Sitzung nom 24. November 1909 517 Stadtrat Samter: Meine Herren, wenn in meiner Hand. An der Form iſt er unſchuldig, gegenüber dem verantwortlichen Leiter eines Inſtituts, das unter Aufſicht der Stadtgemeinde ſteht und in das die Stadt auf ihre Koſten Kinder zur Pflege entſendet, ſchwerwiegende Anſchuldi⸗ gungen erhoben werden, ſo werden Sie es dem Magiſtrat und ganz beſonders dem Leiter der Waiſenverwaltung nachempfinden, wenn er alles daran ſetzt, die Richtigkeit dieſer Anſchuldigungen zu prüfen und ihnen bis zum letzten Tipfelchen nachzugehen und feſtzuſtellen, ob irgendetwas Wahres daran iſt. Ich erkenne es vollſtändig über⸗ einſtimmend mit Herrn Stadtv. Zietſch als das gute Recht jedes Bürgers an, wenn ihm ſolche Sachen zu Ohren kommen, wie es hier geſchehen iſt, zu mir als Dezernenten zu kommen, dieſe Sachen vorzutragen und um Unterſuchung und Abhilfe zu bitten. Ich halte es für die Pflicht jedes Mannes, nicht nur für ſein Recht, und würde genau ſo gehandelt haben, wenn ich an Stelle des Gewährsmannes der Herren Antragſteller geweſen wäre. Die Unterſuchung, die natürlich notwendig war, konnte nicht von mir geführt werden, denn das Waiſenhaus iſt eine Privatanſtalt, ſteht zwar unter Aufſicht des Magiſtrats, hat aber ein eigenes Kuratorium. Dieſe Unterſuchung mußte natur⸗ gemäß durch die geordnete Stelle geführt werden. Es wäre vielleicht richtig geweſen, wenn der Herr Gewährsmann der Antragſteller ſich nochmals zu mir bemüht hätte, um zu hören, welches Ergebnis die Unterſuchung — da er ſich doch zuerſt an mich gewandt hatte — gehabt hat. Er hat das nicht getan, und ich kann es ihm vielleicht nachempfinden, nachdem er eine Reihe von Wochen gewartet hatte, ohne daß er etwas erfuhr, konnte ich es ihm ſchließ⸗ lich nicht verdenken — ich weiß nicht, ob ich nicht ebenſo an ſeiner Stelle gehandelt hätte —, wenn er ſich ſagte: da ich von der zuſtändigen Stelle keine genügende Auskunft bekomme, ſo wende ich mich an die Kontrollſtelle, die Stadtverordnetenver⸗ ſammlung, und will doch ſehen, ob ich da nicht Auskunft bekomme. Aber, meine Herren, zwiſchen dem, was der Herr Gewährsmann der Antrag⸗ ſteller beabſichtigt und gewollt hat, und dem, was die Herren Antragſteller getan haben, iſt ein himmelweiter Unterſchied. Der Herr Gewährs⸗ mann der Antragſteller, der noch geſtern bei mir geweſen iſt, hatte die Abſicht, die ihm mit⸗ geteilten Fälle zu unterſuchen, zu prüf e n, ob etwas daran richtig iſt. Die Herren Antrag⸗ ſteller hätten das ſehr wohl auch tun können. Sie hätten den Magiſtrat erſuchen können, Kennt⸗ nis zu nehmen von den ihnen zugegangenen An⸗ ſchuldigungen und zu prüfen, was daran wahr iſt, (ſehr richtig) und wenn ſie ſich beſtätigten, den Antrag zu ſtellen, den Mann ſeines Amtes zu entheben. Das haben die Herren aber nicht getan, ſondern ſie haben kurz und bündig den Antrag geſtellt, ohne in eine ſachliche Prüfung der ihnen zugetragenen Mit⸗ teilungen einzutreten: der Magiſtrat wird erſucht, darauf zu dringen, daß der Hausvater ſo ſchleunig wie möglich ſeines Amtes enthoben wird. Ich kann den Herren den Vorwurf nicht erſparen, daß das keine objektive Behandlung iſt — mindeſtens nicht im Sinne des Herrn, der ihnen das Material zur Verfügung geſtellt hat, (hört! hört! wie er es mir noch geſtern beſtätigt hat. Er hat allerdings zugegeben: die Sache liegt nicht mehr das muß ich zu ſeiner Ehre mitteilen. Ich ſagte ſchon, die Unterſuchung iſt geführt worden durch das Kuratorium, ſpeziell durch Herrn Bürgermeiſter Matting als Vorſitzenden, zuſammen mit Herrn Bauinſpektor Walter als Schriftführer. Da ich Dezernent in der Sache bin, habe ich es aber für meine Pflicht gehalten, mich auch perſön⸗ lich darum zu kümmern und ſelbſt alle die Knaben, deren Namen von dem Herrn Gewährsmanne der Antragſteller mitgeteilt worden waren, ſoweit ſie noch in der Anſtalt ſich befinden, perſönlich in Ab⸗ weſenheit des Hausvaters zu vernehmen. Ich hoffe, daß auch die Herren Antragſteller zu mir das Vertrauen haben — wenn ſie es nicht zum Kuratorium haben ſollten, was ich nach den Aus⸗ führungen des Herrn Stadtv. Zietſch befürchten muß —, das auch Ihr Herr Gewährsmann zu mir gehabt hat, daß ich nämlich ohne Voreingenommen⸗ heit und ohne Rückſicht auf die Perſonen die Unter⸗ ſuchung führen würde. Meine Herren, ich bin geſtern nachmittag über zwei Stunden, ohne mich anzumelden, im Waiſenhauſe geweſen und möchte Ihnen mit zwei Worten wenigſtens ſchildern, wie ich die Anſtalt angetroffen habe. Die Jungen und auch ein Teil der Mädchen ſpielten vergnügt und munter in dem neuen Schnee, der gefallen war, liefen Schlitt⸗ ſchuh oder fuhren Schlitten, rannten gegeneinander, prügelten ſich auch ein bißchen, aber auch nicht ein einziger zeigte Spuren von irgendwelcher Gedrücktheit, ſondern ſie waren ſo vergnügt, wie es Kinder ſein ſollen; ſie kamen zu mir heran, gaben mir die Hand und waren unbefangen, wie es nur ein Kind ſein kann. Jedenfalls war nicht die Spur davon zu erkennen, daß ſie in ſolcher Weiſe angefahren und körperlich mißhandelt worden wären, wie es von Herrn Stadtv. Zietſch hier vorgebracht worden iſt. Ich gebe zu, Herr Stadtv. Zietſch hat auch nur von „ſoll“ geſprochen, es „ſoll geſchehen ſein“. Aber in dem Antrage liegt doch als Vorausſetzung, daß es geſchehen i ſt. (Sehr richtig!) Meine Herren, ich habe dann jedes Kind mit wenigen Ausnahmen einzeln in Abweſenheit des Hausvaters zu mir gerufen und habe verhandelt, wie ein Vater mit ſeinem Kinde verhandeln würde, in ganz freundſchaftlichem Tone. Ich habe die feſte Überzeugung, daß die Kinder mit einer ein⸗ zigen Aufnahme, nämlich des einen Jungen, der als geiſtesſchwach bezeichnet werden kann — ich habe ein ärztliches Atteſt, das vor mehreren Jahren ausgeſtellt worden iſt, in den Akten — vollſtändig offen zu mir geſprochen, die Wahrheit geſagt und nichts verſchwiegen haben. Ich glaube nicht, daß irgendeine Beeinfluſſung weder früher noch jetzt vorhanden war. Die Jungen haben frei von der Leber weg auf meine Fragen das erzählt, was vorgekommen iſt. Es ſind von dem Herrn Stadtv. Zietſch die gravierendſten Vorwürfe erhoben worden. Ich muß ſchon der Reihe nach die einzelnen durchgehen. Er hat zunächſt von einem Jungen Willy Maaß erzählt, der im Winter 1908/09 mit einem Rohrſtock ſo geprügelt und dann vor die Bruſt geſtoßen worden ſei, daß er ohnmächtig hätte zu Bett gebracht werden müſſen. Der Vorfall ſoll ſich beim Teppich⸗ klopfen (Stadtv. Zietſch: An der Teppichſtange!)