— 379 — und der Straße zubringen muß, während das Landkind in jeder freien Minute ſich in Feld und Wald austummeln kann. Wie notwendig nun aber für die Großſtadt⸗ jugend eine ausgiebige Erholungszeit iſt, in der auf eine körperliche Ausarbeitung Wert gelegt und Sorge getragen werden kann, das geht unter anderem auch aus den ſtatiſtiſchen Erhebungen der Heeresver⸗ waltung über die Dienſttauglichkeit hervor. Einem in dieſem Jahre in der Zeitſchrift für Schulgeſund⸗ heitspflege“ erſchienenen Aufſatze des Charlotten⸗ burger Schularztes Dr Poelchau entnehme ich, daß in Berlin nur 33 % aller Geſtellungspflichtigen brauchbar geweſen ſind. Und weiterhin muß darauf hingewieſen werden, daß in ſeinem Vortrage über die Bedeutung der öffentlichen Spiel⸗ und Sport⸗ plätze in Mannheim der Referent, Herr Sanitätsrat Schmidt, im Jahre 1905 ſich wörtlich folgender⸗ maßen geäußert hat: Wenn wir . .. ſehen, daß nach ärztlichem Urteil die Zahl der für ihr Lebensalter voll⸗ kräftigen und gut entwickelten Kinder in den verſchiedenſten Städten unſeres Vaterlandes faſt nirgendwo auch nur die Hälfte aller beträgt, vielfach auf ein Drittel, ein Viertel, ja auf noch niedrigere Bruchteile herabſinkt, ſo müſſen wir bekennen: es iſt keine geſunde, friſche und arbeitstüchtige, ſondern eher eine körperlich minderwertige Jugend, die uns heute in unſeren Städten heranwächſt.““ Zu dieſem Urteil iſt Herr Sanitätsrat Schmidt auf Grund ſtatiſtiſcher Erhebungen aus dem Jahre 1900 gekommen, und wenn nun auch in den letzten Jahren in den Städten auf Grund der vermehrten Beſtrebungen auf dem Gebiete der Volksgeſundheits⸗ pflege manches beſſer geworden iſt, ſo darf man meines Erachtens nicht vergeſſen, daß auch in dem⸗ ſelben Zeitraum die Anforderungen des Lebens an Schüler und Lehrer mindeſtens in gleichem Maße geſtiegen ſind. Von meinem Standpunkte als Arzt aus muß ich alſo auch noch heute für eine ver⸗ mehrte Feriendauer in den Großſtädten plädieren. Sehen wir uns nun die Einwände an, die gegen eine ſolche vermehrte Feriendauer erhoben worden ſind. Nicht ſtichhaltig iſt meines Erachtens der gegen die längere Feriendauer in den Städten geltend gemachte Einwand, daß durch die längere Feriendauer eine ſittliche Gefährdung der Jugend einträte, die in den Städten einer genügenden Aufſicht entbehre. Dieſer Einwand iſt übrigens in anderem Zuſammenhange bereits früher, als es ſich um die Gleichlegung der Volksſchulferien mit denen der höheren Lehranſtalten handelte, des öfteren erwähnt und widerlegt worden, ſo zuletzt noch im Jahre 1895 und 1899. Dieſer Ein⸗ wand müßte logiſcherweiſe zu einer Beſeitigung der Ferien überhaupt führen. Dieſer Gedankengang führt naturgemäß zur Aufſtellung folgender For⸗ derung: nicht die Ferien müſſen verkürzt werden, um die Jugend vor etwa eintretenden ſittlichen Gefahren zu bewahren, ſondern wenn wirklich ſittliche Gefahren in der längeren Feriendauer vorhanden ſind, ſo müſſen dieſe Gefahren durch geeignete Maßregeln, wie z. B. durch unter Aufſicht ſtattfindende Ferienſpiele und JIugendwanderungen oder durch Ferienkolonien, nach Möglichkeit bekämpft 9. Mn 1907. 1000 40 ft ſür zſenl. Geſindh 6 ergl. Vierteljahrsſchrift für öffentl. Geſundheitspflege. Bd. 38. 1906. S. 21 werden. Das geſchieht ja übrigens bereits und wird, wenn wirklich die Gefährdung wachſen ſollte, in immer noch ſtärkerem Maße geſchehen müſſen. Das immer wachſende Intereſſe der Be⸗ völkerung an den erwähnten Beſtrebungen, die nachgewieſene immer ſteigende Frequenz der Teil⸗ nehmer an den Jugendſpielen, an den Ferien⸗ wanderungen und den Ferienkolonien ſetzt mich aber zugleich in den Stand, auch noch einem anderen Einwand gegen die längere Feriendauer in den Städten zu begegnen. Es iſt geſagt worden, mit der längeren Feriendauer tue man vielen Eltern gar keinen Gefallen, viele wüßten gar nicht, was ſie mit den Kindern in den Ferien anfangen ſollten, und ſeien froh, wenn ſie dieſelben wieder in den Schulen wüßten. Dem gegenüber ſollte es eigent⸗ lich genügen, auf folgende beherzigenswerte Worte des Herrn Profeſſor Eulenburg hinzuweiſen: Wenn wir, — ſagt er — wie ſo augenſcheinlich in der Ferienfrage, die Rechte des Hauſes gegenüber einer Über⸗ ſpannung der Schulgewalt bereitwillig ver⸗ treten, ſo muß andererſeits auch das Haus, die Familie ſich der obliegenden erzieheriſchen Pflichten ſtets bewußt bleiben und kann es nicht der Schule überlaſſen, ſie davon, wie von einem läſtigen Zwange zu befreien; und gewiß wird man der Schulhygiene nicht zu⸗ muten dürfen, gegenüber den in bedrohlicher Weiſe anwachſenden Erſcheinungen körper⸗ licher Hinfälligkeit und Erſchöpfung bei einem anſehnlichen Bruchteil des Schülermaterials ihre wohlbegründeten Anforderungen ſolchen Einwendungen zu Liebe herabzuſtimmen oder darauf zu verzichten.“ Dieſer Einwand iſt aber nun ferner ebenfalls ſchon früher in den langjährigen Kämpfen der Ber⸗ liner und Charlottenburger Lehrerſchaft um die Gleichlegung der Volksſchulferien mit denen der höheren Lehranſtalten erhoben worden, weil durch eine ſolche Gleichlegung eine Verlängerung der Sommerferien in den Volksſchulen eintrat. In zahlreichen Reſolutionen und Petitionen, in häufigen Auslaſſungen der Tagespreſſe hat ſich aber bereits 1899 die Bevölkerung gegen die Auffaſſung ge⸗ wendet: daß etwa die ärmeren Familien, welche am Tage wenig Zeit haben, ſich mit den Kindern zu beſchäftigen, nur ungern eine weitere Ausdehnung der Ferien ſehen würden.““ Und auch aus den ſtatiſtiſchen Erhebungen, die hier in Charlottenburg 1899 darüber angeſtellt worden ſind, wieviel Kinder von der in dieſem Jahre verſuchsweiſe ſtattgehabten Verlängerung der Sommerferien auf 5 Wochen Nutzen gehabt haben, ergibt ſich, ein wie großes Intereiſe und Verſtändnis dieſer Ferienverlängerung auch von der ärmeren Bevölkerung entgegengebracht iſt. Berichtete doch Setag 4 Schuldeputation: a — ich zitiere wörtlich — 6 einer überraſchend großen Zahl von Kindern aus dieſer Verlängerung ein Segen er⸗ wachſen iſt. Vergl. „Die Woche“. 1907. Nr. 43. S. 1875. Vergl. die „Jahresberichte d. Berl. Lehrervereins“. 1892 u. 1899.