107 —— Stadtv. Flemming: Meine Herren, es ſteht ohne jeden Zweifel feſt, daß die Bedürfnisfrage zu bejahen iſt. Die Gewerkſchaftskommiſſion der Stadt Charlottenburg hat vor Jahren eine Rechts⸗ auskunftsſtelle eingerichtet. Von dieſer wurden im Jahre 1902 51 Auskünfte erteilt und 28 Schrift⸗ ſätze aufgeſetzt; im Jahre 1903 wurden 250 Aus⸗ künfte erteilt und 102 Schriftſätze angefertigt; im Jahre 1904 wurden 313 Auskünfte erteilt und 158 Schriftſätze angefertigt und im Jahre 1905 533 Aus⸗ künfte und 362 Schriftſätze. Dabei will ich bemer⸗ ken, daß dieſe Auskunftsſtelle im Nebenamt be⸗ trieben wurde, nicht durch einen feſtangeſtellten Beamten, ſondern durch Beamte, die das in ihrer freien Zeit bewerkſtelligten. Alſo die Bedürfnis⸗ frage iſt ohne Zweifel zu bejahen. Überhaupt iſt ja die Sache, die uns heute vor⸗ getragen wird, nicht neu. Im Jahre 1904 iſt auch von Seiten unſerer Fraktion ein Antrag dahin ge⸗ ſtellt worden: Die Stadtverordnetenverſammlung wolle beſchließen, unter Ablehnung des Antrages Stein und Gen. den Magiſtrat zu erſuchen, im nächſten Etat eine Summe von 3000 ℳ zur Unterſtützung der von der Charlottenburger Gewerkſchaftskommiſſion errichteten Aus⸗ kunftsſtelle für Arbeiter und Arbeiterinnen einzuſtellen. Wie ja alle unſere Anträge, ſo iſt auch dieſer Antrag unter den Tiſch des Hauſes gefallen. (Zuruf: Alle?) — Na, faſt alle. (Widerſpruch. Stadtverordneter Dr Crüger: Dafür können wir doch nichts!) — Ja, es tut mir auch leid. — Wie geſagt, über dieſe Sache läßt ſich ſehr viel ſprechen. Wir werden ja in der Kommiſſion, der wir ebenfalls zuſtimmen, über den Verein das Nähere hören. Ich weiß über dieſen Gemeinmnützigen Verein ſehr wenig; ich weiß nur, daß in Bremen ein Verein exiſtiert, der ſehr gut arbeitet. Ich will hier noch auf eine Sache aufmerk⸗ ſam machen. Der Herr Oberbürgermeiſter ſagte im Jahre 1904 in ſeiner Rede: Es iſt nicht gut, wenn der Bürger überall bevormundet wird, und wenn überall von Stadt und Staats wegen eine Stelle beſteht, die ihm ſagt, was er zu tun hat. Es iſt viel beſſer, wenn der Bürger ſelbſtändig gemacht wird und aus eigener Klugheit und aus eigener Erwägung ſich ein richtiges Urteil bilden kann und in der Welt vorwärts kommt. Und dafür haben wir ja geſorgt, wir wieder, wir Städte durch unſere Schulen. Ja, meine Herren, wenn wir in den Schulen da⸗ für geſorgt hätten, wenn wir ſtatt des vielen Reli⸗ gionsunterrichtes etwas mehr Geſetzeskunde den Volrsſchülern geben würden, dann würden wir auch einen Schritt in dieſer Beziehung vorwärts kommen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es würden dann nicht ſo viele Gefängniſſe voll ſein — die Verſicherung kann ich Ihnen geben. Gerade auf dieſem Gebiete, in Bezug auf die Rechts⸗ kunde, iſt unter den Arbeitern viel zu machen. Meine Herren, die Arbeiterſchaft Charlotten⸗ burgs holt ſich ja Rat von dem Berliner Arbeiter⸗ ſekretariat. Wenn auch hier dieſe Auskunftsſtelle errichtet werden wird — was ich nach den Aus⸗ führungen des Herrn Stadtſyndikus allerdings be⸗ zweifeln möchte, es wird ſchließlich doch daraus nichts werden —, ſo wird ſich die Arbeiterſchaft Charlottenburgs nach wie vor von dem Berliner Arbeiterſekretariat Auskunft holen. Aber es wird auch hier in Charlottenburg zu einer derartigen Stelle kommen. Dafür werden wir ebenfalls Sorge tragen müſſen; denn die bisherige Erfahrung hat bewieſen, daß eine ſolche Stelle notwendig iſt. Wir werden darüber weiter in der Kommiſſion zu ſprechen haben. Jedenfalls ſind wir mit einer Kommiſſionsberatung einverſtanden. Stadtv. Holz: Meine Herren, da auch der Herr Vorredner im Prinzip für Verweiſung der Sache an einen Ausſchuß iſt, ſo kann ich mich kurz faſſen. Ich habe mich gefreut, daß Herr Kollege Crüger ſich der Mühe unterzogen hat, in ſo ein⸗ gehender Weiſe dieſe ſchwierige Materie zu be⸗ handeln und ihr manche Lichtpunkte abzugewinnen. Er hat auch hiſtoriſch an Hand der damaligen aus⸗ führlichen Beratung beleuchtet, was für und gegen eine derartige Anregung ſpricht. Wir werden in dem Ausſchuß Gelegenheit haben, uns über alle dieſe ſtrittigen Punkte zu unterhalten. Nur möchte ich darauf hinweiſen, meine Herren, daß auch ſchon der Antrag ſelbſt nach ſeinem Tenor ſo gefaßt war, daß man zunächſt wird ſagen müſſen: er iſt weder ſofort anzunehmen noch ſofort abzulehnen, ſondern er bedarf einer ſorgfältigen und eingehenden Prü⸗ fung. Der Stadtſyndikus hat mit Recht darauf hingewieſen, daß die Begründung, die ich natürlich ſelbſt noch gar nicht unterſchreiben kann, für die Einrichtung derartiger Rechtsberatungsſtellen in der Literatur lediglich auf die Behauptung zurück⸗ geführt wird: die Rechtsanwaltſchaft und das Armenrecht in der Zivilprozeßordnung verſagen, es iſt deshalb notwendig, ein Surrogat zu ſchaffen. Hierüber iſt bei der erſten Behandlung der Sache in der Stadtverordnetenverſammlung ausführlich verhandelt worden. Es iſt mit Recht hervorgehoben worden, daß mit Rückſicht auf die beſondere Vor⸗ ſchrift unſerer Geſetze, daß jeder das Geſetz kennen muß, mit Rückſicht darauf, daß dieſer Grundſatz zu außergewöhnlichen Härten führt, es notwenidg erſcheint, irgend einen Erſatz zu finden, um dem gewöhnlichen Mann aus dem Volke, dem kleinen Mann, dem Mittelſtande zu helfen. Es kann ſich eben nur fragen, ob die Art und Weiſe der Hilfe, wie ſie hier vorgeſchlagen wird, die richtige iſt, oder ob es zweckmäßig ſein würde, überhaupt die Sache von Stadt wegen in die Hand zu nehmen. Da möchte ich gegenüber meinem Freunde Crüger und auch gegenüber dem zweiten Redner doch den Herrn Oberbürgermeiſter in Schutz nehmen. Ich habe mich der Mühe unterzogen, die Rede des Herrn Oberbürgermeiſters nachzu⸗ leſen; ſie enthält nach meinem Dafürhalten die geſündeſten Gedanken, die überhaupt über dieſe Frage ausgeſprochen werden können. Der Herr Oberbürgermeiſter hat an Hand des allgemeinen Landrechts und der ganzen Landes⸗ und Reichs⸗ Geſetzgebung darauf hingewieſen, daß eigent⸗ liſch die Kommunen die Sache garnichts angehe; er hat ausführlich nachgewieſen, aus dem Rechte, aus den Geſetzen des Staates heraus, daß es Sache der Juſtizverwaltung ſei, hier die notwendigen Ein⸗ richtungen zu treffen. Der Erlaß des Handels⸗ miniſters vom 2. Juli 1904, ſo ſchön er auch klingt, enthält doch nach meinem Dafürhalten — darin ſtimme ich dem Herrn Oberbürgermeiſter voll⸗