Reichs⸗ und
Staatsanzeiger Nr. 140 vom 17. Juni 1932. S.
Bekanntmachung. Die am 16. Juni 1932 ausgegebene Nummer 36 des Reichsgesetzblatts, Teil I, enthält: die Verordnung des Reichspräsidenten gegen politische Aus⸗ schreitungen, vom 14. Juni 1932. Umfang ½ Bogen. Verkaufspreis 0,15 RM.
Postversendungsgebühren: 0,04 RM für ein Stück bei Voreinsendung.
Berlin NXW 40, den 17. Juni 1932. Reichsverlagsamt. Dr. Kaisenberg.
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Nichtamtliches.
Deutsches Reich. Der polnische Gesandte Wysocki ist nach Berlin zurück⸗ gekehrt und hat die Leitung der Gesandtschaft wieder über⸗ nommen.
In Abänderung der Bekanntmachung der Handelsver⸗ tretung der UdSSR. in Deutschland vom 27. 2. 1932, Reichs⸗ anzeiger Nr. 49, wird bekanntgegeben:
A. II. 4. Industrierohstoffexportabtei⸗ ung!:
8 Ilja Herzenberg wird gestrichen.
A. II. 4. Industrierohstoffexportabtei⸗
lung lautet jetzt wie folgt:
Schmawon Gariboff Max Seidenberg Alexej Brauer Andrej Kurgusoff Karl Osolin
jeder von ihnen mit einem der unter 1
B. 1. c. wird wie folgt ergänzt: Dawid Weger.
Preußischer Landtag. 9. Sitzung vom 16. Juni 1932. richt d Nachrichtenbüros des Vereins deutscher Zeitungsverleger.)
Präsident Kerrl eröffnet die Sitzung um 11 Uhr 15 Minuten.
Das Haus beschließt zunächst, eine Reihe von Anträgen den Ausschüssen zu überweisen, so u. a. einen kommunistischen Antrag auf Fortführung der Notstandsarbei⸗ ten auf der Wenzeslaus⸗Grube bei Neurode an den Handelsausschuß.
Sodann wird die zweite Lesung des Amnestie⸗ Gesetzentwursfs fortgesetzt.
Abg. Zuble (D. Nat.) weist darauf hin, daß nach Auf⸗ sassung seiner Freunde der Grundgedanke Bestrafung durch
en Staat in der Verpflichtung liege, das Rechtsleben des Volkes zu ser⸗ Die Sühne für eine Rechtsverlegung, so betont er, muß der Zweck jeder Strafe sein. Wenn man die Kriminalität in den letzten drei Jahren überblickt, so muß man zu der Ueber⸗
schedee kommen, daß alle Veranlassung vorliegt, an und für e
ich die .- mit allem Nachdruck zur Geltung zu bringen. Wir wissen, daß die wirtschaftliche Not bei so manchem Täter Hemmungen verdrängt. Härten auszugleichen besteht dann An⸗ laß, wenn es sich um Fehlurteile handelt, wenn der Strafvoll⸗ zug unbeabsichtigte Folgen mit sich bringt und wenn ein Straf⸗ heset zur Anwendung kommen muß, das dem Rechtsempfinden es Volkes nicht mehr entspricht, Wer, wie ich, 20 Jahre lang in der Strafpraxis als Verteidiger tätig gewesen ist, weiß nur zu gut, wie sehr die Richter unter den starren Strafvorschriften fn eiden haben. Wir erleben es, wie Briefträger wegen Verun⸗ reuung von 10 oder 20 Pfennigen mit einem Jahr Zuchthaus bestraft werden. Hier muß der Strafvollzug durch das Gnaden⸗ recht gemildert werden. Wir haben seit 1918 in Preußen ein umfangreiches Gnadenrecht, die Strafaussetzung und den ge⸗ milderten Straffvollzug. Es geht fast so weit, daß nach jedem abgeschlossenen Strafverfahren mehrere Gnadeninstanzen ein⸗ setzen. Wir würden es begrüßen, wenn die Arbeiten zur Schaffung eines neuen Strafgesetzes möglichst gefördert würden. Die politischen Dinge, die uns beschäftigen, bringen es aber mit sich, daß gerade diese Arbeit nicht vorwärts geht. Durch die zahlreichen Gnadenbeweise greift eine Rechtsunsicherheit im Volke um sich. Was nützt das Strafurteil, das doch eine Sühne sein soll, wenn wir nachher gezwungen sind, wegen der Starrheit des Strafgesetzes Milde durch Gnadenerlaß eintreten zu lassen. Das sind Gesichtspunkte allgemeiner Art, die die ernste Frage auf⸗ werfen: Ist es angesichts dieser Lage notwendig und verant⸗ wortlich, überhaupt ein Amnestiegesetz zu beschließen? Nach Ab⸗ wägung aller Geichtspunkte kommt die “ Volks⸗ artei grundsätzlich dazu, sich für ein Amnestiegesetz unter be⸗ timmten Bedingungen einzusetzen, und zwar nur soweit es sich um eine politische Amnestie handelt. Soweit es sich um Straf⸗ taten handelt, die aus wirtschaftlicher Not begangen sind, mag die Milderung durch das Gnadenrecht, wie es jetzt bestmd⸗ ein⸗ treten. Es liegt keine Veranlassung vor, für solche Fälle eine Sonderamnestie zu schaffen. Anders liegen die Dinge auf poli⸗ tischem Gebiet. Die wirtschaftliche Not und der Gesinnungs⸗ terror, der von diesem System ausgeübt wird, haben es fertig gebracht, daß mancher sich aus politischen Gründen zu einer Straftat hat hinreißen lassen, die er sonst nicht begangen hätte. Dafür muß man Verständnis haben. Die Beseitigung der heutigen Zustände ist der politische Beweggrund, der manchen ge⸗ leitet hat. Nicht vom Standpunkt des Täters aus unterstützen wir die Amnestie, sondern auch vom Standpunkt der Recht⸗ sPrechung aus. Die allgemeinen Vorwürfe, wie sie von den Kommunisten und Nationalsozialisten gegen Richter und Staats⸗ anwälte erhoben werden, machen wir nicht mit. Wer weiß, wie das Justizministerium bei politschen Vergehen auf die Er⸗ mittlungen Einfluß nimmt, wird mir Recht geben, daß auch der stärkste Staatsanwalt diesem 4— nicht widerstehen kann. Wir schätzen die Objektivität unserer Richter nach wie vor, aber auch die Richter sind Menschen und auch sie müssen, besonders in Uebergangszeiten, bei der Anstellung, in einer Zeit, die ihnen durch die Gehaltsabzüge fast die Existenz nimmt, instinktmäßig Rücksicht nehmen auf den Geist, der im Justizministerium herrscht. Aus diesem Gesichtspunkt heraus haben wir uns entschlossen, dem Amnestiegesetz zuzustimmen. e wichtig ist uns der § 3, der den Schutz der Beamten fordert. Der Terror, der gegen die Beamten im Wege des Dienststrafverfahrens viele Jahre hindurch ausgeübt worden ist, ist ungeheuerlich. Die Ursachen dieses Terrors liegen im wesentlichen in jener Republikanischen Beschwerdestelle, die mehr eine E1ue ist. (Sehr richtig! bei den Deutsch⸗ nationalen.) Die Behörden 88* aufhören, auf die Repu⸗ blikanische Beschwerdestelle zu reagieren. Zahlreiche Beamte sind einerzeit gemaßregelt worden, als sie sich für die Ablehnung des houng⸗Plans einsetzten. Jetzt herrscht im ganzen Lande nur eine
timme, daß der Young⸗Plan ein Unglück für Deutschland war.
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Ich verweise ferner auf den Ministerialbeschluß, der den Beamten die Zugehörigkeit zu einzelnen Parteien untersagt. Man erklärt dazu, daß derjenige, der sich einer Parkei anschließe, sich auch alle Ziele dieser Partei zu eigen mache, und allein schon die bloße Zu⸗ gehörigkeit zu einer politischen Partei sei Grund genug, den be⸗ treffenden Beamten aus Amt und Würden zu bringen und ihm das Brot zu nehmen. In einer Entscheidung zu einem Beleidi⸗ ungsprozeß, der angestrengt worden war, weil man dem ver⸗ Reichspräsidenten Ebert den Vorwurf des Landes⸗ verrats gemacht hatte, sagt aber nun das Reichsgericht, es komme nicht darauf an, ob sich Ebert zugestandenermaßen an der Leitung des Munitionsarbeiterstreiks beteiligt habe, sondern es müsse ihm nachgewiesen werden, daß er sich auch die letzten Ziele dieses Streiks zu eigen gemacht habe. (Lebhaftes Hört, hört! bei den Deutschnationalen und Nationalsozialisten.) Wir legen besonderen Wert darauf, daß sich die Amnestie auch auf Dienststrafserfahren egen Beamte bezieht. Die Ausführungen der Kommunisten und er Sozialdemokraten und auch die der Nationalsozialisten in der gestrigen Aussprache haben bei uns den Eindruck hervorgerufen, als ob jede Partei nur bestrebt ist, irgendwelche Vorteile für einzelne Parteimitglieder herauszuholen. Am meisten bin ich erschüttert worden durch die Ausführungen des sozialdemokratischen Redners. Es ist ein starkes Stück, daß die Sozialdemokratie zu einem solchen Gesetz, bei dem es sich auch um Amnestierung von Verbrechen gegen das Leben handelt, einen Redner hier auf diese Tribüne schickt, der, verschuldet oder unverschuldet — wir lassen das dahingestellt —, ein Menschenleben immerhin auf dem Ge⸗ wissen hat. (Lebhaftes Sehr wahr! bei den Deutschnationalen und Nationalsozialisten.) Der sozialdemokratische Abänderungsantrag zeigt eine sehr Feewegn Fassung, u. a. will er auch Straf⸗ erlaß gewähren für Taten, die zur Verteidigung der Republik be⸗ gangen worden sind. (Hört, hört! bei den Deutschnationalen.) Und dann stellt sich Herr Kuttner hier hin und spricht gegen die olitische Amnestie! Ist das nicht auch eine Amnestie zugunsten einer eigenen Partei? Es darf nicht ein Freibrief für politische Straftaten heraufbeschworen werden. Wir haben einmal ins⸗ besondere beantragt, daß die Amnestie mit dem 15. Juni ab⸗ schließt. Es besteht Einigkeit darüber, daß Brandstiftung und vorsätzliche Gefährdung eines Eisenbahntransports nicht amnestiert werden sollen. Zu der Frage, ob auch Verbrechen gegen das Leben unter die Amnestie zu stellen sind, hat meine Partei so starke Bedenken, daß wir für das Gesetz nicht stimmen können, wenn Morde nach wie vor amnestiert werden. Wenn man schon Ausnahmen macht, dann muß man bestimmt auch den Mord von der Amnestie ausschließen. Wir wollen ferner auch das Verbrechen des schweren Raubes von der Amnestie ausgeschlossen wissen und fordern, daß auch der Meineid ausgenommen wird. Sie selbst (zu den Nationalsozialisten) haben ja im Meineidsprozeß Abel gesehen, wie verwerflich der politische Meineid ist. Soweit darf die politische Leidenschaft nicht gehen. Es besteht die Gefahr, daß das ganze Gesetz gefährdet wird, wenn diese schweren Strafen in die Amnestie einbezogen werden. Im Staatsrat haben Zentrum und Sozialdemokraten die absolute Mehrheit, und nachdem das Zentrum seine Zustimmung zum Amnestiegesetz von der Ausnahme dieser schweren Fälle abhängig gemacht hat, ist es klar, daß der Staatsrat Einspruch erhebt. Sie (zu den Nationalsozialisten) tehen vor der Entscheidung, ob Sie die übrigen 40 000 Fälle wegen der grundsätzlichen Einstellung zu diesen Dingen gefährden wollen. Es sitzen gerade in Ihren und in unseren Reihen unzählige ge⸗ maßregelte Beamte, denen wir die Strafe nehmen wollen. Wir bitten Sie, diesem Gesichtspunkt in vollem Umfang Rechnung zu tragen. 2 Lir werden auch gegen den kommunistischen Antrag auf Einsetzung eines Amnestieausschusses stimmen. Wir halten unser Richtertum — Ausnahmen bestätigen die Regel — noch für intakt und verallgemeinern nicht. Der e Dr. Kremer hat mit einem Avppell an die Richter geschlossen. Wenn aber überhaupt der Schimmer einer Beeinftußung in der Justiz ein⸗ getreten ist, so tragen Sie (zum Zentrum) einen 22 großen Teil Verantwortung dafür. (Lebhaftes Sehr wahr! bei den Deutsch⸗ nationalen und Nationalsozialisten.) Sie haben mit Ihren Bundes⸗ Eihee hn die Parteipolitik in die Ministerien gebracht, unter der die Beamten schwer zu leiden haben. (Erneute Zustimmung.) Deshalb wünschen wir, daß die Ministerien davon befreit werden. Wir arbeiten darauf hin im Interesse derjenigen, die aus heißer Leidenschaft in ihrer politischen Betätigung sich haben hinreißen lassen und die Hemmungen beiseite gestellt haben, um dem deut⸗ schen Volk nach bester Ueberzeugung zu helfen. (Händeklatschen bei den Deutschnationalen.)
Abg. Stendel (D. Vp.) erklärt, daß die volksparteilichen Abgeordneten gegen den Amnestieantrag stimmen würden, auch wenn die Abänderungsanträge angenommen würden. Sie würden aber für diese Aenderungsanträge stimmen, weil sie in ihnen eine wesentliche Verbesserung des Antrages sehen, der in der Form, wie er aus dem Ausschuß herausgekommen ist, einfach üunerträglich erscheint. Eine große Fraktion, die die Macht im Staat übernehmen wolle, müsse außerordentliche Vorsicht in ihren Anträgen und Gesetzentwürfen obwalten lassen. Wir stehen aber auf dem Standpunkt, daß eine Einzelprüfung und Einzelbegnadigung im größtmöglichen Ausmaß stattfinden soll. Niemand könne die Gefahr übersehen, daß nach dem Ausschuß⸗ antrag gar nicht einmal abgewartet zu werden braucht, ob ein Urteil ergeht, sondern alle Straftaten, die überwiegend politisch sind, schon vorher amnestiert werden. Wir wünschen auch, daß eine neue Epoche 2₰ Durchbruch komme, aber wir wünschen eine realpolitische Beschleunigung der Wahl des Ministerpräsidenten. (Großer Lärm bei den Nationalsozialisten.) Die Nationalsozia⸗ 1 Partei hat eine großartige Aufwärtsbewegung erlebt, aber man solle sich doch hüten davor, daß diese Kurve nicht eine Fieberkurve wird. Wir haben die allerschwersten Angriffe der Sozialdemokraten auf die Justiz von dieser Stelle aus stets schärfstens abgewehrt. Wir haben immer verlangt, daß die Politik völlig aus der Rechtsprechung herausbleibt. Wenn wir einen Staat haben, dann müssen auch die Gesetze objektiv an⸗ gewandt werden. Wir können nicht zugeben, daß jetzt die andere Seite diese Objektivität angreift. Wir verlangen eine von allen Seiten unbeeinflußte Justiz. Wenn Sie einen Sinn für die Unabhängigkeit der Rechtspflege haben und diese Unabhängigkeit schützen wollen, dann müssen Sie objektive Rechtspflege verlangen. Dann dürfen auch keine Drohungen erfolgen, daß die Legislative bei Urteilen, die den Nationalsozialisten nicht gefallen, eingreife. Die Nationalsozialisten haben selbst stets die Hilfe des Staates angerufen, um den Mordterror der Kommunisten einzuschränken. Wer soll es im Volk begreifen können, wenn im, Völkischen Beob⸗ achter“ gegen solche Verbrechen langjährige Zuchthausstrafen ge⸗ fordert werden, und dann zwei Tage vorher im Ausse u ein solcher Amnestieantrag angenommen wird, daß diese Zuchthaus⸗ strafen sofort aufgehoben werden müssen. Wir sind auch für Be⸗ nodigung politisch Verurteilter, aber unter Prüfung des einzelnen alls. Die hier vorgeschlagene Amnestie bietet in ihrer schema⸗ tischen Amnestierung fäneälicher Verbrechen aus politischen Gründen eine ungeheure Gefahr. Es bleibt unverständlich, daß die Antragsteller Brandstiftung ausschalten wollen, die mit Zucht⸗ haus bestraft wird, aber Verbrechen am Leben, auch wenn sie höhere Strafe zur Folge haben, amnestieren. Auch die Aus⸗ nahmen vom Sprengstoffgesetz sind nur deshalb in die Amnestie hineingekommen, weil sie in einer gewissen parteipolitischen Linier liegen. Ein derartiges Verfahren ist nicht möglich, wenn wirk⸗ lich nach den Aeußerungen des nationalsozialistischen Redners die Autorität des Staates nicht erschüttert werden sonh Wenn gesagt wird, daß die Autorität des Staates schon erschüttert sei, so gt die Nationalsozilistische Partei daran nicht ganz unschuldig. Oder könne man glauben, daß es die Autorität des Staates und der Gerichte erhöhe, wenn Dr. Goebbels auf Vorladungen zum Gericht e nicht erscheine, und, wenigstens nach Presse⸗ nachrichten, durch seinen Anwalt erklären lasse, er habe wichtigere,
Ees Aufträge zu erfüllen. Es dient auch nicht dem Ansehen eer Rechtspflege, wenn Fragen der Verteidiger, die zur Klärung dienen sollen, aus dem Grunde abgelehnt werden, weil man die Person des Verteidigers ablehnt. (Lärm bei den Nationalsozia⸗ listen.) Die Autorität des Staates wird jedenfalls durch solche Vorfälle nicht gestärkt. Die Frage, ob § 6a noch verfassungsmäßig ist, muß verneint werden. iunn eine gerichtliche Vorunter⸗ suchung stattgefunden hat, dann muß das Gericht von sich aus entscheiden, ob das Verfahren einzustellen ist, oder ob eine richterliche Entscheidung zu erfolgen hat. Die Einsetzung von neuen Ausschußmitgliedern, die in diese Frage eingreift, müssen wir ablehnen. Eine solche Entscheidung durch ein politisches Gremium wird immer eine politische Entscheidung sein, der wir tets mit schärfstem Mißtrauen gegenübergestanden haben. Wir aben nicht gehört, ob die Büacschnaeaate auch dann der Amnestie zustimmen werden, wenn ihre Abänderungsanträge ab⸗ gelehnt werden. Wir würden kein Verständnis dafür haben, wenn auch bei Ablehnung dieser Anträge Zustimmung zu der Amnestie erfolgen würde. (Beifall in der Mitte.) Abg. Freisler (Nat. Soz.): Die Einwände, die gegen die Amnestie vorgebracht “ sind teils ve, eaar. teils rechtlich⸗politischer Art. ir Katinnalss glcchen sind grund⸗ sätzlich der Ansicht, daß die Rechtspflege nicht Selbstzweck ist, daß infolgedessen Einwände formal⸗juristischer Art bei ggjezaeberichen Akten keine durchschlagende Bedeutung haben können. Sonst würde jede Weiterentwicklung des Rechts unmöglich gemacht. Trotzdem haben wir uns bereit erklärt, einige Punkte abändern zu lassen, weil wir den Erfolg unseres Gesetzentwurfes haben wollen, obwohl das Gesetz auch in der von uns eingebrachten Form juristisch absolut haltbar ist. Man behauptet, daß unser Gesetzentwurf einen unzulässigen Eingriff in die Rechtspflege bedeute, insbesondere der § 6, der als höchsten Rechtszug einen veenn.. Ausschuß vorsieht. Ich stelle fest, daß be⸗ kannte Rechtswissenschaftler sich auf den Standpunkt gestellt haben, daß das gesamte Gnadenwesen nicht Sache der Rechts⸗ pflege, sondern der Verwaltung ist. Das ist die einhellige Auf⸗ fassung der Wissenschaft bereits seit dem Jahre 1896. (Redner verliest ein Zitat aus einem Aufsatz in der Deutschen Juristen⸗ zeitung vom 15. November 1896 und aus anderen jnristischen Werken, in denen es u. a. heißt: „Das Begnadigungsrecht selbst ist kein Akt der Rechtspflege, sondern ein Akt der Regierung“ und „Die Begnadigung ist ein Regierungsakt wie jeder andere’.) Ich bin erstaunt, daß der Justizminister einen Standpunkt ver⸗ tritt, der im krassen Gegensatz steht zu dem neuesten Spezial⸗ kommentar über das preghische Gnadenrecht, der bearbeitet und ö ist von den beiden Referenten des Justizministeriums, Landgerichtsdirektor Dr. Braun und Dr. Karl Schäfer, und in dem es heißt: „Ueber das Wesen der Begnadigung besteht heute im wesentlichen Uebereinstimmung. Die Ansicht älterer Schrift⸗ steller, die Begnadigung sei Akt der Rechtsprechung, hat heute keinen Halt mehr.“ Die Amnestie ist in Wirklichkeit nichts an⸗ deres als eine Gesamtbegnadigung. Daß die Gesamtbegnadigung rechtlich als die Summe von Einzelakten betrachtet wird, unter⸗ liegt keinem Zweifel. Die vorgebrachten rechtspoltischen Be⸗ denken richten sich zunächst gegen eine Amnestie im gegen⸗ wärtigen Augenblick an sich. Ich bin erstaunt, welche merk⸗ würdigen Ansichten der Redner der Sozialdemokratie hier vor⸗ gebracht hat. Er, der ganz sicher Mitglied dieser oder jener an⸗ geblich humanitären Vereinigung ist, vertritt die Ansicht, daß eine Generalbegnadigung für die Staatsautorität unzuträglic sei. Derselben Ansicht ist der Vertreter der Deutschen Volks⸗ partei. Wir Nationalsozialisten sind der Ueberzeugung, daß dieser Einwand nicht stichhaltig ist, weil es sich nicht mehr um die Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Staatsautorität handelt. Die Aufrechterhaltung der Staatsautorität setzt das Vorhanden⸗ sein eines Staates voraus. Als Staat hat er bestimmte Begriffs⸗ elemente, die in ihm vorhanden sein müssen, wenn er Staat sein will. Das Gebilde, als dessen gesetzgebende Faktoren wir hier tätig sind, kann nicht den Anspruch mehr erheben. (Händeklatschen bei den Nationalsozialisten.) In dem Augenblick, in dem wir Nationalsozialisten uns anschicken, an die Stelle des Chaos einen Staat zu errichten, wollen wir die Voraussetzung dafür schaffen, daß alle diejenigen, die für eine Erneuerung unseres Staats⸗ wesens gekämpft haben und die von dem untergegangenen Staat dafür ins Gefängnis gesetzt wurden, an diesem Aufbau aktiv. teilnehmen können. (Beifall und Kändeklatschen bei den National⸗ sozialisten.) Das ist unsere rechtspolitische und staatspolitische Begründung. Dabei sind wir allerdings großzügiger als die untergehende Sozialdemokratie. Wir haben nie daran gedacht, die Vorteile dieses Gesetzes ausschließlich denen zuzusichern, die für das Drittg Reich eingetreten sind, sondern sind uns bewußt, daß die Vortlile auch anderen zugute kommen. Das Justiz⸗ ministerium hat vor einigen Monaten eine Statistik aus⸗ gearbeitet, die trotz Aufforderung der Reichsregierung nicht mit⸗ geteilt worden ist und die besagt, daß 60 vH der wegen politischer Vergehen Verurteilten der KPD., 20 vo der NSDAxP., 18 vH dem Reichsbanner zugehören und 2 vH nicht festgestellt werden konnten. Es ist nicht richtig, daß durch unser Verhalten die Staatsautorität herabgesetzt worden wäre. Wenn der Fall des Abgeordneten Dr. Goebbels erwähnt worden ist, so weise ich darauf hin, daß das Reichsgericht die Pflicht, im Dienste der All⸗ tätig zu sein, der Pflicht als Zeuge oder auch Ange⸗ lagter vor Gericht zu erscheinen, vorangestellt hat. Wir können also nicht die Staatsautorität untergraben, wenn wir das tun, was das Reichsgericht als richtig anerkennt. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß die Kämpfer für die deutsche Befreiung von nun ab an diesem Kampf wieder teilnehmen können. Dieses Ziel ist uns die Hauptsache, und weil wir es erreichen wollen, er⸗ klären wir, daß wir es nicht verantworten könnten, 50 000 Men⸗ schen hinter Schloß und Riegel zu lassen, die an der Sees mitarbeiten könnten, nur weil vielleicht der Staatsrat noch nich der neuen Anschauung des Volkes entspricht. (Sehr richtig! rechts.) Wir erklären, daß wir bereit sind, die schweren Bedenken, die wir haben, zurückzustellen. Wir lnd bereit, aus dem Gesetz herauszulassen das Vergehen des vollendeten Mordes, das Ver⸗ gehen der Gotteslästerung, die Vergehen, mit denen die Absicht er schweren Beschädigung eines Menschen verbunden war, wenn wir die Gewißheit haben, daß dann das Gesetz angenommen wird. Diese Gewißheit kann uns allein die Zentrumsfraktion geben. Ist sie bereit, das im Interesse der notwendigen Be⸗ friedung zu tun, so sind wir bereit, diese Punkte aus dem Gesetz herauszulassen und auf sie um 40 000 anderer willen zu verzichten. Der Redner wendet sich dann gegen die Art, in der die Aussprache geführt worden sei, und fährt dann fort: Mit einem Teil der Vorredner können wir uns sachlich auseinandersetzen. Was aber die deutsche Jugend, was der Nationalsozialismus als eine unerhörte Provokation empfindet, ist die Tatsache, daß die Sozialdemokratie, um ihren Standpunkt zu vertreten, einen Mann vorgeschickt hat, der einen Schuß auf einen deutschen Bruder abgegeben hat⸗ Im Jahre 1919 hat Kuttner in den Revolutionskämpfen einen Mann angeschossen und auf dessen Frage „Kuttner, was tust Du?“ ihm den zweiten Schuf ins Her gegeben. (Lärm und Pfui⸗Rufe bei den Nationalsozialisten.) Wenn ich als deutscher Mann das getan hätte, so würde ich mich in den innersten Winkel meiner Wohnung verkriechen, und ich wäre nicht mehr bereit, im öffent⸗ lichen Leben eine Rolle zu spielen, weil ich das innerlich nicht mehr würde verantworten können. Daß Kuttner anders ge⸗ andelt hat, erklären wir uns nur daraus, daß er nicht von lutsmäßig deutschen Erwägungen geleitet ist. Aber auch die innere objektive Unwahrhaftigkekt seiner Ausführungen war eine unerhörte Provokation. 1927 hat Herr Kuttner erklärt, daß er und seine Freunde bereit sind, auch für die Begnadigung von Max Hölz einzutreten; er hat damals gesagt: Ich bemerke, daß es kein Verbrechen des Max Hölz gibt, das man nicht in dem⸗
Reichs⸗ und Staatsanzeiger Nr. 140 vom 17. Juni
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— Umfange Adolf Hitler und seinen Anhängern vorwerfen önnte. (Pfui⸗Rufe bei den Nationalsozialisten) Der Mann, der so etwas zu reden gewagt hat, sollte in diesem Hause nicht mehr sprechen können. (Lebhafte Zustimmung bei den National⸗ ozialisten.) Er hat es nur der —2,,„ Disziplin der national⸗ ozialisten Fraktion zu verdanken, daß er noch einmal sprechen onnte. (Händeklatschen bei den Nationalsozialisten. — Unruhe links. — Die Nationalsozialisten rufen: Kultner raus!) Dieser Herr Kuttner, der 1919 erklärte, dem Richtertum müßten endlich einmal die Flötentöne beigebracht werden, ist als Schriftleiter verantwortlich für eine Reihe von Schmierbildern. Auf einem der Bilder wird der Reichspräsident so dargestellt, daß der Neandertaler als Urbild von Fuientgens im Vergleich dazu er⸗ scheint. Herr Kuttner hat ein Bild legalisiert — der Redner Pigt edesmal diese Bilder vor —, das unterschrieben ist: Der erfassungseid des deutschen Richters — dies ist ein Aprilscherzi (Stürmische Pfui⸗Rufe bei den Nationalsozialisten.) Dieser selbe Mann gibt einem anderen Bilde und seinem Text die Unter⸗ schrift „Mich. von Lindenhecken“. Dieser Mann, dieses Gebilde (Präsident Kerrl weist den Redner darauf hin, daß er einem Ab⸗ geordneten gegenüber nicht als von einem Gebilde sprechen dürfe) hat es fertiggebracht, ein Schundbild schmutzigster Erotik mit einem Namen zu decken, auf dem ein Richter dargestellt wird, der im Talar die Gerechtigkeit vergewaltigt. (Hört, hört! bei den Nationalsozialisten und Rufe: Die Staatsanwälte schweigen!) Er bringt ein Bild von einer Gerichtsitzung, in der drei Richter schlafen und der Staatsanwalt im Bett liegt. (Pfui⸗Rufe rechts.) Es ist ein Skandal, daß derjenige, der das mit seinem Namen edeckt hat, nicht von den deutschen Gerichten mit der zulässigen BFäieae und mit Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte bestraft worden ist. (Händeklatschen bei den Nationalsozialisten.) Wir Nationalsozialisten erklären, daß wir da vor formaljuristischen Bedenken nicht Halt machen werden, und daß wir in solchen Fällen der Vergiftung des Volkes und der Verhöhnung des Volkstums durch einen Rassefremden eine Nachprüfung von Urteilen legal verlangen werden. Es hat bisher noch niemand gewagt, diesen Mann zur Verantwortung zu ziehen. Für uns ist dieser Herr Kuttner erledigt bis zu dem Augenblick, in dem er Objekt einer geordneten deutschen Rechtspflege sein wird. Die politischen Machthaber haben den Versuch unternommen, den freien Richter⸗ stand zur Dirne der eigenen Machtgelüste zu machen. Wir wissen, daß der Kern des Richterstandes gesund ist. Aber die Schlacken, die emporgetragen sind von der Macht der Machthaber, müssen erausgeworfen werden. Abschließend führt der Redner Be⸗ chwerde über Ungerechtigkeiten, die in der Rech tsprechung zum Nachteil der Nationalsozialisten vorgekommen 5 Wir, so betont er, sind uns 8v Aufgabe bewußt, den Richterstand aus den Fesseln, in die man ihm geschlagen hat, zu befreien. Wir werden diese Aufgabe lösen, mag auch der Deutsche Richterbund es fertig gebracht haben, meine Ausführungen zu unterschlagen und nur diejenigen des Zentrums und der Deutschen Volks⸗ partei in seinem Organ zu veröffentlichen. Das deutsche Volk erwartet und verlangt, daß die Zellen von den Kämpfern für ein neues Deutschland frei gemacht werden, damit in diese Zellen endlich hineinkommen die Barmat, Kutisker, Stlarz, Parvus⸗ Helphand, Weiß, Sklarek, 8- Kuttner und Genossen! (Stürmisches Händeklatschen bei den Nationalsozialisten.)
Abg. Veidt (Volksdienst) sagt, daß er bei der kurzen, ihm zur Verfügung stehenden Redezeit nur einige Erklärungen abgeben könne. An sich sei es parlamentarischer Brauch, daß ein Gesetz⸗ entwurf aus dem Ausschuß fertig beraten ins Plenum komme. Der vorliegende Entwurf aber trage den Stempel überstürzter, un⸗ 5 Arbeit an der Stirn, wie auch die Debatte gezeigt habe. Ein solcher Entwurf müsse daher verheerend wirken. Er verstehe, daß ein Strich unter bestimmte Vergehen der Vergangen⸗ heit gemacht werden könne. Es gehe aber nicht an, einen Freibrief ür alle politischen Verbrechen auszustellen. Die beiden christlich⸗ ozialen Abgeordneten und auch der Deutsch⸗Hannoveraner würden ür die deutschnationalen Aenderungsanträge stimmen, behielten ich aber ihre Haltung für die Schlußabstimmung vor. Da der Staat in Gefahr sei, an ethischer Anarchie zugrunde zu gehen, dürfe man nicht auch die Reste des Staates vernichten, indem man sogar das göttliche Gebot in den zehn Geboten beseitigen wolle. Der Redner polemisiert gegen die gesetzgeberischen Auswüchse, die sich jetzt aus der unnatürlichen Mehrheit der äußersten Rechten und Linken im Landtag zeigten und dessen Auswirkungen die Wähler schon zu spüren bekommen würden. Dieser Landtag habe überhaupt kein Recht, ein Amnestiegesetz zu machen, weil der Landtag selbst auf der Anklagebank sitze, indem er sich für seine eigenen Prügeleien und Körperverletzungen amnestiert habe.
Abg. Nuschke (D. Staatsp.): Was uns heute als Amnestie⸗ entwurf vorgelegt worden ist, trägt den Namen Amnestie zu Un⸗ recht, denn hier soll lediglich durch einen Machtspruch des UBarla⸗ ments die Freiheit des Verbrechens stabilisiert werden. Auch wenn man die Opfer politischer Hetze nachsichtig beurteilen will, kann man doch nicht 40 000 Menschen Straffreiheit gewähren, die sich gegen Freiheit und Gut der Menschen vergaugen haben. Es besteht alle Sa eeag die Vorfälle sehr genau zu prüfen. Angesichts der soeben gehörten Rede des Abg. Dr. Freisler sind wir allerdings der Meinung, daß die Opfer, die von Freisler auf⸗ behett wurden, alle Milde verdienen. Im übrigen bedeutet der
ntwurf ein Attentat auf die Verfassung. Man versucht, das Parlament zum Konvent zu machen und zu verwirklichen, was einst in Frankeich die Jakobiner versuchten. Wenn Dr. Freisler sagte, der Entwurf sei kein Amnestiegesetz, sondern eine Wiedergut⸗ machung, so sind das die gleichen Gedankengänge, die die fran⸗ zösischen Advokaten zur Aufstellung des Versailler Vertrages be⸗ wegten. (Sehr wahr! links.) Das hat nichts mehr mit Recht zu tun, das ist politische SEene E. be auf das Recht. Wohin wir steuern, ergibt sich auch daraus, daß Dr. Freisler, der so tat, als ob er für die Unabhängigkeit der Richter eintrete, selbst Richter beleidigte und daß der nationalsozialistische Präsident des Hauses beleidigende Zurufe gegen Richter nicht einmal rügte. Wir steuern da in Zustände hinein, die Herr Freisler in seiner aufgeregten Art nicht zu übersehen vermag, aber alle ernsten Menschen im Vaterland können nur bedauern, daß der Radikalismus hier im⸗ stande ist, praktisch zu beweisen, welche Gefahren für Recht und Kultur aus seinen politischen Leidenschaften erwachsen. Wir können einem solchen Amnestieentwurf nicht zustimmen.
Ministerialdirektor Huber e kurz die Vorwürfe zurück, die in der Debatte gegen die Statistiken des Justizministeriums erhoben worden waren.
Abg. Nölting (Soz.) erklärt, die Hetze, die der Ab⸗ geordnete Dr. Freisler hier vom Stapel gelassen hat, läßt uns völlig kalt. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die Auf⸗ wühlung längst und häufig widerlegter Verleumdungen, die auch wiederholt von Gerichten zurückgewiesen wurden, macht auf uns keinen Eindruck. Fraktion der Sozialdemokraten ganz entschieden, daß ihr von an⸗ derer Seite ins Handwerk gepfuscht wird, wenn sie ihre Redner be⸗ stimmt. Diese Arroganz 8818 wir zurück. Die Hetze, die wir hier erlebten, wird uns nur in unserem Vorsatz bestärken können, die Amnestie wie sie hier in Vorschlag gebracht wurde, in dieser Form unbedingt abzulehnen. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Damit schließt die Aussprache zur zweiten Lesung. Die Abstimmungen erfolgen im späteren Verlauf der Sitzung.
Das Haus beschäftigt sich dann mit Anträgen des Rechtsausschusses.
Abg. Dr Zubke (D Nat.) referiert als Berichterstatter über den Vorschlag des e ee die in Haft befindlichen als 2 Bombenleger bekannten Bauernführer Claus. Heim usw. ofort W“ und ihnen Straferlaß zu gewähren. Für die Deutschnationalen fügt Dr. Zubke hinzu, daß die Dentschnatio⸗
Im übrigen verbittet es sich die zahlenstarke
nalen darum ersuchten, auch die Begnadigung von Herbert Volk zu beschließen.
Abg. Meyer⸗Quade (Nat. Soz.) meint, man müsse die Er⸗ regung der Bauern, die sich bei den b Bombenlegern gezeigt habe, verstehen aus der verfehtten Politik der Nachkriegszeit, die die Bauern immer mehr vom Staat gelöst habe. (Sehr richtig⸗ bei den Nationalsozialisten.) Unter den Bestimmungen des Ver⸗ sailler Vertrags habe besonders stark die Landwirtschaft gelitten, wie sich aus ihrem —= und den zunehmenden Zwangsversteigerungen ergebe. Auch habe der sogen. moderne Staat die Raubzüge der Banken auf Grund und Boden geduldet. Da sei es kein Wunder, daß die Bauern ein Ventil für den starken Druck suchten, der auf ihnen lastete. (Sehr wahr! bei den Nationalsozialisten.) Die schleswig⸗holsteinischen Bauern, die be⸗ sonders unter der Not litten, hätten zunächst ganz friedlich Demonstrationen veranstaltet. Sie hätten auch eine Abordnung nach Berlin geschickt, die aber vom Landwirtschaftsminister Steiger mit faulen Versprechungen im Vorzimmer abgefertigt worden sei. (Hört, hört! bei den Nationalsozialisten.) Darauf hätten die Bauern in Schleswig⸗Holstein, die „lieber tot als Sklav'“ seien, den passiven Widerstand organisiert. Denn wenn man schleswig⸗holsteinische Bauern mit dem Knüppel ins Kreuz schlage, würden sie nicht gefügig, sondern halsstarrig. Das habe auch Herr Severing nicht erkannt, als er glaubte, stärkeren Polizei⸗ schutz nach Schleswig senden zu müssen. (Sehr wahr! bei den Nationalsozialisten.) Claus Heim sei kein Nationalsozialist, aber es sei eine Schmach, daß dieser Mann, der den Widerstand der Bauern organisierte, heute noch im Zuchthaus von Celle Tüten kleben müsse. Denn Claus Heim stamme aus einer 600 Jahre alten Bauernfamilie, die Deichgrafen und Ratsmänner für Schleswig gestellt habe. Wenn auch die Nationalsozialisten glaubten, daß der von Claus Heim gewählte Wega falsch gewesen sei, so stehe doch fest, daß Claus Heim mit den Bombenattentaten nur das schlafende Berlin aufmerksam machen wollte. Die Attentate seien alle so angelegt gewesen, daß kein Menschenleben in Gefahr geraten konnte. (Zurufe links: „Das war Zufall!“ — Lärm bei den Nationalsozialisten.) Dieser Zuruf ist eine nieder⸗ trächtige Unterstellung. Der Redner meint, daß, als die Winzer einmal ein Finanzamt stürmten, auf Zentrumsantrag sofort Mittel für die Winzer bereitgestellt wurden. Die schleswigschen Bauern hätte man im Stich gelassen. Er verlangt, daß die Bombenwerfer, denen Ueberzeugungstäterschaft zugesprochen würde, sofort befreit werden. (Beifall bei den Nationalsozialisten.) Die Taten Claus Heims und seiner Genossen seien Teilausschnitte aus dem gegenwärtigen Kampf von Männern gegen das System, der sich überall in Deutschland zeige. Deshalb forderten die Nationalsozialisten nicht nur die Freilassung Claus Heims, sondern auch seiner Mitkämpfer Winschließlich Herbert Volks. (Sehr wahr! bei den Nationalsozialisten.) Die Befreinng dieser Bauern solle zugleich Fanal sein für den langsamen Wiederauf⸗ stieg der deutschen Bauern. (Beifall bei den Nationalsozialisten.)
Abg. Gehrmann (Soz.) widerspricht, während die Natio⸗ dalsozialisten den Sitzungssaal verlassen, der Meinung, als ob Claus Heim lediglich die wirtschaftliche Not der Bauern mit seinen Taten demonstrieren wollte. Claus Heim habe vielmehr aus politischer Ueberspanntheit gehandelt. Aber selbst wenn man die landwirtschaftliche Not als Motiv annehmen wollte, müßte man doch fragen: Was würde aus Deutschland, wenn die sechs Mil⸗ lionen Erwerbslosen gleichfalls mit Bombenattentaten und ähn⸗ lichen Mitteln der Gewalt ihre Not demonstrieren würden. (Sehr wahr! links.) Dann würde zunächst die nationalsozialistische Partei im Nu weggefegt sein. Wenn man von Idealmotiven spreche, so sei auch feitzustellen, daß Herbert Volk sich seinen Idea⸗ lismus mit 800 A im Monat von Claus Heim habe bezahlen lassen. Bei der zweiten Bombenlegergesellschaft Dr. Hellmann und Genossen könne schon gar nicht von wirtschaftlicher Not als Motiv gesprochen werden, sondern es lägen lediglich politische Motive vor. Der Redner erklärt, daß es nur einem Zufall zu verdanken sei, wenn hei den Bombenanschlägen nicht Menschen⸗ leben gefährdet wurbhen, und schildert auch den bei den Atten⸗ taten entstandenen Sachschaden, der allein beim Regierungs⸗ gebäude in Lüneburg etwa 30 000 ℳ betrage. Er meint, wenn die Kommunisten diesem Antrag für Claus Heim zustimmten, würden sie die armen Menschen verraten, die, von den Kommu⸗ nisten verführt, jetzt wegen Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz in den Zuchthäusern säßen. (Sehr wahr! bei den Sozialdemo⸗ kraten. — Rufe bei den Kommunisten: Ihr wollt sie ja nicht amnestieren!)
Abg. Korff (Komm.) erinnert an die Initiative der Kom⸗ munisten in der Sache Claus Heims, die schon im vorigen Land⸗ tag in einem Antrag der Kommunisten auf Freilassung Claus Heims zum Ausdruck gekommen sei. Damals sei dieser Antrag vom S worden. Möge es den Rechtsparteien um die Person Claus Heims und der anderen gehen; den Kommu⸗ nisten gehe es bei ihrer Stimmabgabe für die Befreiung Claus Heims und seiner Mitkämpfer um den grundsätzlichen Kampf der revolutionären Bauern gegen die Großagrarier und den Kapi⸗ talismus. (Sehr wahr! bei den Kommunisten.) Die von Claus Heim gewählten Kampfmittel fänden Verständnis, nicht aber die Bejahung der Kommunisten hinsichtlich ihrer Zweck⸗ mäßigkeit. Der Redner propagiert die Kampfgemeinschaft von Bauern und Arbeitern gegen Faschismus und Kapitalismus. (Beifall bei den Kommunisten.)
Damit ist die Aussprache beendet. Die Abstimmung wird zurückgestellt.
Es folgt die Beratung eines kommunistischen Antrages auf Beseitigun des Abtreibungs⸗Para⸗ graphen und Amnestie aller auf Grund der §§ 218 und 219 verurteilten Personen. — Der Rechtsausschuß schlägt die Ab⸗ lehnung dieses Antrages vor.
Abg. Frau Franz⸗Breslau (Komm.) tritt für die Annahme des Antrages ein. Sie weist darauf hin, daß durchschnittlich eine Million Frauen heute pro Fahr in Deutschland Abtreibungen be⸗ gingen und schildert die gesund heitlichen Gefahren, die gerade die ärmeren proletarischen Frauen treffen müßten, wenn ihnen die Möglichkeit verweigert werde, offen ärztlichen Rat in Anspruch zu nehmen. Die Nationalsozialisten hätten kein Verständnis für diese Not des Proletariats. Für Hitler und seine Partei sei die Frau nur “ Deshalb lehnten die National⸗ sozialisten auch die Amnestie der Frauen ab. (Hört, hört! bei den Kommunisten.) Das Zentrum schätze die Frauen besonders ge⸗ ring, denn es habe sich oft mit der Frage beschäftigt, ob die Frauen überhaupt eine Seele haben, d. h. ob sie Menschen seien.
as Zentrum, die Nazis und die anderen kapitalistischen Ver⸗ treter seien gegen Befreiung und Gleichberechtigung der Frau und gegen Aufhebung des Abtreibungsparagraphen, weil für den kapitalistischen imperialistischen Krieg v gebraucht werde. (Sehr wahr! bei den Kommunisten.) sie Sozialdemo⸗ kraten, die jetzt gegen den Abtreibungsparagraphen stimmten, hätten früher, als mit ihrer Hilfe dieser Gesetzesteil wirklich hätte beseitigt werden können, eine entgegengesetzte Haltung ein⸗ genommen. Solange man durch Notverordnungen der Mutter die Möglichkeit nehme, ihr Kind zu ernähren, werde man Ab⸗ treibungen nicht verhindern können. (Sehr wahr! bei den Kom⸗ munisten.) Die Rednerin schließt mit einer Schilderung der Fürsorge für Mutter und Kind in der Sowjetunion.
Abg. Berta Kröger⸗Wilhelmsburg (Soz.) erklärt, daß die S. P. D. getreu ihrer grundsätzlichen Auffassung für die Beseiti⸗ gung des Abtreibungsparagraphen immer wieder stimmen wür⸗ den, wie sich die Sozialdemokraten auch immer für die Begnadi⸗ gung von abtreibenden Frauen eingesetzt hätten, solange der § 218. noch bestehe. Die Rednerin bekämpft das Kurpfuschertum und fügt hinzu: Wenn die Reichsregierung von Papen erklärt habe,
se wolle jetzt Schluß machen mit dem Wohlfahrtsstaat, dann ürften die Rechtsparteien verlangen, daß die Arbeiter⸗ gezwungen sein sollten, Kinder in die Welt zu setzen, für ie nicht gesorgt werden könne unter dem kapitalistischen System. Die Arbeiterfrauen müßten aber auch vor den Kurpfuschern ge⸗ schützt werden; deshalb seien die Sozialdemokraten nur für Strei⸗ chung der ersten drei Absätze des § 218 (Beifall bei den Sozial⸗ demokraten.) „Hierauf wird ein Zentrumsantrag auf Ueberprüsung e1g Gebührenordnungen in den Hauptausschuß ver⸗ wiesen.
Dann erfolgen die Abstimmungen. Der Antrag auf Freilassung von Claus Heim wird mit großer Mehrheit an⸗ genommen.
Der kommunistische Antrag gegen den § 218 wird ab⸗ gelehnt.
Es folgen die Abstimmungen über den Amnestie⸗ gesetzentwurf. Vizepräsident Wittmaack ruft zu⸗ nächst die Aenderungsanträge zu der vom Ausschuß be⸗ schlossenen Fassung der Amnestievorlage auf. Angenommen werden dabei die wesentlichsten Teile eines sozialdemokrati⸗ schen Aenderungsantrages, der der Ausschußfassung der Am⸗ nestievorlage eine wesentlich kürzere Fassung geben will. Dieser Aenderungsantrag will ausdrücklich die Ausschuß⸗ fassung des GE“ ersetzen. Für den § 1 des sozialdemokratischen Aenderungsantrags stimmen die Kom⸗ munisten, Sozialdemokraten, Zentrum und Staatsparteiler. Dieser § 1 2 daß Straferlaß gewährt werde den Per⸗ sonen, die gü-.e. ihrer eigenen oder ihrer Angehörigen wirt⸗ schaftlichen Notlage, besonders auch infolge Arbeitslosigkeit, straffällig geworden seien, falls sie bei Begehun der Tat nicht oder nicht erheblich vorbestraft waren und falls die Tat oder die Art ihrer Ausführung nicht von besonderer Roheit, Gewinnsucht, oder Niedrigkeit der Gesinnung zeuge.
Vizepräsident Wittmaack erklärt, nachdem er die Annahme dieses Paragraphen festgestellt hat, daß hierdurch sämtliche Aus⸗ schlußbeschlüsse über den Amnestieantrag der nationalsozialisti⸗ schen Fraktion einschließlich der Aenderungsanträge erledigt seien und daß jetzt für die Amnestie nur noch der in wesentlichen ersten Teile angenommene sozialdemokratische Aende⸗ rungsantrag zur Abstimmung stehe. § 2 dieses sozialdemokrati⸗ schen Aenderungsantrages, wonach Straferlaß gewährt werden soll den Personen, die zur Verteidiung der Republik Straftaten begangen haben, wird abgelehnt, weil für ihn sich nur Sozial⸗ demokraten, Zentrum und Staatsparteiler, nicht aber auch die Kommunisten, erheben. Dagegen wird § 3, wonach das Gesetz mit dem Tage der Verkündung in Kraft treten soll, angenommen mit der gleichen Mehrheit, die dem § 1 zustimmte.
Vizepräsident Wittmaack ruft dann die in der zweiten Lesung so gestaltete Amnestievorlage zur dritten Beratung auf, in der mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen eine weitere Debatte die soeben erfolgten Beschlüsse der 2. Lesung bestätigt werden. Der so zustandegekommene Amnestieantrag wird in der Schlußabstimmung, nachdem auch Einleitung und Ueberschrift genehmigt sind, mit den Stimmen der Kom⸗ munisten, Sozialdemokraten, Staatsparteiler und des Zen⸗ trums endgültig angenommen.
Als Vizepräsident Wittmaack nunmehr den nächsten Gegenstand der Tagesordnung aufruft, nämlich die Aussprache über die zur neuen preußischen Notverordnung vorgelegten An⸗ träge, entsteht bei den Fraktioner eine aufgeregte Auseinander⸗ setzung. Die Geschäftsordnungs⸗Sachverständigen der Fraktionen treffen sich im Sitzungssaal miteinander und setzen sich auch mit dem Präsidenten in Verbindung. Vizepräsident Wittmaack teilt mit, er sei ersucht worden, nochmals zu dem Tagesordnungs⸗ punkt zurückzukehren, der die Amnestie betreffe, sei aber dazu nach der Geschäftsordnung keine Möglichkeit. Dennoch wolle er aus Gründen der Opportunität eine Geschäftsordnungdebatte über die bei den Abstimmungen entstandenen Mißverständnisse zulassen.
In dieser Geschäftsordnungsdebatte erklären die Abgg, Borck (D. Nat.) und Dr. Freisler (Nat.⸗Soz.), es müsse bei den Abstimmungen über die Amnestie ein wesentliches Mißver⸗ ständnis bestanden haben. Die Mehrheit des Hauses sei der Mei⸗ nung gewesen, daß nach Abstimmung über den sozialdemokratischen Aenderungsentwurf die Beschlüsse bes Rechtsausschusses zur Ab⸗ “ gestellt werden müßten, die ja die eigentliche politische Amnestie enthielten.
Vizepräsident Wittmaack erklärt, der vom Landtag mit Mehrheit angenommene sozialdemokratische Aenderungs⸗Antrag be⸗ sage in der gleichfalls mit angenommenen Einleitung ausdrücklich, aß der Amnestie⸗Entwurf des Rechtsausschusses die in dem Aenderungsantrag vorgeschriebene und von einer Mehrheit nun auch angenommene Fassung erhalten solle. Damit seien eben die Beschlüsse des Rechtsausschusses erledigt. Es sei nicht seine Schuld, wenn die Mehrheit des Hauses das nicht beachtet habe.
Abg. Obuch (Konim.) meint, der Präsident habe sich nicht an die vorgelegte Abstimmungsordnung gehalten.
Vizepräsident Wittmaack weist auch dies mit der Be⸗ merkung zurück, daß diese Abstimmungsordnung erledigt war nach Annahme des sozialdemokratischen Aenderungsantrages.
Abg. Leinert (Soz.) führt aus, daß der Antrag seiner Fraktion, der nun angenommen sei, ausdrücklich die Beseitigung des vom Rechtsausschuß vorgelegten Entwurfs bezwecke. Wenn die Rechtsparteien und die Kommunisten diese Beseitigung nicht wollten, hätten sie bereits zur zweiten Lesung zu dem sozialdemo⸗ kratischen Aenderungsantrag die Einfügung der, Ausschußbe⸗ schlüsse beantragen müssen. Das sei aber nicht geschehen.
Abg. Kube (Nat.⸗Soz.): Die Sozialdemokratie will den Kampf, sie soll ihn haben. Wir beantragen nunmehr die Unter⸗ brechung der Sitzung für eine halbe Stunde, damit die Fraktionen Gelegenheit zur Stellungnahme haben und der Aeltestenrat zur Besprechung der Angelegenheit zusammentreten kann.
Das Haus beschließt mit den Stimmen der National⸗ sozialisten und der Kommunisten eine halbstündige Vertagung.
Nach zweistündiger Unterbrechung eröffnet Präsident Kerrl die Sitzung wieder. Auf der Regierungsbank ist Finanzminister Klepper mit seinen Beamten erschienen.
Zur Geschäftsordnntg bringt Abg. Borck (D.⸗Nat.) als Urantrag seiner Fraktion den Gesetzentwurf über die 2 freiheit ein, wie ihn der Rechtsausschuß vorgelegt hatte, un legt dazu auch die Aenderungsanträge vor.
Abg. Dr. Freisler (Nat. Soz.) beantragt Wiederholung der Abstimmungen über die Amnestievorlage. Nach Meinung der Nationalsozialisten wolle die große Mehrheit des Landtags die poli⸗ tische Amnestie Die Abstimmung über den F Antrag, der nur eine Notamnestie enthalte, habe daher nicht dem Willen der Mehrheit des Hauses genügt. Abstimmungen müßten aber dem Willen der Mehrheit zum Ausdruck verhelfen. Von der Mehrheit, die das Notamnestiegesetz angenommen habe, seien zwei Parteien, nämlich Zentrum und Kommunisten, der Meinung gewesen, daß nun noch eine Abstimmung über die politische Am⸗ nestie erfolgen müsse. Allein die Sozialdemokraten stützten sich auf Fih eermedemage Shitfinzasteiten. die nicht dem Sinn der Geschäftsordnun entsprächen. Die Sozialdemokraten, das wüsse man vor der Oeffentlichkeit feststellen, wollten nur die 40 000 Opfer, die durch die Woche länger sitzen lassen.
orlage befreit werden sollten, noch eine