— — 536 —— Prüfung übernahmen. Nun hatten meine Freunde im Dezember vorigen Jahres bekanntlich einen Antrag geſtellt, eine Enquete zu veranſtalten, damit wir einmal das Maß der Bedürftigkeit feſt⸗ ſtellen, was vorher bekanntlich nicht der Fall ſein konnte; wir wollten wiſſen: reichen die Mittel aus, um die vorhandene Bedürftigkeit zu befriedigen? Wir haben dabei gleichzeitig vorausgeſetzt, was ja auch der Magiſtrat hiermit erfüllt hat, daß er ſich nicht nur begnügen wird, ein Ergebnis feſt⸗ zuſtellen, ſondern nun auch Stellung hierzu nehmen wird. Dieſe Enquete liegt uns nun vor. Es iſt eine — darin werden Sie mit mir übereinſtimmen — große Arbeit, und ich möchte ſagen, auch eine gute Arbeit. Das Ergebnis dieſer Zählung iſt nun, wie aus der Tabelle hervorgeht, daß 850 Kinder mit Frühſtück zu verſorgen ſind und 500 Kinder — bzw. wenn die Annahme des Magiſtrats zu⸗ treffen ſollte, daß nicht alle kommen — 450 Kinder mit Mittageſſen. Die Schulſpeiſung dieſer Kinder würde uns, wenn die Kalkulation des Magiſtrats richtig iſt, für ein Jahr etwa 40 000 ℳ koſten. Da das Syſtem erſt jetzt in volle Wirkſamkeit treten ſoll, wird zur Ergänzung der vorhandenen Mittel eine Summe von 16 000 ℳ verlangt. Herr Kollege Vogel hat ſich mit dieſen Aus⸗ gaben einverſtanden erklärt. Aber ich meine: wir müſſen auch noch zu den Grundſätzen Stel⸗ lung nehmen, nach denen dieſe Schulſpeiſung er⸗ folgen ſoll. Der Magiſtrat gibt in ſeiner Vorlage dieſe Grundſätze an, die er ſich zur Richtſchnur nehmen will, und wir müſſen ebenfalls dazu Stellung nehmen, ſei es, daß wir dieſe Grundſätze anerkennen oder ſie abzuändern oder gar ſie zu verwerfen wünſchen. In der Vorlage ſind drei Grundſätze zum Ausdruck gebracht. Der erſte Grundſatz enthält, wenn ich ſo ſagen darf, die Theſe: keine allgemeine Schulſpeiſung, auch keine fakultative Schulſpeiſung, vor allen Dingen keine obligatoriſche Schulſpeiſung. Es ſoll alſo in der Regel auch nicht die Schul⸗ ſpeiſung ſtattfinden, wenn die Eltern ſich bereit erklären, die Selbſtkoſten zu tragen oder dazu beizuſteuern — alſo keine allgemeine Schulſpeiſung; denn der Magiſtrat geht nach unſerer Anſicht voll⸗ kommen richtig von der Anſchauung aus, daß nach unſerer Geſellſchaftsordnung es die Pflicht der Eltern in erſter Reihe iſt, für ihre Kinder zu ſorgen, daß das nicht Sache der Allgemeinheit iſt, ſondern daß die Allgemeinheit nur dann eingreift, wenn die Bedürftigkeit feſtgeſtellt iſt, wenn alſo die Eltern nicht in der Lage ſind, eine auskömmliche Speiſung ihrer Kinder vorzunehmen. Ich gebe ja zu: die Schulſpeiſung ſteht in einem urſächlichen Zu⸗ ſammenhang mit der Schulpflicht, aber nicht etwa in dem Sinne, daß man nun aus der Schulpflicht auch die Schulſpeiſungspflicht folgern müßte. (Rufe bei den Sozialdemokraten: Gewiß!) Wein aber in den Schulen hungernde oder nicht genügend ernährte Kinder vorhanden ſind, die dem Unterricht nicht in dem erforderlichen Maße folgen können, da alſo Hunger und Unterernährung verhindern, daß die Kinder in der von der All⸗ gemeinheit gewünſchten Weiſe eine auskömmliche Schulbildung erhalten, ſo iſt es Pflicht der All⸗ gemeinheit, alſo der Gemeinde, nun zu prüfen, in welchen Fällen und warum die Eltern ihre Pflicht nicht erfüllen. Wird feſtgeſtellt, daß die Bedürftigkeit die Urſache iſt, ſo tritt die Allgemein⸗ heit ein, und ſie iſt verpflichtet, für die Kinder zu ſorgen. Es handelt ſich alſo in erſter Reihe um die Fürſorge für die Bed ürftigen. Das ſollte auch das Motto ſein, das über dieſer Vorlage ſteht. Nun iſt aber dieſer erſte Grundſatz des Ma⸗ giſtrats noch etwas weiter gefaßt. Er ſchließt nämlich nicht aus — ich interpretiere ihn ſo —, daß, falls beide Eltern tagsüber auf Arbeit ſind, nicht zu Hauſe ſind und auch kein Erſatz für die Mutter da iſt, um ein Mittageſſen zu bereiten, und auch abends kein warmes Eſſen bereitet werden kann, dann auch die Frage geprüft werden ſoll in einzelnen Fällen: wollen wir dieſe Kinder auch an der Mittag⸗ ſpeiſung teilnehmen laſſen? und dann die Frage: können und ſollen die Eltern die Selbſtkoſten tragen, oder in welchem Umfange ſollen ſie an den Selbſtkoſten partizipieren? Der zweite Grundſatz, den der Magiſtrat auf⸗ geſtellt hat, behandelt die mangelnde Für⸗ ſorge der Eltern, und es kommt zum Ausdruck, daß der Magiſtrat auch die Pflicht⸗ vergeſſenheit der Eltern in keinem Falle unterſtützen will. Denn die Betätigung des ſo⸗ zialen Empfindens darf nicht dahin treiben, daß das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit ver⸗ loren geht oder vermindert wird. Ich habe in Berlin, als dort Recherchen für Schulſpeiſung vorgenommen wurden, einen Fall gehört, in dem einige Kinder von dem Lehrer gefragt wurden: warum bekommt ihr denn nun morgens kein warmes Frühſtück? da haben einige Kinder ge⸗ antwortet: weil Mutter noch zu Bette liegt. Meine Herren, es wäre traurig, wenn die Be⸗ tätigung des ſozialen Empfindens, die ſoziale Für⸗ ſorge die Folge haben ſollte, wie in einem Bericht zum Ausdruck gebracht wird, daß das Gefühl der eigenen Verantwortlichteit ſich in dem Maße ab⸗ ſchwächt, wie die ſoziale Fürſorge zunimmt.“ Ich hoffe es nicht, glaube es auch nicht. Wir müſſen aber den Grundſätzen des Magiſtrats folgen und acht geben, daß nicht die Pflichtvergeſſenheit der Eltern unterſtützt wird. Nun kann man ja fragen: warum ſollen dieſe armen, unglücklichen Kinder, deren Eltern ihre Pflicht nicht erfüllen, unter dieſer Bflichtver⸗ geſſenheit ihrer Eltern leiden? (Stadtv. Vogel 1: Na alſo!) Es iſt ja gewiß bedauerlich, wenn dieſe Kinder erſt in letzter Reihe berückſichtigt werden ſollen; aber es iſt doch immer im Leben ſo, daß die Kinder für die Sünden der Eltern büßen müſſen, und wenn wir Grundſätze aufſtellen, ſo müſſen wir doch ſchließ⸗ lich dieſe Kinder in letzter Reihe berückſichtigen — ſie ſollen ja berückſichtigt werden, aber in letzter Reihe. Würden wir dieſen Grundſatz nicht auf⸗ ſtellen, ſo würden wir nur die Begehrlichkeit oder die Faulheit von irgendwelchen Perſonen wach⸗ rufen und ſtärken. Es wird auch zu prüfen ſein, ob nicht das Geſetz eine Handhabe bietet, um dieſer Pflichtvergeſſenheit gegenüber energiſch aufzu⸗ treten — das Fürſorgegeſetz oder irgendein anderes. Auch der dritte Grundſatz iſt, wie die beiden vorhergehenden Grundſätze, von uns durchaus zu billigen. Auch wir ſind der Anſicht, daß es beſſer iſt, falls eine arme Familie, die vorher noch keine Armenunterſtützung bekommen hat, mit Rückſicht auf ihre Kinder ſich meldet, daß man nicht eine Unterſtützung gibt, ſondern lieber die Kinder an der Schulſpeiſung teilnehmen läßt. Ich trete ganz