Sitzung vom Wir kommen nunmehr zu Punkt 15 der Tages⸗ ordnung: Borlage betr. Beaufſichtigung der Pflegekinder, Haltekinder und unter Generalvormundſchaft n Mündel unter einem Jahre durch die Säuglingsfürſorgeſtellen. Druckſache 199. Berichterſtatter Stadtv. Jaſtrow: Meine Herren, das Referat über dieſe Vorlage könnte man am beſten mit den Worten des Dichters einleiten: „Die Waffen ruhn, des Krieges Stürme ſchweigen.“ Ich würde am liebſten gar nicht mehr auf dieſe Kämpfe früherer Tage eingehen; aber zum beſſeren Verſtändnis der Vorlage muß ich es doch tun, muß wenigſtens mit einigen Worten darauf zurück⸗ kommen. Im Etat für das Armenweſen, Abſchnitt 5 Nr. 8, war vom Magiſtrat beantragt worden, für Ge⸗ hilfinnen zur Beaufſichtigung aller Koſtpflegekinder unter 2 Jahren 3060 ℳ zu bewilligen. Damit war die Anſtellung von 2 beſoldeten Waiſenpflegerinnen gemeint. Wie Sie ſich erinnern werden, hat dieſer Antrag eine große Aufregung unter unſeren Waiſen⸗ pflegerinnen hervorgerufen; ſie betrachteten dies gleich von vornherein als ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit. Im Etatsausſchuſſe kam dieſe Stimmung durch einige Stadtverordnete, die dieſelbe Auffaſſung hatten, zum Ausdruck. Der Etatsausſchuß beſchloß und beantragte auch, dieſe Poſition zu ſtreichen, nahm dafür aber eine Reſolution an, die folgenden Wortlaut hatte: Der Magiſtrat wird erſucht, die Deputation für die Waiſenpflege über die Frage der An⸗ ſtellung beſoldeter Waiſenpflegerimnen noch⸗ mals zu hören und alsdann eventuell eine be⸗ ſondere Vorlage zu machen. Nach dieſem Beſchluſſe des Etatsausſchuſſes hat der Magiſtrat folgendes getan. Er hat ſofort, ohne die Sitzung der Stadtverordnetenverſammlung ab⸗ zuwarten, die Deputation einberufen, und dieſe beſchloß nun, ihren Antrag aufrecht zu erhalten. Das war ein Vorgehen, das ſelbſt diejenigen Stadt⸗ verordneten, die auf der Seite des Magiſtrats ſtanden, doch für taktiſch nicht richtig erachteten, es war ein Vorgehen, das ſich im Grunde genommen nicht rechtfertigen ließ. Der Magiſtrat hätte erſt einmal abwarten ſollen, wie die Stimmung in der Stadtverordnetenverſammlung über dieſe An⸗ eit war. Nun folgte die Sitzung der Stadt⸗ verordnetenverſammlung am 9. März. Hier wurde wieder die Poſition von 3060 ℳ geſtrichen, die Reſolution des Etatsausſchuſſes angenommen, und weiterhin wurde noch zu dieſer Reſolution ein Amendement beſchloſſen, das dahin ging, daß vor der Einbringung einer neuen Vorlage auch die im Ehrenamte tätigen Waiſenpflegerinnen gehört werden ſollten. Am 21. März tagte die Verſamm⸗ lung der Waiſenpflegerinnen, die mit großer Majorität den Antrag ablehnte. Wie Sie ſehen, meine Herren, war damals Sturm auf allen Seiten; es beſtand eine außer⸗ ordentlich gereizte Stimmung ſowohl bei den Waiſenpflegerinnen wie auch bei einer großen An⸗ zahl unſerer Stadtverordneten. So war die Situation im März. Nun kam der Frühling, und der drang mit elementarer Gewalt nicht allein in 22. Juni 1910 305 die Natur, ſondern auch in die Herzen des Magiſtrats ein. Die Winterſtürme wichen dem Wonnemond, (Heiterkeit) und die Frühlingsgefühle des Magiſtrats (Rufe: Oho! — Erneute Heiterkeit) gegenüber den Waiſenpflegerinnen (anhaltende Heiterkeit) verdichteten ſich zu der Vorlage, die wir heute zu beraten haben. Auf den einſtimmigen Beſchluß der Deputation für die Waiſenpflege und Geſund⸗ heitspflege wie auch auf Anregung von Waiſen⸗ pflegerinnen im Ehrenamte, die in der Verſamm⸗ lung am 21. März gegeben worden war, macht uns jetzt der Magiſtrat die Vorlage, die Zahl der Schweſtern in den Säuglingsfürſorgeſtellen durch Neueinſtellung von zunächſt je einer Schweſter für zwei Fürſorgeſtellen zu vermehren, und zwar zur Uberwachung der Kinder unter einem Jahr. Meiner Anſicht nach bedeutet dieſer Antrag eine große Ge⸗ nugtuung für die Waiſenpflegerinnen, es iſt tat⸗ ſächlich ein großes Entgegenkommen, denn ſie be⸗ halten die Kinder von 1 bis 2 Jahren in ihrer Pflege, außerdem werden ſie nicht aus der Fürſorge für die Kinder bis zu einem Jahr vollſtändig herausge⸗ drängt, ſondern die Schweſtern an den Fürſorge⸗ ſtellen, die durch ihre Vorbildung und ihre Sach⸗ kunde für die Pflege der Säuglinge beſonders ge⸗ eignet ſind, können von ihnen auch hierbei in einge⸗ ſchränkter Weiſe unterſtützt werden. Wie ich es ſchon erwähnte, haben in der Verſammlung am 21. März einige Damen ſelbſt dieſen Vorſchlag ge⸗ macht. Meine Herren, ich dente, wir ſehen bei dieſer Vorlage nicht ſo ſehr auf die ſtatiſtiſchen Notizen, die uns aus den verſchiedenen Städten gebracht werden, ob ſich die Einrichtung ſchon da und oort bewährt hat oder nicht und ob ſie infolgedeſſen auch für Charlottenburg geeignet iſt oder nicht, ſondern wir wollen die Vorlage betrachten, wie ſie iſt und was ſie uns bringt. Und da muß ich ſagen: die Vorlage iſt außerordentlich wohltuend, nament⸗ lich für diejenigen, die uns am meiſten am Herzen liegen müſſen, für die Kinder unter einem Jahr. Für dieſe haben wir zu ſorgen, und es wird für ſie durch die Vorlage in vorzüglicher Weiſe geſorgt. Die Fürſorgeſchweſtern ſtehen mit den Säuglings⸗ fürſorgeſtellen in Verbindung. Die Pflegeeltern und alle diejenigen, die mit der Pflege der Kinder zu tun haben, haben ſchon an ſich mit den Fürſorge⸗ ſtellen Verbindung; ſie haben auch mit den Säug⸗ lingsfürſorgeärzten zu tun, ſo daß dadurch den Schweſtern ihre Aufgabe ſehr erleichtert wird. Nach der Vorlage ſoll für je zwei Säuglings⸗ fürſorgeſtellen eine Schweſter eingeſtellt werden. Wir haben in Charlottenburg 6 Säuglingsfürſorge⸗ ſtellen, an denen § Schweſtern angeſtellt ſind. Es würde ſich alſo um eine Vermehrung der Zahl der Schweſtern um 3 handeln. Das Gehalt der Schweſtern beträgt 1300 bis 1660 9. Die Be⸗ willigung neuer Mittel wird nicht erforderlich, denn es ſind bei der Poſition „Milchbedarf“ an den Fürſorgeſtellen dadurch Erſparniſſe gemacht worden, daß die Mütter ſtändig auf die Bruſternährung hin⸗ gewieſen worden ſind. Dieſe letztere fortgeſetzte Anregung hat zur Folge gehabt, daß, ſoviel ich ge⸗ hört habe, etwa 7 bis 8000 ℳ. bei dieſer Poſition geſpart worden ſind. Das Gehalt der 3 Schweſtern würde dieſen Betrag nicht erreichen, ſo daß neue Mittel nicht einzuſtellen ſind.