— 154 — Meine Herren, Herr Kollege Zietſch iſt aus⸗ gegangen — oder wenigſtens hat das einen wich⸗ tigen Raum in ſeinen Ausführungen eingenommen — von der Heimarbeitsausſtellung, die im Jahre 1906 in Berlin ſtattgefunden hat. Auch ich bin der Uberzeugung, daß die Veranſtalter der Heim⸗ arbeitsausſtellung ſich ein großes Verdienſt er⸗ worben haben inſofern, als weite Kreiſe dadurch für die ſozialpolitiſchen Bedürfniſſe der Haus⸗ induſtrie intereſſiert worden ſind. Auf der anderen Seite iſt aber doch in einwandfreier Weiſe feſtge⸗ ſtellt worden, daß die Heimarbeitsausſtellung nicht frei von“ Einſeitigkeiten geweſen iſt und einen objektiven Maßſtab für die Lage der Heim⸗ arbeiter nicht bieten konnte. Die Induſtrie iſt ja im allgemeinen in einer Entwicklung begriffen, welche die Ausbreitung der Heimarbeit eher hemmt als fördert. Die Überhand⸗ nahme des Maſchinenbetriebes bringt es in vielen Zweigen der Induſtrie mit ſich, daß der Arbeit⸗ nehmer in den Räumen des Arbeitgebers arbeiten muß. Trotzdem haben wir ganze große Induſtrien, die ſich heute noch in außerordentlich erheblichem Umfange der Heimarbeit bedienen und ſie für unentbehrlich erachten. Ich möchte beſpielsweiſe hervorheben, daß die Konfektionsinduſtrie ihren Aufſchwung nicht zum mindeſten darauf zurück⸗ führt, daß es ihr durch die Heimarbeit möglich ge⸗ weſen iſt, die Ausgaben für eigene Arbeitsräume weſentlich zu verringern. Und allen Beſtrebungen auf Verminderung der Hausinduſtrie ſteht die Tatſache gegenüber, daß die Zahl der Heimarbeiter nicht im Rückgang, ſondern im Wachſen begriffen iſt. Nun, meine Herren, iſt derraditale Standpunkt, die Heiminduſtrie unterallen Umſtändenzu verwerfen, aber auch vom Intereſſe der Arbeitnehmer, der Heimarbeiter, aus — ich faſſe zunächſt dem Sprachgebrauch folgend unter dieſer Bezeichnung die eigentlichen Heimarbeiter und die ſelbſtändigen Hausgewerbetreibenden zuſammen nicht unbe⸗ dingt gerechtfertigt. Die Heimarbeit iſt heute viel⸗ fach die Arbeit der verheirateten Frau, und wenn man dieſen Elementen die Heimarbeit unzugänglich machen würde, würde man einmal Perſonen, die eine Arbeit verrichten wollen, die Möglichkeit dazu nehmen was ich ohne weiteres nicht für zuläſſig halte —, darüber hinaus aber die Lebens⸗ haltung von Arbeiterfamilien recht weſentlich ver⸗ ſchlechtern. Denn, wie geſagt, die größte Anzahl der in der Heimarbeit beſchäftigten Frauen ſind ver⸗ heiratete Frauen. Die Heimarbeit iſt weiterhin in großem Umfange die Arbeit der ungelernten Arbeiter, und auch dieſe ſollen meiner Anſicht nach dem Pro⸗ duktionsprozeß ohne Not nicht entzogen werden. Sie iſt ferner eine Arbeit, in der ſich oft Invaliden betätigen, und endlich eine Arbeit, welche einen Unterſchlupf denjenigen Arbeitern gewährt, die vorübergehend beſchäftigungslos ſind. Ich kann nicht alle die Momente, die in betracht kommen, würdigen; ich glaube aber, daß ſchon das Geſagte genügt, um nachzuweiſen, daß es auch im Intereſſe des Arbeitnehmers nicht erwünſcht iſt, die Heim⸗ arbeit radikal auszuſchalten. Auf der anderen Seite, meine Herren, iſt es natürlich gerade deshalb um ſo nötiger, daß alles das getan werden muß, was möglich iſt, um die ſoziale Lage der Heimarbeiter zu verbeſſern, und in dieſem Sinne begrüßen meine Freunde den Antrag des Herrn Kollegen Zietſch, allerdings mit der Ein⸗ ſchränkung, daß wir das, was er für theoretiſch richtig erklärt hat, auch praktiſch in dem Antrage zum Ausdruck gebracht ſehen wollen, indem wir darin ſtatt „Heimarbeiter“ „Hausgewerbetreibende“ geſagt haben möchten. Ich habe mir geſtattet, einen diesbezüglichen Antrag dem Herrn Vorſitzenden zu übergeben; er wird wohl dann zur Verleſung ge⸗ langen. Den Antrag ſo anzunehmen,wie Herr Kollege Zietſch es wünſcht, iſt nach der Rechtslage durchaus nicht angebracht. Denn wenn nun mal im Geſetze tatſächlich feſtgelegt iſt, daß die Heim⸗ a rbeiter ſchon heute verſicherungspflichtig ſind — und nach dem Wortlaute des Geſetzes im § 1 in Verbindung mit dem autoritativen Kommentar von Hahn iſt das zweifellos der Fall —, dann ſcheint es mir widerſinnig, daß wir hier wegen gewiſſer Mög⸗ lichkeiten einer geſetzwidrigen Praxis — für die ich übrigens nicht, wie Herr Kollege Zietſch, den Arbeit⸗ geber verantwortlich mache, ſondern den Arbeit⸗ nehmer, der von dem ihm geſetzlich eingeräumten Recht keinen Gebrauch macht — einen falſchen Be⸗ ſchluß faſſen ſollen, ſondern ich meine, wir müſſen ihn korrekt nach dem Geſetze faſſen. Übrigens wird das etwaige Bedenken des Herrn Zietſch auch da⸗ durch wegfallen, daß ich in dem Antrage nicht ge⸗ ſagt habe: „ſelbſtändige Hausgewerbetreibende“, ſondern nur „Hausgewerbetreibende“, ſodaß auch Heimarbeiter ſchließlich darunter ſubſumiert werden fönnen. Wie geſagt, meine Herren, mit dieſer Abänderung treten wir dem Antrage des Herrn Kollegen Zietſch bei, obwohl wir nicht im unklaren darüber ſind, daß die Ausführung des Antrages dem Magiſtrat ſehr erhebliche Schwierigkeiten machen wird. In dieſer Richtung mache ich vor allen Dingen darauf aufmerkſam, daß, wenn ein Verſicherungs⸗ ſtatut nur für Charlottenburg feſtgeſtellt würde, es unmöglich ſein würde, gegenüber den außerhalb Charlottenburgs ihr Gewerbe betreibenden Arbeit⸗ gebern der Charlottenburger Hausinduſtriellen die Verpflichtungen, die ihnen in dem Ortsſtatut auf⸗ erlegt würden, — zu Beiträgen, An⸗ und Ab⸗ meldungen uſw. — durchzuführen, und daß es aus dieſem Grunde meines Erachtens nicht möglich ſein wird, ſchematiſch das Beiſpiel Berlins nachzuahmen. Es wird ſich empfehlen, ein Einverſtändnis mit Berlin anzuſtreben, um ein gemeinſames Orts⸗ ſtatut für Berlin und Charlottenburg, vielleicht noch für andere Vororte, einzuführen, welches eine gleich⸗ mäßige Regelung für alle die Vororte und Berlin ſelbſt umfaßt. Dadurch wird auch das Bedenken des Herrn Stadtrats Boll beſeitigt werden, daß etwa die Arbeitnehmer in Charlottenburg infolge eines Ortsſtatuts weniger Arbeit bekämen als in benachbarten Vororten ohne Ortsſtatuwd. Eine andere Schwierigkeit, die in der Materie liegt, iſt die der Begrenzung der Beitragspflicht nach oben und nach unten. Wir werden ja alle darüber klar ſein, daß man, je mehr man den ſozialen Geſichtspunkten der Verſicherungsgeſetze Rechnung tragen will, um ſo mehr darauf achten muß, dieſe Begrenzung richtig vorzunehmen. Berlin hat die Begrenzung nach oben mit 1500 ʒ gemacht. Es wird zu prüfen ſein, ob das für unſere Verhält⸗ niſſe paßt. Es wird weiter zu prüfen ſein, ob nicht eine Begrenzung nach unten ſtattfinden ſoll, die beiſpielsweiſe von einer Seite bis zur Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes vorgeſchlagen iſt, damit nicht etwa eine Belaſtung mit Verſicherungsbeiträgen eintritt, welche außer Verhältnis ſteht zu dem Verdienſte des Einzelnen.