Sitzung vom 9. März 1910 chen, iſt die ungeheuer ſchwerwiegende Frage der Einſchränkung der Säuglingsſterblichkeit auch in Charlottenburg. Es wird allgemein anerkannt, daß nicht nur hier in den Grenzen einer kommunalen Wirkſamkeit, ſondern weit über dieſe Grenzen hin⸗ aus auf ſtaatlichem und reichsgeſetzlichem Gebiet in der Bekämpfung der Säuglingsſterblichkeit durch⸗ greifend vorgegangen werden müßte, und da können beſoldete Waiſenpflegerinnen vieles und mehr ſchaffen als die ehrenamtlichen Pflegerinnen: denn die Säuglingsſterblichkeit tritt am allerſtärkſten in den Sommermonaten in die Erſcheinung, und 3 handelt ſich hier um Zieh⸗ und Pflegekinder, die nicht auf natürliche Nahrung angewieſen ſind, ſon⸗ dern auf die künſtliche Ernährung, durch welche nachgewieſenermaßen die größte Säuglingsſterblich⸗ keit entſteht. Und zu dieſer Fürſorge gehört eine ſo umfaſſende und gründliche Kontrolle, auch in Tageszeiten, zu welchen die nichtbeſoldeten Waiſen⸗ pflegerinnen, die es ehrenberuflich tun, die Kon⸗ trolle nicht werden ausüben können, daß die richtige Verpflegung und Ernährung der Zieh⸗ und Halte⸗ kinder durch unbeſoldete Pflegerinnen nicht ge⸗ nügend überwacht werden kann. Vor allen Dingen ſcheint mir auch der Antrag des Magiſtrats dadurch begründet zu ſein, daß wir ja auch auf anderen Gebieten weibliche Waiſen⸗ pflegerinnen, die beſoldet ſind, haben. Es iſt ja auch in dieſer Etatspoſition, ich glaube unter § a, von zwei Waiſenpflegerinnen geſprochen, die ange⸗ ſtellt und ſchon tätig ſind. Iſt denn durch deren Tätigkeit auch das Tätigkeitsgebiet der nichtbeſol⸗ deten Waiſenpflegerinnen ſo ſtark eingeſchränkt wor⸗ den, daß man der Mitarbeit beſoldeter Pflegerinnen auf dieſem Gebiete für die Dauer wird entbehren können? Ferner beweiſt es auch die Tätigkeit der Pflegerinnen auf dem Gebiete der Kinder⸗ und Jugendlichenfürſorge. Sie haben vor einem Jahre für eine Unterſtützung der Fürſorge der dem Jugend⸗ gericht vorgeführt Geweſenen geſtimmt, aus der freudigen Erwägung heraus, daß auch Frauen daran beteiligt ſind, weil es auch da, wie ſo häufig, in die Erſcheinung trat und als Begründung jener Vorlage angeführt werden durfte, daß, wenn es ſich um ſchleunige Aufgaben handelt, die unbeſol⸗ deten Perſonen nicht in der Lage ſeien, ſo ſchnell zu arbeiten, wie die beſoldeten es müßten. Die Gründe, die Herr Kollege Bollmann vorgetragen hat, und die ſeiner Meinung nach den Unwillen der nichtbeſoldeten Waiſenpflegerinnen ſtützen kön⸗ nen, ſind meiner Auffaſſung nach nicht ſtichhaltig. Mir ſcheint es vollkommen ausgeſchloſſen, daß die einzelne nichtbeſoldete Waiſenpflegerin in dem Um⸗ fange ihres Amtes walten kann wie eine beſoldete Waiſenpflegerin. Das verbieten die perſönlichen, die materiellen, ſchließlich die familiären Verhält⸗ niſſe der Dame. Wenn nun Herr Bollmann ſagt: er verneint alles, er verneint die Bewilligung dieſer 3060 ℳ, ſeinetwegen ſoll auch nicht der Antrag des Aus⸗ ſchuſſes angenommen werden, damit es überhaupt in der nächſten Zeit nicht zur Anſtellung von Waiſen⸗ pflegerinnen kommen kann — Sie ſchütteln den Kopf, Herr Bollmann! Aber Sie haben ſich doch im Namen Ihrer Freunde auf den Standpuntt ge⸗ ſtellt, daß auch der Ausſchußantrag abgelehnt wer⸗ den ſoll, damit nichts geſchieht! Sie ſagten ja: es ſoll klarer Tiſch gemacht werden; Sie ſagten ferner, Sie glaubten, daß durch die Anſtellung dieſer be⸗ ſoldeten Damen eventuell die ganze Waiſenpflege, 81 ſoweit ſie auf der Mithilfe unbeſoldeter Damen auf⸗ gebaut iſt, aus dem Leim gehen würde! Ich glaube, ſo niedrig darf man den Ernſt auch der Damen, die bisher unbeſoldet gearbeitet haben, nicht ein⸗ ſchätzen, (ſehr richtig!) daß ſie nun deswegen, weil neben ihnen beſoldete Pflegerinnen angeſtellt werden, die ganze Karre ſtehen laſſen. Ich habe eine viel zu hohe Auf⸗ faſſung von dem ſittlichen Ernſt und dem tiefen Pflichtbewußtſein der unbeſoldeten Waiſenpflege⸗ rinnen, als daß ich annehme, daß ſie ſich ſagen werden: wenn die Mehrheit der Stadtverordneten in Übereinſtimmung mit dem Magiſtrat und der Deputation für Waiſenpflege zu der Überzeugung gekommen iſt, daß beſoldete Waiſenpflegerinnen anzuſtellen ſind, dann werden wir uns dieſer Autori⸗ tät, die doch jedenfalls aus dem Grunde hervorge⸗ wachſen iſt, das Beſte für die Säuglinge in Char⸗ lottenburg zu wollen, nicht fügen. Ich bin von dem Gegenteil überzeugt. Und wenn dieſe Auf⸗ faſſung ſich Bahn gebrochen hat, dann, glaube ich, werden auch die heutigen Opponenten gegen den Magiſtratsantrag eine leichtere Stellung haben gegenüber denjenigen, die da glauben, die Rechte der Waiſenpflegerinnen werden geſchmälert. Wenn die Vorlage des Magiſtrats kommt, wird abzu⸗ warten ſein, ob der Magiſtrat auch bei der Wahl der betreffenden Perſonen inſofern den Wünſchen der Stadtverordnetenverſammlung Rechnung trägt, als er zu dieſen Poſten Frauen heranzieht, die auf dem Gebiete der Säuglingsernährung praktiſche Er⸗ fahrung haben. Aber dieſe Vorausſetzung iſt zum großen Teil unmöglich gemacht bei den nichtbeſol⸗ deten Damen. Deshalb erblicke ich aus allen dieſen Erwägun⸗ gen heraus, ferner deswegen, weil mir die Be⸗ kämpfung der Säuglingsſterblichkeit über jede un⸗ begründete Empfindlichkeit einzelner Kreiſe geht, in dem Magiſtratsantrage einen begrüßenswerten Fortſchritt, der für Charlottenburg angebahnt wer⸗ den ſoll. (Bravo!) Vorſteher⸗Stellvertr. Dr. Hubatſch: Meine Herren, es iſt Schluß der Debatte beantragt. (Der Antrag wird genügend unterſtützt. Zuruf: Rednerliſte!) — In der Geſchäftsordnung ſteht einfach: ſobald der Schluß beantragt iſt, wird ohne weitere Be⸗ gründung und Beſprechung abgeſtimmt. (Der Schlußantrag wird abgelehnt.) Stadtv. Wöllmer: Meine Herren, ich werde der Stimmung einer ſtarken Minderheit zugunſten des Schluſſes der Debatte Rechnung tragen und ſachlich auf die Vorträge meiner Herren Vorredner nicht eingehen. Wenn hier mit Recht hervorgehoben iſt, daß dieſe Angelegenheit mit einem allzu ſtarken Maß von Temperament und Leidenſchaftlichkeit be⸗ handelt wurde, ſo will ich dem zuſtimmen. Aber an dieſem Maß von Leidenſchaftlichkeit und Tem⸗ perament mag man immerhin erkennen, daß in den Herzen oder Gefühlen der Herren doch etwas ſteckt, was ſie treibt, hier gegen den Magiſtrat ſo vorzugehen. Und, meine Herren, was tat der Magiſtrat zur Beruhigung dieſer Leidenſchaftlich⸗ keit“ Im Etatsausſchuß wäre, wenn die Ab⸗ ſtimmung ohne weiteres vor ſich gegangen wäre,