Sitzung vom 3. November 1909 recht der Gemeinden beſchneiden zu wollen? Wir ſind es von der preußiſchen Regierung gewöhnt, daß ſie den einzelnen Gemeinden zu viel Freiheit im Rahmen der Städteordnung überhaupt nicht läßt. Aber bisher war es, wenn die Regierung gegen das Selbſtverwaltungsrecht aufgetreten war, angeborene Abneigung gegen das Selbſtverwal⸗ tungsrecht der Gemeinden; diesmal ſpielen eine Reihe von anderen Intereſſen hoher und höchſter Behörden hinein, die wir ſo klar bisher noch nicht haben wirken ſehen: nämlich finanzielle Intereſſen des Fiskus. Wenn der Fiskus als Grundſtücks⸗ ſpekulant auftritt, ſchlägt er ſogar ſeinen Verwal⸗ tungsprinzipien ins Geſicht — und das iſt das Springende bei der ganzen Angelegenheit. Wir haben geſehen, daß erſt der Streit um die Er⸗ ſchließung der Domäne Dahlem mit Schöneberg und Wilmersdorf geführt worden iſt. Damals kam Charlottenburg noch gar nicht in Frage, da drehte ſich der Streit darum: ſoll der Anſchluß der Bahn von Dahlem nach Berlin durch Schöneberg oder Wilmersdorf geführt werden? Und hier haben wir ſchon den Fiskus als lachenden Dritten tätig geſehen, der von Wilmersdorf nahm, was er kriegen konnte; Schöneberg fiel hinten runter. Ich habe mich damals ſchon gefragt: warum wird denn Wilmersdorf vom Landwirtſchafts⸗ miniſter ſo ſtark berückſichtigt (Zuruf) — nein, Wilmersdorf, Herr Kollege Litten; ich bin ſchon auf der richtigen Spur —, um Dahlem auf⸗ ſchließen zu können? Und ich habe mich gefragt: iſt es nur der ſchönen Augen der Wilmersdorfer und ihrer Mehrleiſtungen wegen, daß der Fiskus für Wilmersdorf eintrat, oder ſpielen weitere Momente mit, die auf eine noch engere Seelenverwandtſchaft zwiſchen dem Landwirtſchaftsminiſterium und der Stadtverwaltung von Wilmersdorf hindeuten? Und teilweiſe ſcheint mir das Rätſel gelöſt worden zu ſein durch einen Paſſus, der ſich in einem Artikel im Zentralmarkt für Grundſtück⸗ und Hypotheken⸗ verkehr im Berliner Tageblatt findet; da heißt es nämlich im zweiten Abſchnitt eines Artikels „Charlottenburg contra Wilmersdorf“ folgender⸗ maßen: Seit nahezu zwei Jahren erſehnt Wilmers⸗ dorf mit inbrünſtigen Gebet die Bahn. (Heiterkeit.) Nun iſt ſelbſtverſtändlich, wenn in Wilmersdorf ſo bettüchtige Leute vorhanden ſind, daß bei der ſtarken Neigung landwirtſchaftlich veranlagter Leute, zu beten, eine Intereſſenharmonie in dieſer Be⸗ ziehung gegeben ſein dürfte. Aber es kommt weiter hinzu: auch das Intereſſe eines Privatbodenſpekulanten, von dem mein Freund Hirſch ſchon geſprochen hat, ſcheint mit ausſchlaggebend zu ſein, um das Landwirtſchafts⸗ miniſterium in Verbindung mit dem Finanz⸗ miniſterium gegenüber dem Miniſterium der öffent⸗ lichen Arbeiten ſo ſtark zu machen, und es iſt recht kennzeichnend für die beſondere, über die finan⸗ ziellen Intereſſen hinausgehende Verbindung zwiſchen dem Landwirtſchaftsminiſter und dem privaten Grundſtückshändler, — — (Unruhe. — Glocke des Vorſtehers.) Vorſteher⸗etellv. br. Hubatſch: Meine Herren, ich bitte um Ruhe! 467 Stadtv. Zietſch (fortfahrend): — wenn man hörte, daß ſich der private Grundſtücksſpekulant deſſen rühmte, daß er zum Fünfuhrtee beim Land⸗ wirtſchaftsminiſter zugelaſſen iſt. Doch zu dieſen Privatintereſſen Einzelner kommen noch die Intereſſen einer großen Geſell⸗ ſchaft, der Hoch⸗ und Untergrundbahngeſellſchaft, die gegen unſere Gemeinde ausgeſpielt worden ſind, und wir ſehen ja auch, daß bei dieſem ganzen Streit — und da werden ja auch die Herren mir Recht geben, die die erſte Vorlage durchgearbeitet haben, die auch in dem Ausſchuſſe geweſen waren vor allen Dingen die Regierung ſich davon hat leiten laſſen, die Hochbahngeſellſchaft nicht ſo ſtark finanziell anzuſpannen, damit dieſelbe imſtande iſt, ihren Verpflichtungen bezüglich der Auflöſung des Gleisdreiecks nachzukommen. Auch hier wurden, um einer Privatgeſellſchaft eine weitgehende Er⸗ leichterung zu ſchaffen, die Intereſſen verſchiedener Vorortgemeinden ſtart zurückgeſetzt. Das hat ſich namentlich in dem Streit zwiſchen Charlottenburg und Schöneberg recht klar gezeigt. (Zuruf.) — Nein, jetzt wird Schöneberg nicht mehr geſchont, weil es jetzt zu Charlottenburg hält; ſolange Schöneberg contra Charlottenburg ſtand, iſt es geſchont worden und hat ſich auch der Unterſtützung der Behörden zu erfreuen gehabt. Wenn die Verhältniſſe ſich derart geſtaltet haben, dann fragt es ſich aber für uns ſelbſtver⸗ ſtändlich: wohin ſoll das führen? Und dann iſt es ſelbſtverſtändlich für uns auch eine Notwendigkeit, gegen dieſen Mißbrauch der behördlichen Gewalt — ich kann es nicht anders bezeichnen — gegenüber den Intereſſen der einzelnen Gemeinden auf⸗ zutreten. Damit geben wir uns dann nicht zu⸗ frieden, wenn Herr Dr Crüger ſich auf den Stand⸗ punkt ſtellt und ſagt: dieſe kleinliche Politik der Regierung muß Schiffbruch erleiden. Das würde nur ein Sichtwechſel auf die Zutunft ſein, der viel⸗ leicht niemals präſentiert würde. Denn dieſe „kleinliche Politik“ der Regierung fängt jetzt erſt an. Und was mit Dahlem begonnen wird, ſetzt ſich fort über den ganzen Grunewald und das ganze forſtfiskaliſche Terrain, das erſchloſſen wird. Wenn Dahlem aufgeteilt iſt, iſt das überhaupt der Beginn der gänzlichen Bebauung des Grunewalds. Auch deshalb müſſen wir uns gegen dieſe „kleinliche Politik“ der Regierung wenden. Es iſt auch nicht richtig, wenn Herr Dr Crüger ſagt: was nützt uns jeder Widerſtand? die Geſetze und ihre unglückliche Geſtaltung ſeien daran ſchuld, dagegen könne man nichts machen, ſondern man müſſe ſich der Lage anpaſſen. Ja, Herr Kollege Crüger, wenn man den Kampf aufgibt, wird man niemals zu Erfolgen gelangen, und es will uns durchaus nicht in den Kram, daß man dieſer Ihrer angeblichen liberalen Regung folgen ſoll, weil man angeblich nichts dagegen machen kann. (Unruhe und Zurufe.) Dieſe Sache muß durchgekämpft werden. Vor allem, um das Unrecht der Regierung zu zeigen. Rechtstapazitäten ſtehen auf dem Boden, daß z. B. die Einleitung des Ergänzungsverfahrens rechtlich vollkommen null und nichtig iſt. Und dazu ſollen wir Ja und Amen ſagen und uns alles gefallen laſſen? Darauf ſollen wir nicht eingehen? Nun hat Herr Kollege Crüger geſagt: die Sozial⸗ demokraten handeln eigentlich ſehr inkonſequent. (Zuruf.)