—— 258 — haben wir nichts davon erfahren. Aber, meine Herren, in dem Tempo kann das doch nicht weiter gehen. Es wird zwar geſagt: die ärgſte Wohnungsnot iſt vorüber. Aber wenn auch die akuten Verhältniſſe, wie ſie eine Zeitlang beſtanden, vorüber ſind, ſo beſteht doch eine chroniſche Wohnungsnot noch ſehr empfindlich fort. Die Haupturſache für die Verbreitung vieler verheerenden Krankheiten liegt in dem ſchlechten Zuſtande und der Ubervölkerung der Wohnungen. Das wird von allen Autoritäten der Hygiene zu⸗ geſtanden. Profeſſor Fränkel in Halle führte auf dem Tuberkuloſekongreß von 1899 aus: Die Tuberkuloſe verbreitet ſich faſt allein innerhalb der Familien der unbemittelten Menſchen, die in geſchloſſenen, ſchlecht gereinigten und gelüfteten Räumen zuſammengedrängt leben, arbeiten und ſchlafen. Profeſſor Heubner ſagte auf dem Kongreß: Die Übertragung der Bazillen erfolgt meiſt in der Familie. Medizinalrat Kugler führte aus: Das dichte Zuſammenwohnen iſt für Krankheit von eingreifender Bedeutung. Geheimrat v. Leyden ſagte: Schlechte Wohnungen befördern die Verbreitung der Tuberkuloſe. Die Denkſchrift des Reichsgeſundheitsamtes über die Tuberkuloſebekämpfung ſagt: Die Übertragung der Tuberkuloſe findet am häufigſten durch das Zuſammenleben mit Tuber⸗ kulöſen unter ungünſtigſten Wohnungsverhält⸗ niſſen ſtatt. Noch auf der letzten Verſammlung des Vereins für öffentliche Geſundheitspflege vor drei Wochen am 12. September erklärte der Direktor der hieſigen Charité, Geheimrat Pütter: Bei Bekämpfung der Tuberkuloſe iſt als Grundſatz feſtzuhalten, daß die Tuberkuloſe eine Wohnungskrankheit iſt. „ Ich könnte noch ein halbes Dutzend andere Außerungen anführen; aber die angeführten werden wohl genügen. Von allen Seiten werden die ungünſtigen Wohnungsverhältniſſe als Urſache für die Verbreitung der Tuberkuloſe erklärt. Dasſelbe gilt von andern Infektionskrankheiten, von den entzündlichen Krankheiten der Atmungsorgane und zum großen Teil von der Säuglings⸗ und Kinder⸗ ſterblichkeit, die ebenfalls in erſter Linie Wohnungs⸗ krankheiten ſind. Das haben auch die Gemeinden eingeſehen, und ſie haben Maßregeln gegen die ſchweren Infektionskrankheiten, namentlich gegen die Tuberkuloſe, ergriffen; ſie haben ſich für verpflichtet gefühlt, ihnen entgegenzutreten. Es iſt ja auch auf dem Hygienekongreß von dem Beigeordneten Brugger in Köln der Leitſatz aufgeſtellt worden: Die planmäßige Bekämpfung der Tuberkuloſe ehört zu den Aufgaben der Gemeinde. Es ſind Fürſorgeſtellen für Lungenkranke er⸗ richtet worden; wir ſchicken auch jedes Jahr viele Lungenkranke in die Heilſtätten. Aber nur zu o müſſen wir erfahren, daß, wenn ſie gebeſſert wieder in ihre alte Wohnung zurückkehren, dann das Leiden bald wieder eintritt. Das iſt nicht bloß hier, es iſt im allgemeinen der Fall. In Deutſchland werden An 20 000 Kranke jährlich einer dreimonatigen ur in den Heilanſtalten unterzogen; 73% davon kehren zu dem alten Beruf zurück, 7% können noch in einem anderen tätig ſein; aber bei der Unterſuchung nach drei Jahren iſt feſtgeſtellt worden, die daß nur noch 29% davon arbeitsfähig und 57 %, ſchon verſtorben waren. Wir erfahren zwar nicht, daß die Betreffenden eine ſchlechte Wohnung hatten, und daß die Wohnung die Urſache der Krankheit war. Aber zuweilen wird doch der Schleier gelüftet. In der letzten Nummer der amtlichen Nachrichten unſerer Armenverwaltung klagt ein Arzt über den geſundheitsſchädlichen Zuſtand einiger Wohnhäuſer in der Chriſtſtraße. Meine Herren, mir iſt dieſer Zuſtand bei einigen Häuſern der Chriſtſtraße ſchon über 10 Jahre bekannt, und nicht allein mir, ſondern auch einer Reihe anderer Perſonen; aber geſchehen iſt darin nichts, obgleich die Befitzerin derſelben zu den ſehr wohlſituierten Leuten gehört. Es iſt aber noch außer dem Zuſtand der Wohnungen ſelbſt nicht ſelten die Art ihrer Benutzung eine geſundheitsſchädliche, wovon zwar die Betreffenden oft keine Ahnung haben. Da fällt mir ein, daß iu den letzten Wochen folgender Fall vorkam: eine Familie mit drei Töchtern mietete eine Wohnung von drei Stuben, Küche, Korridor; eine Stube vermietete ſie an einen Chambregarniſten, und die Familie dachte, die Wohnung wäre noch zureichend genug für ſie, und ſie wäre es auch wohl geweſen. Als ſie einzogen, ſahen ſie alle wohl ans; nur die mittlere Tochter, die im 15. Jahre war, war wohl etwas leidend; aber ſie ſpielte mit den anderen, ſie klopfte auf dem Hof die Teppiche aus, und ließ ſich nicht weiter ſtören. Aber es ſtellte ſich bald heraus, daß ſie lungenkrank war, und ſie iſt vor einigen Wochen geſtorben. Nach ihrem Tode erfuhr ich, daß bis kurz vor dem Tode eine Schweſter von ihr mit ihr in demſelben Bett gelegen hat. Die andern Töchter waren ganz geſund, als die Familie einzog; jetzt hat dieſer Tage der Arzt feſtgeſtellt, daß die beiden Schweſtern ebenfalls ſtark tuberkulös geworden ſind. Ja, die Leute haben nicht gewußt, daß ſowohl das Zuſammenſchlafen wie das Teppichklopfen durch eine kränkliche, ſchon lungenleidende Perſon ſchädlich iſt. Solche Fälle könnte ihnen Herr Dr. Becker von der Heilſtätte für Lungenkranke mehrere erzählen. Meine Herren, aus ſolchen Gründen halten wir auch bei uns die Einführung einer allgemeinen Wohnungsinſpektion für notwendig, wie ſie in England und in ſüddeutſchen Staaten, in Baden, Bayern, im Großherzogtum Heſſen, ſeit einer Reihe von Jahren ſchon beſteht. Auch in einigen preußiſchen Städten iſt ſie ſchon eingeführt, ſo in Barmen, Düſſeldorf, Elberfeld, Eſſen, Duisburg, Poſen. Meine Herren, wie die Fabrikinſpektoren ſehr nützlich dadurch wirken können, daß ſie ſich das Vertrauen der Arbeiter erwerben, die in den Fabriken be⸗ ſchäftigt ſind, gerade ſo können ſich die Wohnungs⸗ inſpektoren ſehr nützlich machen, wenn ſie ſuchen, die Bewohner auf Umſtände aufmerkſam zu machen, die ihnen ſchaden könnten. Da hat die Inſpektion im Großherzogtum Heſſen ſchon im Jahre 1903 eine Verfügung erlaſſen, die ich mir erlauben möchte, Ihnen kurz vorzuleſen. Sie zeigt recht, in welcher Weiſe das Auftreten der Wohnungsinſpektoren ft gegen das Publikum nützlich ſein kann. Gerade der Wohnungsinſpektor erhält ebenſo wie der Pfarrer und der Arzt einen näheren Einblick in die Verhältniſſe der armen und ärmeren Bevölkerungsklaſſen. Er darf aber dieſe Verhältniſſe nicht mit den kalten Augen eines Polizeiorgans betrachten; er muß ſich vielmehr hineindenken lernen in die Lage des kleinen Mannes und gegenüber den menſchlichen Schwächen, die ihm bei Ausübung ſeines Amtes