E 84 —— in den Vordergrund des Intereſſes in außerordentlich ſtarker Weiſe. Ich erinnere nur an den Ausſpruch des liberalen verſtorbenen Sozialpolitikers Röficke, der in einer Konferenz der Arbeitsnachweis⸗Vertreter fagte — ich zitiere nur nach dem Gedächtnis, nicht wörtlich—, daß das Problem der Arbeitsloſenfürſorge geradezu der Prüfſtein ſei für die Möglichkeit des Weiterbeſtandes der bürgerlichen Geſellſchaft überhaupt; wenn das Staatsweſen und die bürgerliche Geſell⸗ ſchaft erkennen und zugeben müſſen, daß ſie dieſes Problem nicht bewältigen können, daß in ihr dauernd ein erheblicher Prozentſatz der Bürger dem Elend der Arbeitsloſigkeit und ſeinen Folgen verfallen müſſe, dann würde die Geſellſchaft ſich ſelbſt damit das Todesurteil ſprechen, dann würde ſie ſelbſt zugeſtehen, daß ſie eine Exiſtenzberechtigung nicht hat. Und ich will auch erinnern an den Ausſpruch des gegen⸗ wärtigen Reichskanzlers, der vor wenigen Tagen auf dem Handelstage äußerte: es gehört zu den Aufgaben des Staates, nicht nur dafür zu ſorgen, daß jeder Bürger Brot hat, ſondern ſogar auch noch Butter aufs Brot. Der Herr Reichskanzler zog die Aufgabe des Staates alſo noch viel weiter, als daß er nur das Recht auf Arbeit und Exiſtenz gewähren ſollte. Der Herr Reichskanzler wollte ſogar, daß der Staat die Möglichkeit und das Recht auf eine behagliche Exiſtenz durchaus gewährleiſte. Wenn die Dinge ſo liegen, ſo könnte vielleicht der Einwand hier in dieſem Saale erhoben werden: man mag das gerne zugeben, aber dann doch die Frage aufwerfen: wie kommen dieſe Dinge zur Be⸗ ratung in einer Stadtverordnetenverſammlung, in einem ſtädtiſchen Gemeinweſen? Wenn es ſich um ſo weittragende Probleme handelt, zu deren Leiſtungen der Staat in Bewegung geſetzt werden muß, dann handelt es ſich ja doch um eine Sache, die vom Reiche ausgehen muß. Es hat ja auch das Reich durch die im Juni 1895 vorgenommene Zählung ſeinerzeit anerkannt, daß es ſich um eine, wichtige Aufgabe des Reiches handelt, und die zitierte Außerung des Herrn Reichskanzlers deutet ja ebenfalls darauf hin. Man kann ja auch noch weiter anführen, daß — wenn ich nicht irre, war es im Anfang des Jahres 1903 vor den letzten Reichstagswahlen — daß der Herr Reichskanzler auch da ein ſozialpo⸗ litiſches Programm der Regierung entrollte, worin die Frage für die Arbeitsloſenfürſorge einen außer⸗ ordentlich breiten Raum einnahm. Man könnte alſo ſagen, die Frage brauchte hier nicht eingehend ver⸗ handelt zu werden, ſondern ſie ſei zu verweiſen an den Reichstag. Aber, meine Herren, ſeit jener Programmrede des Reichskanzlers iſt es im Reiche von der Frage der Fürſorge für die Arbeitsloſen ſtille geworden, und wenn wir uns vom Reiche etwa zum Staate zuwenden, nach Preußen hin — nun, meine Herren, Preußen iſt ein Staatsweſen, das bis heute noch einer Volksvertretung entbehrt, (Lachen bei der Freien Vereinigung) und es iſt wohl vollkommen ausſichtslos, gerade auf dieſem Gebiete ein Vorangehen Preußens zu erwarten. Weit eher wäre eben eine Hoffnung auf das Reich begründet. Wenn dieſe aber verſagt, und das Problem der Arbeitslofigkeit vorliegt, ſo iſt den Ar⸗ beitsloſen nicht damit geholfen, daß man ſie auf das Reich verweiſt, und man wird es verſtehen, daß die Arbeitsloſen ſich an diejenige größere Gemein⸗ ſchaft wenden, der ſie zunächſt angehören: das iſt die Gemeinde. Das rechtfertigt es wohl, die Frage in den Ge⸗ meinden zur Sprache zu bringen. Aber auch noch ein anderer Geſichtspunkt könnte vielleicht dafür angeführt werden, ein Geſichtspunkt, den Sie, meine Herren, vielleicht für durchſchlagender halten werden. Man braucht ja durchaus nicht an⸗ zunehmen, daß es böſer Wille ſeitens derjenigen Faktoren iſt, die im Reiche maßgebend ſind, daß dieſe Frage im Reiche von der Tagesordnung ge⸗ ſchwunden iſt, nicht auf die Tagesordnung geſetzt iſt. Man kann die Meinung haben, und wenn man die Perſon des gegenwärtigen Vertreters des Reichskanzlers ins Auge faſt, kann man dieſer Mei⸗ nung ſicherlich auch eine gewiſſe Berechtigung nicht abſprechen, daß trotz allen guten Willens, dieſes Problem von Reichs wegen zu löſen, die Löſung des⸗ wegen nicht gelingen will und nicht gelingen kann, weil es ſich um ein Problem von ſo weittragender Bedeutung handelt, daß eine allgemeine zentraliſtiſche Regelung von Reichs wegen unbedingt über das gegen⸗ wärtige Können hinausreicht. Würde man aus ſolchen Erwägungen heraus die Frage der Arbeitsloſenfür⸗ ſorge dauernd überhaupt als unlösbar abweiſen, nun, ſo würde man um mit dem verſtorbenen Herrn Röſicke zu ſprechen — der bürgerlichen Ge⸗ ſellſchaft das Todesurteil ſprechen. Weiſt man die Frage als vorläufig vom Reiche unlösbar zurück, und will man gleichzeitig dieſes Todesurteil für die bürgerliche Geſellſchaft nicht ausſprechen, dann, meine Herren, bleibt doch nur übrig, daß die kleinere Ge⸗ meinſchaft, daß die Gemeinden diejenigen Vorarbeiten treffen, die ſpäterhin einmal den Staat oder das Reich in den Stand ſetzen, die allgemeine zentraliſtiſche Regelung vorzunehmen. Freilich wird eine einzelne Gemeinde immer nur in einem ſehr begrenzten Rahmen und in ſehr begrenzter Weiſe die Frage der Arbeitsloſenfürſorge in die Hand nehmen können, weil ſchon räumlich das Gebiet der einzelnen Ge⸗ meinde ganz außerordentlich beſchränkt iſt. Aber wenn in den verſchiedenſten Gemeinden mit Erfolg eine Regenng dieſer Frage in die Hand genommen wird, dann können allerdings Vorbedingungen ge⸗ ſchaffen werden dafür, daß in einer weiteren Zukunft das Reich erfolgreich an einer Zuſammenfaſſung deſſen, was dann bereits geſchaffen iſt, denken kann und erfolgreich eine zuſammenfaſſende Regelung der Frage in die Hand nimmt. Derartige Erwägungen, denke ich, werden es wohl auch geweſen ſein, die vor nunmehr zwei Jahren den Charlottenburger Magiſtrat ver⸗ anlaßt haben, ſeinerſeits der Frage der Arbeitsloſig⸗ keit in Charlottenburg näher zu treten und Arbeits⸗ loſenzählungen in beſtimmten regelmäßigen Zwiſchen⸗ räumen zu veranlaſſen. Denn das, meine Herren, liegt ja auf der Hand, daß der Regelung einer Für⸗ ſorge für die Arbeitsloſen unbedingt vorangehen muß eine Ermittelung darüber, welchen Umfang die regelmäßige Arbeitslofigkeit etwa annimmt, und in welchem Umfange öffentliche Mittel in Anſpruch ge⸗ nommen werden müßten, genommen werden würden, um in wirkſamer Weiſe der Arbeitsloſigkeit reſp. den Folgen der Arbeitsloſigkeit zu begegnen. In Char⸗ lottenburg wurde alſo angeordnet, dreimal jährlich, Sacen im Winter und einmal im Sommer, eine ufnahme der Arbeitsloſen zu veranſtalten, und es haben ſolche Arbeitsloſenzählungen ſtattgefunden am 23. Februar, am 26. Juli, am 20. November 1904, am 26. Februar, am 23. Juli, am 25. November 1905, und es ſoll nunmehr die nächſte Arbeitsloſen⸗