Reichs⸗ und Staatsanzeiger Nr. 290 vom 10. Dezember 1932.
und Heiterkeit.) Was unsere Wirtschaft braucht, ist in erster Linie eine Steigerung ihrer Absatzmöglichkeiten. Das kann man nicht erreichen, wenn man gleichzeitg die Ein⸗ fuhren drosselt. Die Sozialdemokratie stellt dem Papen⸗Plan einen konstruktiven Plan für Arbeitsbeschaffung gegenüber. Statt Unternehmergeschenke wollen wir planmäßige Arbeitsbeschaffung durch die öffentliche Hand. Wir wollen nicht Zerstörung, sondern Stärkung der Massenkaufkraft. Mit dem Lohnabbau muß end⸗ ültig Schluß gemacht werden. Wir verlangen die Bereit⸗ stellung von einer Milliarde Reichsmark aus Anleihemitteln für Arbeitsbeschaffung, notfalls durch eine Zwangsanleihe. Die Steuergutscheine sollen dabei nur zur Zwischenfinanzierung ver⸗ wendet werden. Voraussetzung des Gelingens ist eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit. Das Eadziel muß ein völliger Umbau der kapitalistischen Wirtschaft sein. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Abg. Rädel (Komm.) spricht seine Verwunderung darüber aus, daß der Vorredner den Mut aufgebracht habe, die Haltung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes im Berliner Verkehrsstreik zu rechtfertigen. Der „Vorwärts“ habe der Regie⸗ rung das Material geliefert, um den Streik als Hochverrat zu erklären. Die Sozialdemokraten hätten den Polizeipräsidenten scharf gemacht, energischer gegen die Streikenden vorzugehen und
ie Verhaftung der Streikleitung vorzunehmen. Mit der Not⸗ verordnung, fährt der Redner fort, wollte die Regierung zweifel⸗ los die gesamte Sozialversicherung außer Kraft setzen. Wenn die Notverordnung nicht in diesem beabsichtigten Umfange durch⸗ geführt worden ist, so war es die erhobene Faust der Arbeiterschaft, die die Regierung daran hinderte. Die Aufhebung der Notverord nung fordern, ohne alle Forderungen der Arbeiterschaft durchzu⸗ etzen, heißt, auf den Boden jenes Scheinmanövers treten, auf dem ich gegenwärtig die Regierung Schleicher befindet. Die Notver⸗ ordnung vom 14. Juni war nicht der Beginn der sozialreaktionären Politik. Ihr Beginn fällt in die Zeit, als die Sozialdemokraten noch eine entscheidende Rolle durch Tolerierung des Kabinetts Brüning spielten. Die Sozialdemokratie ist hundertprozentig ver antwortlich am Elend des deutschen Volkes. (Beifall bei den Kom⸗ munisten.)
Abg. Tremmel (Zentr.) führt aus: Die deutsche Arbeiterschaf macht sich sehr viel Gedanken darüber, wie es möglich ist, daß die Parteien, die sich Arbeiterpartei nennen, auf der Rechten und auf der Linken, im Reichstag über 400 Stimmen verfügen und es doch in dieser Zeit der Arbeiterschaft am allerschlechtesten geht. Diese Arbeitervertreter haben nicht den Mut, praktische Arbeit im Parla⸗ ment zu leisten. (Der Redner wird dauernd durch Zwischenrufe der Kommunisten unterbrochen.) Die Arbeiterschaft versteht es nicht, daß man mit der Kürzung der hohen Gehälter und Pensionen nicht ebenso scharf vorgegangen ist wie mit der veen.; der Renten. Mit der Einführung der Steuergutscheine ist die Regie⸗ rung Papen von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die Lohnkürzungen haben das Gegenteil von dem erreicht, was beab⸗ sichtigt war. Ankurbelung der Wirtschaft ist nur möglich durch Hebung der Kaufkraft. Falsch war vor allem die Bestimmung über die gefährdeten Betriebe. Der gelernte Arbeiter steht sich heute schlechter als vor fünfzig Jahren.
Die Eingriffe in bestehende Rechte haben die deutsche Arbeiter⸗ schaft außerordentlich beunruhigt. Es war ein Rechtsbruch schlimmster Art, wenn die Arbeitnehmer sich nicht einmal wehren durften gegen die Bevorzugung ihres Vertragspartners. Ein großer Unterschied besteht zwischen den Notverordnungen Brünings ind Papens. Brüning hat alles versucht, die sozialen Ein richtungen zu erhalten, Papen hat sie zu 90 vH beseitigt. Brüning hat die notwendigen Opfer gerecht verteilt, während Papen die breiten Volksschichten ungeheuer belastete und anderen etwas gab. Eine Papen⸗ und Schleicher⸗Regierung wäre nicht möglich gewesen, wenn die sogenannten Arbeiterparteien sich ihrer Verantwortung bewußt gewesen wären. Die Arbeiterschaft will nicht das Gnadenbrot haben, sondern sie will für ihre Opfer, die sie zu den Sozialversicherungen leistet, Rechte haben. Die christ⸗ lichen Gewerkschaften haben immer ihren Mann gestanden. Es könnten Zeiten kommen, wo man sie wieder ruft. Die sozialen Ungerechtigkeiten müssen beseitigt werden, wenn es noch Recht und Gerechtigkeit geben soll. Die Besserung muß das Volk noch vor den Feiertagen wahrnehmen. Dann kann die Regierung jederzeit den Kopf in den Schoß der Bürger legen.
Abg. Bausch (Christl. Soz.) erklärt: Der Volksdienst hat ver⸗ sucht, das Gute auch in den Maßnahmen der Regierung Papen zu finden. Von Tag zu Tag mehrten sich jedoch die staats politischen und wirtschaftlichen Irrkümer dieser Regierung. Der größte Irrtum war, zu glauben, man könne die Privatwirtschaft beleben bei gleichzeitiger Kürzung der Löhne. Man hatte ver⸗ gessen, daß die Wirtschaft nicht nur aus Unternehmern, sondern auch aus Arbeitern besteht, ohne deren Konsumkraft die Wirt⸗ schaft nicht leben kann. Die Einstellung der Regierung Papen gegen die Gewerkschaften ließ jede Erkenntnis von der gewaltigen Bedeutung der Gewerkschaften vermissen. Wir stimmen den An⸗ trägen auf Aufhebung der sozialpolitischen Bestimmungen der Notverordnungen vom 4. und 5. September zu, zumal deren Rechtsgültigkeit nicht nabestritten ist. Wir begrüßen es, daß die Regierung Schleicher erwägt, die 700 Millionen anderweitig für Arbeitsbeschaffung zu verwenden. Gegen die geplante Finan⸗ zierung sogenannter zusätzlicher Arbeit haben wir aber große Be⸗ denken. Wir schlagen dagegen vor: Dem Gebäudebesitz wird durch “ Verordnung das Recht eingeräumt, die Kosten für Reparaturen, Instandsetzungen von Wohnungen und Umbauten ganz oder zu 90 vH auf die Hauszinssteuer anzurechnen. Die Rech⸗ nungen sind durch Steuergutscheine einzulösen. Unter Um⸗ ständen muß der Betrag von 700 Millionen überschritten werden. Dadurch können viele tausend Arbeiter noch vor Weihnachten ein⸗ gestellt werden, Handel und Gewerbe werden dadurch sofort belebt.
Abg. Dr. Hugo (D. Vp.) erklärt, die Verantwortung, heute in das Notverordnungsgewebe einzugreifen, sei zweifellos groß. Auch wir haben den Wunsch, manche Korrekturen vorzunehmen, wir lehnen es aber ab im Bausch und Bogen etwas zu vernichten, was zur Zeit als Arbeitsgrundlage der deutschen Wirtschaft dient. Auch für die Aufhebung der sozialpolitischen Vollmachten der Reichsregierung ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Im übrigen sind diese Vollmachten durchaus geeignet, Milderungen zu schaffen und Härten zu beseitigen. Die Sozialdemokraten wollen sämtliche Rentenleistungen wieder auf den Stand vor dem 14. Juni erhöhen. Die vorgeschlagene Finanzierung ist aber äußerst fragwürdig. Staatsmonopole bringen einmal nicht die erbofften größeren Beträge, sie sind außerdem eine neue erheb⸗ liche Erschwerung unserer ganzen Volkswirtschaft. Die Haupt⸗ frage mus sein, welche Leistungen gesichert werden können, und nicht, welche versprochen werden können. Dle sozialdemokratischen Arber Eschaffungsvorschläge zeigen den großen Gegensatz in den Auffassungen über die Lösung dieses Problems. In einer Zeit der Fapitalnot ist die Festlegung großer Kapitalsummen in zenzelisierten öffentlichen Aufträgen nicht möglich. Dieses Kapital würde in Investierungen ruhen und keine Rente tragen. Mit einer Milliarde könnte man für einen beschränkten Zeitraum günstigstenfalls ein paar hunderttausend Menschen beschäftigen. Das Enscheidende ist aber, daß nachher die gleiche Arbeitslosig⸗ leit sofort wiederkehren würde. Was die Sozialdemokratie aus⸗ “ will ist die Leistung des Unternehmers. Der
niernehmer, der allein Arbeit schaffen kann, ist nicht ein Aus⸗ beuter, sondern ein Wohltäter. Niemand wird ernsthaft glauben, daß durch eine Prämienanleihe eine Milliarde für öffentliche Arbeitsbeschaffung aufgebracht werden kann. Man sagt, der Papen⸗Plan habe versagt und verweist dabei auf die Stener⸗ gutscheine. Die Stenergutscheine sind doch letzten Endes eine vorausgenommene Steuersenkung, die angesichts der großen Be⸗ lastung berechtigt ist. Schon eine achtprozentige Belebung der
Wirtschaft würde den Ausfall für die Steuerkasse wieder wett⸗ machen. Das Wichtigste ist aber das pfychologische Moment, der Glaube daran, daß der Unternehmer überhaupt wieder eine Initiative ergreifen kann. Ansatze zur Belebung zeigen sich überall, namentlich an der Ruhr. Es ist von entscheidender Be⸗ deutung, daß diese Ansätze nicht plötzlich wieder vernichtet werden. Voraussetzung für den Wiederaufstieg ist vor allem, daß in der Politik Ruhe eintritt. Reichstag und Regierung müssen dafür sorgen, daß das deutsche Volk in eine Periode ruhiger Arbeit geführt wird.
Abg. Dr. Schmidt⸗Eichwalde (D. Nat.): Wenn ich in der Sozialdebatte nochmals das Wort ergreife, so ist der äußere Anlaß hierzu die Behauptung des sozialdemokratischen Abgeordneten Reißner, die Deutschnationalen hätten die Regierung Papen be⸗ dingungslos unterstützt. Diese Behauptung ist eine jener Un⸗ wahrheiten, mit denen man draußen im Lande die gegen die Deutschnationalen erhobenen falschen Vorwürfe zu stützen versucht. Tatsache ist, daß gerade der deutschnationale Führer Hugenberg gegen die Juni⸗Notverordnung der Regierung von Papen wegen ihrer Renten⸗ und ö Einspruch erhoben hat. Tatsache ist weiterhin, daß diesem Einspruch die Verbesserungen durch die Notwverordnung zur Ergänzung von sozialen Leistungen vom 19. Oktober zu danken waren. Tatsache ist endlich ebenso, daß wir Deutschnationalen sofort gegen die Lohn⸗ und Gehalts⸗ kürzungsbestimmungen der Verordnung vom 5. September auf das entschiedenste protestiert haben. Noch eine weitere Frage sei hier besonders hervorgehoben: Wenn man beabsichtigt, für etwa 700 Millionen Mark Steuergutscheine eine andere Verwendungs⸗ möglichkeit zu finden, so sind wir bereit, solche Gedanken zu er⸗ örtern. Fordern müssen wir dann aber, daß die Hauszinssteuer in die Erstattung durch Steuergutscheine einbezogen wird, damit der Hausbesitz in die Lage versetzt wird, die auch im Inter⸗ esse der Mieter dringend notwendigen Reparaturen ausführen zu können. Hierdurch würde auch Arbeit in großem Umfang für das Handwerk und das Kleingewerbe geschaffen. Hiermit wäre dann ein entschiedener Schritt nach vorwärts getan. Ich muß weiterhin hervorheben, daß die Deutschnationalen zu der Sozial⸗ debatte drei Anträge eingebracht haben, einen Antrag, der mit den Lohn⸗ und Gehaltskürzungsbestimmungen der September⸗ Verordnung aufräumt, einen weiteren Antrag, der die sozialen Ungerechtigkeiten der zahlreichen Notverordnungen, und zwar nicht nur der Juni⸗Notverordnung, sondern vor allem auch der Notverordnungen Brünings ausräumen will, und endlich einen Antrag, der fordert, daß auch den Kleinrentnern nunmehr Recht und Gerechtigkeit widerföhrt, Bemerken möchte ich noch, daß die erwähnten siebenhundert Millionen noch keine greifbaren Mittel des Reiches sind, sondern es sind diskontierte Steuersenkungen.
Abg. Schuhmann⸗Berlin (Nat. Soz.) erklärt, die Sozialdemo⸗ kraten hätten keinen Grund, die Nationalsozialisten wegen ihrer Haltung beim Berliner Verkehrsstreik anzugreifen. Dank der Politik der sozialdemokratischen Dixektoren, die hunderttansende an Gehältern bezogen, habe die BVG. eine Schuldenlast von 700 Millionen. Heute gebe es dort noch Pensionen von 81 000 RM. Bei dem Streik habe es sich um eine wirtschaftlich berechtigte Aktion gehandelt. (Die Nationalsozialisten rufen den Sozial⸗ demokraten erregt „Streikbrecher“ zu. Da die Unruhe zunimmt, ersucht Vizepräsident Esser, die Plätze einzunehmen.) Der Redner erklärt weiter, daß die Kommunisten die Arbeiter im Stich ge⸗ lassen hätten. Wäre der Streik weiter durchgehalten worden, dann hätte die BVG. nachgeben müssen. Die NSDAP. werde immer dem Arbeiter in seinem Kampf beistehen. Die Arbeiter⸗ schaft werde allerdings erst zu ihrem Recht kommen, wenn wir politisch geordnete Zustände hätten und Adolf Hitler regiere. (Beifall rechts.)
Damit schließt die Aussprache. Die erste Lesung des vom Zentrum beantragten Initiativgesetzes, durch das der zweite Teil „Sozialpolitische Maßnahmen“ der Notverordnung vom 4. September aufgehoben wird, ist damit erledigt.
Vor der Abstimmung erklärt Abg. Steihoff (D. Nat.): Wir werden einzelnen Teilen der Anträge zustimmen, in denen wir im Sinne der Vorstellungen Dr. Hugenbergs beim damaligen Reichskanzler v. Papen Sicherung einer vernünftigen und aus⸗ reichenden Winterhilfe sowie Beseitigung und Ausgleich sozialer Härten sehen. Wir werden andere Teile ablehnen, durch die im Falle der Annahme der deutschen Wirtschaft und ihrer Aufgabe, Arbeit zu schaffen, schwerer Schaden zugefügt werden würde. Bei den gesamten übrigen Anträgen werden wir uns der Stimme enthalten und dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir bei⸗ Lebensfragen der Nation gegen eine solche Art überstürzter und unzulänglicher, nur auf sozialpolitische Gesten eingestellter An⸗ tragsfabrikation Protest echeben wie sie hier von der schwarz⸗ braun⸗roten Koalition (Lachen bei der Mehrheit) zurx Rettung des unfruchtbaren Parlamentarismus unternommen wird.
Das Initiativgesetz des Zentrums wird dann auch in zweiter und dritter Lesung ohne weitere Aussprache an⸗ genommen, und zwar gegen die Stimmen der Deutsch⸗ nationalen und der Deutschen Volkspartei, obwohl Abg. Torgeler (Komm.) gegen diese Art der Abstimmung protestiert und erklärt, vorher hätte über die Anträge entschieden werden müssen, die nicht nur einen Teil, sondern die ganze Ver⸗ ordnung vom 4. September aufheben wollen.
Unter großer Unruhe der Linken beantragt nunmehr Abg. Dr. Frick (Nat. Soz.), alle übrigen Anträge, und zwar sowohl die auf Aufhebung von Notverordnungen und Teilen davon wie auch die Winterhilfsanträge der verschiedenen Parteien, dem Ausschuß zu überweisen, da diese Anträge sich gegenseitig überschnitten und durcheinander gingen.
Abg. Löbe (Soz.) erklärt, der Reichstag sei mit der Abstim⸗ mung über das Initiativgesetz des Zentrums von seiner bis⸗ herigen Praxis abgewichen, wonach Anträge auf Aufhebung einer ganzen Verordnung als die weitergehenden zuerst zur Ab⸗ stimmung gebracht würden. Er schlägt vor, nunmehr zuerst über die Anträge zu den Notverordnungen und dann über die Winter⸗ hilfsanträge abzustimmen.
Vizepräsident Esser: Wenn wir das durchführen wollen, müssen wir die Sitzung auf eine halbe Stunde vertagen. Ich habe vorhin mit den einzelnen Parteiführern gesprochen, und sie waren mit meinem Modus einverstanden. (Aha! bei den Natio⸗ nalsozialisten.) Ich bitte nun, es dabei zu belassen.
Abg. Torgler (Komm.): Mit uns hat niemand vorher ge⸗ sprochen. (Hört, hört! links.) Wir protestieren gegen diese Abstimmung, bei der erst über einen Teil, und dann erst über die ganze Notverordnung entschieden wird. Gegen ein ähn⸗ liches Verhalten der Sozialdemokraten gegenüber den Notver⸗ ordnungen Brünings haben die Nationalsozialisten seinerzeit getobt. (Stürmische Schlußrufe bei den Nationalsozialisten, in denen die weiteren Worte des Redners untergehen.)
Abg. Aufhäuser (Soz.): Mit uns ist auch kein Abkommen dahin getroffen worden, daß die grundsätzliche Abstimmung über die Notverordnung unter den Tisch fallen soll. (Rufe bei den Kommunisten: Der Präsident hat die Unwahrheit gesagt, er ist ein Lügner! — Sie werden jedoch von den Nationalsozialisten überschrien.)
Abg. Dr. Frick (Nat. Soz.) wiederholt seinen Antrag, alle noch vorliegenden Anträge dem Ausschuß zu überweisen, und zwar in einer Abstimmung. (Widerspruch bei den Sozialdemo⸗ kraten und Kommunisten und Rufe: Namentlich!)
Vizepräsident Esser: Selbstverständlich kann das Haus die Ueberweisung auch in einer einzigen Abstimmung vornehmen (Große Unruhe links, Abg. Torgler Komm.] ruft: Sie können doch nicht machen, was Sie wollen!) Uebrigens müssen nach dem neuen 48 a unserer Geschäftsordnung alle Vorlagen, die
sinanzielle Wirkungen haben, zunächst dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Dazu gehort auch der sozialdemokratische Antrag wegen einer Winterhilfe. (Abg. Torgler [Komm.]: Das gilt auch für den eben angenommenen Zentrumsentwurf!) Der Präsident schlägt vor, den Antrag dem Haushalts⸗ und dem Sozialpolitischen Ausschuß zu überweisen.
Auf Verlangen der Sozialdemokraten und Kommunisten ist die Abstimmung über die Ausschußüberweisung des sozial⸗ demokratischen Antrages zur Winterhilfe namentlich. Sozial⸗ demokraten und Kommunisten lehnen die Ueberweisung ab, die Deutschnationalen enthalten sich der Stimme. Während der Abstimmung führt Abg. Dr. Frick (Nat. Soz.) ein Zwie⸗ gespräch mit dem Vizepräsidenten Esser; das veranlaßt die Kommunisten zu lauten Rufen: Schiebung!
Die Ausschußüberweisung wird mit 295 gegen 206 Stim⸗ men bei 48 Enthaltungen beschlossen.
Abg. Löbe (Soz.) weist darauf hin, daß somit die Winterhilfe nach der zweiten Lesung noch an den Haushaltsausschuß über⸗ wiesen worden sei und wirft die Frage auf, ob nun zu erwarten sei, daß diese Winterhilfe, die von allen Parteien gefordert werde vor Weihnachten in dritter Beratung vom Plenum auch wirklich noch erledigt wird.
Vizepräsident Esser erwidert, daß der sofortigen Aufnahme der Ausschutberatungen nichts im Wege stehe; über die Wieder⸗ einberufung des Plenums werde nachher entschieden. (Großer Lärm und Rufe links.)
Abg. Torgler (Komm.) fordert nunmehr sofortige Ent⸗ scheidung über die kommunistischen Winterhilfeanträge.
Abg. Leicht (Bayer. Vp.) hält es für nötig, daß 8 Feeche Ankräge auch gleichmäßig behandelt und infolgedessen auch diese Anträge dem Ausschuß überwiesen werden.
Abg. Torgler (Komm.): Wir beantragen auch hierüber namentliche Abstimmung, damit die Anträge auch wirklich gleich⸗ mäßig behandelt werden. (Heiterkeit.)
Abg. Dr. Frick (Nat. Soz.) empfiehlt, den nationalsozialisti⸗ schen Antrag über Winterhilfe sofort zu erledigen, da er nur eine Aufforderung an die Reichsregierung richte und keine bestimmten Geldforderungen enthalte.
Abg. Löbe (Soz.) hält dem den Text des zweiten Absatzes des nationalsozialistischen Antrags entgegen, wo es heißt, daß Bauern und gewerblicher Mittelstand Gegenstände des täglichen Bedarfs für die Erwerbslosen liefern sollen und der Gegenwert ihnen auf die Steuern angerechnet werden soll. Der Redner fragt, wie Bauern und Gewerbetreibende solche Gegenstände liefern sollen, wenn sie selbst feststellen, daß sie wegen ihrer finanziellen Not Steuern überhaupt nicht bezahlen können. Wenn je die Ausschuß⸗ bveratung eines Antrags nötig gewesen sei, dann sei es hier der Fall. 8
Unter großer Unruhe wird dann abgestimmt, und zwar wird gegen die Stimmen der Nationalsozialisten auch der nationalsozialistische Winterhilfeantrag an den Ausschuß verwiesen. Ueber die Ausschußüberweisung der kommunistischen Anträge muß namentlich abgestimmt werden.
Die Ueberweisung der kommunistischen Winterhilfe anträge an den Haushalt⸗ und den Sozialpolitischen Ausschuß wird mit 296 gegen die 206 Stimmen der Sozialdemokraten und Kommunisten bei 49 Stimmenthaltungen der Deutsch⸗ nationalen beschlossen.
Die sozialdemokratischen und kommunistischen Anträge auf Aufhebung der Notverordnungen vom 14. Juni, vom 4. und 5. September werden mit 296 gegen 203 Stimmen bei 49 Enthaltungen den Ausschüssen über⸗ wiesen.
Die übrigen Anträge werden in einfacher Abstimmung den zuständigen Ausschüssen überwiesen, darunter Anträge der Nationalsozialisten, der Sozialdemokraten und der Kom⸗ munisten über Erhöhung der Sozialrenten und Unterstützungen und auf Arbeitsbeschaffung und Anträge der Bayerischen Volkspartei über Insta nd⸗ setzung von Wohnungen, Reform des Steuergut⸗ scheinwesens usw.
Dann folgt die Beratung der sozialdemokratischen und kommunistischen Anträge wegen der
Explosionskatastrophe in Premnitz.
Abg. Herm⸗Brandenburg (Komm.) führt die Explosion auf die
„Antreiber⸗Methoden“ der J. G. Farben in Premnitz zurück. Die Nationalsozialisten hätten sich gestern schützend vor das Chemie⸗ kapital gestellt. (Großer Lärm bei den Nationalsozialisten; Präsi⸗ dent Göring ruft den Redner zur Ordnung und droht ihm für den Wiederholungsfall Wortentziehung an.) Der Redner fordert so⸗ fortige Schließung des Werkes, da versucht werde, die Sache zu vertuschen.
Abg. Ebert (Soz.) erklärt, mit Rationalisierung und ähnlichen Dingen habe der Unfall nichts zu tun, denn er sei nicht bei der chemischen Fabrikation, sondern bei einer Reparatur entstanden. (Zuruf: Unternehmerknecht! — Ein Kommunist erhält für diesen Zuruf einen Ordnungsruf.) Nach Meinung der Sachverständigen wäre eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht möglich gewesen, wenn nur eine Sauerstoffflasche daran schuld gewesen wäre; es müßten noch andere Ursachen dazukommen. Auf dem Gelände seien während des Krieges Sprengstoffe hergestellt worden, viel⸗ leicht seien Reste davon mitexplodiert. Deshalb fordert der Redner eine neue Untersuchung über die im Betrieb zurückgebliebenen Explosivstoffe, zugleich aber auch schleunige Regelung des Lehr⸗ lingswesens unter Einschaltung der Tarifparteien, denn vielleicht sei auch die Lehrlingszüchterei an dem Unfall mitschuldig. Die Antreiberei sei in Premnitz nicht größer als in anderen kapita⸗ listischen Betrieben. (Zuruf bei den Kommunisten: Wieviel Pro⸗ zente bekommen Sie? — Ordnungsruf.)
Abg. Wagner⸗Westfalen (Nat. Soz.) wendet sich gleichfalls da⸗ gegen, daß die Kommunisten das Sterben von 10 Soldaten der Arbeit in unerhörter Weise benutzten, um parteipolitische Geschäfte zu machen. (Unruhe bei den Kommunisten.) Die Art und Weise, wie die Kommunisten derartige Fragen beurteilen, sei dazu an⸗ getan, die wirkliche Untersuchung nicht zu einem positiven Ergebnis führen zu lassen. Der Antrag beweise die Notwendigkeit einer Revision des gesamten Sozialversicherungswesens in der Hinsicht, daß die Todesopfer, die als einzelne auf der Strecke blieben, von der Oeffentlichkeit genau so bewertet werden wie diejenigen, die das Unglück hätten, zu mehreren getötet zu werden. Die von den Kommunisten geforderte Schließung des Betriebes sei ein wirt⸗ schaftlicher Unsinn. Den übrigen Teilen des kommunistischen An⸗ trages könnten die Nationalsozialisten jedoch zustimmen, wenn in dem Antrag gesagt werde, wer zur Entschädigung der Opfer ver⸗ pflichtet werden solle. (Zuruf bei den Kommunisten: J. G. Farben!) Das müsse dann eindeutig zum Ausdruck gebracht werden.
Abg. Tremmel (Zentr.) fordert Ueberweisung der Anträge an den Sozialpolitischen Ausschuß. Man müsse zunächst das Ergebnis der im Gange befindlichen Untersuchung abwarten. Ferner könne man nicht von der J. G. Farben Zahlung verlangen, bevor ihre Schuld feststehe.
Damit schließt die Aussprache. Der sozialdemokratische Antrag wird dem Haushaltsausschuß überwiesen, weil er
inanzielle Auswirkungen hat; er verlangt nämlich die Bereit⸗ tellung von 25 000 NM für die Hinterbliebenen der Toten
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und die Familien der Verwundeten. Gegen Sozialdemokraten und Kommunisten abgelehnt wird der erste Teil des kommu⸗ nistischen Antrages, der die Schließung des Werkes Premnitz bis zum Abschluß der Untersuchung verlangte. Mit den Stimmen der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der
Nationalsozialisten wird jedoch der Rest des kommunistischen
Antrages angenommen; er verlangt strenge Untersuchung unter Mitwirkung der von der Belegschaft gewählten Ver⸗ trauensleute, Weiterzahlung des Lohnes und Gehalts an die Belegschaft mindestens bis zum Abschluß der Untersuchung, Zahlung einer lebenslänglichen Rente von monatlich 200 RM.
ür jede Witwe und jeden Dauerinvaliden und 50 RM für Unterhaltspflichtigen durch J. G. Farben, Uebernahme er Beerdigungs⸗ und Behandlungskosten für alle Opfer durch J. G. Farben und strengste Bestrafung aller Schuldigen, insbesondere der Direktoren und leitenden Angestellten.
Als letzter Gegenstand stehen dann die
Amnestieanträge
zur Beratung. Zu dem im Ausschuß zustande gekommenen Gesetzentwurf ist ein Zentrumsantrag eingegangen, der von der Amnestie außer den in dem Ausschußantrag genannten Delikten auch Hochverrat ausschließen will, wenn die Tat darauf gerichtet war, die Reichswehr oder die Polizei zur Er⸗ füllung ihrer Pflicht untauglich zu machen, das Deutsche Reich und seine Länder gegen Angriffe auf ihren äußeren oder inneren Bestand zu schützen, ferner Verbrechen des Meineids und alle Taten, die von Roheit, Niedrigkeit der Gesinnung oder von Gewinnsucht zeugen. Schließlich schlägt das Zentrum vor, Freiheitsstrafen von längerer Dauer nicht, wie im Ausschuß beschlossen, zunächst um 5 Jahre, sondern nur um 2 Jahre zu mindern und dann die Reststrafen auf die Hälfte herabzusetzen. Ebenso sollen anhängige Verfahren eingestellt werden, wenn keine schwerere Strafe als 2 Jahre (nach dem Ausschußbeschluß 5 Jahre) zu erwarten ist. In Konsequenz dieser Forderungen soll auch der allgemeine Straferlaß nur bei Strafen bis zu 2 Jahren eintreten, während der Ausschuß fünf Jahre beschlossen hat.
Ein Aenderungsantrag der Christlichsozialen will Hoch⸗ verrat und Landesverrat überhaupt von der Amnestie aus⸗ nehmen.
Vor Eintritt in die Beratung wird auf Antrag des Abg. Löbe (Soz.) mit Rücksicht auf die neuen Anträge beschlossen, die Beratungen für eine halbe Stunde auszusetzen, damit die Fraktionen zu diesen Anträgen Stellung nehmen können.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung erstattet Abg. Dr. Hoegner (Soz.) zunächst den Bericht über die Verhandlungen des Rechtsausschusses.
In der Aussprache erklärt Abg. Gok (D. Nat.), daß eine ge⸗ ordnete Rechtspflege, die Achtung vor dem Gesetz und die Sicher⸗ heit der Bevölkerung es verlangte, daß mit allgemeinen Amnestien nur vorgegangen werde, wenn ein ganz besonderer Anlaß vorltege. (Lärm und Rufe links: Kaisers Geburtstag.) Seine Partei sei nicht der Meinung, daß die gegenwärtigen Er⸗ eignisse als Anlässe gewertet werden könnten, die mit einer be⸗ sondesfn Feierlichkeit zu umgeben seien. (Rufe bei den National⸗ ozialisten: Hugenbergs Geburtstag! — Heiterkeit.) Die gegen⸗ wärtigen Bemühungen um die Galvanisierung des hoffnungslos toten Frosches Parlamentarismus, der abgeschlossene Kuhhandel über die Reichstagsvertagung, seien kein geeigneter Anlaß. Der Redner betont, man sei es dem Ansehen und der Berufsfreudig⸗ keit der deutschen Richter schuldig, daß ihre Urteile nicht durch wahllose Amnestien zur Bedeutungslosigkeit herabgewürdigt würden. Dagegen sei nicht zu verkennen, daß es Einzelfälle geben könne, in denen gewisse Härten vorliegen, weil vielleicht die Ge⸗ richte gezwungen seien, vielfach nach dem Buchstaben des Gesetzes zu urteilen. Dem könne man aber auf dem Wege der Einzelbegnadi⸗ gung gerecht werden und brauche keine Amnestie dazu. Aus all diesen Gründen lehne die deutschnationale Fraktion die Amnestie⸗ anträge ab. (Gelächter bei den Nationalsozialisten.)
Abg. Koska (Komm.): Dem Vorredner fehlt jeder Kontakt mit dem Volk, sonst würde er überall in der Bevölkerung das tärkste Mißtrauen gegen die Justiz feststellen können. Die Aus⸗ chußvorlage genügt uns keineswegs. Wir verlangen die Frei⸗ lassung aller Arbeiter, die wegen ihres Kampfes für ihre prole⸗ tarische Ueberzeugung oder wegen Taten aus wirtschaftlicher und sozialer Not die Gefängnisse und die Zuchthäuser bevölkern. Der Entwurf aber bringt nur eine Teilamnestie. Der Antifaschist Barthel, der in Chemnitz zum Tode verurteilt worden ist, soll z. B. nicht amnestiert werden. (Hört, hört! bei den Kommunisten.) Der neue Zentrumsantrag, der die sogenannten Zersetzungs⸗ versuche in Reichswehr und Polizei von der Amnestie ausnehmen will, würde das Gesetz so verschlechtern, daß wir es uns ernstlich überlegen müssen, ob wir dann der Vorlage überhaupt noch zu⸗ eee könnten. (Sehr wahr! bei den Kommunisten.) Die Volks⸗ timmung fordert: Schluß mit dieser Schandjustiz! (Beifall bei den Kommunisten.) Die jetzigen Sondergerichte hatten allerdings ihre Vorläufer; Noske und Ebert hatten schon einmal Stand⸗ gerichte eingesetzt, die Tausende von Arbeitern in die Zuchthäuser schickten. Hindenburg hat durch seine Notverordnungen zu den Blut⸗ und Schandurteilen beigetragen. (Ordnungsruf.) Allein im September haben sich fünf Arbeiter in deutschen Gefängnissen das Leben genommen. (Hört, hört! bei den Kommunisten.) Diese Amnestie genügt nicht, wir werden den Kampf foretsetzen. (Beifall bei den Kommunisten) .
Abg. Dr. Marum (Soz.): Wir gehen mit schwerem Unbe⸗ hagen an den Gedanken einer Amnestie heran. Durch häufige Amnestien schwindet bei den Tätern das Gefühl für die Unrecht⸗ mäßigkeit ihrer Tat. Ich habe auch schwerste Bedenken dagegen, daß die üble Nachrede und Verleumdung von Männern, die im öffentlichen Leben stehen, straffrei werden soll. Ferner wird durch eine Amnestie das Rechtsgefühl gefährdet. Aber eine Amnestie ist notwendig, denn leider sind die Gerichte in letzter Zeit dazu übergegangen, Blut⸗ und Schreckensurteile zu fällen; allerdings schützen sie den Staat durch solche harten Urteile eher, seitdem wir eine autoritäre Staatsführung haben; die Richter wittern offenbar Morgenluft! Die Gerichte messen mit zweierlei Maß. Im Falle des Boxheimer Dokuments hat der Oberreichsanwalt von vornherein den Verteidiger gespielt, indem er den Ange⸗ klagten nahelegte, wie sie den Kopf aus der Schlinge ziehen könnten. — (Präsident Göring: Ich bitte einen so schweren Vorwurf gegen einen hohen Beamten zu unterlassen!) Seit drei Jahren schon untersucht die Reichsanwaltschaft die Hochverrats⸗ anklage gegen Dr. Goebbels. Von dem Vorsitzenden des zweiten Strassenats des Reichsgerichts, Präsident Witt, bin ich über⸗ zeugt, daß er bewußt das Recht beugt. (Rufe rechts: Unerhört! — Präsident Göring erteilt dem Redner einen Ordnungsruf.) Er hat es 1922 abgelehnt, als Richter in den Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik einzutreten, weil er diese Republik nicht schützen wollte. (Bravo! rechts.) Wenn er diese Ueber⸗ zeugung hat, ist er auch nicht geeignet, Richter am Reichsgericht zu sein. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Er ist auch verantwortlich für das Urteil, das gegen Herrn v. Platen und die Herren von der „Schwarzen Fahne“ in Ostpreußen gefällt wurde. Von diesen sagte er, sie hätten sich in einem übergesetz⸗ lichen Notstand befunden. wenn sie geheime Verbindungen ge⸗ hildet und sich zusammengerottet hätten, um die Zwangsvoll⸗ treckung abzuwenden. Ich schäme mich, Jurist zu sein, wenn ich olche Urteile des Reichsgerichts lese. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten, Zuruf bei den Nationalsozialisten: Wandern
Sie doch aus!) Wir wären bereit gewesen, den Weg der Einzel⸗ begnadigung mitzumachen. Aber entscheiden sollen dann die Kom⸗ missariatsregierung von Preußen und die Landesregierungen von Thürin ven, Anhalt, Oldenburg usw. Wir haben nicht das ertrauen, daß bei diesen Regierungen gerecht und unparteiisch verfahren wird (Zuruf bei den National⸗ soziglisten: Das war ein Kompliment für diese Regierungen!) Freilich kann man sich eine Amnestie auch auf andere Weise ver⸗ schaffen. Die Herren Moder und Grezesch — ich weiß ni t, wie sich dieser deutsche Name ausspricht (Heiterkeit) — waren im vorigen Reichstag Mitglieder des Ueberwachungsausschusses und blieben deshalb nach der Auflösung immun. Herr Grezesch ist es jetzt wieder. (Abg. Moder [Nat. Soz.]: Ich auch! — Heiterkeit.) Ich bin überzeugt, das geschieht nur, damit im Falle einer Auf⸗ lösung ihre Immunität wieder weiterbesteht. (Unruhe bei den Nationalsozialisten.) Das is aber nicht die Aufgabe eines Aus⸗ schusses zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung und nützt nicht dem Ansehen der Volksvertretung. (Lebhafte IIaen. bei den Sozialdemokraten.) Es war von vornherein unsere Auf⸗ sessung. daß von einer Amnestie auch die Opfer der krise, die armen Teufel erfaßt werden müssen, die straffällig ge⸗ worden sind. Entscheidend sind die Ausnahmen der Amnestie. Wir können unter keinen Umständen einer Amnestierung des politischen Mordes und der Sprengstoffverbrecher zustimmen. Bombenatten tate und Mord sind keine politischen Kampfmittel. (Beifall bei den Sozialdemokraten. — Rufe rechts: Adler!) Zwischen Friedrich Adler und den Bombenattentätern besteht der eine Unterschied daß Adler für seine Tat eingestanden ist. (Erneuter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Es wäre wünschenswert, daß sich endlich in Deutschland eine Front der anständigen Menschen bilden ließe, um der Verwilderung des politischen Kampfes Einhalt zu tun. Die Penheaarsogialisten haben eingesehen, daß man sich mit den realen Tatsachen abfinden muß, wenn man eine Mehrheit braucht. Den Zentrumsantrag lehnen wir ab. Es ist gewiß die Pflicht des Parlaments, den Staat gegen Angriffe auf die Verfassung, gegen Hochverrat zu schützen, allerdings nicht nur gegen Hochverrat der Kommunisten. Es ist aber andererseits auch notwendig, die un⸗ erhörte Rechtsprechung des Reichsgerichts zu korrigieren. Die Amnestie wäre nicht notwendig gewesen, wenn es nicht Terror⸗ notverordnung und Sondergerichte gegeben hätte. Die Beseitigung dieser beiden Dinge muß ebenfalls erfolgen, um zu einer politischen Beruhigung zu kommen. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Abg Dr. Frank II (Nat. Soz.) knüpft an die vom Vorredner geforderte Front der anständigen Leute an und erklärt, was Marum über die deutschen Richter gesagt habe, sei eine ungeheure enneen1 8n von Senaten des Reichsgerichts, sei wenig ge⸗ eignet, eine solche Front zu schaffen. Das sei nichts anderes ge⸗ wesen als der Versuch der Zersetzung von der Tribüne des Reichs⸗ tags. (Beifall rechts.) Ueber 1400 Jahre Zuchthaus und Ge⸗ fängnis, so fährt der Redner fort, sind in den letzten Monaten gegen Nationalsozialisten verhängt worden. Darüber hinaus haben wir als Opfer 264 Ermordete, die heute noch auf Sühne warten, Wir verlangen hier keine Geschenke vom Reichstag, sondern die Verurteilten haben Anlaß, von einer Pflicht der Volksvertretung zur Amnestie zu sprechen. (Beifall rechts.) Auch im Staate Hitlers wird unsere erste Aufgabe eine Amnestie sein, ein Gruß an die Opfer der terroristischen Justiz. (Stürmische Heilrufe bei den Nationalsozialisten.) Der Redner wendet sich dann zu den Kommunisten und erklärt, diese hätten am wenigsten An⸗ laß, über kerroristische Justiz zu klagen. Ihre Reden seien eine ungeheure Heuchelei angesichts der Tatsache, daß die sowjetrussische Justiz eine Kulturschande der Menschheit sei. (Beifall rechts. — Die Kommunisten verlassen bis auf wenige Abgeordnete den Saal.) Die Sozialdemokraten wollen die Ausschließung von Tötungs⸗ delikten und Sprengstoffverbrechen. Einer der eifrigsten Justiz⸗ vorkämpfer der Sozialdemokraten, Dr. Rosenfeld, ist bei früheren Amnestien namens der Sozialdemokratie entschieden dafür ein⸗ getreten, daß auch Tötung, Mord und Sprengstoffverbrechen von der Amnestie erfaßt werden. Ihre Abneigung gegen die Am⸗ nestierung von Tötung und Sprengstoffverbrechen ist also heute lediglich davon diktiert, daß sich die Amnestie zugunsten politischer Gegner auswirkt. Den vorliegenden Amnestieantrag können wir nur als eine erste Etappe ansehen, wenn Deutschland nicht schwersten Schaden erleiden soll. Wir erwarten von der Reichs⸗ regierung, daß sie ihre Zusage, mit den Sondergerichten ebenfalls aufzuräumen, binnen kurzem einlöst. 156 S.⸗A.⸗ und S.⸗S.⸗Leute sitzen heute noch auf Grund von Sondergerichtsverfahren in Un⸗ tersuchungshaft. Was die Haltung der Sozialdemokratie angeht, so sind wir uns darüber klar, wie ihre Mitarbeit an der Am⸗ nestie ethisch zu werten ist. Ihr wahres Gesicht enthüllt sie in der Frage des Landesverrats. Wir können im übrigen der Amnestievorlage nur zustimmen, wenn vor der Schlußabstim⸗ mung klargestellt ist, daß dem Zentrumsantrag soweit Gesetzes⸗ kraft zukommen wird, als er sich auf die Ausschließung von Hochverratsdelikten von der Amnestie bezieht, wenn diese gegen Reichswehr oder Polizei gerichtet waren. Wenn dieser Zusatz nicht in das Gesetz aufgenommen werden sollte, würden wir uns lieber zu dem Opfer entschließen, unseren Gefangenen die Freiheit erst in einigen Wochen durch unseren Machtantritt zu verschaffen, als daß wir heute die Hand dazu bieten, daß wir tünsti vor jedem Reichswehrsoldaten beschämt unseren Blick Fieee en müssen. (Großer Beifall rechts.) Unter dem Druck der Mehr⸗ heitsverhältnisse haben wir uns allerdings zu einem Opfer ent⸗ schließen müssen, die Delikte gegen die Terrornotver⸗ ordnung von der Amnestie auszuschließen, trotzdem die Ur⸗ teile in 29, Fällen alles andere als Gerechtigkeitsakte waren. Der S. A.⸗Mann Westenberger ist zu fanf Jahren Zuchthaus verurteilt worden, obwohl er jetzt den klaren Beweis angetreten hat, daß er gar nicht am Tatort gewesen ist. Dieser Beweis war ihm bei der Kürze des Verfahrens vor dem Sondergericht nicht möglich. Wenn S. A.⸗Leute verurteilt worden sind, nur weil sie als einzelne Waffen bei sich trugen, so möchte ich dem Moabiter Herrn Tolk raten, selber einmal unbewaffnet nach dem Wedding zu gehen! Auch für den anständigsten Menschen gibt es übrigens eine Grenze, wo er das Recht nicht mehr an⸗ erkennt, wenn er zur Verzweiflung getrieben ist. Als Vertreter des jungen Deutschlands erheben wir Anspruch auf die Lebens⸗ rechte der Jugend, wir dulden nicht, daß man ihr die Türen ver⸗ schließt, wie es der Anwaltstand jetzt tun will. (Beifall bei den Nationalsozialisten) Der Jungmann Hoffmann erhielt zwei Jahre Zuchthaus, weil er auf eine bereits zertrümmerte Straßen⸗ bahn einen Stein warf. (Pfui!⸗Rufe bei den Nationalsozialisten.) Ein anderer S. A.⸗Mann erhielt 1 Jahr Zuchthaus, nur weil er einen Stein in der Hand hielt, als eine Straßenbahn vorbeifuhr. (Erneute Pfui⸗Rufe bei den Nationalsozialisten.) Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Verzweiflung über diese Justiz bereits ein Maß erreicht hat bei dem es längst zu einer Revolution gekommen wäre, die Sie hier alle weggeschwemmt hätte, wenn wir nicht in der Nationalsozialistischen Partei eine so musterhaft disziplinerte Massenbewegung häten. (Lebhafte Zu⸗ stmmung bei den Nationalsozialisten.) Allen Verdrehungskunst⸗ stücken der sogenannten nationalen Scherl⸗Presse (Zuruf bei den Nationalsozialisten: Indenpresse!) gegenüber möchte ich feststellen, daß der früher einmal von uns beantragte Gesetzentwurf zum Schutze der deutschen Nation für Landesverrat die Todesstrafe vorsah. Bei dieser Forderung bleiben wir. Im übrigen sind wir nicht gewillt, uns dauernd von „autoritären“ Sondergerichten aburteilen zu lassen. Wir sind gewillt, selbst das Gericht über die Volksverderber in Deutschland aufzurichten. (Lebhafter Beifall bei den Nationalsozialisten.)
Abg. Dr. Graf⸗Niederbavern (Bayr. Vp.): Wir bedauern, daß die Sachlichkeit, die in der Ausschußberatung herrschte, hier verlassen worden ist, weil man hier im Plenum auf die Gefühle der Massen wirken zu können glaubt. Die Autorität des Staates, des Rechtes und derer, die das Recht anwenden müssen, verträgt Amnestien überhaupt nicht. Wo soll ein Staat hinkommen, der
den Hochverrat immer wieder durch Amnestien legalisiert? (S wahr! bei der Bayerischen Volkspartei.) Statt Selserts, SEe wir Einzelprüfung durch die zuständigen Organe der Landes⸗ justizverwaltungen. Reichsamnestien haben sich grundsätzlich nur auf das Reichsgericht zu erstrecken. Wir haben keinen Anla Amnestien mit verfassungsändernder Mehrheit zu beschließen. Die Bayerische Volkspartei lehnt aus diesen Erwägungen die Amnestieanträge ab.
Abg. D. Strathmann (Volksdienst) hält eine Amnestie im gegenwartigen Zeitpunkt grundsahtich für vertretbar, um in eine Periode politischer Beruhigung hinüberzugleiten. Für den Volks⸗ dienst sei die Amnestie eine Frage des Ausmaßes. Der Redner begründet einen Antrag, sowohl Landesverrat als auch Hochverrat von der Amnestie überhaupt auszuschließen. Den bolschewistischen Zersetzungsbestrebungen könne man nicht scharf genug entgegen⸗ treten.
Damit schließt die Aussprache.
„Die einzelnen Paragraphen des Amnestiegesetzes werden in zweiter Lesung gegen die Stimmen des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei, der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei angenommen. Der Antrag des Zen⸗ trums, die Fünfjahresgrenze auf zwei Jahre herabzusetzen, wird gegen dieselben Parteien abgelehnt, ebenso der Antrag des Volksdienstes, Hochverrat und Landesverrat von der Amnestie vollkommen auszuschließen. Angenommen wird lediglich der Zentrumsantrag, wonach Hochverrat von der Amnestie ausgenommen wird, wenn er gegen Reichswehr oder Polizei gerichtet war. Dagegen stimmen Sozialdemokraten und Kommunisten. Die weiteren Zentrumsanträge, Ver⸗ brechen des Meineides und alle Taten, die von Rohheit, Niedrigkeit der Gesinnung oder Gewinnsucht zeugen, von der Amnestie auszuschließen, werden abgelehnt.
In der 3. Beratung werden die Beschlüsse 2. Lesung bestätigt.
Vor der Schlußabstimmung erklärt Abg. Torgler (Komm.), daß die Amnestie vollkommen unzulänglich sei. Wenn seine Partei trotzdem in der Schlußabstimmung dem Gesetz zustimme, so deshalb, weil sie das Schicksal der Hunderte und Tausende von proletari⸗ schen Gefangenen dazu veranlasse, dieses Amnestiegesetz nicht scheitern zu lassen. 8 Abg. Wegmann (Zentr.) gibt folgende Erklärung ab: Durch die Vorgänge der letzten Monate und in Verbindung mit der furchtbaren Wirtschaftskrise wurde in Deutschland eine derartige Beunruhigung und Erregung weitester Volkskreise hervorgerufen, daß dadurch die Kriminalität in ungewöhnlichem Ausmaß ver⸗ stärkt wurde. Die inzwischen durch den Verzicht der neuen Re⸗ gierung auf verfassungspolitische Experimente ermöglichte Be⸗ ruhigung würde durch eine in maßvollen Grenzen gehaltene Staatsautorität und Rechtssicherheit nicht gefährdende Amnestie nach Auffassung der Zentrumsfraktion gefördert werden. Trotz der bei früheren Gelegenheiten von uns wiederholt geäußerten schweren Bedenken gegen die Häufung von Amnestien würden wir daher bereit gewesen sein, dieser außergewöhnlichen Lage Rechnung zu tragen. Den vorliegenden Entwurf der Amnestie würden wir demgemäß unsere Zustimmung nicht versagt haben, wenn die in unseren Anträgen festgelegten Voraussetzungen, ins⸗ besondere betreffend die Herabsetzung der Fünfjahresgrenze sowie die Herausnahme des Meineids und der Rohheitsdelikte, erfüllt worden wären. Nachdem im Ausschuß und im Plenum diese unsere Anträge keine Berücksichtigung gefunden haben, sind wir nicht in der Lage, dem Entwurf zuzustimmen. (Pfuirufe bei den Kommunisten.)
Abg. Strathmann (Volksdienst): Die Ablehnung unserer
beiden Anträge über Hoch⸗ und Landesverrat macht es uns eben-:
falls unmöglich, dem Gesetz zuzustimmen.
„Es folgt die namentliche Schlußabstim mung Für den Amnestiegesetzentwurf stimmen nur Sozialdemo⸗ raten, Kommunisten und Nationalsozialisten.
Für das Amnestiegesetz stimmen 393 Abgeordnete, da⸗ gegen 144. Vier Abgeordnete enthalten sich der Stimme. Unter dem Beifall des Hauses stellt Vizepräsident Esser fest, daß das Gesetz mit einer Meheheit von mehr
11““ Dritteldergesetzlichen Mitglieder⸗
angenommen ist. Dadurch sind die Amnestieanträge der Parteien erledigt. Als Zeitpunkt des Inkrafttretens des bereits an⸗ genommenen Zentrumsantrages, der die sozialpolitische Er⸗ mächtigung der Notverordnung vom 4. September aufhebt, wird nachträglich der Tag der Verkündung beschlossen.
Damit ist die Tagesordnung erschöpft. Vor der Ent⸗ über die Einbercufung der nächsten Sitzung ergreift as Wort Staatssekretär der Reichskanzlei Planck: Die Reichsregierung ist entschlossen, Maßnahmen für eine besondere Winterhilfe zu treffen, soweit es die finanzielle Lage zuläßt. (Unruhe bei den Kommunisten.) Sie wird sich bemühen, im Ausschuß zu einer Verständigung mit den Parteien des Hauses über das Ausmaß dieser Aktion zu gelangen.
Vizepräsident Esser schlägt nunmehr vor, den Präsidenten zu ermächtigen, mit Zustimmung des Aeltestenrats den Reichstag einzuberufen.
Abg. Löbe (Soz.): Das Haus wird gern Kenntnis genommen haben davon, daß die Regierung von sich aus etwas in der Frage der Winterhilfe unternehmen will. Aber die Mitteilungen des Staatssekretärs waren so unbestimmt, daß ich glaube, der Reichs tag soll sich sein Mitbestimmungsrecht bei dieser Angelegenheit doch nicht nehmen lassen. (Sehr richtig! links.) Aus diesem Grunde schlage ich vor, daß der Haushalts⸗ und Sozialpolitische Ausschuß morgen die Beratung dieses Gegenstandes vornehmen und der Reichstag am Montag zu einer neuen Sitzung zusammen⸗ tritt mit der Tagesordnung: 3. Lesung einer Winterhilfe und Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung. Ich nehme an, daß die dazwischen liegenden Tage genügen, damit sich die Regierung über eine Erklärung verständigen kann. Uebrigens hat sich die Regierung all diese Tage hindurch sehr mangelhaft hier vertreten lassen. Ich bitte darum, daß das anders wird und die Regierung sich nicht durch den einen Herrn vertreten läßt, der allein bishor hier gesessen hat und der wohl auch nach der Ansicht des Reichskanzlers in Leipzig vor dem Staatsgerichtshof eine Rolle gespielt hat, die ihn nicht dafür qualifiziert, hier die Re⸗ gierung zu vertreten. (Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)
Abg. Torgler (Komm.) lehnt ebenfalls die Ermächtigung an den Präsidenten ab und beantragt, am Montag die Winterhilfe und den kommunistischen Mißtrauensantrag gegen die Reichs⸗ regiecung zu beraten.
Abg. Litke (Soz.): Aus der Presse ist bekannt geworden, da Krankheitsurlaube für Abgeordnete erteilt worden sind. J. möchte fragen, ob die weiteren Krankheitsurlaube für Reichstags⸗ abgeordnete weiterhin vom Reichstagspräsidenten oder in Zu⸗ kunft von Adolf Hitler erteilt werden. (Heiterkeit.)
Die Anträge der Sozialdemokraten und Kommunisten, am Montag eine Plenarfitzung abzuhalten, werden gegen die Antragsteller abgelehnt. Der Vorschlag des Präsidenten wird gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, Kommu⸗ nisten und Deutschnationalen genehmigt.
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8 Schluß 8 ¼ Uhr.