—— 100 — unzarten Vorwurf erhoben, daß ihnen im Jahre 1903 die Zunge durchgegangen ſei, und daß mancher manches geſagt hälte, was geſagt zu haben er nach⸗ her bedauert hätte. Der Herr Oberbürgermeiſter hat ja freilich behauptet, daß zwiſchen ſeiner Rede von heute und ſeiner Rede von damals kein Unterſchied klaffe. Ich will ihm nicht den Kummer antun, zum vierten Mal ſeine Worte zu ziteren; (Heiterkeit) ich begnüge mich damit, feſtzuſtellen, daß die erſte Rede den Eindruck machen ſollte und mußte: hier iſt eine prinzipielle Erklärung gegen die Teilnahme der Geiſtlichen an der Schuldeputation in Charlottenburg abgegeben. Und dieſen prinzipiellen Standpunkt hat der Herr Magiſtratsdirigent in den 1 9 Jahren ſeit⸗ dem aufgegeben. Er ſagt: weil die Situation ſich verändert hat. Sehen wir uns die Situation an, ſo war ſie ſo: Die Regierung verlangte ſeit langem, daß wir den Geiſtlichen in die Schuldeputation aufnehmen ſollten. Wir taten es nicht; wir waren damals nicht ſo klug, oder der Magiſtrat hatte in dieſem Falle den Herrn Senatspräſidenten Jebens noch nicht zum Berater über das Maß der papiernen Rechte, über die wir verfügen. Wir taten es nicht, und darauf begann ein Syſtem der kleinen Nadelſtiche und der groben Fußtritte, die dahin führten, daß die Mitglieder der Stadtverordnetenverſammlung, die in die Schul⸗ deputation gewählt waren in jener großen Sitzung des Jahres 1903, wo wir alle einig waren — in leerer. Demonſtration, Herr Stadtv. Dr. Crüger! — ihre Amter niederlegten. 4 Dann wurde beſchloſſen, zu proteſtieren. Ich ſagte ſchon in der damaligen Sitzung, man ſollte nicht den Teufel bei ſeiner Groß⸗ mutter verklagen, und wurde wegen dieſer Außerung beinahe zur Ordnung gerufen. (Zuruf: Beinahe?) — Ja, es war ein halber Ordnungsruf. Damals wurde beſchloſſen, daß der Magiſtrat ſich ſchließ⸗ lich beim Herrn Miniſter beſchweren ſollte über die Maßregel des Herrn Regierungspräſidenten. (Stadtv. Otto: Kein Beſchluß! Es war eine Interpellation!) — Nun ja; es lag aber wohl darin; es wurde geſagt, daß das das einzige Mittel wäre, das wir jetzt hätten. Es iſt ſogar vom Magiſtratstiſch damals erklärt worden, glaube ich, daß die Beſchwerde ab⸗ gehe. Wir hören ja, daß ſie noch immer im Schrein des Magiſtrats verwahrt wird. Wir hörten, die Beſchwerde ſolle abgehen, — da begannen die Ver⸗ handlungen,⸗ und Kdas-Ergebnis der Verhandlungen war, daß das Prinzip aufgegeben wurde: denn man entdeckte: die Regierung hat recht, es iſt ein begrün⸗ deter Rechtsanſpruch der Regierung, einen Geiſtlichen in die Schuldeputation hineinzubekommen, und wir haben nicht die Macht, den Rechtsweg vor dem ver⸗ ſchwundenen Kammergericht durchzuſetzen. Darauf kam dieſes Kompromiß zu ſtande. Ich ſehe darin ein Aufgeben des prinzipiellen Standpunktes und kann durch alle Erklärungen des Herrn Oberbürgermeiſters nicht dahin kommen, anzuerkennen, daß er heute dasſelbe geſagt hat wie damals. Herr Bürgermeiſter Matting hat uns erklärt, welchen außerordentlichen Eindruck unſere Magiſtrats⸗ apoſtel in Potsdam vor den 6 Regierungsvertretern gemacht haben. Er hat gefunden, daß die guten Gründe,⸗„mit denen die Auffaſſung:des Magiſtrats von den dreisAbgeſandten vertreten wurde, auf die 6 Regierungsvertreter einen außerordentlich großen Eindruck gemacht, und daß ſie alles bewilligt hätten. Schade, daß ſie nicht auch noch die Streichung des Geiſtlichen durchgeſetzt haben; dann wäre der Erfolg vollkommen geweſen. Nur noch ein Wort, meine Herren, zu Herrn Stadtv. Dr. Crüger, der ſich darüber gewundert hat, daß hier in der Oppoſition verſchiedene Anſichten über den Wert der Geſchäftsanweiſung ausgeſprochen ſind. Er kann ſich bei dem Herrn Kollegen Otto erkundigen über die Art und Weiſe, wie man ver⸗ ſchiedene Anſichten über die Frage der Teilnahme der Geiſtlichen, über die Beurteilung der Situation haben kann, und wird dann vielleicht leichter dahin kommen, dieſe verſchiedenen Anſichten zu verſtehen. (Stadtv. Hirſch: Sehr gut!) Er hat dann weiter darauf hingewieſen, daß es meine Abſicht geweſen wäre, meine angebliche Abſicht, dem Liberalismus das Rückgrat zu ſtärken. Meine Herren, zunächſt meine ich, daß Herr Dr. Crüger kaum das Recht hat, den Liberalismus für ſich in Anſpruch zu nehmen. Ich betrachte ihn nur als eine etwas kümmerlich geratene Spielart des Libe⸗ ralismus. (Glocke des Vorſtehers.) Vorſteher Roſenberg: Herr Kollege Baake, das Wort „kümmerlich“ dürfen Sie in dem Zuſammen⸗ hang nicht gebrauchen. Stadtv. Baake: Alſo eine prachtvoll geratene Spielart! (Heiterkeit. — Stadtv. Dr. Crüger: Um Gottes willen kein Lob!) Und ich füge weiter hinzu, daß ich auch nicht die Abſicht gehabt habe, gerade ihm das Rückgrat zu ſtärken; denn ich nehme niemals einen ſolchen Ver⸗ ſuch an untauglichen Objekten vor. (Heiterkeit.) Von einem Popanz hat der Herr Oberbürgermeiſter geſprochen. Ich möchte ihn an andere Popanze er⸗ innern: es iſt — freilich nicht hier in der Verſamm⸗ lung, aber durch Tuſcheln von Mund zu Mund — geſagt worden: wir müſſen das Kompromiß akzep⸗ tieren, es muß gemacht werden, es wird oben ge⸗ wünſcht, die Anleihen werden nicht bewilligt, und was nicht noch alles erzählt worden iſt. (Lachen.) Das ſind meiner Anſicht nach wirkliche Popanze, mit denen Stimmung gemacht worden iſt, Stimmung hier in der Verſammlung. Der Herr Oberbürgermeiſter hat ſchließlich in ſeiner Rede ſich an die Bürgerſchaft draußen gewandt. Ich begrüße das; ich glaube, er wird dann niemals mehr mir und irgend einem meiner politiſchen Freunde den Vorwurf machen, daß wir zum Fenſter hinaus ſprechen. (Zuruf.) Er hat heute dasſelbe getan, was er meinem Freunde Hirſch in ſeiner Rede vom 1. Februar über die „Kluft zwiſchen Sozialdemokratie und Bürgertum“ vorge⸗ worfen hat, in der etwas von jenem Spiritus des Scharfmachertums wehte, der in Nordhauſen noch nicht gehörig rektiftziert worden iſt, — — (Glocke des Vorſtehers. Große Unruhe.) Vorſteher Roſenberg: Herr Stadtv. Baake, der von Ihnen angewandte Ausdruck war verletzend. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.