Ich perſönlich nähere mich aber den Aus⸗ führungen des Herrn Kollegen Dr Borchardt, in⸗ dem ich der Anſicht bin — und ich glaube, viele Freunde werden meine Anſicht teilen —, daß es die ſittliche Pflicht der Allgemeinheit iſt, da ein⸗ zugreifen, wo die Selbſthilfe nicht ausreicht. Dieſe ſittliche Pflicht der Allgemeinheit folgere ich aus der ſozialen Verpflichtung, den minderbemittelten und minder gut geſtellten Schichten der Bevölkerung zu helfen. Und ſo meine ich auch, daß die Arbeits⸗ loſenverſicherung von dieſem Standpunkt aus zu betrachten iſt, daß alſo, wenn die Selbſthilfe nicht ausreicht, das Reich oder die Kommune zu helfen und Beiträge oder Zuſchüſſe zu leiſten hat. Meine Herren, die Schwierigkeiten, dieſes Problem zu verwirklichen, bei welchem der durch Selbſthilfe geſchaffenen Arbeitsloſenverſicherung Zuſchüſſe zugewieſen werden, ſind, wie Herr Kollege Dr Frentzel heute ſchon beleuchtet hat, erheblich: wie ſoll ſolche Arbeitsloſenverſicherung geſtaltet werden, um nur nicht nur die organiſierten Arbeiter zu verſichern, ſondern auch die unorganiſierten? Die unorganiſierten Arbeiter haben eine viel ſchlechtere Lebenshaltung, eine viel ſchwierigere Exiſtenz als die organiſierten Arbeiter. Ferner: wenn freiwillige und ſelbſtverſchuldete Arbeits⸗ loſigkeit kein Gegenſtand einer Arbeitsloſenver⸗ ſicherung ſein ſoll, wie ſchwer iſt dann die Frage zu definieren: was iſt unfreiwillige und unverſchuldete Arbeitsloſigkeit? Alle die Momente, die die Grenzen der Arbeits⸗ loſenverſicherung beſtimmen, oder durch welche die Grenzen beſtimmt werden ſollen, ſind bis jetzt viel umſtritten, die Anſichten darüber ſind durchaus geteilt, und es iſt zuzugeben, daß die Grenzen in Wirklichkeit nicht erkennbar ſind. Herr Kollege Frentzel deutete ſchon darauf hin, daß eine rechte, echte Arbeitsloſenverſicherung Charlottenburg allein nicht in die Wege leiten kann, daß mindeſtens dazu der Zuſammenſchluß Groß⸗Berlins erforderlich iſt; ja, man kann auch der Anſicht ſein, daß eine wirklich vollkommene Arbeitsloſenverſicherung nur von Reichs wegen einzuleiten iſt. (Sehr richtig!) Aber meine Herren, wenn man ich ſpreche nur meine Uberzeugung aus; ich weiß nicht, wie die Mehrzahl meiner Freunde darüber denkt — wenn man die Geſchichte der Arbeitsloſenverſicherung verfolgt, ſo erkennt man, daß bei allen Nationen niemals eine Staatsregierung einen Anfang gemacht hat, ſondern daß immer die ſtarken Gemeinden, die Städte vorangegangen ſind. daher den Ausſchußantrag annehmen wollen, ſo würde ich wünſchen, daß es dem Magiſtrat gelänge, in Verbindung mit Groß⸗Berlin auf der Baſis des zu gründenden Zweckverbandes eine ſolche Idee zur Verwirklichung zu bringen oder einen prakti⸗ ſchen Vorſchlag zu machen. Nun hat Herr Kollege Dr. Borchardt eine Anderung dieſer Reſolution beantragt, nämlich inhaltlich: die Stadtverordnetenverſammlung möge den Magiſtrat erſuchen, in Erwägung zu ziehen, in welcher Weiſe aus ſtädtiſchen Mitteln Zuſchüſſe zur Arbeitsloſenverſicherung geleiſtet werden können. Eine ſolche Anderung der Reſolution könnte ich für meine Perſon annehmen. Aber was ſoll der Magiſtrat tun? Wenn wir uns auf den Standpunkt ſtellen, daß es richtig iſt, daß die Stadtgemeinde Charlottenburg in Verbindung mit Berlin auf dieſem Gebiete vorgeht, ſo muß man es Und wenn Sie 86 — dem Magiſtrat doch erſt überlaſſen, Material zu ſammeln, Vorſchläge zu machen — es beſteht ja überhaupt noch keine Statiſtit in Charlottenburg und Berlin — und dann eine Vorlage zu machen. Ich meine, daß der Ausſchuß weit genug gegangen iſt, indem er durch den zweiten Punkt der Re⸗ ſolution zu erkennen gegeben hat, daß er eine wohlwollende Prüfung dieſer Frage wünſcht. Ich wünſche aber — und damit komme ich auf das zurück, von dem ich ausging „ wenn ein greif⸗ bares Projekt vom Magiſtrat uns vorgelegt werden ſollte, daß die Grundlage desſelben die Selbſthilfe der Arbeiter iſt. Ohne eine ſolche Selbſthilfe der Arbeiter dürfen Zuſchüſſe zur Arbeitsloſenver⸗ ſicherung niemals geleiſtet werden. Stadtv. Dr. Stadthagen: Meine Herren, meine Freunde ſtimmen dem erſten Teil der Reſolution vollkommen zu, wie ja auch die Mehrzahl der Ver⸗ ſammlung. Aber ich kann mich für meine Perſon — und ich hoffe, daß viele aus der Verſammlung dem folgen werden — nicht dazu entſchließen, dem zweiten Teil der Reſolution meine Zuſtimmung zu geben. Sie haben ſchon aus den Worten des Herrn Referenten gehört, daß eigentlich eine volle Be⸗ gründung für die Annahme dieſes zweiten Teiles gar nicht vorlag. Es iſt das ein mehrmals ver⸗ wäſſerter Antrag der ſozialdemokratiſchen Fraktion, dem dieſe Fraktion ſchließlich auch, weil er ihr zu ſehr verwäſſert war, nicht mehr ihre Zuſtimmung gegeben hat allerdings vielleicht aus taktiſchen Rückſichten, damit die anderen ihn annehmen. (Stadtv. Hirſch: Nein, nein!) Aber es liegt in dem Antrage doch noch viel drin. Wie Herr Kollege Wöllmer ſehr richtig bemerkte, müſſen wir dieſen zweiten Teil annehmen, wenn wir der Anſicht ſind, daß die Stadt ſtädtiſche Mittel für Zwecke der Arbeitsloſenverſicherung zur Ver⸗ fügung ſtellen ſoll. (Stadtv. Hirſch: Sehr richtig!) Zu dieſem Standpunkt kann ich mich nicht bekennen. Das Problem der Arbeitsloſenverſicherung iſt in der heutigen Zeit ſehr wichtig: es iſt aber auch ſehr ſchwierig. Ich glaube doch, mit ſehr vielen hier in der Verſammlung darin übereinzuſtimmen, daß eine wirkliche Arbeitsloſenver⸗ ſiche r un g im Sinne des Herrn Kollegen Wöllmer nur möglich i ſt auf der breiten Baſis des Reiches oder des Staates. (Sehr richtig!) Meine Herren, ein Eingriff einzelner Städte in dieſe Materie würde zu den größten Schwierig⸗ keiten, zu den größten kommunalen und ſozialen Schwierigkeiten führen. Ich warne dringend vor dieſem Wege. Nun beſagt ja allerdings die Reſolution noch nicht ſo ſehr viel inſofern, als das Wörtchen „ob“ darin ſteht. Es wird geſagt: ob der Magiſtrat es empfiehlt. (Stadtv. Holz: In welcher Weiſe!) — Ja, darauf komme ich gleich. — Nun könnte ich ja das Vertrauen zu dem Magiſtrat haben, daß er in meinem Sinne unter allen Umſtänden zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Verſicherung „unter Hergabe von ſtädtiſchen Mitteln“ nicht in Betracht kommt. Meine Herren, dann könnte ich dieſem Antrage in dieſem Sinne auch zuſtimmen. Ich habe bis zu einem gewiſſen Grade zum Magiſtrat auch dieſes Vertrauen. (Stadtv. Hirſch: Sehr wahr!)