366 Ich weiß nicht, ob ich auf die andern Sachen auch noch eingehen ſoll. Es iſt wohl nicht not⸗ wendig. Ich möchte nur noch ſagen: ſowohl das Berliner Tageblatt als auch der Berliner Lokal⸗ anzeiger ſprechen von einer „ſeeliſchen Depreſſion der Unterprima“ und von einer „deprimierten Stimmung“ uſw. Wir haben nichts davon bemerkt. Und nun iſt das Bezeichnende dies: in der Unter⸗ prima ſaß Scalla, und der Vater desſelben be⸗ kundet, daß ſein Sohn gern Klavier geſpielt und die luſtigen Stücke bevorzugt hat; er betont, daß er Lektüre heiteren Inhalts getrieben hat, daß er gern bei der Lektüre gelacht hat. Am letzten Abend habe er noch ſo gelacht, daß der Vater ge⸗ ſagt hat: „Du ſtörſt mich ja bei der Arbeit!“ Ich meine, das deutet auf eine ſeeliſche Depreſſion nicht hin. Ja, meine Herren, wir ſuchen auch nach den Motiven. Bis jetzt ſtehen wir ratlos da. Es iſt ja ganz naturgemäß, weil an demſelben Abend die beiden Selbſtmorde vor ſich gegangen ſind, daß man annimmt, es beſtehe eine Überein⸗ ſtimmung, es habe eine Abmachung zwiſchen beiden ſtattgefunden. Auf den Gedanken kommt man ja ſofort. Nun wird aber bekundet, ſowohl durch den Vater von Scalla als auch durch die Mit⸗ ſchüler, daß die beiden — Scalla und Brück — gar nicht im Verkehr miteinander geſtanden haben. In den Zeitungen ſtand: ſie wären ſeit Jahren innige Freunde. Das iſt nicht richtig. Und in den Zeitungen ſtand auch: ſie hätten immer in der Klaſſe zuſammengeſeſſen. Das iſt auch nicht richtig. In den letzten drei Jahren haben ſie einmal ein halbes Jahr zuſammen in einer Klaſſe ge⸗ ſeſſen; Brück iſt dann zurückgeblieben, der andere iſt ihm vorgekommen. Alſo das iſt alles nicht richtig. Es iſt ja möglich — und ich hatte von Anfang an, als ich von dem Doppelſelbſtmorde hörte, gleich den ſehr traurigen Gedanken, es würde ſo liegen, daß die beiden Schüler zuſammen vielleicht etwas begangen haben, was das Licht der Welt ſcheut, und daß ſie Entdeckung gefürchtet und in Verzweiflung nach Verabredung ihrem Leben ein Ende gemacht haben. Aber nachweiſen läßt ſich nichts derart; ſie haben nichts Schriftliches hinterlaſſen, keinen Brief, keinen Zettel. Es iſt auch nirgends etwas zu entdecken geweſen. Auch die Polizei, die die Möglichkeit hat, noch andere Leute zu vernehmen, die vielleicht mit den Schülern bekannt geweſen ſind, hat nichts gefunden. Ich bekam eine Karte von einem Arzt, der früher Irrenarzt in Hamburg geweſen iſt und jetzt in Wernigerode lebt; der ſchrieb gleich mit völliger Sicherheit: Zweifel, daß die beiden Schüler pſychiſch krank geweſen ſind und den Selbſtmord ver⸗ abredet haben. Ein ähnlicher Fall kam vor zwei oder drei Jahren in Frankfurt vor. In Betracht kommt die phantaſtiſche Form der dementia praccox. 5 Es iſt ſchwer, darüber ein ſicheres Urteil zu ge⸗ winnen. Freilich bei Brück — wenn man nicht annimmt, daß es ein verabredeter Selbſtmord war und daß beide eine gemeinſame Tat begangen haben, wenn man die Selbſtmorde geſondert be⸗ trachtet — bei Brück liegt der Gedanke nahe, daß er in den Tod getrieben worden iſt, weil er von einer quälenden Wahnidee erfüllt war, nämlich der, er würde in eine unheilbare Krankheit verfallen. Meiner Anſicht nach unterliegt es keinem Sitzung vom 8. September 1909 Er hat auch öfters davon geſprochen und zu Mit⸗ ſchülern geſagt: „Ich muß mir das Leben nehmen, ich halte es nicht aus, daß ich das erleben ſoll!“ Und nun nehme ich an, daß er vielleicht populär⸗ mediziniſche Bücher geleſen hat und dadurch noch mehr in Angſt geraten iſt. Aber bei Scalla iſt der⸗ gleichen nicht der Fall. Er hatte auch ſonſt keine Sorge um die Zukunft. Zuweilen kommt es ja vor, daß ein Vater ſeinen Sohn allzu ſehr drängt und ihm das Leben ſchwer macht. Auch dies iſt nicht geſchehen. Der Vater erklärte mir, er hätte noch neulich mit dem Jungen geſprochen und ihm geſagt: „Quäle dich nicht allzu ſehr in der Schule! Wenn du ſiehſt, du kommſt nicht vorwärts, dann wirſt du irgendetwas anderes, du brauchſt ja nicht zu ſtudieren.“ Eine Erklärung iſt noch nicht gefunden, und ich glaube, wir werden die Beweggründe nie erfahren; die beiden haben das Geheimnis mit ins Grab genommen. Meine Herren, wenn Sie noch Fragen haben, ſo bitte ich, zu ſprechen; ich werde, ſoweit es mir möglich iſt, die Fragen beantworten. (Bravo!) Sta dtv. Dr. Frentzel: Meine Herren, ich glaube, Sie werden alle mit mir die Anſchauung teilen, daß die Hoffnung, die Kollege Otto zu An⸗ fang ausſprach, nämlich die, daß die Beſprechung in dieſen Räumen in der Tat befriedigend in jeder Weiſe ſein würde inſofern, als ſie aufklärend wirken würde, und auch inſofern, als es ſich er⸗ geben würde, daß die Anſchuldigungen, die gegen eine unſerer Charlottenburger Schulen ausge⸗ ſprochen ſind, die ausgeſprochen ſind gegen eine Reihe in Charlottenburg beamteter Lehrer, völlig unbegründet ſind, — ich glaube, das hier konſta⸗ tieren zu können: wir alle haben dieſe Uberzeugung gewonnen, zunächſt aus den Mitteilungen, die uns von dem Provinzialſchulkollegium geworden ſind, aus den Mitteilungen, die der Herr Bürger⸗ meiſter uns gemacht hat, und vor allen Dingen aus den ausführlichen und ſo klaren und trefflichen Schilderungen, die der Leiter der Anſtalt, Herr Kollege Hubatſch, uns ſoeben gemacht hat. Man möchte doch der Anſicht ſein, daß dieſe ganze traurige und unglückſelige Affäre längſt be⸗ endet worden wäre, längſt aus den Geſprächen der Leute gekommen wäre, wenn die Preſſe nicht in dieſem Falle mit beſonderem Eifer und, wie ich betonen muß, nicht immer mit beſonderem Ge⸗ ſchick ſich der Angelegenheit angenommen hätte. (Sehr richtig!) Es wäre dann jedenfalls der Wunſch, der aus⸗ dieſem hier verleſenen rührenden Brief des Vaters. eines der Verſtorbenen heraus ſpricht, aus dem ich herausgeleſen habe, daß die Eltern das Recht fordern, mit ihrem Schmerz allein zu ſein, — dieſer Wunſch wäre jedenfalls weit eher erfüllt worden, als es jetzt der Fall iſt. Meine Herren, auch ich ſtehe auf dem Stand⸗ punkt, den Herr Kollege Otto hier ausgedrückt hat, daß die Preſſe nicht nur das Recht, ſondern bis zu gewiſſem Grade auf die Pflicht hat, derartigen Dingen nachzugehen und Übelſtände, die ſonſt bis⸗ her im Verborgenen geblieben ſind, offen zu legen und für ihre Heilung zu ſorgen. Ich gehe auch ſogar ſo weit, daß ich zugeben muß, daß, wenn ſich ſolche Übelſtände bei Gelegenheit irgendeines beſonder⸗ kraſſen Falles herausſtellen, die Beſprechung der⸗