306 Sitzung vom Von einer Überſtürzung, wie ſie damals dem Magiſtrat zum Vorwurf gemacht wurde, kann heute keine Rede mehr ſein. Es ſind inzwiſchen 3 Monate vergangen. Es wäre ſehr gut, wenn wir heute ohne eine Ausſchußberatung die Vorlage annähmen, damit am 1. Juli bereits die Einrichtung getroffen werden könnte; denn gerade die Sommermonate ſind für die Säuglinge die gefährlichſten. Es iſt auch von größter Wichtigkeit, die Neueinſtellung der Schweſtern ſofort vorzunehmen, damit wir die unehelichen Säuglinge, deren Sterblichkeitsziffer im Verhältnis zu den ehelichen Säuglingen doch noch recht bedeutend iſt — das Verhältnis ſtellt ſich wie 10,65: 20,16 — beſſer unterzubringen und zu verpflegen im ſtande ſind. Ich bitte Sie um An⸗ nahme der Vorlage. (Bravo!) Borſteher Kaufmann: Ich habe dem Herrn Berichterſtatter den weiteſten Spielraum gelaſſen. Ich möchte aber die folgenden Herren Redner ditten, eine Kritik an Dinge, die in der Vergangen⸗ heit liegen, heute nicht mehr anzuknüpfen. Wir haben mit der Vergangenheit abſolut nichts zu tun, haben heute eine ganz veränderte Situation. Im Intereſſe der wichtigen Beratungen, die noch folgen, möchte ich daher bitten, von einer ſolchen Kritik möglichſt Abſtand zu nehmen. Stadtv. Bollmann: Meine Herren, der Herr Berichterſtatter hat die Vorgänge in humo⸗ riſtiſcher Weiſe beleuchtet. Ich kann ihm darin nicht folgen. Ich faſſe die Vorgänge ſehr ern ſt auf, da es ſich damals um ſtarke Meinungsverſchieden⸗ heiten zwiſchen zwei gleichberechtigten Faktoren handelte, zwiſchen dem Magiſtrat und den Ehren⸗ beamten bzw. Ehrenbeamtinnen. Wie richt i g die Oppoſition damals geweſen i ſt, beweiſt die heutige Vorlage. Der Magiſtrat iſt darin den Wünſchen der Waiſen⸗ pflegerinnen teilweiſe nachgekommen. Ich begrüße daher die Vorlage auch deshalb, da ſie eine Ge⸗ nugtuung für die Waiſenpflege⸗ rinnen iſt, die in der erwähnten Sitzung am 21. März, weiche auf Veranlaſſung der Stadtver⸗ ordnetenverſammlung einberufen war, ganz eigenartig behandelt worden ſind. Ich will dem Wunſche des Herrn Vorſtehers folgen und nicht mehr darauf eingehen. Da aber eine Ausſchuß⸗ beratung der Vorlage nicht beliebt wird, ſo muß ich hier doch noch einige ſachliche Ausführungen machen. Einleitend iſt in der Vorlage geſagt, daß eine Umfrage ergeben habe, daß von 42 deutſchen Städten mit über 100 000 Einwohnern bereits nicht weniger als 30, daneben zahlreiche Mittelſtädte, eine Fürſorge dieſer Art eingeführt haben. Ich möchte hier nur konſtatieren, daß nicht eine ein zige der angeführten Städte eine ſo vor⸗ züglich organiſierte Waiſenpflege beſitzt wie gerade Charlottenburg. Gleichbe⸗ rechtigt iſt höchſtens Leipzig. Bei den anderen Städten ſind die Organiſationen ganz verſchieden. An anderer Stelle iſt auch auf Breslau hingewieſen worden. Breslau hat überhaupt erſt eine Organiſation der Waiſenpflege am 18. Mai d. I. ein⸗ geführt und dabei ausdrücklich auf die muſter⸗ haften Einrichtungen dieſer Art in Charlotten⸗ burg hingewieſen. (Hört! hört!) 22. Juni 1910 Auf die Statiſtit muß ich auch noch kurz ein⸗ gehen. Es iſt hier die gro ß e Sterblichkeit der unehelichen Säuglinge hervorgehoben. Wäh⸗ rend wir bezüglich der Sterblichkeit der Säuglinge im allgemeinen an vierter Stelle ſtehen, nehmen wir bei den unehelichen Säuglingen die 12. Stelle ein. Man kann mit der Statiſtik vieles machen, man kann ſie richtig anwenden, man kann ſie ſo anwenden, wie man ſie gerade braucht. Wenn man die nackten 3ahlen in Betracht zieht, ſo trifft das hier Geſagte zu. Ich möchte aber darauf hinweiſen, daß in Charlottenburg doch die eigen⸗ artigen Verhältniſſe eine weſentliche Rolle ſpielen. Die Nähe Berlins wirkt zweifellos darauf ein, daß uneheliche Mütter oder ſolche, die es werden wollen, zu uns herüberkommen. Mir iſt von vielen Seiten geſagt worden, daß unſere muſterhafte Säuglingsfürſorge ſowie die gute Behandlung, die die unehelichen Mütter hier erfahren, ein Anreiz iſt, ſich nicht nur ein Kind, ſondern mehrere an⸗ zuſchaffen. Ich muß bei der Gelegenheit den Wunſch aus⸗ ſprechen, wo wir ſo große Aufwendungen für die Fürſorge der unehelichen Kinder machen, daß mit aller Energie darauf hingewirkt wird, daß die Väter der unehelichen Kinder, die zahlen tönne n, auch tatſächlich dazu angehalten werden. (Zuruf: Das geſchieht ja!) Von der Generalvormundſchaft iſt in mehreren Fällen nicht ſtreng und prompt genug verfahren worden. Ich möchte den Magiſtrat bitten, das fortgeſetzt kontrollieren zu laſſen und ſein Augenmerk darauf beſonders zu richten. Ebenſo läßt die Sorge für die heranwachſenden Säuglinge, die verſprechen, brauchbare Menſchen zu werden, zu wünſchen übrig. Ein ſolcher Fall iſt jetzt durch die perſönliche Intervention eines Magiſtratsmit⸗ gliedes faſt erledigt worden. Es handelt ſich um einen Knaben, der infolge ſeiner vorzüglichen Leiſtungen auf der Volksſchule in eine h ö here Schule aufgenommen worden war, durch Krank⸗ heit in ſeinen Leiſtungen et was zurückblieb und bei dem infolgedeſſen die Schulgeld⸗ befreiung ohne jede Motivierung vollſtändig aufgehoben wurde. Ich führe nur den Fall an, der mir zufällig zu Ohren gekommen iſt. Es iſt mir auch von anderen Seiten geſagt worden, daß in manchen Beziehungen gerade bezüglich der Schulgeldbefreiungen nicht alles ſo ſei, wie es ſein ſollte Die Waiſenpflegerinnen haben auch noch einen Wunſch ausgeſprochen, den ich für ſehr be achtenswert halte, nämlich eine Verklei⸗ nerung der Waiſenpflegerinnebezirke vorzu⸗ nehmen. Die Sache liegt hier ſo, daß z. B. im Oſten manche Damen nur höchſtens 2, 3 Kinder zu ver⸗ ſorgen haben, während beiſpielsweiſe in der Nähe der Danckelmannſtraße Bezirke ſind, die 30 bis 40 Pflegekinder und mehr umfaſſen. Durch Ver⸗ kleinerung dieſer großen Bezirke könnte die Waiſen⸗ pflege weſentlich verbeſſert werden. Auch die Neuorganiſation der Für⸗ ſorgeſtellen wäre in Erwägung zu ziehen. Ich will aber heute darauf nicht eingehen. Ich will auch davon Abſtand nehmen, einen Ausſchuß zu bean⸗ tragen, da dieſer vor den Ferien vorausſichtlich nicht mehr tagen könnte und die Einſtellung der Schweſtern dadurch verzögert würde.