Besatzung und der Sachleistungen.
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daß Deukschland Einblick in die Berechnung gegeben worden wäre, festgesetzt wurde, stand dieses Haus vor der bitter schweren Frage, ob es gemäß dieser ultimativen Festsetzung zu leisten versprechen solle oder nicht. Der Streit um die Politik der Erfüllung hat seither die öffentliche Aussprache beherrscht und wurde vielfach zum Schaden für unsern innerpolitischen Frieden aus einer Frage nüch⸗ terner, wirtschaftlicher Abwägung zu einer Frage der Gesinnung gemacht. Heute ist die Frage der Erfüllungsmöglichkeit und ihrer Grenze geklärt: In Cannes, in Genua und später überzeugten sich die in der Reparationskommission vertretenen Mächte, daß die Deutschland auferlegte Last unerschwinglich ist. Sachverständige aus den Gläubigerstaaten wie aus neutralen Ländem fanden sich in der Anerkennung der gegenwärtigen Leistungsmöglichkeit mit uns in ein⸗ gehender Darlegung ihrer Gründe zusammen. Nicht Deutsch⸗
land sagt, daß es das Verlangte nicht zahlen wolle, sondern die
Gläubiger und die Sachverständigen der Weltwirtschaft er⸗ klären, daß Deutschland nicht zahlen kann. Trotzdem sind uns nur die Goldzahlung für Reparation und Besatzung und auch sie nur bis Ende dieses Jahres gestundet: Drohend hängt das Schwert der Ungewißheit über Deutschland, dazu drücken uns die Lasten der Wiewohl Deutschland nur eine Wehrmacht von hunderttausend Mann unter den Waffen hat, liegt auf dem linken Rheinufer und den drei rechtsrheinischen Städten, die ohne einen im Friedensvertrag gegebenen Titel besetzt wurden, immer noch eine Armee, die wesentlich größer ist als das deutsche Heer. Monat um Monat liefert Deutschland neben anderen Leistungen große Mengen Kohle ab, zum Teil über Bedarf der französischen Volkswirtschaft. Die Abtrennung wichtiger landwirt⸗ schaftlicher und industrieller Gebiete im Osten, Westen und Norden hat Deutschlands Produktionskraft aufs tiefste geschwächt. Die Wegnahme der deutschen Auslandsvermögen, der Kolonien und der deutichen See⸗ und Binnenhandelsflotte hat unsere Zahlungsbilanz stark passiv gestaltet und so unsere Währung zum Niedergang ver⸗ urteilt, selbst, wem keine Reparationslast auf Deutschland läge. Diese sichtbare Ueberlastung Deutschlands mit einer auch bei un⸗ versehrten Kräften unaufbringlichen Zahlungspflicht und die damit verknüpfte Politik ultimativer Drohungen hat den Glauben der Welt an die politische und die von ihr bedingte wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aufs schwerste erschüttert. In enger Ver⸗ strickung von Wirkung und Ursache ist im Innern die deutsche Leistung und vor allem der Wirkungsgrad der deutschen Arbeit erheblich gesunken. In der Landwirtschaft stehen wir vor einer beträchtlichen Minderernte an Brotgetreide, im Bergbau vor einem Rückgang der Förderung, der im Zusammenhang mit den Lieferungen an die Entente uns zwingt, Monat um Monat steigende Mengen Kohle aus England und der Tschechoslowakei einzuführen und uns immer tiefer zu verschulden. Unsere Mark ist bis auf einen winzigen Bruchteil des Friedenswertes gegenüber dem Dollar gesunken. Diese Entwertung der Mark schmälert immer mehr die Einfuhr not⸗ wendiger Nohstoffe und Lebensmittel und läßt die Preise im Inland sprunghaft in die Höhe schnellen. Dies alles bedeutet eine ungeheure Umschichtung der Lebenslagen unseres Volkes, wie sie noch nie in so kurzer Zeit erlebt wurde. Entschuldung derjenigen, die Goldmark⸗
zulden in Papiermark zurückzahlen, Enteignung der Gläubiger, die
an Private und besonders an den Staat hochwertige Mark in gutem Glauben hingegeben haben, der Hunderttausende solider privater Sparer, namentlich aus dem alten Mittelstand sowohl wie unserer gemeinnützigen Einrichtungen. Löhne und Gehälter können bei weitem wicht dem Sinken des Geldwertes angemessen werden. Die Mark hat ihre Geltung als Mittel der Werterhaltung wie ⸗bemessung verloren. Die Folge ist trotz des äußeren auf die Papiermark ge⸗ gründeten und daher irreführenden Scheins der Prosperität mancher Unternehmungen fortschreitende Minderung der Substanz, ist steigende Kreditnot, die alsbald die Beschaffung von Rohstoffen und damit die Vollbeschäftigung der Arbeiter gefährden muß, ist eine außer⸗ ordentlich gesteigerte Nachfrage nach ausländischen Zahlungsmitteln, verabscheuungswürdig da, wo nur für spekulative Zwecke gekauft wird, volkswirtschaftlich berechtigt bei den mit der Einfuhr⸗ wirtschaft verbundenen Betrieben; ist ferner Tötung des alten Spar⸗ sinnes, eine vielfach unberechtigte Flucht in Waren, und zwar nicht bei dem breiten Durchschnitt unseres Volkes, dessen Lebenshaltung immer tiefer sinkt, aber in gewissen Kreisen eine für Volkswirtschaft wie Volkssitte gleich schädliche Flucht in den Genuß mit all den unerfreulichen Bildwirkungen, die im
Inland verbittern, den ausländischen Beobachter aber irreführen.
Es liegt im Wesen der Wirtschaftsgesetze, daß der wirtschaftliche Zustand Deutschlands bei fortwirkenden Ursachen nicht auf dem beutigen Stande bleiben kann, sondern weiter inken muß. In immer verhängnis⸗ vollerer Verstrickung wird Wirkung zu weiter wirkender Ursache, Preis⸗ erhöhung zu Lohnerhöhung, Lohnerhöhung zu Preiserhöhung, steigert die Inlandsnot, die Auslandsverschuldung und umgekehrt. Wenn ich Sie an die demnächst in Kraft tretende, am 9. November beschlossene Verdreifachung des Brotpreises, an die jüngste Erhöhung der Kohlen⸗ preise, an die ebenfalls bereits feststehenden mehrfachen Tariferhöhungen der Eisenbahn erinnere, erkennen Sie aus diesen Beispielen die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung. Zwar arbeitet unsere Wirt⸗
schaft und ist der Wille zur Arbeit überall gestiegen, zwar feiern wenig
8 1 — Ragae . 888 Menschen — gleichwohl die Wirtschaft sinkt. Dies ist das Deutsch⸗ land des beginnenden Winters 1922 ⁄23, das Deutschland, für dessen Regierung das neue Kabinett nun die Verantwortung übernimmt. Im
Vordergrund unserer Verantwortung und Sorge steht die Reparations frage, die nun zur Schick
salsfrage der deutschen Wirtschaft geworden ist — nicht zu der ausschließlichen, aber doch zu der weitaus am
rIvn rr. . . — 8“ 121& . „, a. stärksten bestimmenden. Die Stellung der Regierung hierzu ist klar
und einfach: So wenig die tragische Frage der Schuld am Weltkriege für das richterliche Gewissen der Weltgeschichte durch irgendein ge⸗ schriebenes Wort entschieden werden kann, ebensowe ig Sinn hat es für uns, den Titel des verlorenen, nicht des verschuldeten Krieges zu leugnen. Die Regierung betrachtet es als ihre Pflicht, ohne jegliche Scheu alles beizutragen, was ein gerechtes Urteil über die Schuld⸗ frage herbeiführen kann, im Bewußtseifl, daß jeder Schritt zur Wahr⸗ heit auch ein Schritt zur Beseitigung des Unrechts in der Welt, zur Rettung Deutschlands und Europas und zur Versöhnung der Völker sein wird. Aber ebenso betrachtet sie als notwendig, nach diesem ver⸗ lorenen Kriege zur Abtragung der Deutschland auferlegten Verpflich⸗ tungen, insbesondere zum Friedenswerke des Wiederaufbaues der zer⸗ störten Gebiete in Frankreich, die die volle Wucht des zerstörenden Krieges zu tragen hatten, zu leisten, was nach Dechung der deutschen
Lebensbedürfnisse nohwendig ist. Solche Begrenzung entspricht selbst
dem Vertrag von Versailles, wonach die deutschen Leistungen nach dem Grade der Leistungsfähigkeit abzumessen sind, wie auch der Zusage
der Note ber alliierten Haupkmächte vom 16. Juni 1919, daß die „gesellschaftliche, wirtschaftliche und finanzielle Organisation eines Deutschland aufrechterhalten werden solle, das sich aufrichtig bemühe, seine volle Tatkraft in der Wiedergutmachung der von ihm verur⸗ sachten Verluste und Schäden zu widmen.“ Sie entspricht endlich der in den Wirtschaftsgesetzen begründeten Notwendigkeit, daß der Schuldner von seinem Acker erst selbst leben muß mit Familie, Ge⸗ sinde und Gespann, daß er die Mittel haben muß, den Acker zu be⸗ stellen und zu verbessern, und dann erst vom Ertrag seiner Wirtschaft den Gläubiger bezahlen kann. Das Wort: „Erst Brot, dann Repa⸗ rationen“, fügt die Politik der alten und der neuen Regierung ohne Bruch ineinander. Diese Politik ist die Politik der Selbsterhaltung der Nation, der Stärkung der deutschen Wirtschaft und der best⸗ möglichen Leistung aus den Ueberschüssen, die sich nach Deckung des dringenden deutschen Bedarfs ergeben. Kein Gläubiger, dem die Reparationsfrage eine Wirtschaftsfrage ist und nicht etwa ein Instrument machtpolitischer Absichten, kann dieser Politik entgegentreten. Darum wird die notwendige Lösung Problems umso eher erzielt werden können, je mehr die Frage vom wirtschaftlichen und praktischen Standpunkt aus betrachtet wird. Ich hoffe und glaube, daß die Einsicht von der Notwendigkeit einer solchen leidenschaftslosen und nüchternen Behandlungsweise sich auch in den Ländern unserer früheren Gegner immer mehr Bahn bricht. Ich glaube insbesondere, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika, ohne deren Unterstützung eine Lösung mir nicht denkbar erscheint, die In⸗ angriffnahme der Aufgabe von weltwirtschaftlichem Standpunkte aus Verständnis finden wird.
Geleitet von solchen wirtschaftlichen Gedankengängen und in Uebereinstimmung mit Wirtschaftssachverständigen der Welt hat die bisherige Regierung kurz von ihrem Rücktritt einen bedeutsamen Schritt nach vorwärts getan durch die Note, die sie am 13. November dieses Jahres an die Reparationskommission gerichtet hat und die die ausdrückliche Billigung der Führer sämtlicher Parteien fand, mit denen die Regierung verhandelt hat.
Im Namen der neuen Regierung gebe ich die Erklärung
ab, daß sie ohne Einschränkung auf den Boden dieser Note tritt und fest entschlossen ist, das in ihr enthaltene Pro⸗ gramm im vollen Umfang zu vertreten und zur Durchführung zu bringen. . Wir machen uns das Wort der Sachverständigen zu eigen, daß „Deutschland sich eine eigene aufbauende Politik schaffen muß, auch wenn damit Gefahren verbunden sind.“ Diese aufbauende Politik muß das, was manchmal gegeneinandergestellt wurde, in einem Zuge vereinen, die grundsätzliche Politik der Wirtschafts⸗ gesundung und entschlossene technische Maßnahmen der Wäh⸗ rungsstützung. Zu beidem hat sich die Note vom 13. November bekannt. Auch die neue Regierung tritt deshalb dem bei, daß sofort eine vorläufige Aktion zur Hebung und Festigung der Mark eingeleitet und hierfür von der Deutschen Reichsbank ein Betrag von fünfhundert Millionen Goldmark zur Verfügung gestellt werden soll. Das bedeutet ein schweres Opfer, das, nutzlos vertan, die Vernichtung der deutschen Währung bestegeln würde. Dazu kommt, daß sich aus plötzlichem Anhalten der Mark nicht unerhebliche Erschütterungen unseres Wirtschaftlebens ergeben können. Wir sehen diese Gefahren, aber wir scheuen sie nicht, denn wer wollte nicht die akute Gesun dungskrisis der schleichenden Verfallskrisis vorziehen? Aber es muß auch Grund zur Hoffnung auf Gesundung gegeben sein, sonst würde der Mut zu einer solchen mit Gefahren verbundenen Politik zu unverantwortlicher Vermessenheit, und das Ergebnis wäre der endgültige Zusammenbruch des Reparationsschuldners zum Schaden auch der Reparationsgläubiger und der ganzen Welt⸗ wirtschaft. aussetzungen der Note aufnehmen: insbesondere muß Deutschland auf drei bis vier Jahre von allen Bar⸗ und Sachleistungen aus dem Vertrage von Versailles befreit werden, wobei nur die Sachlieferungen für den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete insoweit ausgenommen sein sollen, als sie ohne Vermehrung der schwebenden Schuld, d. h. aus laufenden Einnahmen oder inneren Anleihen bestritten werden können; Deutschland muß weiter für die Stützungsaktion einen ausländischen Bankkredit von fünfhundert Millionen Goldmark erhalten. Die finanztechnischen Einzelheiten dieses Planes sind sachlicher Beratung vorbehalten; auch muß Deutschland die Gleichberechtigung im Handels⸗ verkehr wiedergegeben werden, ohne die es nicht zahlungsfähig werden kann. - G
Die Annahme dieser Vorschläge wäre nur die logische Folge der Erkenntnis, der Herr Poincars selbst in seiner letzten großen Kammer⸗ rede Ausdruck gab, daß Deutschland im Augenblick nichts mehr bezahlen und weder mit Papiergeld noch mit dem Gold der Reichs⸗ bank erhebliche Summen entrichten könne. Sein Vorwurf, daß Deutschland niemals den aufrichtigen Wunsch gezeigt habe, seine Reparationsverpflichtungen zu erfüllen, kann nicht Geltung haben gegenüber der Tatsache, daß Deutschland diesen Leistungswillen offen vor der Welt betätigt hat mit dem Endbild der heutigen tiefen Erschöpfung unserer Wirtschaft.
Weiter wird behauptet, daß die Ausfuhrziffern Deutschlands zu gering angegeben seien und Deuts
schland eine Menge von Waren ein⸗ geführt habe, die für seine Existenz sehr entbehrlich seien. Aber die Statistik unserer Handelsbilanz wie unsere Bemühungen, ihre Methode zu bessern, liegen offen zu Tage. Auch hier der Note vom 13. November folgend, sind wir entschlossen, die Luxuseinfuhr ohne jegliche Rücksicht auf Luxuswünsche deutscher Verbraucher zu hemmen. Wir haben allerdings Rücksicht darauf zu nehmen, daß deutsche Aus⸗ fuhrindustrie zum Teile wechselseitig von der Zulassung fremder Ein⸗ fuhr abhängt.
Herr Poincaré sagte, das einfachste und sicherste Mittel bleibe die Aufnahme einer oder mehrerer Anleihen im Auslande, vorher aber müsse die Mark stabilisiert und in ihrem Werte gehoben werden. Dem Gedanken der Auslandsanleihe, wie dem Gedanken der Festigung und Hebung der Mark stimmt die Regierung durchaus zu; aber mit den Sachverständigen der Weltwirtschaft ist sie darin einig, daß die Mark nicht stabilisiert werden kann, solange die Politik der Ultimaten Deutschland keine Wirtschaft auf lange Sicht und der Welt kein Vertrauen auf die deutsche Wirtschaft erlaubt und solange die Reparationsleistungen Werte um Werte aus der Substanz der deutschen Wirtschaft abströmen lassen, mit deren Wasserspiegel die Mark sinkt und steigt.
Das muß das Ausland einsehen. Für uns aber gilt es nun, jeden Augenblick zu nutzen, um die Wirtschaft zu höheren Leistungen zu führen. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist Lebenselement
Deshalb müssen auch wir mit allem Ernst alle Vor⸗
dieser neuen Regierung, nicht als ob uns Wirtschaft das Höchste und Letzte oder Selbstzweck im Menschenleben wäre, sondern, weil dies die Lebensfrage unserer Nation ist. Wir erwarten die Steigerung der Leistung von allen Beteiligten, von der Unternehmerschaft, wie von den Arbeitnehmern aller Berufe, die eben diese Zeit immer mehr in dem großen der Bemühung der Besten werten Gedanken einer alle umfassenden Arbeitsgemeinschaft einigen soll.
Wir haben unproduktive Arbeit in Staats⸗, Volks⸗ und Privat⸗ wirtschaft. Durch unsere ganze Wirtschaft wird Stück um Stück der Abbau dieser unproduktiven Arbeit anzustreben sein. Das ist nicht bloß Produzenten⸗, sondern auch Konsumentenpolitik und dringend notwendig, um ungemessenem Ansteigen der Preise entgegenzuwirken, um so notwendiger, als die Möglichkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen zum Zwecke der Preisregelung nach dem Urteil aller Einsichtigen eng begrenzt ist.
Damit soll dem Wucher nicht die Bahn freigegeben werden, seine Bekämpfung bleibt eine dringliche Aufgabe. Da, wo übermächtige Ver⸗ einigungen von Industrie und Handel durch unbillige Preis⸗ und Absatzbedingungen die Freiheit des Wettbewerbs unterdrücken und Verarbeitern und Verbrauchern ungerechtfertigte Lasten auferlegt werden, soll die Gegenwehr der Verarbeiter und Verbraucher notfalls unterstützt werden. Dabei darf Gesetzgebung und Gesetzesanwendung nicht dazu führen, daß die Erhaltung der Betriebe in ihrem volks⸗ wirtschaftlich gebotenen Bestand gefährdet wird. Hierfür Be⸗ stimmungen zu treffen, die der Wirtschaft Rechtssicherheit und Selbst⸗ erhaltung verbürgen und die unleidliche Unsicherheit des jetzigen Zu⸗ standes beheben, wird die Regierung als eine der nächsten Aufgaben betrachten.
Damit will die Regierung besonders auch Wünschen des Handwerks entgegenkommen, deren Berechtigung schon die bisherige Reichsregierung anerkannte. Für das Handwerk, dessen hohe wirtschaftliche wie staatsbürgerliche Bedeutung der Regierung jede mit dem Wohle der Gesamtheit vereinbare Für⸗ sorge besonders nahelegt, soll die Möglichkeit verbesserter Organi⸗ sation alsbald gesetzlich gesichert werden. Als wirtschaftliche Not⸗ wendigkeit ist bereits aber auch anerkannt, daß das Arbeits⸗ zeitrecht alsbald gesetzlich, und zwar unter Festhaltung des Acht⸗ stundentages als Normalarbeitstag und unter Zülassung ge⸗ setzlich begrenzter Ausnahmen auf tariflichem oder behördlichem Wege geregelt werden muß. Bei diesen Maßnahmen wird der verfassungsmäßig gewährleistete Schutz der Arbeitskraft und der weitere freiheitliche Ausbau des Arbeitsrechts ständig im Auge behalten werden, weil nur auf dem Grunde eines befriedigenden sozialen Rechtes die wirtschaftlich notwendige volle Entfaltung der Kräfte möglich ist. Eine solche Anspannung der Kräfte ist an⸗ gesichts der schwierigen Ernährungsfrage besonders dringlich für unsere Landwirtschaft. Denn unsere Ernährungslage ist beengt durch die Minderernte im Brotgetreide und die mit dem Sinken der Mark ständig wachsenden Erschwerungen überseeischer Ge⸗ treideeinfuhr. Dies veranlaßt mich, an die Landwirtschaft, die, glücklicher als viele andere Berufe, sich die Sicherheit der Existenz erhalten hat, die Mahnung zu richten, der Volksgemeinschaft weiter ihr Opfer zu bringen und die Ablieferung der fälligen Getreide⸗ umlage möglichst zu beschleunigen. Es ist der fele Wille der Reichsregierung, hierfür alle Kraft einzusetzen. Ber der Preis⸗ festsetzung für die weiter zu liefernden Getreidemengen ist die Regierung bereit, den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen Rchnung zu tragen. Die nachhaltigste Ernährungssicherung liegt naturgemäß in der höchstmöglichen Steigerung der Produktion; an sie wird die Regierung alle Kraft wenden, damit das deutsche Volk in seiner Ernährung vom Auslande möglichst unabhängig gemacht wird. Der Abbau des Restes der Zwangswirtschaft, der in der Note vom 13. November bereits angekündigt ist, wird um so eher und leichter durchzuführen sein, je schneller die Maßnahmen zur Stabilisierung der Mark Erfolg haben und den regelmäßigen Versorgungsausgleich wieder ermöglichen werden. Bei allem Be⸗ mühen um die Gesundung unserer Wirtschaft wird von weiten Kreisen unseres Volkes Entbehrung nicht fernzuhalten sein. Der Staat ist arm. Es wäre eine Täuschung, wollte die Regierung allen Notleidenden baldige, voll ausreichende Hilfe zusagen. Aber auch das verarmte deutsche Volk wird die Pflicht bestmöglicher Hilfe denen gegenüber empfinden und erfüllen, die, wie die Kriegs⸗ beschädigten, selbst ihr Bestes für Deutschland gegeben haben, die, wie die Sozialrentner, ihre Arbeit der Wirtschaft gewidmet haben, oder die endlich, wie so weite Kreise unseres in Kummer und Sorge sinkenden alten Mittelstandes, nach einem Leben der Arbeit ein Opfer ihres Vertrauens auf Staat und Wirtschaft geworden sind. Die Fürsorge für diese Kreise hat sich schon die bisherige Regierung angelegen sein lassen, und die jetzige Regierung wird hierin fortfahren; sie glaubt dabei der Zustimmung aller Parteien sicher zu sein. Beträchtliche Mittel sind erforderlich. Infolge der Not des Reiches werden diese Mittel begrenzt sein. Deshalb ist es Pflicht, mit den Mitteln des Staates hauszuhalten und durch die Art ihrer Verwendung einen möglichst hohen Wirkungsgrad zu erzielen. Im Zusammengehen mit den Ländern sind Mittel und Wege zu suchen, der viel beklagten Zersplitterung in der öffentlichen Fürsorge zu begegnen. Getrennt wirkende Kräfte müssen zu einheitlichem Handeln und erhöhten Leistungen in Formen zusammengeschlossen werden, die auch die verantwort⸗ liche Arbeit der Selbstverwaltung fördern. Aber der Staat kann nicht alles Notwendige leisten. Ich benutze diese Stunde, da ich zum deutschen Volke rede, alles aufzurufen, nach besten Kräften den in Not geratenen Volksgenossen zu helfen. Ich nenne ein Wort, das alle zu Hilse rufen müßte: die wachsende Not deutscher Kinder. Von Herzen dankt das deutsche Volk in seiner Ver⸗ armung menschenfreundlichen Spendern aus anderen Ländern. Eine der drückendsten Sorgen bildet der tieftraurige Stand unseres Wohnungswesens. Die Geldentwertung macht durchgreifende Ab⸗ hilfe unmöglich, desto mehr müssen alle Wege begangen werden, um sowohl durch Aufbringung größerer Geldmittel wie durch mög⸗ lichste Verbilligung und Vereinfachung des Bauens wenigstens ein beschränktes Bauprogramm durchzuführe
Not bedrückt auch die deutsche Geistesarbeit. Welche Gefahren hierin für die Kultur der Welt liegen, ist auch aus dem Auslande in hochherzigen Spenden anerkannt worden, für die das deutsche Volk dankbar ist. Aber auch das Reich wird tun, was es in seiner beengten Lage kann, um angesichts der schweren Notstände die
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Kulturgüter Deutschlands zu schützen und seinen geistigen Besitz
vor dem Verfall zu bewahren; sie vertraut hierbei dem deutschen
Lassen Sie uns auf dieser Grundlage — darum bitte ich Sie
seeischen Beziehungen pflegen, insyonderheit mit den großen Natio⸗ nen, mit denen entzweit zu werden, das Unglück Deutschlands und
t Westen gegen den 2
auch in den Zeiten wirtschaftlichen Niederganges auf freier Höhe geblieben ist. Die Grundsätze höchster Leistung wie höchster Sparsamkeit wird die Regierung im besonderen im öffent⸗
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lichen Haushalt durchführen. Was an Behörden entbehrt werden
kann, wird in bewußter Beschränkung der Staatsaufgaben auf das unbedingt Notwendige abgebaut werden. Die Staatsbetriebe sollen auf dem Wege zu höchstmöglicher Leistung bei geringst⸗ möglichem Kräfteverbrauch unter voller Wahrung des Reichs⸗ 11 weitergeführt, Gehalts⸗ und Lohnpolitik so sehr als 1931 Tüchtigen dienstbar gemacht werden. Damit soll der alte, gute Beamtengeist nicht beeinträchtigt, er soll vielmehr mannigfach drohenden Gefahren gegenüber gefestigt und neu entwickelt werden.
Es bedarf keiner Darlegung, wie unbedingt notwendig an⸗ gesichts der Fülle der Aufgaben, die höchstmögliche Steigerung der Reichseinnahmen ist. Dazu wird angestrebt werden, Steuergesetzgebung, Steuerveranlagung und ⸗erhebung zu verein⸗ fachen, die Steuer möglichst an der Quelle zu erfassen, die Ver⸗ anlagung durch Ausbau des Dienstes immer zuverlässiger zu ge⸗ stalten, die Einziehung zu beschleunigen und Sicherheit dafür zu gewähren, daß dem säumigen Schuldner aus verspäteter Zahlung mit schlechterer Mark kein Vorteil erwächst. Darüber, daß auch schwerste Opfer der Leistungsfähigen nicht gescheut werden dürfen, ist die Regierung mit diesem Hause einig.
So wollen wir, meine Damen und Herren, in unserer Wirt⸗ schaftspolitik — dies Wort in weitestem Sinne genommen — die Gebote der Wirtschaftsvernunft mit warmem Sinn für Volks⸗ wohl und sittliche Erfordernisse zu erfassen und vereinen trachten.
namens der Gesamtregierung — auch im Streit der Zweckmäßig⸗ keiten die Ehrlichkeit und die gute Absicht unserer Bemühungen gegenseitig anerkennen; denn uns allen kann um nichts anderes zu tun sein, als um das Wohl des ganzen Volkes, seiner selb⸗ ständigen Schichten, seiner Geistesarbeiter wie auch der industriellen Arbeiterschaft, ohne deren freudige Mitarbeit Staat und Wirt⸗ schaft nicht gedeihen können. Ob wir aus den in Arbeitswillen und Arbeitskraft unseres Volkes gegebenen guten Voraussetzungen das Ziel erreichen können, unsere Wirtschaft wieder gesund und fest zu gestalten, hängt zum Teil von uns, zum anderen Teil vom Ausland ab. Ich weiß, daß Deutschland des Verständnisses und des guten Willens bedarf, worauf es nach der Ehrlichkeit seines Willens und der Größe vergangener und zukünftiger Leistungen ein Recht hat. Den nationalen und kulturellen Zu⸗ sammenhalt mit den abgetretenen Gebieten im Auge, in dessen Pflege wir an den selbstbewußten Völkern unserer Kriegsgegner manches Beispiel haben, wird die Regierung ihre Kraft dem fried⸗ lichen Zusammenleben mit den Völkern widmen, aus deren Wirt⸗ schaftsbeziehungen Deutschland nicht ohne schwersten Schaden der anderen Völker gestrichen werden kann.
Das gilt für alle Länder Europas ohne Ausnahme. Jeder, der zur friedlichen Zusammenarbeit bereit ist, ist uns willkommen. Aber ebenso wird die Regierung sorglich alle über⸗
Europas war. Mir persönlich wird es eine Freude sein, die ver⸗ trauensvollen Beziehungen, die ich mit Wirtschaftsführern des Auslandes gewonnen habe, nun unmittelbar für den Dienst des Reiches fruchtbar zu machen.
Auch in diesem wirtschaftlichen Zusammenhange ist es wichtig, die Auslandsdeutschen, die durch Krieg und Friedensschluß schwere Einbußen erlitten haben, in einer Form zu entschädigen, die bei aller Begrenztheit unserer stattlichen Mittel die Wiederaufnahme kultureller und ökonomischer Pionierarbeit ermöglicht. Es muß gelingen, das Entschädigungsverfahren auf eine möglichst geschäft⸗ liche Basis zu stellen, zu vereinfachen und zu beschleunigen.
Was wir treiben werden, soll eine ehrliche, schlichte deutsche Politik sein, die nichts mit den Schlagworten einer Ost⸗ oder Westpolitik zu tun hat. Solche Gegenüberstellung erweckt den An⸗ schein, als wollten wir den Osten gegen den Westen oder den
i Osten ausspielen. Dazu sind wir weder willens noch imstande. Aus dem Unfrieden anderer Mächte wird Deutsch⸗ land keinen Vorteil ziehen, sonder lediglich Nachteile verhängnis⸗ voller Art erfahren. Was Deutschland und nicht nur Deutschland, sondern die Welt und die Weltwirtschaft brauchen, ist nicht Un⸗ einigkeit, sondern Einigkeit und Arbeit, und ist für Deutschland im besonderen der Blick ins Freie und in eine bessere Zukunft. Wohl wissen wir, daß Deutschland deutsch bleiben wird und keines seiner Länder dem Herzen und dem Geiste nach von Deutschland abgetrennt werden kann. Aber der Möglichkeit wollen wir offen ins Auge sehen, daß es Bestrebungen jenseits der Grenzen gibt, die auf neue Bedrückungen und Eingriffe abzielen. Mit Sorge sind gerade in diesen Tagen die Blicke auf die schwergeprüfte Be⸗ völkerung der besetzten Gebiete am Rhein gerichtet, die nun schon seit vier Jahren mit bewunderungswürdiger Geduld die harten Leiden und Lasten einer Besetzung trägt, deren Art viel⸗ fach dem Kulturempfinden der gesitteten Welt widerspricht. Wir danken unseren deutschen Landsleuten für ihre Treue; aus ganzem Herzen wollen wir ihr Los nach Kräften erleichtern und die Ver⸗ bundenheit der besetzten Gebiete mit Reich und Ländern festigen. Für die Regierung wiederhole ich, was Reichsminister Rathenau zwei Tage vor seinem tragischen Ende hier erklärte: Die Re⸗ gierung wird niemals bereit sein, besetztes deutsches Gebiet, das Rheinland oder die Pfalz oder das Saargebiet preiszugeben, ihre Befreiung zu gefährden oder auch nur um einen Tag hinausschieben zu lassen. Eindringlicher als alles andere, meine Damen und Herren, mahnt diese Sorge um deutsches Land am Rhein zu stärkster, tiefster Einmütigkeit der Gesinnung. In der Tat, jetzt ist keine Zeit zu Verfassungsstreitigkeiten! Wem Deutschland Herzens⸗ sache ist, diene mit uns auf dem Boden unserer Reichsverfassung diesem unserem deutschen Staate. Der kommende Winter wird, so fürchte ich, Not und Verbitterung in unserem Volke steigern. Wir werden alle Sorge des Herzens anwenden, sie zu lindern. Aufruhr und Gewalt würden nichts bessern, sondern die Not steigern und die letzten moralischen und wirtschaftlichen Hoffnungen zertrüm⸗ mern. Sie würden deshalb die volle Kraft des Staates auf dem Plane finden. Ich bitte darum alle, die in unserem Volke Einfluß haben, sich für die Erhaltung der Ordnung und für ruhige Einsicht einzusetzen. Kein Staat kann ohne Autorität sein. Die Sorge für die Staatsdiener, die diese Autörität ausüben und zu schützen
Io Mijcksi oqto 8 1 21% RAufft; ziale Rücksichten es zulassen, der Auslese und dem Aufstieg der
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3 Beamter erfahren, was echtes Beamtentum bedeutet und dem Staate gibt, auch eine persönliche Herzenssache sein. Reichswehr und Reichsmarine, die in glücklicher Vereinigung alter soldatischer Tugenden mit vorbehaltlosem Gehorsam für Staat und Verfassung immer mehr dem Gegensatz der Parteien entrückt und der Volks⸗ gesamtheit näher gekommen sind, haben ein Recht auf gleiche Für⸗ sorge und Achtung. In unserer Rechtspflege ist die Erhaltung einer unparteiischen, vom Vertrauen des Volkes getragenen Recht⸗ sprechung selbstverständliches erstes Gebot. Unser staatsrechtlicher Aufbau ist in manchem neu und umstritten auch im Verhältnis zu den Ländern. Ich bedauere es nicht, daß die Länder eine stärkere Lebenskraft zeigen als viele in den Jahren der Umwälzung glaubten. Ich freue mich dessen vielmehr, weil so Werte der Heimat⸗ und Staatsgesinnung entwickelt werden, die letzten Endes auch dem großen Reich zugute kom⸗ men. Darum wird die Reichsregierung aus Ueberzeugung die Rechte der Länder, wie sie bestehen, wahren, ihre verfassungs⸗ mäßige Mitarbeit an den Angelegenheiten des Reiches gerne pflegen und Wünsche nach freier Entfaltung möglichst bis zu jener von keiner Reichsregierung überschreitbaren Grenze erfüllen, die die schon im Bismarckschen Reiche weit ausgebaute notwendige Rechtsgemeinschaft der deutschen Staatsbürger oder die Sicherheit des Reiches ziehen.
Wir glauben damit auch dem allgemeinen großen Ziel zu dienen, alles, was unser Volk aus einer reichen Geschichte an gutem alten Wefen, an religiösen und kulturellen Werten übernommen hat, mit dem, was die neue Zeit an Gutem bringt und an Notwendigem fordert, zu innerer Einheit zu versöhnen in einer realpolitisch klug abwiegenden, aber warm fühlenden, in Geschichte und Kultur unseres Volkes gegründeten wahrhaft deutschen Staatsgesinnung.
Dies, meine Damen und Herren, ist der Geist, in der wir die Arbeit beginnen. Ich suche Zustimmung und Mitarbeit hierfür, nicht um der Reichsregierung willen, von deren Mitgliedern keines sein Amt als Gunst des Schicksals betrachtet, sondern als Pflicht gegenüber der Not des Vaterlandes. Nicht um Personen und Worte geht es, sondern um Arbeit und Tat, und darum werbe ich bei Ihnen, meine Damen und Herren des Reichstags, wie über die Fraktionen dieses Hauses hinaus bei unserem ganzen Volke, daß alle lebendigen Kräfte sich auf dieser einfachen Linie zur Rettung Deutschlands vereinigen.
Dieses Wort ist nicht zu stark; denn Deutschland ist in schwerster Gefahr. Wir wissen nicht, ob ihm aus übermächtigem Willen der vormaligen Kriegsgegner neue Not beschieden oder ihm ermöglicht sein wird, den Weg der Gesundung zu beschreiten.
Für beide Fälle lassen Sie uns arbeiten an der Einheit unseres Volkes und der Tüchtigkeit seiner Leistung. Lassen Sie uns unserer inneren Einheit über manche Verhetzung hinweg nun auf⸗ richtig und in der Tat bewußt werden. Was uns auch beschieden sein mag, unsere Arbeit wird nicht vergebens sein: Deutschland kann bedrückt und bedrängt werden, aber es kann nicht untergehen, wenn es sich nicht selbst aufgibt.
Am Schluß der Rede fand der neue Reichskanzler den leb⸗ haften Beifall der bürgerlichen Parteien. Vereinzelte Pfuirufe der Kommunisten wurden mit erneutem Beifall beantwortet. Als einzelne Tribünenbesucher in die Hände klatschten, unter⸗ sagte Präsident Löbe solche Kundgebungen auf der Tribüne. Dem Beschluß des Aeltestenrats entsprechend wurde nach dem Schluß der Kanzlerrede die Sitzung gegen 2 ¼ Uhr durch eine zweistündige Pause unterbrochen.
Nach Wiederaufnahme der Sitzung um 4 ¼ Uhr nimmt zur r
Besprechung der Regierungse nächst das Wort der
Abg. Dr. Breitscheid (Soz.), der einen Rückblick auf die letzte Regierungskrisis wirft: Ihre letzten Wurzeln sind zu finden in einem wiedererstarkten Kapitalismus, der versuchte, die Sozial⸗ demokratie zu verdrängen; darum sollte die Deutsche Volkspartei ins Kabinett genommen werden. Erst waren wir gut genug zur Mitarbeit, die wir gern geleistet haben. (Lachen rechts.) Das Kobinett Fohrenbach legte Wert darauf, den Zusammenhang mit der Arbeiterschaft nicht zu verlieren, nicht nur in Worten, sondern in Taten. Wurde doch in diesem Kabinett sogar ernstlich über die Sozialisierung wenigstens diskutiert, ein Gedanke, den Sie (nach rechts) schon länger zum alten Eisen geworfen haben. (Zuruf rechts: Sie auch!) Der Anfang der letzten Krisis ist nach dem Rathenaumord entstanden. Die Bürgerlichen fürchteten den Ein⸗ fluß der Unabhängigen, sie bildeten eine bürgerliche Arbeits⸗ gemeinschaft mit der Volkspartei, und damit war die Krisis da. Mit uns waren sie in der Koalition verheiratet, mit der Volks⸗ partei in „freier Liebe“ verbunde (Heiterkeit.) An die Sozial⸗ demokratie erging das Ersuchen, die Volkspartei ins Kabinett auf⸗ zunehmen; wir lehnten das ab, und die Krisis war da. Wir haben uns nicht durch persönliche Ranküne gegen Wirth oder das Zentrum leiten lassen, sondern von rein sachlichen Rücksichten. (Lachen rechts.) Wir sind überzeugt, daß Herr Wirth Erfüllungs⸗
klärung zu⸗
zum Nutzen des deutschen Volkes getrieben hat, wofür ihm
das deutsche Vole noch einmal Dank wissen wird. (Lachen und Widerspruch.) An uns wurde wie aus der Pistole geschossen das Verlangen gestellt, die Volkspartei ins Kabinett aufzunehmen. So redet man nicht mit der größten Partei. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wir haben keinen „Dolchstoß von hinten“ gegen das Kabinett Wirth geführt, sondern lediglich sachlich gehandelt. Ein Artikel des Herrn Stresemann ist unserer Haltung in der gegenwärtigen Situation durchaus gerecht geworden. Wenn wir die Deutsche Volkspartei einigermaßen mit Herrn Stinnes identifizieren, so wird uns niemand den guten Glauben ab⸗ sprechen; Herr Stinnes betrachtet aber die Stabilisierung der Mark nur mit gemischten Gefühlen und ist Gegner des Acht⸗ stundentages. Solange die Volkspartei nicht deutlich von Stinnes obrückt, können Sie uns unsere Haltung nicht verdenken. Auch bei den Demokraten gibt es Leute, die an rückschrittlicher Ge⸗ sinnung die Volkspartei noch überrreffen. Ich verstehe nicht, warum diese beiden Königskinder nicht zusammenkommen. Wenn man fragt, warum wir mit den Demokraten in der Koalition blieben, nun, so war für uns eine kleine Gruppe nicht gefährlich, auch wenn sie volksparteiliche Politik machte. (Lachen bei den Demo⸗ kraten.) Aber war es unmöglich, in die Koalition mit der Deutschen Volkspartei einzutreten, die keine Garantie für die Lösung der Probleme in unserem Sinne bot. Das Kabinett Cuno ist keine wirkliche Lösung, es ist nur ein Nokbehelf, über dessen Dauer Optimisten und Pessimisten verschiedener Meinung sind. Heute ist Cuno schon ein anderer als vor acht Tagen. Erst wollte er ein Kabinett mit den Sozialdemokraten. Dieser erste Versuch des Kanzleraspiranten scheiterte. Können wir parlamentarisch domit einverstanden sein, daß der Reichskanzler dem Parlament nicht angehört? Gladstone hat immer darauf gehalten, daß der Ministerpräsident dem Parlament angehörte. Das Beste wäre gewesen, wenn die bürgerliche Arbeitsgemeinschaft die Regierung übernommen hätte, am liebsten hätten wir Stresemann gesehen. (Große Heiterkeit.) Dann bildete Herr Cuno ein überparla⸗ mentarisches Kabinett. Der Brief Cunos an den Reichspräsidenten klingt etwas italienisch. (Heiterkeit. Zwischenruf bei den Demo⸗
haben, wird der Regierung immer wichtig, mir aber, der ich selbst
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kraten.) Sie, meine Herren Demokraten, haben keinen Mussolini.
(Stürmische Heiterkeit.) Sich das Kabinett ohne Zustimmung des Parlaments Ausammenzustellen, ist nach der deutschen Struklur unmöglich. Der frühere Kaiser konnte wohl einen guten Skat⸗ spieler zum Minister machen, aber wir haben jetzt das parla⸗ mentarische System. Schon heute ist die Legende zerstört, daß das neue Kabinett ein Kabinett über den Parteien ist. Es ist die Regierung der Arbeitsgemeinschaft, Herr Cuno ist nur das Feigen⸗ blatt, mit dem die Blöße der Arbeitsgemeinschaft bedeckt ist. Die Rede des Kanzlers heute brachte vieles, um manchem etwas zu bringen, es wäre besser gewesen, wenn sie kürzer und inhalls⸗ reicher gewesen wäre. Der Schutz der Republik ist nur in einer kleinen Nebensätzchen erwähnt worden, obwohl das Ausland darauf wartete, daß dieses Kabinett sich als republikanisches bekennen würde. Statt dessen ist die Autorität des Staates stark betont worden. Die Rede bekennt sich zur Note vom 13. November. Mit dieser Note ist meine Fraktion im wefentlichen, das heißt mit ihrer Tendenz einverstanden gewesen: Deutschland sollte eine be⸗ stimmte positive Politik einschlagen. Damit waren wir einver⸗ standen. Wir billigen, daß die Regierung diese Note ganz allgemein zur Grundlage ihrer Politik machen will, wir billigen den Kurs des Kapitäns, mehr sagen wir nicht; wir sagen damit nicht unser Vertrauen, daß er diesen Kurs einzuhalten imstande ist. Sobald er aber abweicht, wird er unsern lebhaftesten Widerstand finden. Als wir die Note billigten, waren wir noch in der Regierung und konnten an der Ausführung mitwirken. In der gänzlichen Be⸗ seitigung der Zwangswirtschaft folgen wir dem Kanzler nicht. Eine Regierung der Produktion wollen auch wir. (Lachen rechts.) Für die Erhöhung der Leisrungsfähigkeit der deutschen Produktion sind wir von jeher eingetreten. Hoffentlich werden nicht wahllos Beamte entlassen. Wir wollen ein aufrechtes Beamtentum, das sich zur Republik bekennt. Was wir nie und nimmer zugeben werden, ist, daß an dem Grundsatz des Achtstundentages gerüttelt wird. (Unruhe rechts und Zurufe.) Diese bescheidene magna charta des Achtstundentages lassen wir uns nicht rauben, für sie treten wir in den Kampf, mit wem es auch sei. Die landwirt⸗ schaftliche Produktivität ist bisher nicht durch den Achtstundentag gehemmt worden. Trotz vieler Worte haben die Landwirte nichts zur Hebung der Produktion getan. Die Stabilisierung der Mark ist unbedingtes Erfordernis zur Erzielung einer besseren Produk⸗ tion, sie ist nicht nur etwas rein Technisches, wie der Kanzler meinte. Die Bemannung des Reichskanzlerschiffs bestärkt auch unsere Bedenken. Man spricht von „Männern der Wirtschaft“. Aber es muß unterschieden werden zwischen Privat⸗ und Volts⸗ wirtschaftler. Nicht jeder Industriekapitän ist imstande, di Interessen der gesamten Volkswirtschaft zu wahren.
sind aber Ihre großen Wirtschaftler? Sie können zwar über die Regierungspolitik schelten, aber wenn sie geholt werden, versagen sie. Im besten Fall schicken sie ihre jungen Leute und Syndici. Also, die Legende von den „Wirt⸗ schaftlern“ ist zerstört, oder soll etwa Herr Müller der hervorragende „Mann der Wirtschaft“ sein? Er ist der Vertrauensmann der strengsten Agrarier im Zentrum, die rechte Hand der Herren von Schorlemer und von Los, die in gehässigster Form in Wort und Schrift die Republik bekümpfen. Herr Müller ist ein waschechte Monarchist. (Hört, hört! links.) In der Loge in Köln fand am 4. August 1919 eine Versammlung statt, in der eine Resolution an⸗ genommen wurde, wonach eine besondere rheinische Republik ge⸗ fordert wurde. An erster Stelle wurde der gegenwärtige Minister Müller berufen, dafür zu sorgen, daß diese Resolution ausgeführt wurde (Große Unruhe links.) Das ist einfach unerhört, und mit aller Beschleunigung fordere ich den Reichskanzler auf, diesen Dingen nachzuforschen und festzustellen, ob sich nicht der jetzige Ernährungsminister Müller des Landesverrats schuldig gemacht hat. (Hört, hört! — Große Unruhe im Zentrum.) Weiter soll Herr Syndikus Brandt Staatssekretär werden? Auch dem Minister
Becker stehen wir mit größtem Bedenken entgegen. Helfferich und
Becker haben zwar einmal miteinander Auseinandersetzungen gehabt, aber die Freundschaft ist nur um so fester geworden. Herr Becker wird unsere Gegnerschaft auf dem Gebiete der Monopole finden. Herr Becker vertritt das Großkapital. Er ist schuld an der Art der Zwangsanleihe, während wir die Erfassung der Sachwerte wollten. Mit dieser Schiffsmannschaft würde der Kanzler seinen Kurs nicht einhalten können. Wohin führt es, wenn in diesem Winter es zu Hungerrevolten kommt? In solchen Zeiten der Unruhe und Not appelliert der Kanzler an die Staatsautorität! Wenn ich auf die übrigen Mitglieder des Kabinetts jetzt nicht eingehe, möger Si sich gedulden. Dem neuen auswärtigen Minister widme ich ein paar freundliche Worte. Ein Blatt schrieb heute, er hätte sich seine Sporen in den Friedensvechandlungen von Bvest⸗Litowsk und Bukarest erworben. Diese Verträge können kein Zusammengehen mit Rußland ermöglichen. Wir wollen eine Politik der Ver⸗ ständigung. Die freundlichen Beziehungen Bonar Laws zu Frank⸗ reich können für uns günstiger sein als die Politik Lloyd Georges. Lassalle hat gesagt, von einem guten Verhältnis zwischen Preußen und Frankreich hänge die demokratische und kulturelle Entwicklung Europas ab. Es ist richtig, diese Verständigungs⸗ politik ist eine Lebensfrage für Europa. Wir müssen mit der Machtpolitik aufräumen, die sich rüstet auf den Tag, der einmal kommen kann. Freilich, Herr Becker hat die Erfüllungspolitik des Reichskanzlers Wirth aufs schärsste verurteilt. Das Ausland ist skeptisch gegen die neue Regierung. Es hicß, das Ausland warte nur darauf, daß die Deutsche Volkspartei in die Regierung komme. Diese Legende ist zerstört. Wir glauben nicht, daß die neue Regierung die Festigkeit und die Kraft besitzt, ihr Programm durch⸗ zuführen. Wir sind weit entfernt, ihren Arbeiten mit Vertrauen entgegenzusehen. Wenn in England eine neue Regierung sich bildet, hat sie eine Chance in der wohlwollenden Neutralität. Wir empfinden für die neue Regierung kein Wohlwollen und werden zu ihr nicht neutral stehen, sondern je nach ihrer Haltung in schärfster Opposition. Wir wollen aber der Regierung eine Chance geben: Sie muß die Legende zerstören, daß es in Deutschland möglich sein sollte, ohne die Arbeiter oder gar gegen die Arbeiter zu regieren. (Lebhafter Beifall links.)
Abg. Marx (Zentr.): Den Ausführungen des Vorredners gegenüber möchte ich doch betonen, daß wir einen anderen Feind haben, der uns im Rücken sitzt, als Stinnes, die Arbeitsgemeinschaft und den Kapitalismus. Nachdem wir die letzten Reden von Clemenceau, Poincaré und Mussolini gehört haben, müssen wir doch fragen, was soll dieses kleinliche Parteigezänk. (Große Unruhe bei den Sozialdemokraten, lebhafte Zustimmung bei den bürger⸗ lichen Parteien.) Ich kann mich des Bedauerns nicht enthalten darüber, daß die Sozialdemokratie durch ihr Ausscheiden aus der Koalition in erster Linie die Krise herbeigeführt hat, und ich bedauere das gerade im Interesse Deutschlands dem Ausland gegenüber. (Sehr wahr!) Ich hatte mir vorgenommen, über diese Frage nicht zu sprechen, wie die Koalition auseinandergefallen ist und es zur Krisis kam, aber jetzt darf ich die Ausführungen des Vorredners nicht unwidersprochen hingehen lassen. Ich weise es auf das entschiedenste zurück, daß irgendwie Gründe des Kapitalis⸗ mus die Veranlassung gewesen sind zu dem schon seit Monaten von der Zentrumspartei unentwegt festgehaltenen Plan der erweiterten großen Koalition. (Hört, hört!) Oft genug ist darüber geklagt worden von rechts und links dem Ausland gegenüber, wir hätten eine schwache Regierung. Wenn die Regierung stark werden sollte, so müßte sie beruhen auf der Hilfe des gesamten Volkes und der Parteien des Volksparlaments. Dieser Gedanke ist klar und einfach für jeden, der noch etwas Sinn für das Wort Vaterland hat. (Lebhafter Beifall rechts und im Zentrum.) Der Regierung sollte eine möglichst breite Basis gegeben werden hier in diesem Parlament, und das wäre möglich gewesen. Die Sozialdemokraten beschweren sich über die Arbeitsgemeinschaft. Was aber Ihnen (zu den Sozialdemokraten) recht ist, das ist auch dem Zentrum und den Demokraten billig. Wir haben keinen Widerspruch erhoben und nicht von Bruch der Koalition gesprochen, als Sie mit den Unabhängigen eine Arbeitsgemeinschaft eingingen. So rasch ging es mit der legitimen Ehe auch nicht, Sie haben zunächst ein Verhältnis mit den Unabhängigen angeknüpft. (Große HKeiterkeit.) Nun aber werfen Sie uns vor, daß wir unsere Pflicht als Arbeits⸗