—— 322 — Vaterlande, die keinen regelmäßigen Schulbeſuch ge⸗ nießen können, weil ſie ewig von einem Ort zum anderen ziehen, und die daraus reſultierenden Schäden machen ſich natürlich auch bei der erwach⸗ ſenen Schifferbevölkerung bemerkbar. Es werden über Schiffer häufig harte Urteile gefällt, es kommen viele Roheiten unter der Schifferbevölkerung vor; aber es fällt ſehr wenigen ein, darüber nachzudenken, woher dies kommt, und ob nicht die Geſellſchaft ſich eine Vernachläſſigung gegenüber dieſer ganzen Berufs⸗ klaſſe zu ſchulden kommen läßt. Aus dieſen Ge⸗ danken heraus hat Charlottenburg die Schifferkinder⸗ ſchule eingerichtet, die ſegensreich wirkt. Wir ſind deshalb, meine Herren, dankbar ge⸗ weſen, als aus kirchlichen Kreiſen die Anregung an uns kam, noch weiter für die ſeeliſche und geiſtige Ausbildung der Schifferbevölkerung zu ſorgen. Der Umſtand, daß die Anregung von kirchlichen Organen ausgeht, hat den Magiſtrat nicht abgehalten, auf das Gute, das in dem Gedanken liegt, einzugehen. Der Magiſtrat iſt nicht ſo engherzig, daß er alles von ſich ablehnt, was nicht genau auf ſeine Partei⸗ ſchablone paßt. Ich weiß ſehr wohl, daß es viele Vereine politiſcher Richtung gibt, die in unglaublicher Verkalkung ihrer Herzen und ihrer Anſichten jeden ausſtoßen und abweiſen, der es wagt, anderer An⸗ ſicht zu ſein. Das erleben wir bei vielen Richtungen. Wir haben uns gefreut, daß wir auf dieſem Stand⸗ punkt nicht ſtehen, und daß die Stadtverordneten⸗ verſammlung uns oft in unſerem Standpunkt unter⸗ ſtützt hat. Ich hoffe, daß es auch hier der Fall ſein wird. Ich wiederhole, der Umſtand, daß eine lirch⸗ liche Behörde oder kirchlich geſinnte Leute die Für⸗ ſorge für die Schiffer in die Hand genommen haben, die an ſich gut iſt, hindert uns nicht, die Sache mit unſeren Mitteln zu unterſtützen. Es iſt unrichtig — das geht ſchon aus der Vorlage hervor —, wenn geſagt wird: es handelt ſich lediglich um kirchliche Zwecke. Wir haben in der Vorlage auseinandergeſetzt, daß nicht nur die kirch⸗ lichen Dinge unterſtützt werden ſollen, nicht nur die Religioſität gefördert werden ſoll, ſondern daß auch ganz enorm ſoziale Gedanken hier gefördert werden ſollen. Es ſoll das „Schifferheim“, dieſe „ſchwim⸗ mende Kirche“, wie es im Munde des Volkes ge⸗ nannt wird, auch dazu dienen, um den Schiffern Vorträge, Konzerte uſw. zu bieten, es wird benutzt als Ort einer Rechtsſchutzſtelle für die Schiffer: es wird als eine Volksleſehalle für die Schiffer⸗ bevölkerung benutzt, es iſt eine Bücherei darin, die Leute haben Gelegenheit, darin zu leſen; es wird als Verſammlungsraum für Mütterabende benutzt, in welchen den Müttern über die körperliche und geiſtige Erziehung ihrer Kinder belehrende Vorträge gehalten werden. Sie ſehen alſo, daß dieſes „Schiffer⸗ heim“ ſelbſt, dieſe „ſchwimmende Kirche“, in hervor⸗ ragendem Maße für ſoziale Zwecke zur Hebung des Schifferſtandes zur Verfügung ſteht. Aber auch weiter bemuht ſich dieſer in Frage ſtehende Verein, die geiſtige Hebung des Schiffer⸗ ſtandes zu fördern dadurch, daß er angemeſſenen Leſeſtoff verteilt. Es iſt leider ein Druckfehler in der Vorlage vorhanden. Es heißt da „Lehrſtoff“; es ſoll heißen: „angemeſſener Leſeſtoff“. Die Bücher, die die Schiffer natülich nicht aus der Volksbibliothek ſich holen kommen, werden ihnen dadurch leicht zu⸗ gänglich gemacht, daß an den Schleuſen Käſten auf⸗ gehangt werden, in denen ſich Bücher befinden, die Käſten mit den Büchern nehmen die Schiffer mit und bringen ſie nach Monaten, wenn ſie zurück⸗ kommen, zurück. Es wird ihnen ſo Gelegenheit ge⸗ geben, die vielen Stunden, manchmal Tage, die ſie vor den Schleuſen ſtillliegen müſſen, zu benutzen, um die Bücher, die ſie an Bord haben, zu leſen. Noch viele andere ſoziale Aufgaben erfüllt dieſer Verein: als Schreibſtube wird die Geſchäftsſtelle des Vereins benutzt, um den Schiffern koſtenlos Rat und Auskunft zu erteilen; ein Kinderheim iſt von der Vereinigung geplant oder ſchon ausgeführt. Kurz, es handelt ſich nicht bloß um kirchliche Für⸗ ſorge, ſondern in hervorragendem Maße um ſoziale Arbeit. Wir werden von den Sozialdemokraten gerne und häufig als rückſtändig hingeſtellt. als wenn wir die ſoziale Arbeit nicht förderten. Sie ſehen, was davon zu halten iſt. Hier, wo wir Ihnen mit einem tüchtigen Stück ſozialer Arbeit kommen, da heißt es: es könnte vielleicht ein Pfäfflein dahinter ſtecken, wir lehnen das ab! Ich bitte, dieſem Ge⸗ ſichtspunkte nicht zu folgen, ſondern ſich leiten zu laſſen von den guten Abſichten, die hier zu Tage liegen. Dagegen habe ich gar nichts dagegen und freue mich, wenn Sie in einem Ausſchuſſe erſt die Sache prüfen wollen. Es iſt etwas ganz Neues, was an uns herantritt. Ich habe nicht die ÜUberzeugung be⸗ kommen, daß der Mann, der die Sache leitet und mit mir vielfach verhandelt hat, in dunklem Sinne arbeitet, ſondern ich habe im Gegenteil die Über⸗ zeugung gewonnen, daß er mit friſchem Mute und geſundem Sinne an das Leben herantritt und den Leuten klares Waſſer reicht, das ſie geiſtig und ſeeliſch erfriſcht. Sie werden ſich im Ausſchufſe überzeugen, daß es ſich hier um eine Sache handelt, die man unterſtützen ſoll. Ich bitte deshalb, die Vorlage nicht abzulehnen, ſondern einem Ausſchuſſe zu überweiſen. Stadtv. Dr. Borchardt: Meine Herren, aus den Ausführungen des Herrn Oberbürgermeiſters habe ich zunächſt entnommen, daß der Herr Oberbürger⸗ meiſter außerordentlich dankbar iſt für eine An⸗ regung zu weiterer ſozialer Fürſorge für die Schiffer, womit ausgeſprochen iſt, daß die ſoziale Fürſorge für die Schiffer bisher außerordentlich mangelhaft war, und ich habe mich darüber gefreut. daß der Herr Oberbürgermeiſter anerkennt, daß die ſoziale Fürſorge, die die Stadt bisher auf dieſem Gebiete geleiſtet hat, außerordentlich viel zu wünſchen übrig läßt, außerordentlich mangelhaft iſt. Der Herr Oberbürgermeiſter betont dann aber weiter: wenn nun die Stadt das Bewußtſein hat, in ihrer ſozialen Fürſorge zurückgeblieben zu ſein, dann ſoll ſie es mit großer Freude begrüßen, an⸗ geregt zu werden — nicht etwa, ſelbſt im Ausbau der ſozialen Fürſorge weiter zu gehen, ſondern, das anderen zu überlaſſen. Irgend eine klare logiſche Konſequenz ſcheint mir darin nicht zu liegen, ſondern es ſcheint mir aus den Prämiſſen des Herrn Ober⸗ bürgermeiſters hervorzugehen, daß die Stadt die Verpflichtung hat, auf den hier erwähnten Gebieten ſelbſtverſtändlich fördernd vorzugehen, nicht aber ihre Aufgaben anderen wohlmeinenden Leuten zu über⸗ laſſen, ſelbſt wenn der Herr Oberbürgermeiſter aus dem perſönlichen Verkehr mit dieſen wohlmeinenden Leuten den Eindruck gewonnen hat, daß ſie ſachlich und ſehr wohlmeinend ſind, und daß ſie, wenn die Stadt ihnen die Mittel zur Verfügung ſtellen wird, ſehr ſegensreich wirken werden.