1926 / 24 p. 1 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 29 Jan 1926 18:00:01 GMT) scan diff

zu bringen, nicht darauf verzichten können, eine klare, Linie unseres Handelns durchzuführen. (Zustimmung in der Mitte.)

So ist der Satz, der in der Regierungserklärung steht, daß die Politik von Locamo, erläutert und klargelegt, wie es durch meine Novemberrede geschehen ist, die Richtlinie unserer Politik ist, für mich einfach etwas Selbstverständliches. (Bravol in der Mitte.) Ich habe darum meinerseits auch den lebhaften Wunsch, daß es ge⸗ lingen möchte, die deutsche Stimme sobald als möglich in den

Organen des Völkerbundes zur Geltung zu bringen. (Beifall in der Mitte.)

Hier ist nur die eine grundsätzliche Frage: wo glauben wir unsere deutschen Belange, um die es sich ganz allein handelt, kräftiger und eindrucksvoller zur Geltung zu bringen, draußen oder drinnen? (Leb⸗ hafte Zustimmung in der Mitte und links. Rufe von den Sozial⸗ demokraten: Das haben wir schon lange gesagt!) Das ist eine Frage, zu der man sich eben innerlich stellen muß. Ich antworte: drinnen. (Erneute Zustimmung und Beifall in der Mitte und bei den Sozial⸗ demokraten. Widerspruch und Zuruf bei den Deutschnationalen: Haben Sie das immer so bedingungslos gewollt?) Mir geht eben der Zwischenruf zu, ob ich das immer so bedingungslos gewollt habe. Meine Damen und Herren! Ich mache einen sorgfältigen Unter⸗ schied zwischen einem Zustand, der vorliegt, bevor ich einen Vertrag gbgeschlossen habe und nachdem ich ihn abgeschlossen habe. (Sehr gut! in der Mitte.) Bevor ich einen Vertrag abschließe, versuche ich selbstverständlich bis zur äußersten Grenze des nach Lage der Ver⸗ hältnisse Möglichen meine Interessen wahrzunehmen. Ich wäre ein schlechter Sachwalter meines Volks, wenn ich anders verführe. (Sehr richtig! in der Mitte.) Nachdem ich aber einen Vertrag abgeschlossen habe, stehe ich zu diesem Vertrage (lebhaftes Bravo in der Mitte), erwarte natürlich auch, daß die anderen zu ihm stehen. (Erneutes Bravo. Rufe von den Völkischen: Da können Sie lange warten!)

Es handelt sich nun um die Frage, wie im einzelnen die Ent⸗ scheidung über den Eintritt in den Völkerbund ergeht. Ich sagte bereits: mein Wunsch ist, sobald als möglich darin zu sein. Ich darf vielleicht noch einmal auf den Gedanken zurückkommen, ob man lieber an einer Sache teilnimmt oder nicht, ungeachtet des Lachens, das ja sicher ausbrechen wird. Sie selbst, Herr Graf von Westarp, haben vorhin gesagt, die Einladung zur Abrüstungskonferenz anzunehmen, hielten Sie für richtig. Sehen Sie, das ist ganz mein Grundsatz. Wenn man über Dinge verhandelt, die das Leben meines Volkes und Vaterlandes betreffen, dann will ich dabei sein. (Stürmischer Beisall und Zustimmung in der Mitte.) Das gilt aber nicht nur für die Abrüstungskonferenz. Das gilt genau für die Organe des Völkerbundes. (Sehr wahr! in der Mitte.) Genan so, wie ich bei der Abrüstungskonferenz die wachsamste Aufmerksamkeit darauf richten werde, daß, soweit es irgend in meiner Kraft liegt, nichts ge⸗ schieht, was meinem Vaterlande schadet, genau so werde ich und werden die, die nach mir kommen, und werden unsere Vertreter im Völkerbundsrat und in der Völkerbundsversammlung zu handeln haben, und wir werden deutsche Männer hinschicken, die es tun werden. (Lebhafter Beifall in der Mitte.) Freilich nicht Leute, die von vorn⸗ herein mit der Absicht hingehen, etwa nicht mitarbeiten zu wollen. (Stürmische Zustimmung in der Mitte und links.) Man kann nicht zweierlei Politik mit einmal treiben. Entschließen wir uns, im Rahmen des Völkerkundes mit den Mitteln des Völkerbundes zu arbeiten, dann müssen wir auch Leute dork hinschicken, die in diesem Rahmen und mit diesen Mitteln das eine einzige, große Ziel, nämlich die Erholung und Kräftigung unseres Vaterlandes betreiben. (Sehr richtigt in der Mitte.) Solche Leute müssen wir für die Arbeit im Völkerbund selbstverständlich aussuchen.

Ueber die Einzelfragen der jetzt schwebenden Verhandlungen irgendwelche nähere Auskunft an dieser Stelle zu geben, das muß ich ablehnen. (Unruhe rechts.) Sie müssen mir als Reichskanzler in Verbindung mit dem Außenminister schon die verantwortliche Ent⸗ scheidung darüber überlassen, wann und wie der Zeitpunkt gekommen ist, über solche Dinge zu sprechen. Lebhafte Zustimmung in der Mitte. Widerspruch rechts.)

Meine Damen und Herren! Ich denke, gerade, von wo ich augenblicklich den starken Widerspruch bekomme, da ist doch ein Gefühl dafür vorhanden, daß man die Sache organisatorisch nur so anpacken kann, daß man Angelegenheiten, die mitten im Fluß sind, in der Hand der Verhandelnden läßt, und daß allein die Verhandelnden als solche wissen, wie man in solchen Dingen zu arbeiten und vorzugehen hat. (Sehr richtig! in der Mitte.) Es ist allgemein parlamentarischer Brauch der Erde, daß die Regie⸗ rung sich nicht hinstellt und über jede außenpolitische Frage, die ihr vorgelegt wird, Auskunft gibt. Denn die Regierung und nur sie allein übernimmt die Verantwortung, ob die Stunde gekommen ist, über das einzelne zu sprechen. Und so muß ich mich auf den Standpunkt stellen, daß ich über eine ganze Fülle der hier vor⸗ liegenden Einzelfragen in dieser Stunde und an diesem Orte eine Auskunft nicht geben kann. (Bravoy! in der Mitte. Zuruf rechts: Das ist sehr billig.) Ich bekomme eben den Zuruf, meine Bemerkung sei sehr billig. Ich will auch darauf noch einmal ein⸗ gehen; denn der Zuruf zeigt mir, daß irgendein sachlicher Einwand gegen das, was ich gesagt habe, nicht erhoben wird. (Sehr richtig! in der Mitte. Rufe rechts: Abwarten!) Wenn man jemand, der auf seine eigene Verantwortung hinweist, die verfassungs⸗ mäßig begründet ist, und der diese Verantwortung auf sich nimmt, nichts anderes zu erwidern weiß als den Hinweis, das sei sehr billig, so können Sie wirklich nicht verlangen, daß ich mich dadurch in der Grundanschauung irgendwie erschüttert fühle.

Ich kann damit noch nicht Schluß machen. Es ist heute von anderer Seite eine Bemerkung hier im Hause gegen den Minister⸗ p äsidenten eines anderen europäischen Landes gefallen. Ich muß diese Bemerkung durchaus zurückweisen. Wir können nicht dadurch Politik machen, daß bald nach der einen und bald der anderen Seite von Stellen des Reichstages, die ein großes Gewicht für ihre We in Anspruch nehmen können, einfach kräftige Gegen⸗ bemerkungen gemacht werden. Sie müssen es schon der Regierung überlassen, in den Fragen der Außenpolitik die Einzelmaßnahmen ihrerseits abzuwägen. Ich wenigstens sehe ohne dem keinen Ausweg. 8

Und nun, meine Damen und Herren, zu einzelnen Fragen der Innenpolitik. Auch da sind mir eine ganze Reihe von Einzel⸗ fragen vorgelegt worden, auf die ich wohl im einzelnen antworten sollte. So wie unsere tatsächlich harte wirtschaftliche Notlage ist, sind wir immer darauf angewiesen, das Mögliche mit dem Er⸗ wünschten gegeneinander abzuwägen. r sind immer darauf an⸗

gewiesen, daß wir nicht auf der einen Seite die Grundlagen für

die Fortsetzung und Erholung unserer Wirtschaft durch übermäßige Mittelanspannung vernichten, und daß wir auf der anderen Seite etwa nicht eingedenk sind der Not der unglücklichen Menschen, die jetzt in großer Zahl von Erwerbslosen draußen durch das Land gehen und verzweifelt nicht mehr wissen, wie sie die Grundlage für sich und ihre Familie finden sollen. In diesen Schwierigkeiten den richtigen Weg zu finden, der schließlich allen zum Heile gedeiht, ist nicht möglich durch allgemeine hier abgegebene Erklärungen. Das ist Sache sehr eingehender Einzelprüfung. Die Etats⸗ beratungen werden jede gewünschte Veranlassung geben, um über Einzelheiten zu sprechen. Wir werden im Schoß der Regierung jede Anregung auf das genaueste erwägen. Aber ich bin nicht in

der Lage, bei der heutigen Regierungserklärung bestimmte, kon⸗

kretisierte Erklärungen über diesen oder jenen Punkt zu geben.

Ich will meinerseits nur noch mit einem Wort auf die Frage des Wahlrechts eingehen. Ich bitte Sie, zu beachten, daß in der Regierungserklärung nicht steht, daß wir eine Aenderung des Wahl⸗ rechts betreiben wollten, sondern daß da steht, daß wir eine Aenderung der Wahlgesetzgebung betreiben wollten. Das ist natürlich kein Zu⸗ fall, sondern das ist eine sorgfältig überlegte Formulierung. Und wenn Sie mich fragen, in welchem Sinne diese Aenderung der Wahl⸗ gesetzgebung gehen soll, so kann ich darauf folgendes erwidern: Wir wollen versuchen, einen Weg zu finden, durch den das Verhältnis zwischen dem deutschen Wähler und seinem Vertreter im Reichstag und überhaupt in den Parlamenten wieder unmittelbarer gestaltet wird. (Sehr gut! in der Mitte.) Ich bin persönlich der Ueber⸗ zeugung, daß gerade in der Demokratie der große, erzieherische, kultur⸗ tragende Gedanke der ist, daß der einzelne Wähler durch die Ver⸗ mittelung des Gewählten ein persönliches Vertrauensverhältnis zu der Leitung der Regierung gewinnt. (Sehr richtig! in der Mitte.) Ich gehe weiter, meine Damen und Herren: ich bin der Meinung, daß sich die jetzige Formulierung nicht bewährt hat, weil sie an die Stelle des einzelnen Gewählten die Liste gesetzt hat, weil sie an die Stelle des lebendigen Menschen das Parteiprogramm gesetzt hat. Auf diesem Wege finden wir im Reichstag nicht den lebendigen Ausdruck der Kräfte, die in unserem Volke walten und wirken, und darum wird, ohne daß ich über die Einzelheiten sprechen kann, das Ziel sein, die ganze Wahlgesetzgebung so aufzubauen, daß der einzelne Wähler wieder unmittelbar eine Persönlichkeit wählt und zu seiner Ver⸗ tretung beruft.

Meine Damen und Herren! Zusammenfassend bitte ich Sie, aus meinen Darlegungen zu entnehmen, daß die Regierung und die Männer, die sich bereitgefunden haben, in die Regierung einzutreten, glauben, ihre Arbeit nicht übernehmen zu können, wenn ihnen nicht eine positive Vertrauensgrundlage durch den Reichstbag gewährt wird⸗ (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteient)

Die Regierungsparteien haben folgendes Ver⸗ trauensvotum eingebracht: „Die Reichsregierung besitzt das Vertrauen des Reichstags.“

Abg. Heckert (Komm.) beginnt seine Ausführungen mit einer scharfen Personenkritik der einzelnen Kabinettsmitglieder und wird dabei zweimal zur Ordnung gerufen. Die Grundlage des Regierungsprogramms ist die Denkschrift der Industrie. Die Industrie wird neue Geschenke erhalten; weiter bedeutet die Er⸗ klärung des Reichskanzlers nichts. Den Erwerbslosen und Kurz⸗ arbeitern gebe man nichts, wohl aber den deutschen Fürsten, die der Redner als Strauch⸗ und Wegelagerer bezeichnet. (Der Präsi⸗ dent ersucht den Redner um Meäßigung) Das Programm der Regierung werde Deutschland in den Abgrund führen, aber die Arbeiter würden diesen Weg nicht mitmachen. Die eingeleitete Volksentscheidsbewegung in der bTbEET“ sei ein Weg vorwärts. e9 frage sich nur, ob die Sozialdemokratie auch bei anderen Gelegenheiten eine gleiche Haltung einnehmen werde. Die heutige Rede des Abg. Müller sei schon eine halbe Anlehnung nach rechts gewesen. Die temperamentvolle Ersoiderung des Kanzlers gegen den Zettelkasten des Grafen Westarp bedeute gar nichts. Abg. Müller habe sogar die Hilfe zur Verschlechterung des Wahlrechts angeboten. Die Sozialdemokratie müsse wieder eine Arbeiterpolitik treiben. Der Arbeiterblock müsse den jetzigen Wuchererblock beseitigen. (Großer Beifall bei den Kommunisten.)

Abg. Dr. Heuß (Dem.) erklärt, der Streitpunkt in der wichtigsten Frage, nämlich des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund, sei durch die nun einmal bestehende Zwangslage er⸗ ledigt. Jetzt gelte es, entschlossen und neutral im Völkerbunde mitzuarbeiten, dessen Methoden der Rechtsbildung und der Rechts⸗ entscheidung für Deutschland einen Gewinn bedeuten können. Der Völkerbund stehe unter dem Gesetz des Kompromisses. Die Streitigkeiten werden nicht aufhören, wohl aber in eine andere Atmosphäre kommen. Die Völker werden ich einander nähern, wenn auch die Frage über Macht und Recht noch nicht als ab⸗ geschlossen bezeichnet werden kann. Es ist ein schmerzlicher Ge⸗ danke für uns Deutsche, daß gerade wir Volksgenossen an das Ausland haben abtreten müssen. (Zustimmung bei den Demo⸗ kraten.) Für einen Minister des Auswärtigen mag es nicht bequem sein, wenn von diesen Dingen gesprochen wird, aber das Volk verlangt, daß von diesen Dingen immer wieder gesprochen wird. Bei unseren Bestrebungen für den Anschluß Oesterreichs lassen wir uns nicht durch irgendwelchen Lärm stören. Nicht aus einem großspurigen Imperialismus heraus, b aus unserem verantwortlichen Nationalgefühl und aus der Erkenntnis, daß Europa Ruhe braucht, fordern wir den Anschluß Oesterreichs. Der Redner tritt dann besonders für die bedrängten Südtiroler ein. Weltwirtschaftskonferenz und Abrüstung sind die großen Probleme, die uns alsbald beschäftigen werden. Auch vom deutschen Stand⸗ punkt kann man nicht wünschen, daß die französische und polnische Währung dauernd kaputgeht. Man beliebt zwar die Schadenfreude gegen die Franzosen, aber das Ergebnis der ganzen Wirtschaft ist

ie entsetzliche Arbeitslosigkeit in Deutschland. Demagogie ist es, wenn Herr Hugenberg alle Not auf den Dawes⸗Plan schiebt. Man sollte sich doch mal vorstellen, was mit der deutschen Wirt⸗ schaft geworden wäre, wenn die Micum⸗Verträge bestehengeblieben wären. Die deutschnationale Fraktion sollte das Buch des Staats⸗ sekretärs Bergmann zur Zwangsiektüre in der Fraktion machen. (Heiterkeit.) Klarheit wünschen wir alsbald darüber, wie die deutschen Annnitäten mit der Entschädigung für das liquidierte deutsche Privateigentum verknüpft werden können; damit wird sich der internationale Schiedsgorichts⸗ hof zu befassen haben. Für die Abrüstung hat der Völker⸗ bund gewisse Voraussetzungen paragraphenmäßig festgestellt, wir sehen aber, daß die rein technische Behandlung der Abrüstungsfrage sich heute gegen den Zustand der Vorkriegszeit verschoben hat. Damals rechnete man einfach nach der Relation zwischen der ausgebildeten Mannschaft und der Bevölkerungsziffer. Der Völkerbund bemüht sich, jetzt sozusagen einen Inder der ge⸗ mäßigten Richtung zu finden. Nachdem man uns den furchtbaren Nachweis aufgezwungen hat, daß eine Abrüstung möglich ist, müssen wir wünschen, daß die Abrüstungsfrage sich nicht in einem Suchen nach solchem Indexr erschöpft, sondern in einer wirklichen Herabsetzung der Rüstungen ihre Lösung findet. In der Finanzpolitik wünschen wir eine allgemeine Senkung der Umsaßsteuer. Das Svstem muß vereinfacht werden. Der Staatssekretär Popitz hat bereits die fünfte Umarbei⸗ tung der erhöhten Umsatzsteuer eingeleitet. Im Zusammenhang da⸗ mit muß auch eine wesentliche Herabsetzung der Kapital⸗ und Ver⸗

fabhrungen der letzten Zeit klar, daß das durch

kehrssteuer erfolgen. Wenn das Bedürfnis der deutschen Wirtschaft ist, sich zu rationalisieren, so darf man diesen Prozeß durch eine falsche Steuerpolitik nicht stören. D.e Einsegung eines Ausschusses von Sachverständigen wird hoffentlich dazu führen, daß das Verhältnis von Steuerkraft und Steuerforderung untersucht wird. Mit einer solchen Steuer⸗ und Wirtschaftspolitik wird die Regierung mehr er⸗ reichen als mit dem, was sie uns jetzt ankündigt. Wir können unser Erstaunen nicht unterdrücken, daß die geschäftsführende Regierung der letzten Monate mit dem Gesetzentwurf herausgekommen ist, der die breiten Schichten des Handwerkertums mit Recht beunruhigt hat. Es geht nicht an, daß die Massen der Kleinen die Empfindung haben, daß man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt. Die lästigen Preistreibereiverordnungen sind beseitigt; nun darf man aber nicht durch eine Hintertür wieder eine ähnliche Gesetzgebung hereinzubringen suchen. Zollpolitik und Finanzpolitik müssen die sachlichen und see⸗ lischen Voraussetzungen schaffen, in deren Luft eine Preissenkungs⸗ aktion überhaupt möglich ist. Bei Durchsicht unserer Gesetzgebung wird sich manche Belastung der Wirtschaft vermindern lassen. Wir begrüßen die Erwerbslosenversicherung, sie soll bald kommen, damit die unbefriedigende Form der Erxwerbslosenfürsorge beseitigt werden kann. Wir begeüßen auch die Möglichkeit, langfristige Hypothekar⸗ kredite für die Landwirtschaft wenigstens vorzubereiten, wenn auch noch nicht zu schaffen. Die Bilanz des Jahres 1923 ist außenpolitisch insoweit lehrreich, als 1“ eine pädagogische Provinz war, in⸗ dem der Reichskanzler Luther bei der Aufwertung, bei der Finanz⸗ eentralisation und in der Außenpolitik den Deutschnationalen eine ehrstunde in politischer Verantwortung geben wollte. Die unwilligen Schüler haben, vor dem hlußeramen selbständig Ferien gemacht. (Heiterkeit.) Aber das Jahr 1925 bedeutet doch eine starke Demaskierung und damit einen sachlichen Ge⸗ winn, denn die Politik der starken Worte ist heute nicht mehr möglich. Das Wort vom Primat der Außenpolitik ist in den letzten Jahren totgeschwätzt worden. Es ist ein Wort, das nur in das Zeitalter der Kabinettspolitik hineingehört. Im demokratischen Staate kann es nur den einen Sinn haben, daß man nicht mit wechselnden Mehrheiten Außen⸗ und Innenpolitik treiben konn. Die Sozial⸗ demokraten haben sich aber diefer Erkenntnis versagt. Am 26. No⸗ vember vorigen Jahres hat im Reichstag der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Landsberg das Wort gesprochen, daß der Politiker Popularität nur zu dem Zwecke erwerbe, um sie, wenn es gelte, aufs Spiel zu setzen. Auch das Wort des Reichstagspräsidenten Löbe, daß man keine Politik gegen die Gesamtheit der Partei machen könne, klang sehr schön. Die Sozialdemokraten haben aber aus diesen Worten nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Die ganze Argumentation der Sozialdemokratie, daß die Volks⸗ partei so kühl gewesen sei, scheint sich doch auf eine gewisse Ge⸗ kränktheit zurückzuleiten. Popularität 8 in dieser Regierung wie überhaupt in einer Regierung der Not gar nicht zu erringen. Die passive Berufsfunktion eines Ministers ist es sozusagen, daß man auf ihn schimpft. (Heiterkeit.) Unsern Parteiführer Koch habe ich nicht zu verteidigen gegen den dummen und was die Deutsche Volkspartei anbetrifft schmutzigen Kampf gegen seine Person. Bei der Bayerischen Volkspartei hat es sich wohl nicht um eine persönliche Abneigung gegen den Abg. Koch gehandelt, sondern um eine gewisse politische Tendenz. Die Abtrennung des bayerischen Zentrums vom Reichszentrum bedeutet eine schwere Belastung der Reichspolitik. Die Regierungskrife ist nicht durch 7 und 8 Wochen hindurchgegangen, sondern hat auch ihre geruhsamen Weihnachts⸗ ferien genommen. Noch jede Regierungskrise ist von dem Heulen der Wölfe und dem Schnattern der Gänse begleitet gewesen. Auch jetzt sind wieder die Ausverkaufsreste der geistigen Bestände aus der Inflationszeit und die Blechrüstungen der starken Männer aus⸗ geboten worden. 8

Abg Hampe (Wirtschaftl. Vereinig.): Es ist nach den Er⸗ 1 die Weimarer Ver⸗ fassung geschaffene parlamentarische System zu einer Gefahr, zu einer Schicksalskrage für das deutsche Volk geworden ist. Die Re⸗ gierungserklarung erwähnt davon nichts, wie dieser Gefahr zu be⸗ gegnen sei, sie konnte es auch nicht, da sie ja ein Geschöpf dieses Systems ist Die Regierung hat nur darauf hingewiesen, daß sie unser Wahlsystem ändern wolle; aber damit allein wird das Grund⸗ übel nicht beseitiat werden. Dr. Heuß hat eine durch und durch unitarische Rede gehalten. Locarno war eine Politik der verpaßten Gelegenheiten. In unseren Hoffnungen und Erwartungen sind wir arg getäuscht worden. Darum dürfen wir den eingigen Trumpf nicht preisgeben, den wir noch in der Hand haben, wir dürfen nicht in den Völkerbund eintreten, bevor die uns gemachten Versprechungen erfüllt sind. Der Erfolag der Preissenkungsaktion war bisher gering. Diese Aktion ist größtenteils auf dem Rücken des Mittelstandes Eeshle. Fe daß man an die Quelle ging. (Reichskanzler Dr, Luther ruft: Es ging gegen alle Preistreiber!) Ich muß feststellen, daß die Regierung in ihrer Erklärung auch Verbeuaungen nach links gemacht hat. Ob sie sich mit taualichen Mitteln an das taualiche Obiekt gewandt hat, lasse ich dahingestellt. Die Siedlungsfrage dach nicht so gelöst werden, daß das Eigentum verletzt wird. Beim Schul⸗ gesetz verzichten wir auf ein Kompromiß mit der Linken. Auch nach rechts hat der Reichskanzler Verbeugungen gemacht, und trotz des Mißtrauensvotums der Deutschnationalen werden sich Herren „zu⸗ haufe“ schon finden. Uns gegenüber hat er keine Verbeugung ge⸗ macht. Durch die unglückselige Preisabbauvorlage sollte vor allem das Handwerk getroffen werden. In einer Berliner Zeitung ist heute Morgen mitgeteilt worden, daß bereits geheime Abmachungen und Bindungen zwischen uns und den Deutschnationalen erfolgt seien, Ich erklaͤre namens meiner Fraktion, daß das ins Gebiet der Fäbel gehört. Wir haben bereits in der vorigen Woche, als uns die Re⸗ gierunasbildung bekanntgeworden war, erklärt, daß wir dieser Re⸗ ierung gegenüber in einer sachlichen, aber keineswegs grundsätzlichen Gpposttion stehen werden. Diesen Beschluß halten wir aufrecht. Wir haben keine Veranlassung. davon abzugehen, weder durch die Regierungserklärung von gestern noch durch die heutige Rede des Reichskanzlers, aber wir fassen die Opposition so auf, daß wir uns alle bewußt bleiben der großen Verantwortung, die auf uns lastet, und sachlich mitarbeiten wollen an allen Aufgaben, die uns gestellt werden. Wir werden selbstverständlich in erster Linie eintreten für die wirtschaftlichen Interessen derienigen Kreise, die uns hierber berufen haben, aber wir werden uns nicht einseitig auf diese Interessen versteifen und nach unseren Kräften bei großen anderen Fragen staatspolitischer und kultureller Art mitwirken und nie ver⸗ gessen, daß es etwas Höheres gibt als unsere eigenen Interessen. das Wohl und Wehe unseres deutschen Vaterlandes. (Beefall bei der Wirtschaftlichen Vereinigung.)

Hierauf wird die weitere Besprechung auf Donnerstag, 2 Uhr, vertagt, nachdem ein Antrag der Völkischen, ihren Antrag auf Einstellung der Dawes⸗Zahlungen mit auf die Tagesordnung zu setzen, unter Heiterkeit gegen die Stimmen der Völkischen und Kommunisten abgelehnt worden war.

Schluß gegen 6 ¼ Uhr. (Fortsetzung des Nichtamtlichen in der Ersten und Zweiten Beilage.)

Verantwortlicher Schriftleiter: Direktor Dr. Tyrol Charloktenburg. Verantwortlich für den Anzeigenteil: Rechnungsdirektor Mengering in Berlin.

Verlag der Geschäftsstelle (Mengering) in Berlin.

Druck der Norddeutschen Buchdruckerei und Verlagsanstalt,

Berlin Wilhelmstr. 32. Fünf Beilagen (einschließlich Börsen⸗Beilage) und Erste bis Dritte Zentral⸗Handelsregister⸗Beilage.

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Reichsmarh. r Berlin außer den elbstabholer auch die Geschäftsstelle SW. 48, TE“ L28 32. 8.

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die Geschäftsstelle des Reichs und Staatsanzeigers

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reitag, den 29. Januar, Abends.

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Nr. 24. Reichsbankgirokonto

2——

Deutsches Reich.

Bekanntmachung über Errichtung einer Abre Scheckverkehr.

Bekanntmachung, betreffend Brennstoffverkaufspreise.

Bekanntgabe der amtlichen Großhandelsinderziffer vom nuar 1926.

Deutsches Reich.

VBekaäannimachung ber Errichtung einer Abrechnungsstelle im Scheckverkehr.

Vom 15. Januar 1026.

Auf Grund des § 12 Abs. 2 des Scheckgesetzes vom 11. März 1908 (7GBl. S. 71) hat der Reichsrat beschlossen: Die Abrechnungsstelle bei der Reichsbanknebenstelle in Heidelberg ist Abrechnungsstelle im Sinne des Scheckgesetzes.

Berlin, den 15. Januar 1926. Der Reichswirtschaftsminister. J. V.: Trendelenburg.

. 2*

Unter den im „Deutschen Reichsanzeiger“ Nr. 297 vom 31. Dezember 1923 und Nr. 83 vom 7. April 1924 bekannt⸗ gegebenen Bedingungen gelten nachstehende Brennstoff⸗ verkaufspreise je Tonne in Reichsmark:

I. Niedersächsisches Kohlensyndikat. 1 Mit Wirkung vom 1. Februar 1926.

1. Preußische Bergwerks⸗ und Hütten A⸗G. Berginspektion am Deister in Barsinghausen. Barsinghäuser Stückkohlen. Barsinghäuser Nußkohlhn Barsinghäuser Nußgruskohlen .

Preußische Bergwerks⸗ und Hütten A⸗G.

Berginspektion Ibbenbüren in Ibbenbüren. Ihbenbürener gew Nußkohle 1V (Schmiedekohle) RM 21,50.

II. Oberschlesisches Steinkohlensyndikat. Inrolge Sortimentsänderungen werden nachstehende Aende⸗ rungen der in der Bekanntmachung vom 29. September 1925 (Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 228 vom M29 September 1925) veröffentlichten Brennstoffverkaufspreise

bekanntgemacht: 1. Ludwigs⸗Glückgrube. Nbam) 2. Preußen⸗Grube. F8665 3. Koks. h4*“

Berlin, den 29. Januar 1926.

Aktiengesellschaft Reichskohlenverband. Keil. Löffler.

.. RM 24,—, .RM 24,50, .RM 15,50.

.RM 16,42. RM 13,43. .RM 24,78.

Die amtliche Großhandelsindexziffer vom 27. Januar 1926.

Die auf den Stichtag des 27. Januar berechnete Groß⸗ handelsindexziffer des Statistischen Reichsamts ist gegenüber dem Stande vom 20. Januar (120,1) um 0,3 vH auf 119,7 zurückgegangen. Gesunken sind die Preise für Weizen, Gerste, Hafer, Schmalz, Zucker, Schweinefleisch, einige Textilrohstoffe und Halbwaren sowie die meisten Nichteisenmetalle. Höh⸗ lagen die Preise für Roggen, Butter, Rindfleisch, ilch, Hanf und Schwingflachs. Von den Hauptgruppen haben die Agrarerzengnisse vdn 114,7 auf 114,1 oder um 0,5 vH nach⸗ gegeben, während die Industriestoffe mit 130,1 (Vorwoche 130,3) nahezu unverändert blieben.

Berlin, den 28. Januar 1926.

Sttatistisches Reichsamt. J. V.: Dr. Platzer.

b

einschließlich des Portos abgegeben.

Nichtamtliches.

Deutsches Reich.

Der Reichsrat nahm in seiner gestrigen öffentlichen Vollsitzung, dem Nachrichtenbüro des Vereins deutscher Zeitungs⸗ verleger zufolge, einen Gesetzentwurf über die Regelung der fürsorgerechtlichen Beziehungen zum Saargebiet an. Es handelt sich dabei insbesondere um die Ausgleichung von Ansprüchen zwischen Armenverbänden des Reichs und des Saargebiets. Angenommen wurde ferner der Gesetzentwurf, betreffend Aenderung des Reichspostfinanzgesetzes.

Der Haushaltsausschuß des Reichstags hatte am 30. Juli v. J. eine Entschließung angenommen, die Reichsregierung zu ersuchen, einen Gesetzentwurf über Aenderung des Reichspostfinanzgesetzes einzubringen, wonach 1. in der Zusammensetzung des Verwaltungsrats der Deutschen Reichspost die Zahl der Vertreter des Reichtags mit der Wirkung vermehrt wird, daß aus jeder Fraktion mindestens ein Mitglied vor⸗ geschlagen werden kann, 2. die Bildung der Rücklage 8 des Reichs⸗ postfinanzgesetzes) so zu gestalten ist, daß eine frühzeitigere Abführung von Reinüberschüssen der Deutschen Reichspost an das Reich erfolgen kann Diesem Beschluß entsprechend, hat die Reichsregierung eine Vorlage eingebracht, wonach die Gesamtzahl der Mitglieder des Ver⸗ waltungsratzs von 31 auf 37 erhöht wird, wobei die Zahl der von Reichstag, Reichsrat und aus Kreisen der Wirtschaft und des Verkehrs vorzuschlagenden Mitglieder um je zwei erhöht wird. Ferner wird der Höchstbetrag der Rücklage von 20 Prozent der jährlichen Betriebsausgaben auf 12 Prozent herabgesetzt. Die Ablieferung von Reberschüssen an das Reich soll bereits eintreten, sobald 6 Prozent der Betriebsausgaben angesammelt sind Für die Bemessung der Ablieferung an das Reich werden nach Erreichung von 6 Prozent der Betriebsausgaben nicht wie bisher der Reinüberschuß allein, sondern die jedesmal der Rück⸗ lage insgesamt zuzuführenden Beträge zugrunde gelegt; nach Er⸗ reichung von 12 Prozent der Betriebsausgaben fließen die Ueberschüsse und die Zinsen der Rücklage unverkürzt in die Reichskasse. Der Ver⸗ waltungsrat der Deutschen Reichspost hat sich mit dieser Aenderung emverstanden erklärt. Bei dieser Regelung würde voraussichtlich bereits 1925 ein Ueberschuß von zwölf Millionen Reichsmark an das Reich abgeführt werden können.

Der Reichsrat hält Sonnabend, den 30. Januar 1926, 12 Uhr Mittags, im Reichstagsgebäude eine Vollsitzung.

Deutscher Reichstag.

150. Sitzung vom 28. Januar 1926, Nachmittags 2 Uhr. (Bericht des Nachrichtenbüros des Vereins deutscher Zeitungsverleger“.)

Am Regierungstische: Reichskanzler Dr. Luther.

Präsident die 20 Minuten.

Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt Abgeordneter von Guérard (AZentr.) folgende Erklärung ab: Der Abg. Graf Westarp hat in seiner gestrigen Rede in diesem Hause eine von mir im Ausschuß für die besetzten Gebiete gehaltene Rede angezogen, in der ich die Sorgen des besetzten Gebietes be⸗ handelt habe. Er hat hervorgehoben, daß ich der Enttäuschung des besetzten Gebietes über die mangelnden Rückwirkungen von Locarno auf das besetzte Gebiet in besonders wirksamer Weise Ausdruck ge⸗ geben habe. Er hat aber weiter im Anschzuß hieran und unter Berufung auf eine im Ausschuß für die besetzken Gebiete einstimmig angenommene Entschließung nach dem Wortlaute seiner Rede in einem Blatt, der „Kreuzzeitung“, gesagt, daß die Besatzung des

heinlandes vor Stellung des Antrags auf den Eintritt Deutsch⸗

lands in den Völkerbund herabgesetzt und die deutsche Verwaltung wieder in Kraft gesetzt werden müsse. Er hat weiter gefordert, daß die vorzeitige Räumung der besetzten zweiten und dritten Zone und die Abkürzung der ET“ vor dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sichergestellt, und daß bis dahin ein Zwischen⸗ zustand Pschaffen werde, in dem die Besatzungsstärke herabgesetzt und die fazungafrin einer Revision unterzogen werde. Aus der Tatsache, daß Graf Westarp meinen Namen in Verbindung mit diesen Forderungen genannt hat, könnte die Meinung entstehen, als ob auch ich die Auffassung des Grafen Westaxp teile. Ich stelle deshalb ausdrücklich fest, daß ich in vollstem Einvernehmen mit allen meinen politischen Freunden in der Befolgung der von dem Grafen Westarp vorgezeichneten 8 Linis eine Gefährdung der Gesamtinteressen Deutschlands und insbesondere eine Gefähr⸗ dung des besetzten Gebiets sehe, die ich unter allen Umständen ver⸗ mieden sehen will. (Beifall im Zentrum.) „Abg. Meyer⸗Franken (Komm.) verlangt sofortige Er⸗ örterung der Zustände in Bayern. Abg. Dr. Frick (völk.) schließt sich dem Antrage an.

Gegen die Behandlung der Frage wird aber Widerspruch erhoben.

Löbe eröffnet Sitzung um 2 Uhr

Ein Antrag Dr. Frick (völk.), den völkischen Autrag auf Einstellung der Dawes⸗Zahlungen mit zur Ferhahenens

zu stellen, wird abgelehnt. Die große politische Aussprache wird dann fortgesetzt.

4 ) Mit Ausnahme der durch Sperrdruck hervorgehobenen Rede 2 . * 2* * . e n der Herren Minister, die im Wortlaute wiedergegeben sind.

Abg. Henning (völk.) begründet das völkische Mißtrauens⸗ votum. Wir achten jeden politischen Gegner, der ein fester Charakter ist. Aber solche Leute können wir nicht achten, die seiner⸗ zeit Bilder mit vom Kaiser erhalten haben und dann während und nach der Revolution ihr demokratisches Herz ent⸗ deckten. Man möchte gern die „staatsbejahende“ Sozialdemokratie in der Regierung haben. Diese „staatsbejahende“ Sozialdemokratie aber hat zusammen mit den Unabhängigen dauernd den Staat untergraben. (Lachen bei den Sozialdemokraten.) Die Regierungs⸗ erklärung war durchaus inhaltlos. Erst die gestrige Erklärung des Reichskanzlers hat deutlich gezeigt, daß an der Erfüllungspolitik festgehalten werden soll. Im einzelnen war die Erklärung vom Dienstag derart gehalten, daß man sie deuten konnte: man kann so, man kann aber auch so. er Reichskanzler verlangte ein Ver⸗ truensvotum. Wenn ein solches aber nur dadurch erzielt wird, daß die größte Partei des Hauses, die Sozialdemokratie, sich der Stimm⸗ abgabe enthält, dann ist es kein Vertrauensvotum der Mehrheit, dann müßte der Reichskanzler zurücktreten. Hat die Regierung nichts daraus gelernt, daß wir nach Locarno wie die Schuhputzer behandelt worden sind? Für jeden alten deutschen Soldaten ist es unfaßbar, daß Deutschland in den Völkerbund eintreten soll, auf die Gefahr hin, daß deutsche Truppen unter französischen Ober⸗ befehl kommen. Sollten auch etwa unsere hunderktausend Mann dazu mithelfen, daß Polen vor einem russischen Angriff bewahrt wird? Daß wir zu einem Minister wie Herrn Stresemann kein Vertrauen haben, ist selbstverständlich. Er hat seinerzeit ausdrücklich erklärt, daß die Rückwirkungen von Locarno vor Eintritt Deutsch⸗ lands in den Völkerbund erfolgen müßten. In seiner Münchner Rede hat dann Herr Stresemann gesagt, es seien „Vorwirkungen“. Nun, wie sehen denn da die „Nachwirkungen“ aus? Sehr be⸗ ist, daß die Freimaurer sich für die Bildung dieses

abinetts eingesetzt haben. In Hamburg fand eine Freimaurer⸗ versammlung statt, in der die Hilfe der Freimaurer für die Bildung eines Kabinetts Luther in Aussicht gestellt wurde. Kaum war diese Versammlung vorüber, da gelang die Bildung des Kabinetts. Die Sozialdemokraten unterstützten Dr. Luther wegen seiner aus⸗ wärtigen Politik. Nun, was Herr Breitscheid, der stets Frankreich umschmeichelt, auf dem Gebiet der auswärtigen Politik schon für Schaden angerichtet hat, geht auf keine Kuhhaut. Die Anträge der Linken über die Fürstenabfindung sind lediglich ein Manöver, um vom Barmat⸗Skandal abzulenken. Wir beantragen, die eingewander⸗ ten Ostjuden und überhaupt alle Inflationsgewinner entschädi⸗ gungslos zu enteignen. Das durch Börsenmanöver erworbene Geld muß dem deutschen Volk zurückgegeben werden. Wir wollen der Auspowerung Deutschlands durch Fremde ein Ende machen. Durch die Schuld der Regierung ist die Landwirtschaft in ihre Notlage hineingetrieben worden. Nun kommt der Reichskanzler, der Henker der Landwirtschaft, und verlangt deren Intensivierung. Das An⸗ wachsen der Zahl der Arbeitslosen ist immer die Schuld der Re⸗ gierung. Die Sozialdemokratie hat sich gerade als die unsozialste aller Parteien erwiesen. Jetzt aber mehrt sich die Erkenntnis dieser Tatsache unter den Arbeitern. Jetzt kommt der Boden für die völkische Bewegung. Mau hat nach allerhand Bezeichnungen für die neue Regierung gesucht, man hat den Ausdruck „Regierung der Köpfe“, aber eins hat man vergessen es so das keine persönliche Beleidigung sein „Regierung der Henker“. (Große Unruhe im ganzen Hause, Reichskanzler Dr. Luther tritt kehr erregt auf den Redner zu und verbittet sich den von ihm gebrauchten Ausdruck. Im ganzen Hause entsteht eine große Er⸗ regung. Von allen Seiten, auch gaus den Reihen der Deutschen Volkspartei, ertönen Rufe: Raus! Raus! Vizepräsident Dr. Bell 14.4“ die Glocke. Die Erregung dauert minuten⸗

ang an.

Vizepräsident Dr. Bell: Der Redner hat einen solcken Ver⸗ stoß gegen die Ordnung des Hauses begangen, daß ich mich ge⸗ zwungen sehe, ihn von der Sitzung auszuschließen. (Lebhafte Zu⸗ stimmung.) 1

Der Abgeordnete Henning entfernt sich nur sehr zögernd aus dem Saale, so daß es deshalb nochmals zur Erregung im Hause kommt. 8

Abg. von Lindeiner⸗Wildau (D. Nat.) bedauert zu⸗ nächst, daß der Vorredner sich zu einer Aeußerung vSeel dem Leiter der Reichspolitik habe hinreißen lassen, die das Maß des Zulässigkeit weit überschreite. Ich glaube, so fährt der Redner fort, im Einvernehmen mit meiner Partei, mit der ich mich vorher nicht habe behrüchan können, unserem großen Bedauern über diesen Zwischenfall Ausdruck geben zu müssen, um so mehr als er nicht geeignet ist, die Würde des Parlaments zu heben. (Die Un⸗ ruhe im Hause dauert noch immer an; Vizepräsident Dr. Bell bittet, die Plätze einzunehmen.) Redner kritisiert dann die Art, die der parlamentarische Betrieb in diesem Hause angenommen hat. Man hat zuweilen den Eindruck einer militaristischen Parade, bei der die Parteien nacheinander heraustreten und ihre Redner vor⸗ schicken. Wenn wir trotzdem geglaubt haben, noch einmal hier unseren Standpunkt darlegen zu sollen, so halten wir es nach dem Verlauf der Debatte, auch nach den gestrigen Ausführungen des Reichskanzlers, doch für nötig, einmal das Grundsätzliche gus den heutigen Zuständen herauszuarbeiten. Nach unserer kleber⸗ zeugung ist die Regierungskrise, mit deren Lösung oder Nicht⸗ lösung wir uns in diesen Stunden zu beschäftigen haben, nicht etwas Zufälliges, nicht ettvas ags Tagesproblemen Geborenes. Wir sebeu e Heutigen Krise die Krise des derzeitigen Regie⸗ vünse 9— Systems der parlamentarischen Demokratie in Deutschland überhaupt. Sehr richtig! rechts.) Ich kann verstehen, daß die Herren der Linken das nicht gern zugeben wollen; denn dieses Regierungssystem ist ja die hochgepriesene Siegesfrucht des Volkssieges vom 9. November 1918. (Sehr wahr rechts, Unruhe links.) Ich möchte ein weitgehendes Maß von Verständnis dafür aufbringen, daß man damals in der Not der Stunde ein fremdes

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