vorigen Jahre in Hamburg von dem der Humanität hohnſprechenden Zuſtande in dieſer Sache. Er führt auch aus: im Deutſchen Reich werden jährlich zwei Millionen Kinder geboren, wovon die Hälfte künſt⸗ lich ernährt werden. Davon ſollen ſeiner Auffaſſung nach jährlich 150 000 infolge des Genuſſes ſchlechter Milch zugrunde gehen alſo annähernd eine Dezimierung der Neugeborenen. Er ſagt: die Sanierung unſerer Milchverhältniſſe ſtellt ohne Zweifel eine der wichtigſten, wenn nicht die bedeutungsvollſte Aufgabe unſerer modernen Wohlfahrtseinrichtungen dar. Im ganzen ſterben im Deutſchen Reiche 400 000 Säuglinge im Jahr, 150 000 ſchon allein durch dieſe Ernährungsſtörungen. Dunbar hält die Frage für ebenſo bedeutungsvoll wie die Frage der Bekämpfung der Tuberkuloſe. Die Tuberkuloſe fordert jährlich 120 000 — alſo 150 000 Säuglinge nur infolge der ſchlechten Ernährung und 120 000 tuberkulöſel Zur Bekämpfung der Tuberkuloſe werden jährlich im Deutſchen Reiche bereits hundert Millionen aufgewendet, während zur Beſſerung der Mʃilchverhältniſſe von der Offentlichkeit bisher ſo gut wie nichts geſchehen iſt. Die Löſung der hier ge⸗ ſtellten Aufgabe hält Dunbar nicht für zu ſchwer und die Opfer, die gebracht werden müſſen, für nicht zu groß. Dunbar läßt ſeinen ſehr inſtruktiven und ſchönen Vortrag in einer Anzahl von Leitſätzen gipfeln, von denen ich Ihnen allerdings nur drei vortragen möchte: 1. Die derzeitigen ſtädtiſchen Milchverſorgungs⸗ verhältniſſe genügen nicht den hugieniſcherſeits zu ſtellenden Anforderungen. 2. Aus der Tatſache allein, daß im Deutſchen Reiche jährlich etwa 150 000 künſtlich ernährte Säuglinge an dem Genuß verdorbener Milch ſterben, geht hervor, daß die Sanierung der Milchverſorgungsverhältniſſe eine Aufgabe dar⸗ ſtellt, die an Bedeutung keiner andern Auf⸗ gabe der Stadthygiene nachſteht. 3. Bei dem hohen Entwicklunge ſtande der milch⸗ wirtſchaftlichen Technik liegt die Möglichkeit vor, zur Verſorgung der Städte mit einer allen geſundheitlichen Anforderungen genügenden, insbeſondere auch für die Kinderernährung ge⸗ eigneten Milch zu demſelben Preiſe, der zur Zeit für die Marktmilch bezahlt wird. Dieſe Leitſätze ſind von anderen Autoritäten angefochten worden. So meinen andere, daß die Säuglingsſterblichkeit an verdorbener Milch doch nicht 150 000 beträgt. Andere ſind der Meinung, daß eine einwandsfreie Milch nicht für den gewöhn⸗ lichen Markipreis zu beſchaffen iſt. Indeſſen das dürfte nur Sorge zweiter Ordnung ſein. Gegenüber den in mancher Hinſicht optimiſtiſchen Anſchauungen Dunbars ſagt der bekannte Kinderarzt Profeſſor Schloßmann in Dresden, ſpeziell was die Frage der Milchverforgung durch die Städte betrifft, jede Stadt müſſe für ſich ſorgen, denn ſie nehme die Intereſſen der Konſumenten, die Landesvertretung nur die Intereſſen der Produzenten wahr. Profeſſor Dunbar hatte nämlich den ſonderbaren Optimismus, zu glauben, durch Landes⸗ oder Reichsgeſetze eine Beſſerung erzielen zu können, während der offenbar praktiſchere, dentlicher ſehende Profeſſor Schloßmann von der Regierung und von dem Einfluß der Agrarier, deren böſe Ratſchläge bei der Fleiſch⸗ verſorgung wir eben kennen gelernt haben, nicht viel erwartet. Profeſſor Schloßmann und andere Auto⸗ ritäten ſind der Meinung, daß dieſe Sache die Kommunen hauptſächlich angeht. 173 Bedenken Sie ferner, daß nicht nur die Darm⸗ krankheiten der Sänglinge durch ſchlechte Milch er⸗ zeugt werden, ſondern — ich weiß nicht, ob es mir entgangen iſt, oder ob Herr Spiegel es gar nicht erwähnt hat — daß andere Krankheiten auch durch die Milch übertragen werden, vor allen Dingen die Tuberkuloſe. Es iſt ja neuerdings allerdings durch Geheimrat Koch die Frage aufgeworfen, ob das nicht eine falſche Anſicht iſt, indeſſen ſcheint doch die Meinung der meiſten bedeutenden Kapazitäten dahin zu gehen, daß die Tuberkuloſe der Kühe tatſächlich auf den Menſchen übertragbar iſt. Alſo die Tuber⸗ kuloſe iſt ebenfalls eine verheerende Krankheit, welche durch die Milch übertragen werden kann. Ferner kann ſehr häufig der Typhus übertragen werden und auch andere Krankbeiten. Ferner iſt auch, was bei der Sache nie erwähnt wird, was ich hier ganz beſonders zu bedenken geben möchte, dies erwähnenswert. Es wird immer nur von der Sterblichkeit infolge der ſchlechten Milch⸗ verſorgung geſprochen. Schön; es ſind 150 000, wenn die Zahl annähernd richtig ſein ſollte, die jährlich ſterben. Nun gibt es ja Gemütsmenſchen oder Peſſimiſten — ich hoffe: nicht in unſerer Ver⸗ ſammlung —, welche meinen, bei der großen Über⸗ völkerung wäre das ja nicht ſo arg. Man hört gewöhnlich ſolche Anſichten in Privatgeſprächen. Von ſolchen Anſichten muß uns unſere volkswirtſchaftliche Erkenntnis, unſere humane Geſinnung natürlich fernhalten; ich hoffe nicht, daß hier Vertreter der Stadt vorhanden ſind, die dieſe Meinung teilen. Aber, dieſen Einwand ſelbſt in Betracht gezogen, muß man doch auch bedenken, daß nicht alle Säug⸗ linge, die durch verdorbene Milch erkranken, auch ſterben; ein großer Teil wird wieder geſund. Aber erſtens koſtet ſchon das Krankſein Geld; zweitens werden andere nur in geringerem Grade wieder ge⸗ ſund; ſie erholen ſich von der Krankheit, werden aber ſieche Individuen, die während ihrer Kindheit krank und den Eltern wie den Gemeinden viel Geld koſten; ſie ſtellen auch ein großes Kontingent zu den Erkrankungen an Taberkuloſe. Ich meine, auch dieſe Frage, die ich nirgends erwähnt gefunden habe, müßte uns veranlaſſen, von Stadt wegen etwas zu tun. Nun könnte es ja dahin kommen, daß man gegenüber dieſem gefährlichen Zuſtande vorſchlagen wird, wieder neuerdings Vorſchriften polizeilicher Art oder Gemeindevorſchriften zu geben zur rich⸗ tigen Behandlung der Milch uſw. Indeſſen hat ſich bei den bisherigen Vorſchriften gezeigt, daß da⸗ durch nichts zu erreichen iſt, und aller Wahrſchein⸗ lichkeit nach wird durch ähnliche Vorſchriften nie etwas zu erreichen ſein. Auch in dieſer Hinſicht ſprechen ſich Autoritäten ſehr ſkeptiſch oder ſehr negativ aus. So erwähne ich hier einen ſehr ſchönen Aufſatz von Proells aus der Deutſchen Vierteljahresſchrift für öffentliche Ge⸗ ſundheitspflege. Aus ſeinem Literaturnachweis geht hervor, daß es bisher allerdings nur Polizeiver⸗ ordnungen waren, in denen ſich die Tätigkeit der ſtädtiſchen Verwaltungsbehörden zeigte, Verordnungen, die ſich hauptſächlich gegen die falſche Behandlung der Milch, gegen falſche Bezeichnung und gegen die Fälſchung in der Stadt richten, aber durchaus nicht gegen die Fälſchung bei der Gewinnung. Aber auch bei der Fälſchung in der Stadt ſind die Polizei⸗ verordnungen, wie bekannt iſt, abſolut nutzlos und unbrauchbar. Inbezug auf die ſorgfällige Ge⸗ winnung läßt das Nahrungsmittelgeſetz vom Jahre