Sitzung vom 30. Juni 1909 auf einem Gebiet, das nicht zu Charlottenburg, ſondern zu Spandau gehört; aber es handelt ſich um eine Charlottenburger Anlage, es handelt ſich um Arbeiter aus Berlin und Charlottenburg, und da meine ich: wenn der Tarif in dieſer Hinſicht nicht ganz klar iſt, dann muß man zweifellos zugunſten der ſchwächeren Seite, d. h. zugunſten der Arbeiter, entſcheiden. Im übrigen weiß ich von verſchiedenen, nicht nur von Arbeitern, die dort tätig waren, ſondern auch von anderer Seite, daß erzählt wird, der Firma ſei der Streik gar nicht ſo unangenehm geweſen; die Firma hatte Anlaß, zu fürchten, daß ihr aus anderen Gründen eine Konventional⸗ ſtrafe auferlegt würde, und hat ſich nun geſagt: jetzt kommt der Streik, jetzt haben wir wenigſtens einen Vorwand, die Konventionalſtrafe nicht zahlen zu brauchen. Das iſt vorläufig nur eine Behaup⸗ tung; es wäre aber erwünſcht — — (Zurufe bei den Liberalen) — ich führe das hier an; ich verſtehe die Zurufe nicht; wenn Sie geiſtreiche Zurufe haben, dann machen Sie ſie laut, ſonſt behalten Sie ſie für ſich! (Stadtv. Münch: Iſt nichts Neues!) — Wenigſtens für Herrn Münch nicht; der weiß überhaupt alles. — Ich erkläre ausdrücklich: es handelt ſich vorläufig um eine Behauptung, daß die Firma erklärt habe, daß ſie auf dieſe Weiſe die Konventionalſtrafe nicht zu zahlen brauche. Im übrigen wird es ja Sache des Magiſtrats ſein, uns darüber Auskunft zu geben, ob es wahr iſt, daß die Firma bei ihm vorſtellig geworden iſt, und daß der Firma die Friſt verlängert worden iſt. Falls ſie ihr verlängert worden iſt, bitte ich den Magiſtrat um genaue Angabe der Gründe, aus denendas igeſchehen iſt. Ich beſchränke mich vorläufig auf dieſe Aus⸗ führungen. Von der Antwort, die wir vom Magiſtrat erhalten, wird es abhängen, ob ich noch einmal das Wort ergreifen muß. Stadtrat Seydel: Wenn ich mich auf das beſchränken wollte, was der Unternehmer dem Magiſtrat ſchuldig iſt, alſo lediglich auf die vertraglichen Pflichten des Unternehmers gegenüber dem Magiſtrat, dann würde ich mich ſehr kurz faſſen können. Ich glaube aber, daß ich es dem Unternehmer, der für uns arbeitet, ſchuldig bin, etwas weiter zu gehen und darzulegen, wie er ſich ſeinen Arbeitern gegenüber verhalten hat. Zunächſt iſt feſtzuſtellen, daß am 8. Juni d. I. von den 72 Arbeitern, d. h. 45 Arbeitern und 27 Zim⸗ merern, ohne jede Angabe von Grün⸗ d e n plötzlich im Laufe des Tages 57 Arbeiter die Arbeitsſtelle verließen. Ich behaupte nach den Auskünften, die mir von dem Unternehmer ſelbſt, dem Polier und dem Zimmerpolier gegeben worden ſind, daß die Arbeiter Gründe für die Arbeits⸗ niederlegung nicht angegeben haben, daß ins⸗ beſondere Auseinanderſetzungen über irgendwelche Verbeſſerungen der Arbeitsbedingungen nicht ſtatt⸗ gefunden haben. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Die Arbeiter 2 hätten Sie fragen müſſen!) — Ich habe den Zimmerpolier gefragt. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Das iſt kein Arbeiter!) — Er iſt doch immerhin Vertrauensmann der Arbeiter. (Widerſpruch bei den Sozialdemokraten.) 7 341 — Die Arbeiter waren inzwiſchen weg; ich wüßte nicht, an wen ich mich hätte wenden ſollen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Arbeiter ſtanden doch Streikpoſten! — Glocke des Vorſtehers.) Vorſteher Kaufmann (unterbrechend): Laſſen Sie doch den Herrn Magiſtratsvertreter ausreden! Sie werden nachher Gelegenheit haben, das Wort zu nehmen. Stadtrat Seydel (fortfahrend): Ich habe keinen Anlaß, die Mitteilungen, die mir von ſeiten des Arbeitgebers, insbeſondere auch von dem Polier und dem ihm unterſtellten Zimmerpolier gegeben worden ſind, zu bezweifeln. Bereits am Tage der Arbeitsniederlegung ſowie an den folgenden Tagen fanden ſich einige Arbeiter wieder ein, einige wurden neu dazu geworben, ſo daß nach 2 Tagen ſich etwa die Hälfte der früheren Zahl auf dem Bau befand. Über den Verlauf der Arbeitsniederlegung will ich noch ganz kurz einiges mitteilen, damit mein Referat ohne Lücken iſt. Es ſind noch am erſten Tage Streikpoſten ausgeſtellt worden, und der Unternehmer oder vielmehr ſein Ingenieur hielt ſich verpflichtet, die Polizei zu benachrichtigen, damit ſie für den Fall, daß Ausſchreitungen vor⸗ kommen ſollten, Vorſorge treffen könnte. Zu Aus⸗ ſchreitungen iſt es nicht gekommen. Auch ſind irgendwelche ſonſtigen Vorgänge nicht eingetreten. Ein kleines Intermezzo möchte ich noch er⸗ wähnen, das nicht ohne Intereſſe iſt. 10 Tage nach dem Ausbruch des Streikes kam ein Ver⸗ treter des Zimmererverbandes auf die Arbeits⸗ ſtelle mit zwei Leuten, die wohl zum Streikpoſten⸗ ſtehen verwendet wurden, und bat, die arbeitenden Zimmerer ſprechen zu dürfen. In liberaler Weiſe wurde dies ihm ſel b ſt von der Bauleitung geſtattet, dagegen wurden die beiden Begleiter von der Bauſtelle gewieſen. Er trat dann in einen Unterkunftsraum, in den ſich die Arbeiter wegen eines Regenwetters zurückgezogen hatten, und dort hat er ſie aufgefordert, ſofort die Arbeitsſtelle zu verlaſſen; er würde ihnen ſogleich andere Arbeit vermitteln; wenn ſie ihm nicht folgten, würde er ſie abends mit 50 Mann erwarten und ihnen Ordnung beibringen. (Lachen bei den Sozialdemotraten.) Dieſe Tatſachen ſind mir mitgeteilt worden, und zwar übereinſtimmend von den beiden Polieren, die beide anweſend waren, dieſe Außerung gehört haben und für die Wahrheit ihrer Behauptung eintreten. Die freundliche Aufforderung des Ver⸗ bandsvertreters blieb ohne Erfolg⸗ Nun die Gründe der Niederlegung! Ich habe ſchon vorhin bemerkt, daß nach den Angaben, die mir zunächſt als glaubwürdig erſcheinen müſſen, und die von der Schilderung des Herrn Stadtv. Hirſch abweichen, von keiner Seite an den Arbeit⸗ geber mit dem Erſuchen herangetreten worden iſt, über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Die Arbeitsbedingungen ſind bis zu dem fraglichen Tage ohne Widerrede erfüllt worden; plötzlich hat es dann einem Teil der Arbeiter gefallen, die Arbeit zu verlaſſen. Bezüglich der Arbeitsbedingungen muß ich noch erwähnen, daß der Unternehmer in der Regel nicht 11 Stunden, ſondern 10 Stunden