Sitzung vom 22. März 1910 Stadtv. Dr. Borchardt: Meine Herren in früheren Jahren haben meine Freunde wiederholt eine ſehr beträchtliche Summe in den Etat einzuſtellen beantragt zur Gewährung freier Lernmittel, da ſie ſich ja naturgemäß an dieſes ſogenannte Abkommen nicht gebunden erachten konnten. In dieſem Jahre iſt dieſes Abkommen, wie ja ſchon der Referent ausführte, auch äußerlich vollkommen hinfällig ge⸗ worden. Meine Freunde haben in früheren Jahren kein Bedenken gehabt, Summen ſelbſt in Höhe von 100000 ℳ zur Einſtellung in den Etat zu be⸗ antragen, weil meine Freunde auch jederzeit in der Lage waren, bei dem Kapitel “V die entſprechenden Einnahmen ebenfalls zu beantragen. Sie ſind freilich auf den Weg, den meine Freunde gewieſen haben, niemals getreten. Wenn meine Freunde nun in dieſem Jahre von der Stellung eines beſonderen Antrages in dieſer Richtung abſehen, ſo ſoll doch daraus keineswegs der Schluß gezogen werden, als hätten meine Freunde ſich überzeugt, daß der von ihnen gewieſene Weg ungangbar ſei, ſowohl in Bezug guf die Wichtigkeit der Sache, die keines⸗ wegs hinter der Hebung der Voltsſchulen zurück⸗ zuſtehen brauchte, ſondern durchaus parallel mit ihr durchgeführt werden könnte, als auch in Bezug darauf, daß die Mittel nicht aufzubringen wären. Aber, meine Herren, lediglich der Geſchäftslage Rechnung tragend, wünſchen wir heute nicht eine Diskuſſion, die wir mehrere Jahre hintereinander geführt haben, zu wiederholen, da wir nicht hoffen können, Sie heute von der Richtigkeit unſerer Anſchauungen zu überzeugen, die Sie in den früheren Jahren abgelehnt haben. Auf die von Herrn Kollegen Liepmann geregte Frage will ich heute nicht eingehen. (Bravo!) Ich hoffe, daß ſein Antrag gegen 3 Stimmen ab⸗ gelehnt werden wird. (Bravo! und Heiterkeit.) an⸗ Stadtv. Dr. Liepmann: Meine Herren, mir iſt die unangenehme Aufgabe geworden, (hört! hört!) hier einen Abſtrich bei einer Inſtitution zu bean⸗ tragen, die in hohem Grade wohltätig wirkt und für die ſoziale Geſinnung von Charlottenburg ein glänzendes Zeugnis ablegt. Ich werde dieſe un⸗ angenehme Aufgabe ſelbſt auf die Gefahr hin er⸗ füllen müſſen, daß ich dabei, wie mir verſichert worden iſt, von den Herren Kollegen der Mehr⸗ heit gehörig abgekanzelt werde, weil auch die Minderheit dazu berufen iſt, ihre Anſicht zu ver⸗ treten, wenn dieſe Ihnen ſelbſt nicht angenehm iſt. Ich will aber ein für allemal, um nicht immer das⸗ ſelbe ſagen zu müſſen und um Entſtellungen ent⸗ gegenzutreten, erklären, daß meine Freunde und ich ebenſo warm für die ſoziale Fürſorge eintreten wie nur irgend jemand anders, (Zurufe: Es darf nur nichts koſten!) daß wir bedürftige Leute, Schwache und Kranke ſowie überhaupt die ärmeren Klaſſen in jeder Weiſe unterſtützen wollen. (Rufe: Womit denn?) Meine Herren, gerade was die Zahnpflege in der Schule betrifft, ſo kann ich aus meiner Privattätig⸗ keit ſagen, daß ich gern und freudig mitgeholfen habe, es dem Zentralkomitee für Zahnpflege in den Schulen zu ermöglichen, in Berlin eine Klinik zu eröffnen und den Verein finanziell zu kräftigen. Aber wir ſind nicht der Anſicht, daß es gut iſt und 139 daß es den breiteren Volksſchichten hilft, wenn man ſie durch Geſchenke, durch Wohltaten da unterſtützt, wo ſolche nicht durchaus notwendig ſind. Vorſteher Kaufmann (unterbrechend): Herr Kollege Dr Liepmann, ich möchte Sie darauf auf⸗ merkſam machen, daß die Schulzahnklinik mit wohltätigen Ausgaben nichts gemein hat und daß die Generaldiskuſſion bei dieſer Gelegenheit un⸗ zuläſſig iſt. Stadtv. Dr. Liepmann: Herr Vorſteher, ich komme gleich auf die Schulzahnklinik, um auszu⸗ führen, daß Kinder bemittelter Eltern nicht unentgeltlich behandelt zu werden brauchen. Vorſteher Kaufmann: Ich möchte dann bitten, möglichſt bei der Sache zu bleiben. Stadtv. Dr. Liepmann (fortfahrend): Ich wollte eben nur ſagen, daß man durch ſolche un⸗ entgeltliche Gewährungen das Verantwortlichkeits⸗ gefühl da ſchwächt, wo man es zu heben ſuchen ſollte. Das iſt eine Anſicht, die der große ameri⸗ kaniſche Philanthrop Carnegie überzeugend aus⸗ geführt und auch praktiſch betätigt hat. Alſo nicht Sparſamkeit iſt an erſter Stelle die Urſache, daß wir hier Ihnen einen Abſtrich vorſchlagen, ſondern ein wichtiger prinzipieller Geſichtspunkt. Außerdem, meine Herren, kommt noch ein anderer wichtiger Geſichtspunkt in Betracht, das iſt die Schädigung einer großen Berufsklaſſe, der Zahnärzte, die dadurch eintritt, daß den Kindern bemittelter Eltern, die dafür etwas zahlen könnten, un⸗ entgeltliche Zahnpflege zuteil wird. Zahnärzte haben ſich an mich gewandt und haben ſich hierüber beſchwert. Sie merken die Einwirkung an ihrer Praxis ſehr. Die Behandlung der Kinder bemittelter Eltern in den Schulzahnkliniken iſt durchaus nicht überall unentgeltlich. In anderen Städten wird entweder für die Füllung ein Entgelt erhoben oder ein Jahresabonnement gefordert. So verlangt Straßburg ein Jahresabonnement von einer Mark. In Berlin wird für die Füllung eine beſondere Vergütung genommen. Ich glaube, daß wir nicht in der Ausübung der Fürſorge für unſere Volks⸗ ſchulkinder und deren Eltern zurückgehen, wenn wir dieſe Beiſpiele nachahmen und dadurch auch der Schulzahnklinik eine gewiſſe Einnahme ſchaffen. Ferner glaube ich — nun komme ich auf den Erſparungsſtandpunkt —, daß der Poſten Schweſter und Schreibhilfe mit 3000 ℳD zu reichlich angeſetzt iſt. In Berlin bekommt die Schweſter 1200 ℳ, und ſelbſt in Straßburg, wo beinahe ebenſo viele Schultinder wie bei uns, nämlich 20 000, verſorgt werden, iſt die Schreibhilfe nur mit 360 ℳ eingeſtellt. Wenn wir für Schweſter und Schreibhilfe 2000 ℳ rechnen, ſo iſt das mehr, als in irgendwelchen anderen Städten dafür gerechnet worden iſt, wie z. B. in Ulm, Altona, Colmar, Straßburg uſw. Aus dieſen Gründen beantragen wir, den Koſtenanſatz hier um 3000 ℳ zu verringern. Vorſteher Kaufmann: Zu a oder zu b? a ſind perſönliche Ausgaben, b ſächliche Ausgaben. Stadtv. Dr. Liepmann: Zur Poſition Schul⸗ zahnklinik a, perſönliche Ausgaben. Es wäre der zweite Aſſiſtenzarzt unter Umſtänden zu entbehren.