
der Herren Minister, die im Wortlaute wiedergegeben ünd.
Auf der Tagesordnung steht als einziger Gegenstand die
hier im Plenum noch einmal ausführlich und eingehend zu
begangen worden. Es war die Feier für den großen italienischen
8
worden ist, müssen wir alle denen dankbar sein, die mit zäher Energie den ursprünglichen Gedanken, die Völker zusammenzuführen rotz aller Sabotageversuche über die Wochen der Genua⸗Konferenz hinausgetragen haben, und es ist gewiß kein ungewöhnlicher Vor⸗ gang — er wird auch in Ihrer Mitte wohl verstanden werden —, wenn ich Englands Führer für dieses Durchhalten der Konferenz, nicht im Namen des deutschen Volkes, sondern aller Völker, die in Bedrängnis sind, den Dank ausspreche.
Gewiß sind Fragen, die uns sehr nahe gehen, nicht berührt worden. Die Fragen, die in Genua nicht offiziell behandelt worder. find, sind vielleicht die wichtigsten gewesen.
Ich erinnere nur an die Reparationsfrage. — Für uns ist diese Frage die wichtigste. Die Reparationsfrage ist aber nicht isoliert, nicht allein nur als deutsche Frage anzusehen; sie ist die europäische Frage, neben der Frage, wie die Ostwelt wieder geweckt und in Verbindung mit der Westwelt gebracht werden kann. Aber, meine Damen und Herren, über die Reparationsfrage ist, wenn auch nicht formell, sehr viel gesprochen worden. Ich darf die Herren um Nachsicht bitten, die sich kritisch zu dem etwas langen Auf⸗ enthalt der deutschen Delegation in Genua ausgedrückt haben. Gerade die Möglichkeit, die erste Möglichkeit seit acht Jahren, mit den verantwortlichen Trägern ganzer Staaten in Verbindung zu kommen, mit ihnen — es ist keine Gelegenheit versäumt worden — die Reparationsfrage zu besprechen, hat uns Veranlassung gegeben, trotz vieler bitteren Enttäuschungen in Genua zu verweilen. Kaum zwei Staatsmänner, die sich dort trafen, seien es die Neutralen unter sich oder die Neutralen mit uns oder wir mit den Alliierten, kaum jemals, behaupte ich, ist eine Besprechung geführt worden zwischen verantwortlichen Politikern, ohne daß man nicht sehr rasch auf die Reparationsfrage zu sprechen gekommen ist.
Die Genua⸗Konferenz bedeutet zweifellos einen Fortschritt. Wir sind, nach außen gesehen, als gleichberechtigte Macht auf der Genua⸗Konferenz erschienen.
Ich habe Gelegenheit gehabt, mit einem der Staatsmänner der Alliierten diese Frage zu besprechen, und wir waren uns beide einig, daß, wenn auch die Genueser Konferenz große Hoffnungen nicht verwirklicht hat, schon die Tatsache, daß 3 ½ Jahre nach dem Waffenstillstand, nach dem unermeßlichen blutigen Ringen die Menschen sich einmal friedlich in einer gewerbetreibenden Stadt versammeln, daß sie einander sehen, daß sie miteinander Be⸗ rührung haben, daß sie die Probleme der europäischen Wirtschaft, aller europäischen Politik besprechen, daß sie Brücken von Volk zu Volk schlagen, daß sie als Vermittler zwischen den Differenzen auftreten können — ich erinnere, wie ich nachher zeigen werde, an die zwischen der Ost⸗ und Westwelt —, schon allein diese Tatsache, daß sich nach den Jahren des blutigen Ringens die Vertreter aller Nationen vereinigen konnten, ist ein großer und einzigartiger Fortschritt in der europäischen Geschichte. Derselben Arbeit und demselben Fortschritt diente die Tätigkeit der deütschen Vertreter in den Kommissionen. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Arbeit hier im einzelnen zu würdigen. Der Reichsminister der Finanzen wie der Reichswirtschaftsminister sind bereit, gerade diese Arbeiten in den Kommissionen, wenn es gewünscht wird, auch hier im Plenum noch einmal zu erörtern.
Ich will auch die dort gefundenen theoretischen Leitsätze nicht überschätzen; aber wir müssen uns in Deutschland zunächst einmal davor hüten, daß wir alles, was vorgegangen ist, unterschätzen. Gewiß: es haben viele dieser Leitsätze nur theoretische Bedeutung, und es wird vielleicht noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen, bis diese theoretischen Leitsätze verwirklicht sind. Wir haben unsererseits nur eins zu tun: wir haben die dort gewonnenen Leit⸗ sätze für die Finanzgebarung, für den Verkehr, für die Wirtschaft zu Leit⸗ und Richtlinien unserer Politik zu machen. Das werden wir tun, und die Gegenseite wird jederzeit die deutschen Vertreter, fußend auf den in Genua gewonnenen. Leitsätzen, bei den Ver⸗ handlungen sehen. Man darf nur die Hoffnung aussprechen, daß sich auch die anderen nach diesen theoretischen Leitsätzen richten mögen, und daß diese theoretischen Leitsätze für sie, wie ich irgendwo gelesen und gehört habe, nicht nur bedeutsgme Anre⸗ gungen“ seien. Anregungen sind in den letzten drei und vier Jahren auf vielen finanzpolitischen Konferenzen gegeben worden. Jetzt handelt es sich darum, von allen Nationen gebilligte Leitsätze der Finanz⸗ und Wirtschaftsgebarung in die Tat umzusetzen.
Wir haben in Genua im Sinne der europäischen Verstän⸗ digung Politik gemacht. Wir haben jederzeit unsere Hand ge⸗ boten, um mit der Gegenseite und mit den Neutralen zu verständ⸗ nisvollem Zusammenarbeiten zu kommen. Nicht in allen Punkten haben wir zunächst Gelegenheit gehabt, uns an einer solchen Arbeit zu beteiligen. Wir waren gewiß gleichberechtigte Mitglieder auch der hochpolitischen und wichtigen Ersten Kommission, die eine Unterkommission gebildet hat, der die Hauptfragen, die die Kon⸗ ferenz behandeln sollte, zugewiesen wurden. Es ist uns auch ge⸗ lungen, einen französischen Vorstoß in der Unterkommission ab⸗ zuwehren, der uns in die Rolle kleiner Staaten drängen wollte. Wir waren Mitglieder dieser Unterkommission, und wir wollen das dankbar anerkennen. Aber es hat sich im Verlauf der Genueser Debatten herausgestellt, daß neben dem Begriff des Obersten Rates, der dort nicht in die Erscheinung getreten ist, eine neue Union sich gebildet hat: die der einladenden Mächte, zu denen wir selbscverständlich nicht gehörten, und es hat sich in der ersten Woche herausgestellt, daß ohne uns, und ohne daß wir die Gewähr hatten, daß auch unsere Interessen gewahrt worden sind, gerade die ein⸗ ladenden Mächte mit Rußland Verhandlungen begonnen hatten, denen wir nur mit größter Spannung und mit größter Sorge entgegenschauen konnten.
Wir waren deshalb genötigt — und das war nicht ein Irrtum der deutschen Politik, sondern das war ein pflichtgemäßes Handeln, auf bewußter Ueberlegung fußend —, unsere Fragen mit Rußland selbständig zu lösen, nachdem uns die anderen zu diesem pflicht⸗ gemäßen Handeln geradezu Veranlassung gegeben hatten.
Es ist eine große Aufregung über den Vertrag von Rapallo durch die Welt gegangen. Wellen sind hervorgerufen worden, die auch nach Deutschland hinübergespielt haben. Ich habe den Ein⸗ druck, daß diejenigen, die am lautesten drüben, jenseits unserer Grenze, sich über den Rapallo⸗Vertrag aufgeregt haben, den Rapallo⸗Vertrag nicht einmal gelesen haben, sondern daß allein das selbständige Handeln Deutschlands bereits auf der Gegenseite in einzelnen Kreisen Bestürzung hervorgerufen hat.
Wer den Rapallo⸗Vertrag sorgfältig und ohne Voreingenom⸗ menheit durchliest, muß gestehen, daß der Vertrag von Rapallo ein ehrliches, aufrichtiges Friedenswerk ist. Es ist in gewissem Sinne
ein vorbildlicher Friedensvertrag. In diesem Friedensvertrag gibt es weder Besiegte, noch gibt es Sieger. Es ist die vollkommene Liquidierung der aus dem Kriegszustand herrührenden gegen⸗ seitigen Forderungen. Unverständlich ist deshalb die Aufregung, die sich gerade an diesen Vertrag geknüpft hat, und noch unver⸗ ständlicher ist die Deutung dieses Vertrages als eines kriegerischen Faktors in Europa. Wer hat denn Anlaß zu diesem Vertrag gegeben, den wir pflichtgemäß geschlossen haben? Das ist die Entente selbst. An wenigen Beispielen können wir zeigen, daß der Anlaß nur auf der Gegenseite liegt.
Ich erwähne erstens, daß durch Aufhebung des materiellen Inhalts des Brester Friedensvertrages und der Zusatzverträge eine neue Ordnung des Verhältnisses zwischen Deutschland und Rußland vorgenommen werden mußte. Durch die Aufhebung des Brester Vertrages ist aber nicht etwa ein Kriegszustand zwischen Deutsch⸗ land und Rußland wiederhergestellt oder die de jure⸗Anerkennung Rußlands aufgehoben; aber unbedingt notwendig war eine Neu⸗ ordnung und eine Formulierung und schließlich Abstreichung der gegenseitigen Forderung.
Zweitens: Durch Art. 116 des Versailler Friedensvertrages hat uns die Entente genötigt, den direkten Ausgleich mit Rußland zu erreichen. Es ist mitunter notwendig, den Friedensvertrag der Welt wieder etwas näherzubringen, und auch in Genua ist man nie den Eindruck ganz losgeworden, daß über den Art. 116 bei sehr vielen verantwortlichen Politikern der Welt die Kenntnis keine allzugroße ist. Ich darf deshalb den Art. 116 hier noch einmal zur Verlesung bringen. 8
Aufschnitt XVI. Rußland und russische Staaten: Deutschland erkennt die Unabhängigkeit aller Gebiete, die
am 1. August 1914 zum ehemaligen Russischen Reich gehörten,
an, und verpflichtet sich, diese Unabhängigkeit als dauernd und
unantastbar zu achten. Gemäß den Bestimmungen der Art. 259
und 292 Teil IX und Teil X — Wirtschaftliche Bestimmungen
— Finanzielle Bestimmungen — des gegenwärtigen Vertrages
erkennt Deutschland endgültig die Aufhebung der Verträge von
Brest⸗Litowsk sowie aller anderen Verträge, Vereinbarungen
und Uebereinkommen an, die es mit der maximalistischen Re⸗
gierung in Rußland abgeschlossen hat.
Und nun kommt der bedeutsame Satz; das andere hat vorher
genügende Würdigung gefunden:
die alliierten und assoziierten Mächte behalten ausdrücklich die
Rechte Rußlands vor, von Deutschland jede Wiederherstellung
und Wiedergutmachung zu erhalten, die den Grundsätzen des
gegenwärtigen Vertrags entspricht. Das ist die verhängnisvolle und politisch bedeutsame Klausel im Art. 116. Dieser Art. 116 schuf für uns eine pflichtmäßige Not⸗ wendigkeit, mit Rußland, da die anderen uns nicht beigezogen haben, zu einem Ausgleich und zu einem ehrlichen gegenseitigen Vertrag zu kommen. Somit ist der Rapallo⸗Vertrag lediglich Fort⸗ setzung der im deutsch⸗russischen Vertrag vom 6. Mai 1921 bereits vorgesehenen weiteren Regelung der zwischen Deutschland und Rußland bestehenden Fragen.
Die sechs Paragraphen des Vertrages enthalten keinerlei
politische Bestimmungen oder Abmachungen, aus denen irgendein
Dritter eine Gefahr oder eine Schmälerung seiner Rechte her⸗
leiten kann. (Sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei.) Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen ist lediglich eine formale Bestätigung der bereits seit dem 6. Mai vorigen Jahres bestehenden offiziellen wirtschaftlichen Beziehungen.
Vielfach wird nun nicht nur drüben, sondern auch bei uns, nicht der Inhalt des Vertrages, sondern der Zeitpunkt des Ab⸗ schlusses als Drohung und als unopportun aufgefaßt. Auch dies ist vollkommen unzutreffend. Der Vertrag war bereits längst vor Genua in seinen Grundzügen fertiggestellt worden. Deutschland hat von dem Abschluß dieses Vertrages vor Genua abgesehen in der Hoffnung, daß Leitsätze seines Vertragsentwurfs dem voraus⸗ sichtlichen Genua⸗Akt angepaßt werden könnten. Deutschland wollte kurz vor Genua jede Sonderaktion vermeiden. In Genua fand sich Deutschland in der ersten Woche von den russischen Ver⸗ handlungen ausgeschlossen. Es hat allerdings am Dienstag vor Ostern an einer kurzen Subkommissionssitzung teilnehmen können, in der ihm und Rußland das von den Ententesachverständigen auf⸗ gestellte Londoner Memorandum als Verhandlungsbasis vorgelegt wurde. Das Londoner Memorandum — darauf mache ich besonders aufmerksam — enthält eine ausdrückliche Bekräftigung des Artikels 116, der Rußland das angebliche Recht, von uns Ent⸗ schädigungen zu verlangen, vorbehält. Ferner waren sämtliche Vorkriegsansprüche Deutschlands gegen Rußland durch dieses Memorandum eliminiert. Von Dienstag bis Sonnabendabend vor Ostern haben wiederholte Vorstellungen Deutschlands in dem Sinne stattgefunden, daß wir uns zu überzeugen wünschten, ob unsere Rechte auch gewahrt würden und ob wir auf Grund des Artikels 116 nicht mit neuen Lasten beschwert würden, die den Ring der Schuldknechtschaft um Deutschland endgültig geschlossen hätten. Diese Vorstellungen sind vergeblich geblieben.
In seiner ersten großen Unterhausrede hat der englische erste Minister den Rapallo⸗Vertrag einen großen Irrtum und einen schweren Fehler genannt. Es wird davon abhängen, auf welchen Standpunkt der Beurteilung man sich stellt, wenn man den Ver⸗ trag als Fehler und Irrtum bezeichnet. Lloyd George hat in der Begründung dieses Satzes im einzelnen dann ausgeführt, daß gerade die Stimmung, in welche Deutschland und Rußland ver⸗ setzt worden sind, zu einem derartigen Schritt gegenseitiger Ver⸗ ständigung habe führen müssen. Man müßte diesen Satz zwei⸗ mal lesen! Hat die Stimmung zu dem Vertrage fühen müssen, dann liegt der Irrtum nicht auf unserer Seite, dann liegt er in dem taktischen Vorgehen der Alliierten selbst, die es uns zunächst nicht erlaubt haben, unsere Vertragsentwürfe, die wir mitgebracht hatten, mit den Russen zum gemeinsamen Gegen⸗ stand der Beratungen zu machen.
Lloyd George hat aber in dieser Rede auch die Welt gewarnt, diese Völker, das deutsche und das russische, weiter zur Ver⸗ zweiflung zu treiben, da sonst ungeahnte Konsequenzen aus einer derartigen Verständigung entstehen könnten. Ich kann nur wieder⸗ holen, was ich in Genua und was ich vorhin schon gesagt habe, daß der Rapallo⸗Vertrag keinerlei diesbezügliche Absichten enthält, sondern nur den Willen zweier großer Nachbarreiche realisiert, in Frieden und verständnisvoller Zusammenarbeit, und zwar in der Arbeit gegenseitigen Wiederaufbaus, zusammenzuleben und zu
11 S 8— 11“
diesem Zweck einen Strich unter die Bergangenheit zu machen. Er bedeutet nicht nur einen Frieden zwischen zwei Völkern, denen es immer gut gegangen ist, solange sie sich verstanden haben, er bedeutet auch einen Ausgleich, eine Brücke zwischen Ost und West in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zum Wohle beider Völker.
Es ist interessant, daß dieser Rapallo⸗Vertrag bei den Arbeitern der ganzen Welt als erstes wahres Friedenswerk nach der großen Katastrophe erkannt und gewürdigt worden ist. Der Vertrag bedeutet aber auch — und darauf dürfen wir hier noch⸗ mals hinweisen — ein Nichteinmischen in die inneren partei⸗ politischen und sozialen Verhältnisse eines anderen Landes. Llohd George hat in seiner Rede die zahlreichen tagtäglichen Nachrichten über geheime Militärabkommen, die im Anschluß an den Rapallo⸗ Vertrag geschlossen sein sollen, ins Reich der Fabel verwiesen. Ich kann hier nochmals feierlich erklären, daß der Rapallo⸗Vertrag keine geheimen politischen oder militärischen Abkommen enthält, und jede böswillige Behauptung, die da und dort immer wieder auftaucht, ist, was sie von Anfang an war, eine böswillige Ver⸗ leumdung, um dem ersten Friedenswerk, das überhaupt in Europa errichtet worden ist, Schwierigkeiten zu bereiten.
Die vitalen Bestimmungen des Vertrages sind, soweit sie mit Rücksicht auf die Genna⸗Verhandlungen notwendig waren, bereits in Kraft getreten. Wir beabsichtigen aber, den ganzen Vertrag dem hohen Hause zur Diskussion im Rahmen der verfassungs⸗ mäßigen Notwendigkeit demnächst mit der Bitte um Genehmigung vorzulegen.
Mit Genua ist das Problem, das auch im Rapallo⸗Vertrag berührt ist, nämlich das Verhältnis zur Ostwelt zu regeln, nicht zum Abschluß gekommen. Nicht durch unsere Schuld, meine Damen und Herren. Wir waren abseits gestanden durch den Willen der Alliierten, und wir haben das Abseitsstehen auch verstanden, nach⸗ dem wir mit Rußland zu einem geregelten Verhältnis gekommen waren. Damit war aber unsere Arbeit in Genua nicht abge⸗ schlossen. Wir haben wiederholt konstatieren können, daß sowohl Rußland wie die Westmächte unsere Vermittlung, in die wir hineingewachsen sind, dankbar anerkannt haben. Wir haben nicht einseitig vermittelt, wir haben versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen der östlichen und der westlichen Auffassung.
Das Werk ist in Genua nicht zum Abschluß gekommen. Es wird fortgesetzt durch eine Tagung der Sachverständigen im Haag. Wenn gewünscht — aber nur, wenn gewünscht! —, sind wir bereit, unsere Vermittlerrolle weiter aufrichtig und ehrlich zu spielen. Alle, die es sehen wollten, konnten schon in Genua er⸗ kennen, daß es uns Ernst ist, uns selbst mit den Nationen Europas zu verständigen und auch einer Verständigung anderer Nationen, wenn wir dazu gerufen werden, selbstlos zu dienen.
Neben der Russenfrage sind in Genua andeutungsweise andere Fragen zur Diskussion gestellt worden. Ich brauche sie hier nicht zu vertiefen, da auch diese anderen Fragen in ihrer Lösung nur einen Torso darstellen. Ich erinnere Sie nur an den Gedanken der Treuga Dei in Europa — den Gedanken des Gottesfriedens, ebenso groß und erhaben wie die Idee der Genua⸗Konferenz selbst. Der Gedanke der Treuga Dei hat in der ursprünglich beabsichtigten Form keine Gestalt angenommen. Es wäre auch eine Treuga Dei in dem Sinne, wie sie vorgeschlagen worden ist zunächst in theoretischer Form, für das deutsche Volk eine sehr schmerzliche Sache gewesen. Kann man ganz Europa, kann man allen Völkern Europas den Frieden geben, das deutsche Volk aber einer Sanktionspolitik aussetzen? Ist das der Gottesfriede, der diesem unglücklichen Erdteil wieder neue Wohlfahrt und Wiederaufleben sichern soll?
Der Gedanke ist allmählich in den Hintergrund getreten. Wir können das bedauern; es war eben die Welt noch nicht reif dafür, den Gedanken in seiner Reinheit und Größe zu fassen, daß der wirt⸗ schaftliche Aufbau Europas, daß die Ueberwindung der großen Krise mit Gewalt nicht möglich ist. Es ist eine Treuga Dei in kleinerer Form schließlich zustande gekommen, eine Treuga Dei, die die Ostgrenzen der neu entstandenen Staaten zunächst für einige Monate im Beharrungszustand erklärt. Es ist wenig, was dabei herausgekonemen ist. Aber trotzdem ist es ein kleiner Schritt vor⸗ wärts auf dem Wege zu einer Befriedung Europas. Wir wollen diesem Gedanken gern dienen und wollen unsererseits auch helsen, wo es möglich ist, den Gedanken des Nichtangriffpaktes schließlich einer festen Gestalt entgegenzuführen.
Aber, meine Damen und Herren, wenn das geschehen soll, so müssen wir in der großen Frage, die uns alle beherrscht, in der Reparationsfrage, die mit der Sanktionsfrage eng zusammenhängt, von der unglückseligen Politik uns schließlich abwenden können, die Politik auf Termine zu machen, von der Politik, die immer wieder einen Termin setzt, an dem schließlich das Damollesschwert, das über uns hängt, über das deutsche Volk herniedergehen soll. Politik auf Termine und dahinter die Drohungen mit brutaler Gewalt, das ist der Tod für jede Treuga Dei in Europa. Man hat ganz deutlich gesehen, wie eine ungeheure Spannung sich über ganz Europa wieder hinlagerte, je näher der 31. Mai kam. Die Er⸗ regung ergriff das deutsche Volk und ergriff die Neutralen steigend von Woche zu Woche, und man wird den Eindruck nicht los, daß die Steigerung der Spannung vielfach eine künstliche, gewollte Mache gewesen ist.
Wir wollen diese Spannung vielleicht in Hauptpunkten als überwunden ansehen. Die Herren haben ja Gelegenheit gehabt, über die Schritte der deutschen Regierung das Nötige zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt handelt sichs darum, nicht in kritischer Würdi⸗ gung allein über den 31. Mai hinüberzuschreiten, sondern die großen Ziele europäischer Politik mit den Verhandlungen, die zur⸗ zeit in Paris geführt werden, zu verbinden.
Diese großen Ziele sind klar zu erkennen, und der Weg dazu, der möglich ist, der der Verständigung, ist mit festem Schritte zu beschreiten. So, wie es mit englischer Zähigkeit gelungen ist, in Genua die Schwierigkeiten, die die Konferenz zum Scheitern bringen wollten, zu überwinden, so muß es auch geschehen, wenn tatsächlich das große Ziel der Befriedung Europas und der Welt gewollt wird, auch die nächsten Monate so zu überwinden, daß am Ende dann eine Regelung der großen Frage steht, die dem deutschen Volke überhaupt das Leben ermöglicht. Die Sanktionspolitik aber fortzuführen, heißt den Geist von Genua verneinen und den Geist der Zerstörung endgültig freigeben.
Ich darf zusammenfassen. Die Ergebnisse Genuas sind nicht allzu zahlreich. In den Lösungen find sie klein und bescheiden.