Sitzung vom 16. Februar 1910 Die Herren Liberalen in dieſem Saale ſtehen alſo vollkommen auf dem Standpunkt ihrer Freunde im Abgeordnetenhauſe, wenn ſie dem Antrage des Herrn Kollegen Stadthagen nicht zuſtimmen. Das Amendement des Herrn Kollegen Stadt⸗ hagen iſt aber ſehr gefährlich. Es ſieht ſehr harm⸗ 1os aus, ſo harmlos wie die Reden des Herrn Kollegen Stadthagen; aber in Wirklichkeit birgt es große Gefahren in ſich. Herr Kollege Stadthagen will hinzugefügt haben: „falls nicht entſprechende oder genügende Abänderungen erfolgen“. Ja, meine Herren, was heißt: „entſprechende oder genügende Abänderungen“? Heißt es vielleicht die Abänderungen, die jetzt die Freunde des Herrn Kollegen Stadthagen in der Kommiſſion ſich be⸗ mühen, durchzubringen, die darauf hinauskommen, die Vorlage noch zu verſchlechtern und ſie ſo zu geſtalten, daß nur die Nationalliberalen davon Vorteil haben? Angeſichts der Stellung der Freunde des Herrn Kollegen Meyer, angeſichts ihrer programmatiſchen Forderung, die ia die Ein⸗ führung des Reichstagswahlrechts für den preu⸗ ßiſchen Landtag verlangt, kann es gar nichts anderes geben, als den Antrag Stadthagen ab⸗ zulehnen. Sie haben nur die Wahl, ob Sie für Ihren verſchlechterten Antrag mit Herrn Kollegen Stadthagen oder für unſeren Antrag mit uns ſtimmen wollen. Meine Herren, ich komme nun zu unſerem Antrage. Wir haben unſeren Antrag unabhängig von dem Antrage Meyer und Genoſſen ein⸗ gebracht. (Unruhe. Glocke des Vorſtehers.) Vorſteher Kaufmann: Meine Herren, ich bitte um Ruhe. ; Stadtv. Hirſch (fortfahrend): Wir haben keine Ahnung davon gehabt, daß auch von anderer Seite ein Vorſtoß gegen die Wahlrechtsvorlage geplant iſt. Hätten wir das gewußt, daß die Herren auch einen Antrag einzubringen gedenken, dann hätten wir uns mit ihnen verſtändigt, damit ein womöglich von allen Parteien geſtellter Antrag vorgelegt worden wäre. Uns liegen nun zwei Anträge vor. Wir haben auch nicht die Abſicht, in Konkurrenz mit Ihnen zu treten; im Gegenteil, es freut uns, wenn nun auch die Liberalen durch das Vorgehen der Regierung endlich dazu aufgerafft werden, gegen die Regierung Stellung zu nehmen. Nun würde es einen ſonderbaren Eindruck machen, wenn der Antrag Meyer und unſer Antrag angenommen wird. Wir werden natürlich nicht gegen den Antrag Meyer ſtimmen, und Sie würden auch nicht gegen unſeren Antrag ſtimmen können, wenn unſer Antrag zur Abſtimmung kommt. In⸗ folgedeſſen haben wir uns kurz vor der Sitzung noch einmal verſtändigt, und wir ſind dahin überein⸗ gekommen, daß die verſchiedenen Antragſteller, und zwar Herr Kollege Meyer und meine Freunde gemeinſam einen Antrag einbringen, (Bravo!) und zwar wollen wir zur Grundlage den Antrag — nehmen und als vierten Punkt noch hinzu⸗ gen: 4. Die vorgeſchlagene Ermittelung des Wahl⸗ reſultats bewirkt, daß die ohnehin ſchon in ihren Rechten geſchmälerten Wähler der dritten Abteilung völlig entrechtet werden. 29 Meine Herren, wir halten es für notwendig, daß wir gerade auf die eigenartige Ermittlung des Wahlergebniſſes, wie es die Regierungsvorlage vorſieht, hinweiſen. Denn dieſe Art der Ermittlung des Wahlergebniſſes trägt tatſächlich dazu bei, daß diejenigen, die ſcheinbar ein Wahlrecht haben, in Wirklichteit bei der Ermittlung des Wahlrechts⸗ ergebniſſes nachher gar nicht zur Geltung kommen, ſo daß jemand die zwanzigfache Anzahl von Stimmen haben kann wie ſein Gegenkandidat und doch nicht gewählt iſt, während der Gegenkandidat mit geringerer Stimmenzahl gewählt iſt. Ich meine, wenn man das allgemeine, gleiche Wahl⸗ recht will, hat man alle Veranlaſſung, gerade auf dieſen Punkt, einen der ſchlimmſten Fehler der ganzen Vorlage, hinzuweiſen, und um Ablehnung ſchon allein deshalb zu erſuchen. Meine Herren, ich will dem, was Herr Kollege Meyer in ſachlicher Beziehung geſagt hat, nichts hinzufügen. Ich ſtimme vollkommen mit ihm überein, daß die Klaſſeneinteilung zu verwerfen iſt, daß eine andere Wahlkreiseinteilung gefordert werden muß, vor allem, daß auch endlich das geheime Wahlrecht eingeführt wird. Ich unter⸗ ſchreibe auch Wort für Wort das, was Herr Kollege Meyer über den Boykott von oben geſagt hat. Er hat ſich ja nicht deutlich darüber ausgeſprochen, ob er den Boykott von oben oder einen anderen Boykott meint. Ich habe ſeine Worte ſo verſtanden, daß er die Beſeitigung der öffentlichen Stimm⸗ abgabe fordert, weil er ganz genau weiß, daß die Behörden, namentlich die Militärbehörde und andere Behörden, mittels der öffentlichen Stimm⸗ abgabe einen ganz außerordentlichen Druck auf die Wähler ausüben (Heiterkeit) und Geſchäftsleute, die nicht ſo wählen, wie die Regierung es will, boykottieren. Wenn die Aus⸗ führungen des Herrn Kollegen Meyer ſo zu ver⸗ ſtehen ſind, findet er uns vollſtändig in Über⸗ einſtimmung mit ihn; wir können auch dieſen Punkt ſeiner Ausführungen unterſchreiben. (Heiterkeit.) Wir können nur wünſchen, daß Herr Kollege Meyer und ſeine Freunde alle die ſchönen Gründe, die er hier für die Beſeitigung der Regierungsvorlage anführt, auch dann anführt, wenn es ſich darum handelt, für die Beſeitigung des Dreiklaſſen⸗ wahlſyſtems für die Stadtverordnetenwahlen ein⸗ zutreten. Wir werden ja demnächſt Gelegenheit haben, darüber zu reden. Wir hoffen, daß es der Beredſamkeit des Herrn Kollegen Meyer gelingt, dann auch ſeine Freunde auf unſere Seite zu bringen. (Heiterkeit.) Ferner wollen wir hoffen, daß die Liberalen den Kampf um das allgemeine Wahlrecht, den ſie ſeit einigen Tagen ja mit Energie führen, nicht mit dem Augenblick für beendet erklären, wenn etwa die Regierungsvorlage in der Verſenkung verſchwunden iſt, ſondern daß ſie dann mit derſelben Energie, die ſie heute an den Tag legen, Schulter an Schulter mit uns den Kampf für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht weiter führen. Beſonders hat es mich gefreut, daß Herr Kollege Meyer erklärt hat, er ſtehe auf dem Boden ſeiner programmatiſchen Forderung, und er läßt ſich davon auch nicht abſchrecken, daß dann eine Partei die Mehrheit erlangt, die von anderen als nicht ſtaatserhaltend angeſehen wird.